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Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae...

Date post: 07-Feb-2017
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1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung 1.1 Senecas Therapeutik: Tendenzen der Forschung Es ist heute – vor allem seit den diesbezüglichen Forschungen Hadots¹ – allge- mein anerkannt, dass weite Teile der antiken Philosophie entscheidend von ih- rer therapeutischen Ausrichtung, d.h. von ihrem Streben nach Verbesserung und ›Heilung‹² des Lesers, geprägt sind. In besonderem Maße gilt das für die Philoso- phie ab der hellenistischen Epoche.³ Seneca wird gern insbesondere mit seinen Epistulae morales gleichsam als Kronzeuge für therapeutisches Philosophieren herangezogen.⁴ Solchen Einschät- zungen gegenüber ist jedoch Vorsicht angebracht. Auch wenn es richtig ist, dass in den Briefen, wie sich noch genauer zeigen wird, zahlreiche Formulierungen auf ein therapeutisches Philosophiemodell hindeuten (sollen), dürfen Senecas Wer- ke überhaupt – und eben auch die Briefe – in dieser Hinsicht nicht ohne Weiteres für bare Münze genommen werden. Erstens ist – worauf am deutlichsten Brad Inwood hinweist⁵ – fraglich, ob Therapeutik bei Seneca nicht eher als literarisches Motiv präsent ist denn als Cha- rakteristikum seines praktischen Wirkens. Denn im Unterschied zu anderen Grö- ßen der antiken Philosophie – denken wir nur an Namen wie Pythagoras, Platon, Aristoteles, Epikur, Chrysipp, Pyrrhon oder Epiktet – gab Seneca keine Vorlesun- gen, lehrte nicht in einem Garten oder Hain und scharte auch sonst keine Schü- ler um sich. Auch die Epistulae sind keine Ausformungen echter philosophischer Praxis und keine Zeugnisse einer realen Lehrer-Schüler-Beziehung.⁶ Es ist einfach 1 Grundlegend: Exercices spirituels (1981) und Wege zur Weisheit (= Qu’est-ce que la philosophie antique?) (1995). Ein wichtiger Impuls zur Erforschung dieses Aspekts antiker Philosophie ging bereits aus von Rabbow, Seelenführung (1954), sowie Misch, Autobiographie (1949). 2 Zum Bedeutungsgehalt der medizinischen Bildsprache s. unten Kapitel 2.1.1 ab S. 65. 3 Dazu unten Kapitel 2.2 ab S. 71. – Zum Unterschied gegenüber dem modernen Selbstverständ- nis vgl. Horn, Antike Lebenskunst, 12–16. 4 Siehe v.a. Rabbow, Seelenführung, Cancik, Untersuchungen, I. Hadot, Seelenleitung, P. Ha- dot, Exercices spirituels; ders., Wege zur Weisheit (= Qu’est-ce que la philosophie antique?), und ders., Philosophie als Lebensform, sowie Teichert, Der Philosoph als Briefschreiber. 5 Selected philosophical letters, xv-xvii; s. ausführlicher unten S. 51. 6 Wir haben hinsichtlich der Epistulae morales keine Zeugnisse über ihren »Sitz im Leben«. Doch das Ausloten dessen, was hierbei wahrscheinlich zu machen ist, bestätigt durchaus Inwoods Sichtweise, wonach die Briefe literarische Kunstprodukte sind, s. unten Kapitel 1.3 ab S. 30. Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated | 10.248.254.158 Download Date | 9/14/14 9:27 PM
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Page 1: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eineProblembeschreibung

11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung

Es ist heute ndash vor allem seit den diesbezuumlglichen Forschungen Hadotssup1 ndash allge-mein anerkannt dass weite Teile der antiken Philosophie entscheidend von ih-rer therapeutischen Ausrichtung dh von ihrem Streben nach Verbesserung undrsaquoHeilunglsaquosup2 des Lesers gepraumlgt sind In besonderem Maszlige gilt das fuumlr die Philoso-phie ab der hellenistischen Epochesup3

Seneca wird gern insbesondere mit seinen Epistulae morales gleichsam alsKronzeuge fuumlr therapeutisches Philosophieren herangezogen⁴ Solchen Einschaumlt-zungen gegenuumlber ist jedoch Vorsicht angebracht Auch wenn es richtig ist dassin denBriefen wie sichnoch genauer zeigen wird zahlreiche Formulierungen aufein therapeutisches Philosophiemodell hindeuten (sollen) duumlrfen Senecas Wer-ke uumlberhaupt ndash und eben auch die Briefe ndash in dieser Hinsicht nicht ohne Weiteresfuumlr bare Muumlnze genommen werden

Erstens ist ndash worauf am deutlichsten Brad Inwood hinweist⁵ ndash fraglich obTherapeutik bei Seneca nicht eher als literarischesMotiv praumlsent ist denn als Cha-rakteristikum seines praktischen Wirkens Denn im Unterschied zu anderen Grouml-szligen der antiken Philosophie ndash denken wir nur an Namen wie Pythagoras PlatonAristoteles Epikur Chrysipp Pyrrhon oder Epiktet ndash gab Seneca keine Vorlesun-gen lehrte nicht in einem Garten oder Hain und scharte auch sonst keine Schuuml-ler um sich Auch die Epistulae sind keine Ausformungen echter philosophischerPraxis und keine Zeugnisse einer realen Lehrer-Schuumller-Beziehung⁶ Es ist einfach

1 Grundlegend Exercices spirituels (1981) undWege zurWeisheit (= Qursquoest-ce que la philosophieantique) (1995) Ein wichtiger Impuls zur Erforschung dieses Aspekts antiker Philosophie gingbereits aus von Rabbow Seelenfuumlhrung (1954) sowie Misch Autobiographie (1949)2 Zum Bedeutungsgehalt der medizinischen Bildsprache s unten Kapitel 211 ab S 653 Dazu unten Kapitel 22 ab S 71 ndash Zum Unterschied gegenuumlber dem modernen Selbstverstaumlnd-nis vgl Horn Antike Lebenskunst 12ndash164 Siehe va Rabbow Seelenfuumlhrung Cancik Untersuchungen I Hadot Seelenleitung P Ha-dot Exercices spirituels ders Wege zur Weisheit (= Qursquoest-ce que la philosophie antique) undders Philosophie als Lebensform sowie Teichert Der Philosoph als Briefschreiber5 Selected philosophical letters xv-xvii s ausfuumlhrlicher unten S 516 Wir habenhinsichtlich derEpistulaemoraleskeine Zeugnisse uumlber ihren raquoSitz imLebenlaquo Dochdas Ausloten dessen was hierbei wahrscheinlich zu machen ist bestaumltigt durchaus InwoodsSichtweise wonach die Briefe literarische Kunstprodukte sind s unten Kapitel 13 ab S 30

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eine Tatsache Seneca war kein raquopraktizierenderlaquo Philosoph und insofern keinraquoTherapeutlaquo

Andeutungen auf therapeutische Techniken sind zwar uumlber die Briefe hinwegimmer wieder praumlsent doch sind sie insgesamt so rar dass eine konsequente An-wendung durch rsaquoLuciliuslsaquo daraus nicht hervorgeht Mit anderen Worten der Le-ser kann sich frei fuumlhlen das Angebot anzunehmen ndash oder eben auch nicht EineArt rsaquotherapeutischer Stundenplanlsaquo (wie ihn zB die Rekonstruktion TeichertsDer Philosoph als Briefschreiber ausmacht)sup1 kann aus den Briefen mit Sicher-heit nicht erschlossen werden

Andererseits schlieszligt das eine therapeutische Zielsetzung nicht aus ndash auch li-terarisches Philosophieren will schlieszliglich bestimmte Veraumlnderungen herbeifuumlh-rensup2 Die Betonung des literarischen Charakters von Senecas Philosophieren istalso insofern richtig als Anklaumlnge an Therapietechniken raquopraktischerlaquo Philoso-phen bei Seneca nicht als Beweis fuumlr aumlhnliche Intentionen angefuumlhrt werden duumlr-fensup3 dennoch kann auch feuilletonistisches Philosophieren durchaus eine thera-peutische Strategie verfolgen

Ein zweiter Grund ist in abstracto laumlngst erkannt hat jedoch in der Forschungseltsamerweise nicht die gebuumlhrende Aufmerksamkeit erfahren Wie in der Medi-zin so ist auch in der Philosophie Therapie nicht gleich Therapie Im Vorgehender einzelnen Philosophen bestehen betraumlchtliche Differenzen die diesbezuumlgli-chen Vorstellungen Platons Epikurs oder auch Chrysipps duumlrften sich kaum we-niger voneinander unterscheiden als homoumlopathische schulmedizinische odertraditionelle chinesische Heilkonzepte

Waumlhrend das fuumlr die klassische und hellenistische Philosophie im Grundsatzlaumlngst herausgearbeitet wurde⁴ existiert fuumlr Senecas therapeutische Methode inihrer Spezifik bisher keine adaumlquate Beschreibung Gerade derUmstand dass er ndashwie uumlbrigens Cicero auch ndash sein philosophisches Wirken auf das literarische Feldbeschraumlnkte wurde bisher zu wenig fuumlr die Analyse seines Werks fruchtbar ge-macht Statt dessen herrscht gerade in den besten Abhandlungen das Bestreben

1 raquoDas ethische Trainingsprogramm setzt sich aus den folgenden Elementen zusammen Lektuuml-re Memorieren schriftliches Durcharbeiten Gespraumlch Vergegenwaumlrtigung der Exempla Selbst-pruumlfung Meditationlaquo (64)2 Wir muumlssen bedenken dass Seneca in einer kulturell und kommunikativ hoch entwickeltenEpoche wirkte in der ndash ganz aumlhnlich zur Praxis unserer Zeit ndash philosophische Diskurse zu ei-nem hohen Teil schriftlich ausgetragen wurden Mithin ist die Grenze zwischen praktischem undfeuilletonistischem Philosophieren nicht ausschlieszligend zu ziehen3 Dieser Unterschied ist in der ndash im Uumlbrigen fuumlr die Aufdeckung und Klassifikation dieser Remi-niszenzen uumlberaus wertvollen ndash Arbeit von Hadot zu wenig beruumlcksichtigt worden4 S va die einleitenden Kapitel bei Ilsetraud Hadot Seelenleitung

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vor Senecas Vorgehen an das der wesentlich systematischer schreibenden klas-sischen und hellenistischen griechischen Philosophen heranzuruumlcken

Das hat einen historischen Grund In berechtigter Abkehr von einem aus dem19 Jahrhundert uumlberkommenenSenecabild das ihm (wie roumlmischenPhilosopheninsgesamt) nur ein epigonenhaftes unddilettantisches Philosophieren attestierenwolltesup1 ist vor allem seit der zweiten Haumllfte des letzten Jahrhunderts herausgear-beitet worden wie sehr Senecas Schriften in Inhalt und Form von ihrer beabsich-tigten Wirkung auf ihren Leser bestimmt sindsup2

Im Prinzip ist dieser Ansatz zunaumlchst einmal richtig wie gut wir daran tunSeneca nicht mehr als philosophischen Dilettanten anzusehen belegen zB dieErgebnise von Wildbergers 2006 erschienener monumentaler systematischerAufbereitung des stoischen Gedankenguts bei Seneca In dieser legt sie uumlberzeu-gend dar dass sein philosophischer Bildungsstand und sein Argumentationsni-veau mitnichten so gering sind wie man lange Zeit glauben wollte

Seneca bekennt sich wiederholt und eindeutig zur Stoa (vgl in den Briefen schon fruumlh 2554 81) Wildberger Seneca und die Stoa (S XIII) hat also zunaumlchst einmal Recht wenn sieden Grundsatz aufstellt raquoSenecas Prosaschriften nach der in ihnen enthaltenen Leseanweisungzu lesen bedeutet also erstens immer auch den stoischen Diskurs als relevanten Praumltext mitzu-lesen Zweitens muss man von einem philosophisch kompetenten Autor ausgehen der selbst dawo er scheinbar einfach metaphorisch oder paraumlnetisch spricht aus einem groszligen Fundus nichtimmer explizit gemachten Expertenwissens schoumlpftlaquo (vgl auch ebd Anm 8)

Allerdingsmussmanzubedenkengeben dass sich viele fruumlheBriefeauchohnedie Kenntnisdes stoischen Praumltextes lesen lassen und zwar recht gut im Gegensatz etwa zu Kurzabhandlun-gen wie epist 121 setzen sie keine intensive Beschaumlftigung mit stoischer Philosophie voraus Dasheiszligt die Briefe lassen sich in mehreren rsaquoDeutungshoumlhenlsaquo lesen und diese Arbeit moumlchte wahr-scheinlich machen dass das kein Nebenbeieffekt sondern ein zentrales Element von Senecastherapeutischer Technik ist Die Strategie dahinter waumlre folgende ein philosophisch nicht son-derlich vorgebildeter Leser durfte sich zunaumlchst mit philosophischen Uumlberlegungen allgemein-protreptischer Natur befassen ohne sich sogleich in die Niederungen des Philosophiestudiumsbegeben zu muumlssen das stoische Gedankengut tritt zwar hier und dort hervor jedoch so unauf-dringlich dass es zu keiner endguumlltigen Festlegung zwingt Anfangs darf der Leser vieles anders

1 Einschlaumlgige Negativurteile referiert (zT schon aus Albertini La Composition) Cancik Un-tersuchungen ua Anm 1 2 33 110 114 140 219 225 2552 Wegweisend waren die fast zu gleicher Zeit ndash doch offenbar ohne Kenntnis voneinander ndash ent-standenen Dissertationen von I Hadot (Seelenleitung 1969 bibliographischer Abschluss 1965)und Cancik (Untersuchungen 1967) Hadot arbeitete die historischen Voraussetzungen von Se-necas Seelenleitungsverstaumlndnis detailliert heraus umvor diesemHintergrund dessenVorgehen(nicht nur auf die Briefe bezogen) zu bestimmen Cancik hingegen hat vor allem durch Kompo-sitionsanalysen die paumldagogische Zielsetzung und die daraus resultierende spezifische sprach-liche und gedankliche Form der Briefe zu charakterisieren versucht Wenig spaumlter (1970) folgteMaurachs Habilitationsschrift ndash P Hadots Arbeiten zur Philosophie als Lebenskunst (s untenKapitel 2 ab S 65) stuumltzen sich nicht unwesentlich auf diese Vorarbeiten

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auffassen als es Seneca spaumlter einfordern wird Doch dies alles ist nicht Zeichen weitreichenderToleranz oder gar von ruumlckwirkender Beeinflussung Senecas durch seinen Lucilius sondern Teileiner Uumlberzeugungsstrategie die versucht nur an so vielen Fronten die Auseinandersetzung zusuchen wie es zwingend noumltig ist und im Uumlbrigen den Leser im Konsens zu fuumlhren

Im Zuge der wachsenden Bereitschaft Seneca philosophisch ernst zu neh-men wurde es auch moumlglich die auffaumlllige stilistische Durchgestaltung seinerWerke nicht mehr als sachfremde Uumlberformung zu bemaumlngeln sondern als be-wusstesMittel zurHerstellungvonUumlberzeugungbeimLeser anzuerkennenDurchdie Aufdeckung ihres paumldagogischen Zielessup1 erschienen insbesondere die Epistu-lae morales wieder in einem guumlnstigeren Licht Vor allem die Frage der Epikurzi-tate in den ersten 29 Briefen wurde nun nicht mehr primaumlr quellenkritisch beant-wortetsup2 sondern bevorzugt aus biographischersup3 oder paumldagogischer⁴ Perspektiveangegangen

Doch im Bemuumlhen Senecas philosophische und literarische Leistung in denBriefen zu rsaquorehabilitierenlsaquo ist der Fehler begangen worden den Beweis hierfuumlruumlber den Nachweis einer bis ins Detail festgelegten verborgenen Struktur antre-ten zu wollen also nach dem rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen zu suchen Damit aberwurde der Bogen uumlberspannt Zwar werden meiner Meinung nach in der Brief-abfolge durchaus systematische Entwicklungslinien erkennbar insbesondere an

1 Vgl Cancik Untersuchungen 42 raquoIn diesemander Situation des Lernenden orientierten Fort-schreiten glauben wir eine der kompositorischen Grundlinien zu erkennen die das Briefwerkdurchziehenlaquo2 So noch Mutschmann (passim) Grundthese des Aufsatzes ist die direkte (und nicht nur ver-mittelte) Benutzung von Epikurbriefen durch Seneca Dass Seneca uumlberhaupt auf Epikur zuruumlck-greife sei dem eklektischen Charakter der mittleren Stoa geschuldet Jedenfalls resultiere die abdem 30 Brief veraumlnderte Form der Korrespondenz (324 raquoam Schluss der Sammlung ist der Autorfast nicht wiederzuerkennenlaquo) aus der Benutzung andersartiger Quellen raquoJe weiter er sich aberim Verlaufe der Correspondenz von der Gedankenwelt Epikurs entfernte um so mehr verlor erihn auch als stilistisches Vorbild aus den Augenlaquo (324f) ndash Mutschmann zeigt jedoch auch An-saumltze einer funktionalen Betrachtung wenn er die Epikurzitate aus ihrer protreptischen Aufgabegegenuumlber Lucilius erklaumlrt (323) ndash Berechtigte Kritik an der quellenkritischen Herangehenswei-se bei Grimal Temps 233 raquo[] die angeblichenWiderspruumlche dieman nachzuweisen versuchthat lassen sich auf einen Wechsel des Blickpunkts zuruumlckfuumlhren und finden so eine leichte Auf-loumlsunglaquo3 So zB ebd 164 raquoAuf dieser Stufe der Lebenserfuumllltheit gibt es keine Schulen mehr sondernnur noch ein gemeinsames Erlebenlaquo ndash Auch Schottlaender Epikureisches bei Seneca ndash ob-gleich er die paumldagogisch-taktischen Aspekte dieses Vorgehens bemerkt (140) ndash sieht in der Aus-einandersetzung mit Epikur das Abbild eines realen offenen und freundschaftlichen Kampfeszwischen Seneca und Lucilius raquoEr [=Seneca] zeigt dem Epikureer [=Lucilius] seinen eigenenMeister von der besten Seite zeigt sich selber als empfaumlnglichen Leser ndash und kann so hoffenfuumlr das Dennoch seiner stoischen Grundauffassung am ehesten Gehoumlr zu findenlaquo (139)4 Vor allem I Hadot Seelenleitung Cancik Untersuchungen

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der Guumlterlehre wird das wie meine Arbeit noch genauer zeigen wird erkennbarDoch ebenso gibt es eine groszlige Menge freier nicht von einem rsaquoSystemlsaquo oder rsaquoBau-planlsaquo her determinierter Passagensup1 In meinen Augen wirken jedenfalls die imEinzelnen vorgelegten ndash uumlberaus disparaten ndash Vorschlaumlge fuumlr BuchgliederungenrsaquoBriefgruppenlsaquo rsaquoBriefkreiselsaquo usw wenig uumlberzeugend auch wenn die im Rahmendieser Kompositionsanalysen gemachten Beobachtungen durchaus dazu beige-tragen haben unsere Wahrnehmung fuumlr das Motivgeflecht innerhalb der Briefezu schaumlrfen

Offenbar ist es bislang nicht gelungen zwingende Kriterien fuumlr die Zusam-menfassung bzw Abgrenzung von Briefen aufzustellen ich glaube auch kaumdass das moumlglich ist Senecas Briefe enthalten eine solche Menge an Unschaumlrfenund kaleidoskopartigen Themenverbindungen dass sie den Versuch die Sam-lung auf ein definitives Konstruktionsprinzip zuruumlckzufuumlhren schnell in ein Da-naidenunterfangen verwandeln Wie sehr es bisher auf diesem Forschungsgebietan festem Boden unter den Fuumlszligen mangelt beweist der Umstand dass alle bishe-rigen Strukturuntersuchungen zu dem zweifelhaften Mittel greifen vollkommenverschiedeneKritierien fuumlr die Zusammengruppierungbzw TrennungvonBriefengemeinsam zur Anwendung zu bringensup2 Noch deutlicher tritt dieses Problem zu-

1 Stuumlckelberger Brief als Mittel 138 und 140 hat beispielsweise ganz richtig darauf verwie-sen dass einzelne Motive und Vorlieben durchaus biographisch (und nicht kompositorisch) zuerklaumlren sind Allerdings stimme ich ihm nicht so weit zu (in der Tradition Mutschmanns) auchdie Epikurzitate zu Beginn des Corpus dazu zu zaumlhlen2 Vgl um nur ein Beispiel herauszugreifen Cancik Untersuchungen 139f Sie setzt nebendie Moumlglichkeit thematischer Gruppierungen und die Buchgliederung durch raquoSchluss- und An-fangsbriefelaquo auch rein formale Kriterien die gerade durch ihre Vielzahl dazu fuumlhren dass allesmit (fast) allem verbunden werden kann raquo[] Fortsetzungsbriefe Parallelbriefe Komplemen-taumlrbriefe Kontrast- undKorrekturbriefe dienen in gleicher Weise der Gruppenbildung(Hervorhebung UD) innerhalb der Buumlcher Neben vornehmlich inhaltliche Bezuumlge treten anderemehr formaler Art die aber dieselbe Funktion haben etwa die Abfolge der Argumentationsfor-men Besonders fuumlr die spaumlteren Buumlcher ist der Wechsel von theoretischen rein paraumlnetischenund aus theoretischen und paraumlnetischen Partien gebildeten Episteln charakteristischlaquo SchonMaurach Bau hat auf die mangelnde Beweiskraft von Canciks Analysen hingewiesen ua 22raquoAussteht allerdings der Beweis fuumlr ihre Behauptung die Buumlcher stellten Sinneinheiten dar auchihre aperccediluhaften Anmerkungen zum Bau der einzelnen Buumlcher harren der Bestaumltigunglaquo ndash Aufwie duumlnnem Eis ndash vor allem angesichts der beachtlichen inhaltlichen und formalen Varietaumlt je-des einzelnen Briefes ndash die Versuche stehen feste Briefgruppen zu bestimmen zeigt indirekt dieArbeit Hachmanns (Leserfuumlhrung 1994) In ihr kommt er zu dem erstaunlichen Mischbefundeinerseits die Buchgliederungsthese Canciks fuumlr sinnvoll zu erachten (fuumlr das 1 Epistelbuch alsEinheit gegen Maurach vgl 99ff) andererseits fuumlr alle folgenden Briefe wie Maurach rsaquoBrief-kreiselsaquo aufzustellen ndash von denen in seinen Begrenzungen freilich kein einziger mit denen Mau-rachs uumlbereinstimmt

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tagewennmandie verschiedenenForschungsansaumltze gegeneinander haumllt und jemehr Strukturanalysen man liest umso weniger kann man sich ndash nochmals un-geachtet desWertes der hierbei gemachten Einzelbeobachtungen ndash des Eindrucksvon Willkuumlrlichkeit erwehrensup1

Warum nun ist bisher kein vermittelnder Versuch unternommen worden dieBriefe als opus mixtum aus zufaumllligen vielleicht auch assoziativ gefuumlgten Kompo-nenten und systematischer angelegten Elementen zu verstehen Auchdies erklaumlrtsich aus der Forschungshistorie Die starke Kompositionsthese entwickelte sichin der Auseinandersetzung mit Vorwuumlrfen eines mangelnden kompositorischenWollens oder Koumlnnens wie sie am gewichtigsten 1923 Albertini vorgetragen hat-te Dieser hatte in seinem Werk La Composition dans les ouvrages philosophiquesde Seacutenegraveque den Briefen jeglichen Kompositionscharakter abgesprochensup2 Alber-tini wandte sich damit gegen den in der Tat wenig uumlberzeugenden Versuch Hil-genfelds (Senecae epistulae morales 1890) eine Einteilung der Briefe in vier insich geschlossene Themenkomplexe vorzunehmensup3 Konsequenterweise deutete

1 Es fehlt das Kriterium das bewusste (geplante kompositorische) Bezugnahmen sauber vonunbewussten oder sich allein aus der Natur der Sache ergebenden oder gar zufaumllligen Paralle-len abgrenzen wuumlrde Die Wahrscheinlichkeit der Absicht eines solchen Bezuges muss zB umsogeringer veranschlagt werden je weiter beide Instanzen voneinander getrennt je groumlszliger die ter-minologische Unschaumlrfe der verwendeten Begriffe und je unspezifischer die Thematik ist Ammeisten vermisst man dergleichen Uumlberlegungen in der Arbeit Hachmanns dieser (Leserfuumlh-rung 113) bringt zB das Auftreten der Begriffe fortuna und deus in epist 129mit der synonymenVerwendung der Begriffe fortuna fatum necessitas conditor ille iuris humani rerum natura im91 Brief ndash also mehr als einen Oxford-Band spaumlter ndash zusammen und erklaumlrt raquoDas scheinbar zu-faumlllige Nebeneinander von fortuna und deus in ep 129 hat sich vom spaumlten Brief 91 betrachtetals bewusste Setzung erwiesen Sie deutet auf die zweite Haumll f te des Epistelcorpusvoraus (Hervorhebung UD) in der die letztliche Identitaumlt von fortuna und deusmehrfach heraus-gestellt wirdlaquo Die geringe Beweiskraft solcher Bezugsetzungen liegt auf der Hand nach solcherMethode wird fast alles mit allem verbindbar was nur dem gleichen philosophischen Themen-gebiet zugehoumlrt ndash Hachmann uumlbersieht uumlbrigens dass auch im 91 Brief die Begriffe nicht be-liebig austauschbar sondern Beschreibungen verschiedener Sichtweisen sind Wie im 12 Briefverwendet Seneca fortuna wenn das schwer zu akzeptierende Ereignis aus Sicht des Betroffenengeschildert wird deus (uumlbrigens auch in 916) fatum usw um etwas in der kosmische Sichtweisersaquovon obenlsaquo also als Gabe des goumlttlichen Willens zu betrachten2 raquoIl est impossible de voir dans cette collection de lettres un plan meacutethodique drsquoensemblelrsquoexposeacute progressif et systeacutematique drsquoune doctrinelaquo (132) raquo[] il est manifeste qursquoaucun effortnrsquoa eacuteteacute fait dans le recueil des Lettres pour suivre un ordre logiquelaquo (133)3 Naumlheres zur Forschungsgeschichte auf diesem Gebiet bei Mazzoli Valore letterario 1860ndash1863

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er Uumlbereinstimmungen und Gemeinsamkeiten der Briefthematik in benachbartenBriefen (wie zB im 94 und 95 Brief) rein biographischsup1

Im Gegensatz zu Hilgenfeld versuchen die neueren Vertreter der Komposi-tionsthese nicht das Nebeneinander vieler Ideen in den Briefen zu bestreitensondern deuten es vielmehr als von langer Hand geplantes und absichtlich ange-legtes Beziehungsgeflecht Ihr Kompositionsverstaumlndnis ist nicht linear sondernsimultan

Zweifellos werden solcheModelle dem Befund Senecas besser gerecht als dasProkrustesbett Hilgenfelds doch umgekehrt sind sie gezwungen zu behauptenalle Elemente des Zufaumllligen alle Anzeichen biographischer Genese (wie sie ebd134ndash136 anfuumlhrt) seien bloszlige literarische Fiktion kuumlnstliche Nachbildung vonEchtheit Die Briefe werden zu einer blutleeren Erfindung sie erhalten geradezursaquoReiszligbrettcharakterlsaquosup2

Schwerer noch wiegt jedoch die solchen Modellen inhaumlrente Unverbindlich-keit Denn wie alle ihre Vertreter anerkennen macht es die Offenheit der Brief-gattung Seneca leicht in jedem rsaquoSchreibenlsaquo zahllose verschiedene Themen anzu-schneidensup3 Hier nun Haupt- und Nebenthemen sicher voneinander abzugrenzenist ndash vor allem in den fruumlhen Briefen ndash nahezu unmoumlglich Noch mehr Beliebig-keit erzeugt das Bestreben bestimmte thematische und formale Bezuumlge zwischeneinzelnen Briefen als Kompositionsindikatoren fuumlr das Briefcorpus anzusetzenNicht selten sieht sich der Leser dieser Untersuchungen vor die Tatsache gestelltdass er viele andere Bezuumlge zu anderen Briefen entdecken kann die mit gleicherWahrscheinlichkeit ein anderes Kompositionsschema rechtfertigen koumlnnten⁴

Was fehlt ist erstens eine klare Bestimmung dessen wann eine moumlgliche Be-zugsetzung auch als vom Autor intendierte Bezugssetzung im Sinne eines Kompo-

1 ZB Albertini La Composition 134 raquoIls reacutesultent simplement de ce fait que les lettres eacutecritespendantunepeacuteriodedonneacutee sontunies entre elles par lrsquoinfluencedes circonstancesdans lesquel-les elles ont eacuteteacute reacutedigeacutees par la communauteacute de certains souvenirs ou de certaines lectures parla persistance de certaines preacuteoccupationslaquo2 Mazzoli Valore letterario 1863 bringt es (gegen Maurach Bau) auf den Punkt raquoIn questaottica la specificitagrave epistolare viene completamente persadi vista il destinatariodiviene lrsquoastratto(e ingannato) rsaquoLeserlsaquo tutto il rapporto tra emittente e fruitore del messagio morale si irrigidiscenellrsquoartificiosa messa in opera e decrittazione drsquouna rsaquoverborgene Systematiklsaquolaquo3 Nicht nur die Briefsammlung sondern schon die einzelnen Briefe tragen ja bekanntlich uumlber-aus haumlufig die Zuumlge einer Themensammlung zutreffend daher die Kritik Hachmanns Spruche-piloge S 391f Anm 9 am Versuch Rosenbachs in der Briefuumlbersicht fuumlr jeden Brief eine tref-fende Uumlberschrift zu finden Sinnvoller ist fuumlr solche Texte in der Tat Albertinis Methode derParaphrase (105ndash132)4 Daher die bereits oben (S 17 mit Anm 2) aufgefuumlhrten gravierenden Abweichungen zwischenden Ergebnissen der Untersuchungen Canciks Maurachs und Hachmanns

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sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 21

tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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22 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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24 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 2: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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eine Tatsache Seneca war kein raquopraktizierenderlaquo Philosoph und insofern keinraquoTherapeutlaquo

Andeutungen auf therapeutische Techniken sind zwar uumlber die Briefe hinwegimmer wieder praumlsent doch sind sie insgesamt so rar dass eine konsequente An-wendung durch rsaquoLuciliuslsaquo daraus nicht hervorgeht Mit anderen Worten der Le-ser kann sich frei fuumlhlen das Angebot anzunehmen ndash oder eben auch nicht EineArt rsaquotherapeutischer Stundenplanlsaquo (wie ihn zB die Rekonstruktion TeichertsDer Philosoph als Briefschreiber ausmacht)sup1 kann aus den Briefen mit Sicher-heit nicht erschlossen werden

Andererseits schlieszligt das eine therapeutische Zielsetzung nicht aus ndash auch li-terarisches Philosophieren will schlieszliglich bestimmte Veraumlnderungen herbeifuumlh-rensup2 Die Betonung des literarischen Charakters von Senecas Philosophieren istalso insofern richtig als Anklaumlnge an Therapietechniken raquopraktischerlaquo Philoso-phen bei Seneca nicht als Beweis fuumlr aumlhnliche Intentionen angefuumlhrt werden duumlr-fensup3 dennoch kann auch feuilletonistisches Philosophieren durchaus eine thera-peutische Strategie verfolgen

Ein zweiter Grund ist in abstracto laumlngst erkannt hat jedoch in der Forschungseltsamerweise nicht die gebuumlhrende Aufmerksamkeit erfahren Wie in der Medi-zin so ist auch in der Philosophie Therapie nicht gleich Therapie Im Vorgehender einzelnen Philosophen bestehen betraumlchtliche Differenzen die diesbezuumlgli-chen Vorstellungen Platons Epikurs oder auch Chrysipps duumlrften sich kaum we-niger voneinander unterscheiden als homoumlopathische schulmedizinische odertraditionelle chinesische Heilkonzepte

Waumlhrend das fuumlr die klassische und hellenistische Philosophie im Grundsatzlaumlngst herausgearbeitet wurde⁴ existiert fuumlr Senecas therapeutische Methode inihrer Spezifik bisher keine adaumlquate Beschreibung Gerade derUmstand dass er ndashwie uumlbrigens Cicero auch ndash sein philosophisches Wirken auf das literarische Feldbeschraumlnkte wurde bisher zu wenig fuumlr die Analyse seines Werks fruchtbar ge-macht Statt dessen herrscht gerade in den besten Abhandlungen das Bestreben

1 raquoDas ethische Trainingsprogramm setzt sich aus den folgenden Elementen zusammen Lektuuml-re Memorieren schriftliches Durcharbeiten Gespraumlch Vergegenwaumlrtigung der Exempla Selbst-pruumlfung Meditationlaquo (64)2 Wir muumlssen bedenken dass Seneca in einer kulturell und kommunikativ hoch entwickeltenEpoche wirkte in der ndash ganz aumlhnlich zur Praxis unserer Zeit ndash philosophische Diskurse zu ei-nem hohen Teil schriftlich ausgetragen wurden Mithin ist die Grenze zwischen praktischem undfeuilletonistischem Philosophieren nicht ausschlieszligend zu ziehen3 Dieser Unterschied ist in der ndash im Uumlbrigen fuumlr die Aufdeckung und Klassifikation dieser Remi-niszenzen uumlberaus wertvollen ndash Arbeit von Hadot zu wenig beruumlcksichtigt worden4 S va die einleitenden Kapitel bei Ilsetraud Hadot Seelenleitung

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 15

vor Senecas Vorgehen an das der wesentlich systematischer schreibenden klas-sischen und hellenistischen griechischen Philosophen heranzuruumlcken

Das hat einen historischen Grund In berechtigter Abkehr von einem aus dem19 Jahrhundert uumlberkommenenSenecabild das ihm (wie roumlmischenPhilosopheninsgesamt) nur ein epigonenhaftes unddilettantisches Philosophieren attestierenwolltesup1 ist vor allem seit der zweiten Haumllfte des letzten Jahrhunderts herausgear-beitet worden wie sehr Senecas Schriften in Inhalt und Form von ihrer beabsich-tigten Wirkung auf ihren Leser bestimmt sindsup2

Im Prinzip ist dieser Ansatz zunaumlchst einmal richtig wie gut wir daran tunSeneca nicht mehr als philosophischen Dilettanten anzusehen belegen zB dieErgebnise von Wildbergers 2006 erschienener monumentaler systematischerAufbereitung des stoischen Gedankenguts bei Seneca In dieser legt sie uumlberzeu-gend dar dass sein philosophischer Bildungsstand und sein Argumentationsni-veau mitnichten so gering sind wie man lange Zeit glauben wollte

Seneca bekennt sich wiederholt und eindeutig zur Stoa (vgl in den Briefen schon fruumlh 2554 81) Wildberger Seneca und die Stoa (S XIII) hat also zunaumlchst einmal Recht wenn sieden Grundsatz aufstellt raquoSenecas Prosaschriften nach der in ihnen enthaltenen Leseanweisungzu lesen bedeutet also erstens immer auch den stoischen Diskurs als relevanten Praumltext mitzu-lesen Zweitens muss man von einem philosophisch kompetenten Autor ausgehen der selbst dawo er scheinbar einfach metaphorisch oder paraumlnetisch spricht aus einem groszligen Fundus nichtimmer explizit gemachten Expertenwissens schoumlpftlaquo (vgl auch ebd Anm 8)

Allerdingsmussmanzubedenkengeben dass sich viele fruumlheBriefeauchohnedie Kenntnisdes stoischen Praumltextes lesen lassen und zwar recht gut im Gegensatz etwa zu Kurzabhandlun-gen wie epist 121 setzen sie keine intensive Beschaumlftigung mit stoischer Philosophie voraus Dasheiszligt die Briefe lassen sich in mehreren rsaquoDeutungshoumlhenlsaquo lesen und diese Arbeit moumlchte wahr-scheinlich machen dass das kein Nebenbeieffekt sondern ein zentrales Element von Senecastherapeutischer Technik ist Die Strategie dahinter waumlre folgende ein philosophisch nicht son-derlich vorgebildeter Leser durfte sich zunaumlchst mit philosophischen Uumlberlegungen allgemein-protreptischer Natur befassen ohne sich sogleich in die Niederungen des Philosophiestudiumsbegeben zu muumlssen das stoische Gedankengut tritt zwar hier und dort hervor jedoch so unauf-dringlich dass es zu keiner endguumlltigen Festlegung zwingt Anfangs darf der Leser vieles anders

1 Einschlaumlgige Negativurteile referiert (zT schon aus Albertini La Composition) Cancik Un-tersuchungen ua Anm 1 2 33 110 114 140 219 225 2552 Wegweisend waren die fast zu gleicher Zeit ndash doch offenbar ohne Kenntnis voneinander ndash ent-standenen Dissertationen von I Hadot (Seelenleitung 1969 bibliographischer Abschluss 1965)und Cancik (Untersuchungen 1967) Hadot arbeitete die historischen Voraussetzungen von Se-necas Seelenleitungsverstaumlndnis detailliert heraus umvor diesemHintergrund dessenVorgehen(nicht nur auf die Briefe bezogen) zu bestimmen Cancik hingegen hat vor allem durch Kompo-sitionsanalysen die paumldagogische Zielsetzung und die daraus resultierende spezifische sprach-liche und gedankliche Form der Briefe zu charakterisieren versucht Wenig spaumlter (1970) folgteMaurachs Habilitationsschrift ndash P Hadots Arbeiten zur Philosophie als Lebenskunst (s untenKapitel 2 ab S 65) stuumltzen sich nicht unwesentlich auf diese Vorarbeiten

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16 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

auffassen als es Seneca spaumlter einfordern wird Doch dies alles ist nicht Zeichen weitreichenderToleranz oder gar von ruumlckwirkender Beeinflussung Senecas durch seinen Lucilius sondern Teileiner Uumlberzeugungsstrategie die versucht nur an so vielen Fronten die Auseinandersetzung zusuchen wie es zwingend noumltig ist und im Uumlbrigen den Leser im Konsens zu fuumlhren

Im Zuge der wachsenden Bereitschaft Seneca philosophisch ernst zu neh-men wurde es auch moumlglich die auffaumlllige stilistische Durchgestaltung seinerWerke nicht mehr als sachfremde Uumlberformung zu bemaumlngeln sondern als be-wusstesMittel zurHerstellungvonUumlberzeugungbeimLeser anzuerkennenDurchdie Aufdeckung ihres paumldagogischen Zielessup1 erschienen insbesondere die Epistu-lae morales wieder in einem guumlnstigeren Licht Vor allem die Frage der Epikurzi-tate in den ersten 29 Briefen wurde nun nicht mehr primaumlr quellenkritisch beant-wortetsup2 sondern bevorzugt aus biographischersup3 oder paumldagogischer⁴ Perspektiveangegangen

Doch im Bemuumlhen Senecas philosophische und literarische Leistung in denBriefen zu rsaquorehabilitierenlsaquo ist der Fehler begangen worden den Beweis hierfuumlruumlber den Nachweis einer bis ins Detail festgelegten verborgenen Struktur antre-ten zu wollen also nach dem rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen zu suchen Damit aberwurde der Bogen uumlberspannt Zwar werden meiner Meinung nach in der Brief-abfolge durchaus systematische Entwicklungslinien erkennbar insbesondere an

1 Vgl Cancik Untersuchungen 42 raquoIn diesemander Situation des Lernenden orientierten Fort-schreiten glauben wir eine der kompositorischen Grundlinien zu erkennen die das Briefwerkdurchziehenlaquo2 So noch Mutschmann (passim) Grundthese des Aufsatzes ist die direkte (und nicht nur ver-mittelte) Benutzung von Epikurbriefen durch Seneca Dass Seneca uumlberhaupt auf Epikur zuruumlck-greife sei dem eklektischen Charakter der mittleren Stoa geschuldet Jedenfalls resultiere die abdem 30 Brief veraumlnderte Form der Korrespondenz (324 raquoam Schluss der Sammlung ist der Autorfast nicht wiederzuerkennenlaquo) aus der Benutzung andersartiger Quellen raquoJe weiter er sich aberim Verlaufe der Correspondenz von der Gedankenwelt Epikurs entfernte um so mehr verlor erihn auch als stilistisches Vorbild aus den Augenlaquo (324f) ndash Mutschmann zeigt jedoch auch An-saumltze einer funktionalen Betrachtung wenn er die Epikurzitate aus ihrer protreptischen Aufgabegegenuumlber Lucilius erklaumlrt (323) ndash Berechtigte Kritik an der quellenkritischen Herangehenswei-se bei Grimal Temps 233 raquo[] die angeblichenWiderspruumlche dieman nachzuweisen versuchthat lassen sich auf einen Wechsel des Blickpunkts zuruumlckfuumlhren und finden so eine leichte Auf-loumlsunglaquo3 So zB ebd 164 raquoAuf dieser Stufe der Lebenserfuumllltheit gibt es keine Schulen mehr sondernnur noch ein gemeinsames Erlebenlaquo ndash Auch Schottlaender Epikureisches bei Seneca ndash ob-gleich er die paumldagogisch-taktischen Aspekte dieses Vorgehens bemerkt (140) ndash sieht in der Aus-einandersetzung mit Epikur das Abbild eines realen offenen und freundschaftlichen Kampfeszwischen Seneca und Lucilius raquoEr [=Seneca] zeigt dem Epikureer [=Lucilius] seinen eigenenMeister von der besten Seite zeigt sich selber als empfaumlnglichen Leser ndash und kann so hoffenfuumlr das Dennoch seiner stoischen Grundauffassung am ehesten Gehoumlr zu findenlaquo (139)4 Vor allem I Hadot Seelenleitung Cancik Untersuchungen

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 17

der Guumlterlehre wird das wie meine Arbeit noch genauer zeigen wird erkennbarDoch ebenso gibt es eine groszlige Menge freier nicht von einem rsaquoSystemlsaquo oder rsaquoBau-planlsaquo her determinierter Passagensup1 In meinen Augen wirken jedenfalls die imEinzelnen vorgelegten ndash uumlberaus disparaten ndash Vorschlaumlge fuumlr BuchgliederungenrsaquoBriefgruppenlsaquo rsaquoBriefkreiselsaquo usw wenig uumlberzeugend auch wenn die im Rahmendieser Kompositionsanalysen gemachten Beobachtungen durchaus dazu beige-tragen haben unsere Wahrnehmung fuumlr das Motivgeflecht innerhalb der Briefezu schaumlrfen

Offenbar ist es bislang nicht gelungen zwingende Kriterien fuumlr die Zusam-menfassung bzw Abgrenzung von Briefen aufzustellen ich glaube auch kaumdass das moumlglich ist Senecas Briefe enthalten eine solche Menge an Unschaumlrfenund kaleidoskopartigen Themenverbindungen dass sie den Versuch die Sam-lung auf ein definitives Konstruktionsprinzip zuruumlckzufuumlhren schnell in ein Da-naidenunterfangen verwandeln Wie sehr es bisher auf diesem Forschungsgebietan festem Boden unter den Fuumlszligen mangelt beweist der Umstand dass alle bishe-rigen Strukturuntersuchungen zu dem zweifelhaften Mittel greifen vollkommenverschiedeneKritierien fuumlr die Zusammengruppierungbzw TrennungvonBriefengemeinsam zur Anwendung zu bringensup2 Noch deutlicher tritt dieses Problem zu-

1 Stuumlckelberger Brief als Mittel 138 und 140 hat beispielsweise ganz richtig darauf verwie-sen dass einzelne Motive und Vorlieben durchaus biographisch (und nicht kompositorisch) zuerklaumlren sind Allerdings stimme ich ihm nicht so weit zu (in der Tradition Mutschmanns) auchdie Epikurzitate zu Beginn des Corpus dazu zu zaumlhlen2 Vgl um nur ein Beispiel herauszugreifen Cancik Untersuchungen 139f Sie setzt nebendie Moumlglichkeit thematischer Gruppierungen und die Buchgliederung durch raquoSchluss- und An-fangsbriefelaquo auch rein formale Kriterien die gerade durch ihre Vielzahl dazu fuumlhren dass allesmit (fast) allem verbunden werden kann raquo[] Fortsetzungsbriefe Parallelbriefe Komplemen-taumlrbriefe Kontrast- undKorrekturbriefe dienen in gleicher Weise der Gruppenbildung(Hervorhebung UD) innerhalb der Buumlcher Neben vornehmlich inhaltliche Bezuumlge treten anderemehr formaler Art die aber dieselbe Funktion haben etwa die Abfolge der Argumentationsfor-men Besonders fuumlr die spaumlteren Buumlcher ist der Wechsel von theoretischen rein paraumlnetischenund aus theoretischen und paraumlnetischen Partien gebildeten Episteln charakteristischlaquo SchonMaurach Bau hat auf die mangelnde Beweiskraft von Canciks Analysen hingewiesen ua 22raquoAussteht allerdings der Beweis fuumlr ihre Behauptung die Buumlcher stellten Sinneinheiten dar auchihre aperccediluhaften Anmerkungen zum Bau der einzelnen Buumlcher harren der Bestaumltigunglaquo ndash Aufwie duumlnnem Eis ndash vor allem angesichts der beachtlichen inhaltlichen und formalen Varietaumlt je-des einzelnen Briefes ndash die Versuche stehen feste Briefgruppen zu bestimmen zeigt indirekt dieArbeit Hachmanns (Leserfuumlhrung 1994) In ihr kommt er zu dem erstaunlichen Mischbefundeinerseits die Buchgliederungsthese Canciks fuumlr sinnvoll zu erachten (fuumlr das 1 Epistelbuch alsEinheit gegen Maurach vgl 99ff) andererseits fuumlr alle folgenden Briefe wie Maurach rsaquoBrief-kreiselsaquo aufzustellen ndash von denen in seinen Begrenzungen freilich kein einziger mit denen Mau-rachs uumlbereinstimmt

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18 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

tagewennmandie verschiedenenForschungsansaumltze gegeneinander haumllt und jemehr Strukturanalysen man liest umso weniger kann man sich ndash nochmals un-geachtet desWertes der hierbei gemachten Einzelbeobachtungen ndash des Eindrucksvon Willkuumlrlichkeit erwehrensup1

Warum nun ist bisher kein vermittelnder Versuch unternommen worden dieBriefe als opus mixtum aus zufaumllligen vielleicht auch assoziativ gefuumlgten Kompo-nenten und systematischer angelegten Elementen zu verstehen Auchdies erklaumlrtsich aus der Forschungshistorie Die starke Kompositionsthese entwickelte sichin der Auseinandersetzung mit Vorwuumlrfen eines mangelnden kompositorischenWollens oder Koumlnnens wie sie am gewichtigsten 1923 Albertini vorgetragen hat-te Dieser hatte in seinem Werk La Composition dans les ouvrages philosophiquesde Seacutenegraveque den Briefen jeglichen Kompositionscharakter abgesprochensup2 Alber-tini wandte sich damit gegen den in der Tat wenig uumlberzeugenden Versuch Hil-genfelds (Senecae epistulae morales 1890) eine Einteilung der Briefe in vier insich geschlossene Themenkomplexe vorzunehmensup3 Konsequenterweise deutete

1 Es fehlt das Kriterium das bewusste (geplante kompositorische) Bezugnahmen sauber vonunbewussten oder sich allein aus der Natur der Sache ergebenden oder gar zufaumllligen Paralle-len abgrenzen wuumlrde Die Wahrscheinlichkeit der Absicht eines solchen Bezuges muss zB umsogeringer veranschlagt werden je weiter beide Instanzen voneinander getrennt je groumlszliger die ter-minologische Unschaumlrfe der verwendeten Begriffe und je unspezifischer die Thematik ist Ammeisten vermisst man dergleichen Uumlberlegungen in der Arbeit Hachmanns dieser (Leserfuumlh-rung 113) bringt zB das Auftreten der Begriffe fortuna und deus in epist 129mit der synonymenVerwendung der Begriffe fortuna fatum necessitas conditor ille iuris humani rerum natura im91 Brief ndash also mehr als einen Oxford-Band spaumlter ndash zusammen und erklaumlrt raquoDas scheinbar zu-faumlllige Nebeneinander von fortuna und deus in ep 129 hat sich vom spaumlten Brief 91 betrachtetals bewusste Setzung erwiesen Sie deutet auf die zweite Haumll f te des Epistelcorpusvoraus (Hervorhebung UD) in der die letztliche Identitaumlt von fortuna und deusmehrfach heraus-gestellt wirdlaquo Die geringe Beweiskraft solcher Bezugsetzungen liegt auf der Hand nach solcherMethode wird fast alles mit allem verbindbar was nur dem gleichen philosophischen Themen-gebiet zugehoumlrt ndash Hachmann uumlbersieht uumlbrigens dass auch im 91 Brief die Begriffe nicht be-liebig austauschbar sondern Beschreibungen verschiedener Sichtweisen sind Wie im 12 Briefverwendet Seneca fortuna wenn das schwer zu akzeptierende Ereignis aus Sicht des Betroffenengeschildert wird deus (uumlbrigens auch in 916) fatum usw um etwas in der kosmische Sichtweisersaquovon obenlsaquo also als Gabe des goumlttlichen Willens zu betrachten2 raquoIl est impossible de voir dans cette collection de lettres un plan meacutethodique drsquoensemblelrsquoexposeacute progressif et systeacutematique drsquoune doctrinelaquo (132) raquo[] il est manifeste qursquoaucun effortnrsquoa eacuteteacute fait dans le recueil des Lettres pour suivre un ordre logiquelaquo (133)3 Naumlheres zur Forschungsgeschichte auf diesem Gebiet bei Mazzoli Valore letterario 1860ndash1863

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 19

er Uumlbereinstimmungen und Gemeinsamkeiten der Briefthematik in benachbartenBriefen (wie zB im 94 und 95 Brief) rein biographischsup1

Im Gegensatz zu Hilgenfeld versuchen die neueren Vertreter der Komposi-tionsthese nicht das Nebeneinander vieler Ideen in den Briefen zu bestreitensondern deuten es vielmehr als von langer Hand geplantes und absichtlich ange-legtes Beziehungsgeflecht Ihr Kompositionsverstaumlndnis ist nicht linear sondernsimultan

Zweifellos werden solcheModelle dem Befund Senecas besser gerecht als dasProkrustesbett Hilgenfelds doch umgekehrt sind sie gezwungen zu behauptenalle Elemente des Zufaumllligen alle Anzeichen biographischer Genese (wie sie ebd134ndash136 anfuumlhrt) seien bloszlige literarische Fiktion kuumlnstliche Nachbildung vonEchtheit Die Briefe werden zu einer blutleeren Erfindung sie erhalten geradezursaquoReiszligbrettcharakterlsaquosup2

Schwerer noch wiegt jedoch die solchen Modellen inhaumlrente Unverbindlich-keit Denn wie alle ihre Vertreter anerkennen macht es die Offenheit der Brief-gattung Seneca leicht in jedem rsaquoSchreibenlsaquo zahllose verschiedene Themen anzu-schneidensup3 Hier nun Haupt- und Nebenthemen sicher voneinander abzugrenzenist ndash vor allem in den fruumlhen Briefen ndash nahezu unmoumlglich Noch mehr Beliebig-keit erzeugt das Bestreben bestimmte thematische und formale Bezuumlge zwischeneinzelnen Briefen als Kompositionsindikatoren fuumlr das Briefcorpus anzusetzenNicht selten sieht sich der Leser dieser Untersuchungen vor die Tatsache gestelltdass er viele andere Bezuumlge zu anderen Briefen entdecken kann die mit gleicherWahrscheinlichkeit ein anderes Kompositionsschema rechtfertigen koumlnnten⁴

Was fehlt ist erstens eine klare Bestimmung dessen wann eine moumlgliche Be-zugsetzung auch als vom Autor intendierte Bezugssetzung im Sinne eines Kompo-

1 ZB Albertini La Composition 134 raquoIls reacutesultent simplement de ce fait que les lettres eacutecritespendantunepeacuteriodedonneacutee sontunies entre elles par lrsquoinfluencedes circonstancesdans lesquel-les elles ont eacuteteacute reacutedigeacutees par la communauteacute de certains souvenirs ou de certaines lectures parla persistance de certaines preacuteoccupationslaquo2 Mazzoli Valore letterario 1863 bringt es (gegen Maurach Bau) auf den Punkt raquoIn questaottica la specificitagrave epistolare viene completamente persadi vista il destinatariodiviene lrsquoastratto(e ingannato) rsaquoLeserlsaquo tutto il rapporto tra emittente e fruitore del messagio morale si irrigidiscenellrsquoartificiosa messa in opera e decrittazione drsquouna rsaquoverborgene Systematiklsaquolaquo3 Nicht nur die Briefsammlung sondern schon die einzelnen Briefe tragen ja bekanntlich uumlber-aus haumlufig die Zuumlge einer Themensammlung zutreffend daher die Kritik Hachmanns Spruche-piloge S 391f Anm 9 am Versuch Rosenbachs in der Briefuumlbersicht fuumlr jeden Brief eine tref-fende Uumlberschrift zu finden Sinnvoller ist fuumlr solche Texte in der Tat Albertinis Methode derParaphrase (105ndash132)4 Daher die bereits oben (S 17 mit Anm 2) aufgefuumlhrten gravierenden Abweichungen zwischenden Ergebnissen der Untersuchungen Canciks Maurachs und Hachmanns

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sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 3: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 15

vor Senecas Vorgehen an das der wesentlich systematischer schreibenden klas-sischen und hellenistischen griechischen Philosophen heranzuruumlcken

Das hat einen historischen Grund In berechtigter Abkehr von einem aus dem19 Jahrhundert uumlberkommenenSenecabild das ihm (wie roumlmischenPhilosopheninsgesamt) nur ein epigonenhaftes unddilettantisches Philosophieren attestierenwolltesup1 ist vor allem seit der zweiten Haumllfte des letzten Jahrhunderts herausgear-beitet worden wie sehr Senecas Schriften in Inhalt und Form von ihrer beabsich-tigten Wirkung auf ihren Leser bestimmt sindsup2

Im Prinzip ist dieser Ansatz zunaumlchst einmal richtig wie gut wir daran tunSeneca nicht mehr als philosophischen Dilettanten anzusehen belegen zB dieErgebnise von Wildbergers 2006 erschienener monumentaler systematischerAufbereitung des stoischen Gedankenguts bei Seneca In dieser legt sie uumlberzeu-gend dar dass sein philosophischer Bildungsstand und sein Argumentationsni-veau mitnichten so gering sind wie man lange Zeit glauben wollte

Seneca bekennt sich wiederholt und eindeutig zur Stoa (vgl in den Briefen schon fruumlh 2554 81) Wildberger Seneca und die Stoa (S XIII) hat also zunaumlchst einmal Recht wenn sieden Grundsatz aufstellt raquoSenecas Prosaschriften nach der in ihnen enthaltenen Leseanweisungzu lesen bedeutet also erstens immer auch den stoischen Diskurs als relevanten Praumltext mitzu-lesen Zweitens muss man von einem philosophisch kompetenten Autor ausgehen der selbst dawo er scheinbar einfach metaphorisch oder paraumlnetisch spricht aus einem groszligen Fundus nichtimmer explizit gemachten Expertenwissens schoumlpftlaquo (vgl auch ebd Anm 8)

Allerdingsmussmanzubedenkengeben dass sich viele fruumlheBriefeauchohnedie Kenntnisdes stoischen Praumltextes lesen lassen und zwar recht gut im Gegensatz etwa zu Kurzabhandlun-gen wie epist 121 setzen sie keine intensive Beschaumlftigung mit stoischer Philosophie voraus Dasheiszligt die Briefe lassen sich in mehreren rsaquoDeutungshoumlhenlsaquo lesen und diese Arbeit moumlchte wahr-scheinlich machen dass das kein Nebenbeieffekt sondern ein zentrales Element von Senecastherapeutischer Technik ist Die Strategie dahinter waumlre folgende ein philosophisch nicht son-derlich vorgebildeter Leser durfte sich zunaumlchst mit philosophischen Uumlberlegungen allgemein-protreptischer Natur befassen ohne sich sogleich in die Niederungen des Philosophiestudiumsbegeben zu muumlssen das stoische Gedankengut tritt zwar hier und dort hervor jedoch so unauf-dringlich dass es zu keiner endguumlltigen Festlegung zwingt Anfangs darf der Leser vieles anders

1 Einschlaumlgige Negativurteile referiert (zT schon aus Albertini La Composition) Cancik Un-tersuchungen ua Anm 1 2 33 110 114 140 219 225 2552 Wegweisend waren die fast zu gleicher Zeit ndash doch offenbar ohne Kenntnis voneinander ndash ent-standenen Dissertationen von I Hadot (Seelenleitung 1969 bibliographischer Abschluss 1965)und Cancik (Untersuchungen 1967) Hadot arbeitete die historischen Voraussetzungen von Se-necas Seelenleitungsverstaumlndnis detailliert heraus umvor diesemHintergrund dessenVorgehen(nicht nur auf die Briefe bezogen) zu bestimmen Cancik hingegen hat vor allem durch Kompo-sitionsanalysen die paumldagogische Zielsetzung und die daraus resultierende spezifische sprach-liche und gedankliche Form der Briefe zu charakterisieren versucht Wenig spaumlter (1970) folgteMaurachs Habilitationsschrift ndash P Hadots Arbeiten zur Philosophie als Lebenskunst (s untenKapitel 2 ab S 65) stuumltzen sich nicht unwesentlich auf diese Vorarbeiten

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16 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

auffassen als es Seneca spaumlter einfordern wird Doch dies alles ist nicht Zeichen weitreichenderToleranz oder gar von ruumlckwirkender Beeinflussung Senecas durch seinen Lucilius sondern Teileiner Uumlberzeugungsstrategie die versucht nur an so vielen Fronten die Auseinandersetzung zusuchen wie es zwingend noumltig ist und im Uumlbrigen den Leser im Konsens zu fuumlhren

Im Zuge der wachsenden Bereitschaft Seneca philosophisch ernst zu neh-men wurde es auch moumlglich die auffaumlllige stilistische Durchgestaltung seinerWerke nicht mehr als sachfremde Uumlberformung zu bemaumlngeln sondern als be-wusstesMittel zurHerstellungvonUumlberzeugungbeimLeser anzuerkennenDurchdie Aufdeckung ihres paumldagogischen Zielessup1 erschienen insbesondere die Epistu-lae morales wieder in einem guumlnstigeren Licht Vor allem die Frage der Epikurzi-tate in den ersten 29 Briefen wurde nun nicht mehr primaumlr quellenkritisch beant-wortetsup2 sondern bevorzugt aus biographischersup3 oder paumldagogischer⁴ Perspektiveangegangen

Doch im Bemuumlhen Senecas philosophische und literarische Leistung in denBriefen zu rsaquorehabilitierenlsaquo ist der Fehler begangen worden den Beweis hierfuumlruumlber den Nachweis einer bis ins Detail festgelegten verborgenen Struktur antre-ten zu wollen also nach dem rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen zu suchen Damit aberwurde der Bogen uumlberspannt Zwar werden meiner Meinung nach in der Brief-abfolge durchaus systematische Entwicklungslinien erkennbar insbesondere an

1 Vgl Cancik Untersuchungen 42 raquoIn diesemander Situation des Lernenden orientierten Fort-schreiten glauben wir eine der kompositorischen Grundlinien zu erkennen die das Briefwerkdurchziehenlaquo2 So noch Mutschmann (passim) Grundthese des Aufsatzes ist die direkte (und nicht nur ver-mittelte) Benutzung von Epikurbriefen durch Seneca Dass Seneca uumlberhaupt auf Epikur zuruumlck-greife sei dem eklektischen Charakter der mittleren Stoa geschuldet Jedenfalls resultiere die abdem 30 Brief veraumlnderte Form der Korrespondenz (324 raquoam Schluss der Sammlung ist der Autorfast nicht wiederzuerkennenlaquo) aus der Benutzung andersartiger Quellen raquoJe weiter er sich aberim Verlaufe der Correspondenz von der Gedankenwelt Epikurs entfernte um so mehr verlor erihn auch als stilistisches Vorbild aus den Augenlaquo (324f) ndash Mutschmann zeigt jedoch auch An-saumltze einer funktionalen Betrachtung wenn er die Epikurzitate aus ihrer protreptischen Aufgabegegenuumlber Lucilius erklaumlrt (323) ndash Berechtigte Kritik an der quellenkritischen Herangehenswei-se bei Grimal Temps 233 raquo[] die angeblichenWiderspruumlche dieman nachzuweisen versuchthat lassen sich auf einen Wechsel des Blickpunkts zuruumlckfuumlhren und finden so eine leichte Auf-loumlsunglaquo3 So zB ebd 164 raquoAuf dieser Stufe der Lebenserfuumllltheit gibt es keine Schulen mehr sondernnur noch ein gemeinsames Erlebenlaquo ndash Auch Schottlaender Epikureisches bei Seneca ndash ob-gleich er die paumldagogisch-taktischen Aspekte dieses Vorgehens bemerkt (140) ndash sieht in der Aus-einandersetzung mit Epikur das Abbild eines realen offenen und freundschaftlichen Kampfeszwischen Seneca und Lucilius raquoEr [=Seneca] zeigt dem Epikureer [=Lucilius] seinen eigenenMeister von der besten Seite zeigt sich selber als empfaumlnglichen Leser ndash und kann so hoffenfuumlr das Dennoch seiner stoischen Grundauffassung am ehesten Gehoumlr zu findenlaquo (139)4 Vor allem I Hadot Seelenleitung Cancik Untersuchungen

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 17

der Guumlterlehre wird das wie meine Arbeit noch genauer zeigen wird erkennbarDoch ebenso gibt es eine groszlige Menge freier nicht von einem rsaquoSystemlsaquo oder rsaquoBau-planlsaquo her determinierter Passagensup1 In meinen Augen wirken jedenfalls die imEinzelnen vorgelegten ndash uumlberaus disparaten ndash Vorschlaumlge fuumlr BuchgliederungenrsaquoBriefgruppenlsaquo rsaquoBriefkreiselsaquo usw wenig uumlberzeugend auch wenn die im Rahmendieser Kompositionsanalysen gemachten Beobachtungen durchaus dazu beige-tragen haben unsere Wahrnehmung fuumlr das Motivgeflecht innerhalb der Briefezu schaumlrfen

Offenbar ist es bislang nicht gelungen zwingende Kriterien fuumlr die Zusam-menfassung bzw Abgrenzung von Briefen aufzustellen ich glaube auch kaumdass das moumlglich ist Senecas Briefe enthalten eine solche Menge an Unschaumlrfenund kaleidoskopartigen Themenverbindungen dass sie den Versuch die Sam-lung auf ein definitives Konstruktionsprinzip zuruumlckzufuumlhren schnell in ein Da-naidenunterfangen verwandeln Wie sehr es bisher auf diesem Forschungsgebietan festem Boden unter den Fuumlszligen mangelt beweist der Umstand dass alle bishe-rigen Strukturuntersuchungen zu dem zweifelhaften Mittel greifen vollkommenverschiedeneKritierien fuumlr die Zusammengruppierungbzw TrennungvonBriefengemeinsam zur Anwendung zu bringensup2 Noch deutlicher tritt dieses Problem zu-

1 Stuumlckelberger Brief als Mittel 138 und 140 hat beispielsweise ganz richtig darauf verwie-sen dass einzelne Motive und Vorlieben durchaus biographisch (und nicht kompositorisch) zuerklaumlren sind Allerdings stimme ich ihm nicht so weit zu (in der Tradition Mutschmanns) auchdie Epikurzitate zu Beginn des Corpus dazu zu zaumlhlen2 Vgl um nur ein Beispiel herauszugreifen Cancik Untersuchungen 139f Sie setzt nebendie Moumlglichkeit thematischer Gruppierungen und die Buchgliederung durch raquoSchluss- und An-fangsbriefelaquo auch rein formale Kriterien die gerade durch ihre Vielzahl dazu fuumlhren dass allesmit (fast) allem verbunden werden kann raquo[] Fortsetzungsbriefe Parallelbriefe Komplemen-taumlrbriefe Kontrast- undKorrekturbriefe dienen in gleicher Weise der Gruppenbildung(Hervorhebung UD) innerhalb der Buumlcher Neben vornehmlich inhaltliche Bezuumlge treten anderemehr formaler Art die aber dieselbe Funktion haben etwa die Abfolge der Argumentationsfor-men Besonders fuumlr die spaumlteren Buumlcher ist der Wechsel von theoretischen rein paraumlnetischenund aus theoretischen und paraumlnetischen Partien gebildeten Episteln charakteristischlaquo SchonMaurach Bau hat auf die mangelnde Beweiskraft von Canciks Analysen hingewiesen ua 22raquoAussteht allerdings der Beweis fuumlr ihre Behauptung die Buumlcher stellten Sinneinheiten dar auchihre aperccediluhaften Anmerkungen zum Bau der einzelnen Buumlcher harren der Bestaumltigunglaquo ndash Aufwie duumlnnem Eis ndash vor allem angesichts der beachtlichen inhaltlichen und formalen Varietaumlt je-des einzelnen Briefes ndash die Versuche stehen feste Briefgruppen zu bestimmen zeigt indirekt dieArbeit Hachmanns (Leserfuumlhrung 1994) In ihr kommt er zu dem erstaunlichen Mischbefundeinerseits die Buchgliederungsthese Canciks fuumlr sinnvoll zu erachten (fuumlr das 1 Epistelbuch alsEinheit gegen Maurach vgl 99ff) andererseits fuumlr alle folgenden Briefe wie Maurach rsaquoBrief-kreiselsaquo aufzustellen ndash von denen in seinen Begrenzungen freilich kein einziger mit denen Mau-rachs uumlbereinstimmt

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tagewennmandie verschiedenenForschungsansaumltze gegeneinander haumllt und jemehr Strukturanalysen man liest umso weniger kann man sich ndash nochmals un-geachtet desWertes der hierbei gemachten Einzelbeobachtungen ndash des Eindrucksvon Willkuumlrlichkeit erwehrensup1

Warum nun ist bisher kein vermittelnder Versuch unternommen worden dieBriefe als opus mixtum aus zufaumllligen vielleicht auch assoziativ gefuumlgten Kompo-nenten und systematischer angelegten Elementen zu verstehen Auchdies erklaumlrtsich aus der Forschungshistorie Die starke Kompositionsthese entwickelte sichin der Auseinandersetzung mit Vorwuumlrfen eines mangelnden kompositorischenWollens oder Koumlnnens wie sie am gewichtigsten 1923 Albertini vorgetragen hat-te Dieser hatte in seinem Werk La Composition dans les ouvrages philosophiquesde Seacutenegraveque den Briefen jeglichen Kompositionscharakter abgesprochensup2 Alber-tini wandte sich damit gegen den in der Tat wenig uumlberzeugenden Versuch Hil-genfelds (Senecae epistulae morales 1890) eine Einteilung der Briefe in vier insich geschlossene Themenkomplexe vorzunehmensup3 Konsequenterweise deutete

1 Es fehlt das Kriterium das bewusste (geplante kompositorische) Bezugnahmen sauber vonunbewussten oder sich allein aus der Natur der Sache ergebenden oder gar zufaumllligen Paralle-len abgrenzen wuumlrde Die Wahrscheinlichkeit der Absicht eines solchen Bezuges muss zB umsogeringer veranschlagt werden je weiter beide Instanzen voneinander getrennt je groumlszliger die ter-minologische Unschaumlrfe der verwendeten Begriffe und je unspezifischer die Thematik ist Ammeisten vermisst man dergleichen Uumlberlegungen in der Arbeit Hachmanns dieser (Leserfuumlh-rung 113) bringt zB das Auftreten der Begriffe fortuna und deus in epist 129mit der synonymenVerwendung der Begriffe fortuna fatum necessitas conditor ille iuris humani rerum natura im91 Brief ndash also mehr als einen Oxford-Band spaumlter ndash zusammen und erklaumlrt raquoDas scheinbar zu-faumlllige Nebeneinander von fortuna und deus in ep 129 hat sich vom spaumlten Brief 91 betrachtetals bewusste Setzung erwiesen Sie deutet auf die zweite Haumll f te des Epistelcorpusvoraus (Hervorhebung UD) in der die letztliche Identitaumlt von fortuna und deusmehrfach heraus-gestellt wirdlaquo Die geringe Beweiskraft solcher Bezugsetzungen liegt auf der Hand nach solcherMethode wird fast alles mit allem verbindbar was nur dem gleichen philosophischen Themen-gebiet zugehoumlrt ndash Hachmann uumlbersieht uumlbrigens dass auch im 91 Brief die Begriffe nicht be-liebig austauschbar sondern Beschreibungen verschiedener Sichtweisen sind Wie im 12 Briefverwendet Seneca fortuna wenn das schwer zu akzeptierende Ereignis aus Sicht des Betroffenengeschildert wird deus (uumlbrigens auch in 916) fatum usw um etwas in der kosmische Sichtweisersaquovon obenlsaquo also als Gabe des goumlttlichen Willens zu betrachten2 raquoIl est impossible de voir dans cette collection de lettres un plan meacutethodique drsquoensemblelrsquoexposeacute progressif et systeacutematique drsquoune doctrinelaquo (132) raquo[] il est manifeste qursquoaucun effortnrsquoa eacuteteacute fait dans le recueil des Lettres pour suivre un ordre logiquelaquo (133)3 Naumlheres zur Forschungsgeschichte auf diesem Gebiet bei Mazzoli Valore letterario 1860ndash1863

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er Uumlbereinstimmungen und Gemeinsamkeiten der Briefthematik in benachbartenBriefen (wie zB im 94 und 95 Brief) rein biographischsup1

Im Gegensatz zu Hilgenfeld versuchen die neueren Vertreter der Komposi-tionsthese nicht das Nebeneinander vieler Ideen in den Briefen zu bestreitensondern deuten es vielmehr als von langer Hand geplantes und absichtlich ange-legtes Beziehungsgeflecht Ihr Kompositionsverstaumlndnis ist nicht linear sondernsimultan

Zweifellos werden solcheModelle dem Befund Senecas besser gerecht als dasProkrustesbett Hilgenfelds doch umgekehrt sind sie gezwungen zu behauptenalle Elemente des Zufaumllligen alle Anzeichen biographischer Genese (wie sie ebd134ndash136 anfuumlhrt) seien bloszlige literarische Fiktion kuumlnstliche Nachbildung vonEchtheit Die Briefe werden zu einer blutleeren Erfindung sie erhalten geradezursaquoReiszligbrettcharakterlsaquosup2

Schwerer noch wiegt jedoch die solchen Modellen inhaumlrente Unverbindlich-keit Denn wie alle ihre Vertreter anerkennen macht es die Offenheit der Brief-gattung Seneca leicht in jedem rsaquoSchreibenlsaquo zahllose verschiedene Themen anzu-schneidensup3 Hier nun Haupt- und Nebenthemen sicher voneinander abzugrenzenist ndash vor allem in den fruumlhen Briefen ndash nahezu unmoumlglich Noch mehr Beliebig-keit erzeugt das Bestreben bestimmte thematische und formale Bezuumlge zwischeneinzelnen Briefen als Kompositionsindikatoren fuumlr das Briefcorpus anzusetzenNicht selten sieht sich der Leser dieser Untersuchungen vor die Tatsache gestelltdass er viele andere Bezuumlge zu anderen Briefen entdecken kann die mit gleicherWahrscheinlichkeit ein anderes Kompositionsschema rechtfertigen koumlnnten⁴

Was fehlt ist erstens eine klare Bestimmung dessen wann eine moumlgliche Be-zugsetzung auch als vom Autor intendierte Bezugssetzung im Sinne eines Kompo-

1 ZB Albertini La Composition 134 raquoIls reacutesultent simplement de ce fait que les lettres eacutecritespendantunepeacuteriodedonneacutee sontunies entre elles par lrsquoinfluencedes circonstancesdans lesquel-les elles ont eacuteteacute reacutedigeacutees par la communauteacute de certains souvenirs ou de certaines lectures parla persistance de certaines preacuteoccupationslaquo2 Mazzoli Valore letterario 1863 bringt es (gegen Maurach Bau) auf den Punkt raquoIn questaottica la specificitagrave epistolare viene completamente persadi vista il destinatariodiviene lrsquoastratto(e ingannato) rsaquoLeserlsaquo tutto il rapporto tra emittente e fruitore del messagio morale si irrigidiscenellrsquoartificiosa messa in opera e decrittazione drsquouna rsaquoverborgene Systematiklsaquolaquo3 Nicht nur die Briefsammlung sondern schon die einzelnen Briefe tragen ja bekanntlich uumlber-aus haumlufig die Zuumlge einer Themensammlung zutreffend daher die Kritik Hachmanns Spruche-piloge S 391f Anm 9 am Versuch Rosenbachs in der Briefuumlbersicht fuumlr jeden Brief eine tref-fende Uumlberschrift zu finden Sinnvoller ist fuumlr solche Texte in der Tat Albertinis Methode derParaphrase (105ndash132)4 Daher die bereits oben (S 17 mit Anm 2) aufgefuumlhrten gravierenden Abweichungen zwischenden Ergebnissen der Untersuchungen Canciks Maurachs und Hachmanns

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sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 27

szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 4: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

16 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

auffassen als es Seneca spaumlter einfordern wird Doch dies alles ist nicht Zeichen weitreichenderToleranz oder gar von ruumlckwirkender Beeinflussung Senecas durch seinen Lucilius sondern Teileiner Uumlberzeugungsstrategie die versucht nur an so vielen Fronten die Auseinandersetzung zusuchen wie es zwingend noumltig ist und im Uumlbrigen den Leser im Konsens zu fuumlhren

Im Zuge der wachsenden Bereitschaft Seneca philosophisch ernst zu neh-men wurde es auch moumlglich die auffaumlllige stilistische Durchgestaltung seinerWerke nicht mehr als sachfremde Uumlberformung zu bemaumlngeln sondern als be-wusstesMittel zurHerstellungvonUumlberzeugungbeimLeser anzuerkennenDurchdie Aufdeckung ihres paumldagogischen Zielessup1 erschienen insbesondere die Epistu-lae morales wieder in einem guumlnstigeren Licht Vor allem die Frage der Epikurzi-tate in den ersten 29 Briefen wurde nun nicht mehr primaumlr quellenkritisch beant-wortetsup2 sondern bevorzugt aus biographischersup3 oder paumldagogischer⁴ Perspektiveangegangen

Doch im Bemuumlhen Senecas philosophische und literarische Leistung in denBriefen zu rsaquorehabilitierenlsaquo ist der Fehler begangen worden den Beweis hierfuumlruumlber den Nachweis einer bis ins Detail festgelegten verborgenen Struktur antre-ten zu wollen also nach dem rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen zu suchen Damit aberwurde der Bogen uumlberspannt Zwar werden meiner Meinung nach in der Brief-abfolge durchaus systematische Entwicklungslinien erkennbar insbesondere an

1 Vgl Cancik Untersuchungen 42 raquoIn diesemander Situation des Lernenden orientierten Fort-schreiten glauben wir eine der kompositorischen Grundlinien zu erkennen die das Briefwerkdurchziehenlaquo2 So noch Mutschmann (passim) Grundthese des Aufsatzes ist die direkte (und nicht nur ver-mittelte) Benutzung von Epikurbriefen durch Seneca Dass Seneca uumlberhaupt auf Epikur zuruumlck-greife sei dem eklektischen Charakter der mittleren Stoa geschuldet Jedenfalls resultiere die abdem 30 Brief veraumlnderte Form der Korrespondenz (324 raquoam Schluss der Sammlung ist der Autorfast nicht wiederzuerkennenlaquo) aus der Benutzung andersartiger Quellen raquoJe weiter er sich aberim Verlaufe der Correspondenz von der Gedankenwelt Epikurs entfernte um so mehr verlor erihn auch als stilistisches Vorbild aus den Augenlaquo (324f) ndash Mutschmann zeigt jedoch auch An-saumltze einer funktionalen Betrachtung wenn er die Epikurzitate aus ihrer protreptischen Aufgabegegenuumlber Lucilius erklaumlrt (323) ndash Berechtigte Kritik an der quellenkritischen Herangehenswei-se bei Grimal Temps 233 raquo[] die angeblichenWiderspruumlche dieman nachzuweisen versuchthat lassen sich auf einen Wechsel des Blickpunkts zuruumlckfuumlhren und finden so eine leichte Auf-loumlsunglaquo3 So zB ebd 164 raquoAuf dieser Stufe der Lebenserfuumllltheit gibt es keine Schulen mehr sondernnur noch ein gemeinsames Erlebenlaquo ndash Auch Schottlaender Epikureisches bei Seneca ndash ob-gleich er die paumldagogisch-taktischen Aspekte dieses Vorgehens bemerkt (140) ndash sieht in der Aus-einandersetzung mit Epikur das Abbild eines realen offenen und freundschaftlichen Kampfeszwischen Seneca und Lucilius raquoEr [=Seneca] zeigt dem Epikureer [=Lucilius] seinen eigenenMeister von der besten Seite zeigt sich selber als empfaumlnglichen Leser ndash und kann so hoffenfuumlr das Dennoch seiner stoischen Grundauffassung am ehesten Gehoumlr zu findenlaquo (139)4 Vor allem I Hadot Seelenleitung Cancik Untersuchungen

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 17

der Guumlterlehre wird das wie meine Arbeit noch genauer zeigen wird erkennbarDoch ebenso gibt es eine groszlige Menge freier nicht von einem rsaquoSystemlsaquo oder rsaquoBau-planlsaquo her determinierter Passagensup1 In meinen Augen wirken jedenfalls die imEinzelnen vorgelegten ndash uumlberaus disparaten ndash Vorschlaumlge fuumlr BuchgliederungenrsaquoBriefgruppenlsaquo rsaquoBriefkreiselsaquo usw wenig uumlberzeugend auch wenn die im Rahmendieser Kompositionsanalysen gemachten Beobachtungen durchaus dazu beige-tragen haben unsere Wahrnehmung fuumlr das Motivgeflecht innerhalb der Briefezu schaumlrfen

Offenbar ist es bislang nicht gelungen zwingende Kriterien fuumlr die Zusam-menfassung bzw Abgrenzung von Briefen aufzustellen ich glaube auch kaumdass das moumlglich ist Senecas Briefe enthalten eine solche Menge an Unschaumlrfenund kaleidoskopartigen Themenverbindungen dass sie den Versuch die Sam-lung auf ein definitives Konstruktionsprinzip zuruumlckzufuumlhren schnell in ein Da-naidenunterfangen verwandeln Wie sehr es bisher auf diesem Forschungsgebietan festem Boden unter den Fuumlszligen mangelt beweist der Umstand dass alle bishe-rigen Strukturuntersuchungen zu dem zweifelhaften Mittel greifen vollkommenverschiedeneKritierien fuumlr die Zusammengruppierungbzw TrennungvonBriefengemeinsam zur Anwendung zu bringensup2 Noch deutlicher tritt dieses Problem zu-

1 Stuumlckelberger Brief als Mittel 138 und 140 hat beispielsweise ganz richtig darauf verwie-sen dass einzelne Motive und Vorlieben durchaus biographisch (und nicht kompositorisch) zuerklaumlren sind Allerdings stimme ich ihm nicht so weit zu (in der Tradition Mutschmanns) auchdie Epikurzitate zu Beginn des Corpus dazu zu zaumlhlen2 Vgl um nur ein Beispiel herauszugreifen Cancik Untersuchungen 139f Sie setzt nebendie Moumlglichkeit thematischer Gruppierungen und die Buchgliederung durch raquoSchluss- und An-fangsbriefelaquo auch rein formale Kriterien die gerade durch ihre Vielzahl dazu fuumlhren dass allesmit (fast) allem verbunden werden kann raquo[] Fortsetzungsbriefe Parallelbriefe Komplemen-taumlrbriefe Kontrast- undKorrekturbriefe dienen in gleicher Weise der Gruppenbildung(Hervorhebung UD) innerhalb der Buumlcher Neben vornehmlich inhaltliche Bezuumlge treten anderemehr formaler Art die aber dieselbe Funktion haben etwa die Abfolge der Argumentationsfor-men Besonders fuumlr die spaumlteren Buumlcher ist der Wechsel von theoretischen rein paraumlnetischenund aus theoretischen und paraumlnetischen Partien gebildeten Episteln charakteristischlaquo SchonMaurach Bau hat auf die mangelnde Beweiskraft von Canciks Analysen hingewiesen ua 22raquoAussteht allerdings der Beweis fuumlr ihre Behauptung die Buumlcher stellten Sinneinheiten dar auchihre aperccediluhaften Anmerkungen zum Bau der einzelnen Buumlcher harren der Bestaumltigunglaquo ndash Aufwie duumlnnem Eis ndash vor allem angesichts der beachtlichen inhaltlichen und formalen Varietaumlt je-des einzelnen Briefes ndash die Versuche stehen feste Briefgruppen zu bestimmen zeigt indirekt dieArbeit Hachmanns (Leserfuumlhrung 1994) In ihr kommt er zu dem erstaunlichen Mischbefundeinerseits die Buchgliederungsthese Canciks fuumlr sinnvoll zu erachten (fuumlr das 1 Epistelbuch alsEinheit gegen Maurach vgl 99ff) andererseits fuumlr alle folgenden Briefe wie Maurach rsaquoBrief-kreiselsaquo aufzustellen ndash von denen in seinen Begrenzungen freilich kein einziger mit denen Mau-rachs uumlbereinstimmt

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tagewennmandie verschiedenenForschungsansaumltze gegeneinander haumllt und jemehr Strukturanalysen man liest umso weniger kann man sich ndash nochmals un-geachtet desWertes der hierbei gemachten Einzelbeobachtungen ndash des Eindrucksvon Willkuumlrlichkeit erwehrensup1

Warum nun ist bisher kein vermittelnder Versuch unternommen worden dieBriefe als opus mixtum aus zufaumllligen vielleicht auch assoziativ gefuumlgten Kompo-nenten und systematischer angelegten Elementen zu verstehen Auchdies erklaumlrtsich aus der Forschungshistorie Die starke Kompositionsthese entwickelte sichin der Auseinandersetzung mit Vorwuumlrfen eines mangelnden kompositorischenWollens oder Koumlnnens wie sie am gewichtigsten 1923 Albertini vorgetragen hat-te Dieser hatte in seinem Werk La Composition dans les ouvrages philosophiquesde Seacutenegraveque den Briefen jeglichen Kompositionscharakter abgesprochensup2 Alber-tini wandte sich damit gegen den in der Tat wenig uumlberzeugenden Versuch Hil-genfelds (Senecae epistulae morales 1890) eine Einteilung der Briefe in vier insich geschlossene Themenkomplexe vorzunehmensup3 Konsequenterweise deutete

1 Es fehlt das Kriterium das bewusste (geplante kompositorische) Bezugnahmen sauber vonunbewussten oder sich allein aus der Natur der Sache ergebenden oder gar zufaumllligen Paralle-len abgrenzen wuumlrde Die Wahrscheinlichkeit der Absicht eines solchen Bezuges muss zB umsogeringer veranschlagt werden je weiter beide Instanzen voneinander getrennt je groumlszliger die ter-minologische Unschaumlrfe der verwendeten Begriffe und je unspezifischer die Thematik ist Ammeisten vermisst man dergleichen Uumlberlegungen in der Arbeit Hachmanns dieser (Leserfuumlh-rung 113) bringt zB das Auftreten der Begriffe fortuna und deus in epist 129mit der synonymenVerwendung der Begriffe fortuna fatum necessitas conditor ille iuris humani rerum natura im91 Brief ndash also mehr als einen Oxford-Band spaumlter ndash zusammen und erklaumlrt raquoDas scheinbar zu-faumlllige Nebeneinander von fortuna und deus in ep 129 hat sich vom spaumlten Brief 91 betrachtetals bewusste Setzung erwiesen Sie deutet auf die zweite Haumll f te des Epistelcorpusvoraus (Hervorhebung UD) in der die letztliche Identitaumlt von fortuna und deusmehrfach heraus-gestellt wirdlaquo Die geringe Beweiskraft solcher Bezugsetzungen liegt auf der Hand nach solcherMethode wird fast alles mit allem verbindbar was nur dem gleichen philosophischen Themen-gebiet zugehoumlrt ndash Hachmann uumlbersieht uumlbrigens dass auch im 91 Brief die Begriffe nicht be-liebig austauschbar sondern Beschreibungen verschiedener Sichtweisen sind Wie im 12 Briefverwendet Seneca fortuna wenn das schwer zu akzeptierende Ereignis aus Sicht des Betroffenengeschildert wird deus (uumlbrigens auch in 916) fatum usw um etwas in der kosmische Sichtweisersaquovon obenlsaquo also als Gabe des goumlttlichen Willens zu betrachten2 raquoIl est impossible de voir dans cette collection de lettres un plan meacutethodique drsquoensemblelrsquoexposeacute progressif et systeacutematique drsquoune doctrinelaquo (132) raquo[] il est manifeste qursquoaucun effortnrsquoa eacuteteacute fait dans le recueil des Lettres pour suivre un ordre logiquelaquo (133)3 Naumlheres zur Forschungsgeschichte auf diesem Gebiet bei Mazzoli Valore letterario 1860ndash1863

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 19

er Uumlbereinstimmungen und Gemeinsamkeiten der Briefthematik in benachbartenBriefen (wie zB im 94 und 95 Brief) rein biographischsup1

Im Gegensatz zu Hilgenfeld versuchen die neueren Vertreter der Komposi-tionsthese nicht das Nebeneinander vieler Ideen in den Briefen zu bestreitensondern deuten es vielmehr als von langer Hand geplantes und absichtlich ange-legtes Beziehungsgeflecht Ihr Kompositionsverstaumlndnis ist nicht linear sondernsimultan

Zweifellos werden solcheModelle dem Befund Senecas besser gerecht als dasProkrustesbett Hilgenfelds doch umgekehrt sind sie gezwungen zu behauptenalle Elemente des Zufaumllligen alle Anzeichen biographischer Genese (wie sie ebd134ndash136 anfuumlhrt) seien bloszlige literarische Fiktion kuumlnstliche Nachbildung vonEchtheit Die Briefe werden zu einer blutleeren Erfindung sie erhalten geradezursaquoReiszligbrettcharakterlsaquosup2

Schwerer noch wiegt jedoch die solchen Modellen inhaumlrente Unverbindlich-keit Denn wie alle ihre Vertreter anerkennen macht es die Offenheit der Brief-gattung Seneca leicht in jedem rsaquoSchreibenlsaquo zahllose verschiedene Themen anzu-schneidensup3 Hier nun Haupt- und Nebenthemen sicher voneinander abzugrenzenist ndash vor allem in den fruumlhen Briefen ndash nahezu unmoumlglich Noch mehr Beliebig-keit erzeugt das Bestreben bestimmte thematische und formale Bezuumlge zwischeneinzelnen Briefen als Kompositionsindikatoren fuumlr das Briefcorpus anzusetzenNicht selten sieht sich der Leser dieser Untersuchungen vor die Tatsache gestelltdass er viele andere Bezuumlge zu anderen Briefen entdecken kann die mit gleicherWahrscheinlichkeit ein anderes Kompositionsschema rechtfertigen koumlnnten⁴

Was fehlt ist erstens eine klare Bestimmung dessen wann eine moumlgliche Be-zugsetzung auch als vom Autor intendierte Bezugssetzung im Sinne eines Kompo-

1 ZB Albertini La Composition 134 raquoIls reacutesultent simplement de ce fait que les lettres eacutecritespendantunepeacuteriodedonneacutee sontunies entre elles par lrsquoinfluencedes circonstancesdans lesquel-les elles ont eacuteteacute reacutedigeacutees par la communauteacute de certains souvenirs ou de certaines lectures parla persistance de certaines preacuteoccupationslaquo2 Mazzoli Valore letterario 1863 bringt es (gegen Maurach Bau) auf den Punkt raquoIn questaottica la specificitagrave epistolare viene completamente persadi vista il destinatariodiviene lrsquoastratto(e ingannato) rsaquoLeserlsaquo tutto il rapporto tra emittente e fruitore del messagio morale si irrigidiscenellrsquoartificiosa messa in opera e decrittazione drsquouna rsaquoverborgene Systematiklsaquolaquo3 Nicht nur die Briefsammlung sondern schon die einzelnen Briefe tragen ja bekanntlich uumlber-aus haumlufig die Zuumlge einer Themensammlung zutreffend daher die Kritik Hachmanns Spruche-piloge S 391f Anm 9 am Versuch Rosenbachs in der Briefuumlbersicht fuumlr jeden Brief eine tref-fende Uumlberschrift zu finden Sinnvoller ist fuumlr solche Texte in der Tat Albertinis Methode derParaphrase (105ndash132)4 Daher die bereits oben (S 17 mit Anm 2) aufgefuumlhrten gravierenden Abweichungen zwischenden Ergebnissen der Untersuchungen Canciks Maurachs und Hachmanns

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20 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 21

tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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22 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 23

Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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24 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 5: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 17

der Guumlterlehre wird das wie meine Arbeit noch genauer zeigen wird erkennbarDoch ebenso gibt es eine groszlige Menge freier nicht von einem rsaquoSystemlsaquo oder rsaquoBau-planlsaquo her determinierter Passagensup1 In meinen Augen wirken jedenfalls die imEinzelnen vorgelegten ndash uumlberaus disparaten ndash Vorschlaumlge fuumlr BuchgliederungenrsaquoBriefgruppenlsaquo rsaquoBriefkreiselsaquo usw wenig uumlberzeugend auch wenn die im Rahmendieser Kompositionsanalysen gemachten Beobachtungen durchaus dazu beige-tragen haben unsere Wahrnehmung fuumlr das Motivgeflecht innerhalb der Briefezu schaumlrfen

Offenbar ist es bislang nicht gelungen zwingende Kriterien fuumlr die Zusam-menfassung bzw Abgrenzung von Briefen aufzustellen ich glaube auch kaumdass das moumlglich ist Senecas Briefe enthalten eine solche Menge an Unschaumlrfenund kaleidoskopartigen Themenverbindungen dass sie den Versuch die Sam-lung auf ein definitives Konstruktionsprinzip zuruumlckzufuumlhren schnell in ein Da-naidenunterfangen verwandeln Wie sehr es bisher auf diesem Forschungsgebietan festem Boden unter den Fuumlszligen mangelt beweist der Umstand dass alle bishe-rigen Strukturuntersuchungen zu dem zweifelhaften Mittel greifen vollkommenverschiedeneKritierien fuumlr die Zusammengruppierungbzw TrennungvonBriefengemeinsam zur Anwendung zu bringensup2 Noch deutlicher tritt dieses Problem zu-

1 Stuumlckelberger Brief als Mittel 138 und 140 hat beispielsweise ganz richtig darauf verwie-sen dass einzelne Motive und Vorlieben durchaus biographisch (und nicht kompositorisch) zuerklaumlren sind Allerdings stimme ich ihm nicht so weit zu (in der Tradition Mutschmanns) auchdie Epikurzitate zu Beginn des Corpus dazu zu zaumlhlen2 Vgl um nur ein Beispiel herauszugreifen Cancik Untersuchungen 139f Sie setzt nebendie Moumlglichkeit thematischer Gruppierungen und die Buchgliederung durch raquoSchluss- und An-fangsbriefelaquo auch rein formale Kriterien die gerade durch ihre Vielzahl dazu fuumlhren dass allesmit (fast) allem verbunden werden kann raquo[] Fortsetzungsbriefe Parallelbriefe Komplemen-taumlrbriefe Kontrast- undKorrekturbriefe dienen in gleicher Weise der Gruppenbildung(Hervorhebung UD) innerhalb der Buumlcher Neben vornehmlich inhaltliche Bezuumlge treten anderemehr formaler Art die aber dieselbe Funktion haben etwa die Abfolge der Argumentationsfor-men Besonders fuumlr die spaumlteren Buumlcher ist der Wechsel von theoretischen rein paraumlnetischenund aus theoretischen und paraumlnetischen Partien gebildeten Episteln charakteristischlaquo SchonMaurach Bau hat auf die mangelnde Beweiskraft von Canciks Analysen hingewiesen ua 22raquoAussteht allerdings der Beweis fuumlr ihre Behauptung die Buumlcher stellten Sinneinheiten dar auchihre aperccediluhaften Anmerkungen zum Bau der einzelnen Buumlcher harren der Bestaumltigunglaquo ndash Aufwie duumlnnem Eis ndash vor allem angesichts der beachtlichen inhaltlichen und formalen Varietaumlt je-des einzelnen Briefes ndash die Versuche stehen feste Briefgruppen zu bestimmen zeigt indirekt dieArbeit Hachmanns (Leserfuumlhrung 1994) In ihr kommt er zu dem erstaunlichen Mischbefundeinerseits die Buchgliederungsthese Canciks fuumlr sinnvoll zu erachten (fuumlr das 1 Epistelbuch alsEinheit gegen Maurach vgl 99ff) andererseits fuumlr alle folgenden Briefe wie Maurach rsaquoBrief-kreiselsaquo aufzustellen ndash von denen in seinen Begrenzungen freilich kein einziger mit denen Mau-rachs uumlbereinstimmt

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18 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

tagewennmandie verschiedenenForschungsansaumltze gegeneinander haumllt und jemehr Strukturanalysen man liest umso weniger kann man sich ndash nochmals un-geachtet desWertes der hierbei gemachten Einzelbeobachtungen ndash des Eindrucksvon Willkuumlrlichkeit erwehrensup1

Warum nun ist bisher kein vermittelnder Versuch unternommen worden dieBriefe als opus mixtum aus zufaumllligen vielleicht auch assoziativ gefuumlgten Kompo-nenten und systematischer angelegten Elementen zu verstehen Auchdies erklaumlrtsich aus der Forschungshistorie Die starke Kompositionsthese entwickelte sichin der Auseinandersetzung mit Vorwuumlrfen eines mangelnden kompositorischenWollens oder Koumlnnens wie sie am gewichtigsten 1923 Albertini vorgetragen hat-te Dieser hatte in seinem Werk La Composition dans les ouvrages philosophiquesde Seacutenegraveque den Briefen jeglichen Kompositionscharakter abgesprochensup2 Alber-tini wandte sich damit gegen den in der Tat wenig uumlberzeugenden Versuch Hil-genfelds (Senecae epistulae morales 1890) eine Einteilung der Briefe in vier insich geschlossene Themenkomplexe vorzunehmensup3 Konsequenterweise deutete

1 Es fehlt das Kriterium das bewusste (geplante kompositorische) Bezugnahmen sauber vonunbewussten oder sich allein aus der Natur der Sache ergebenden oder gar zufaumllligen Paralle-len abgrenzen wuumlrde Die Wahrscheinlichkeit der Absicht eines solchen Bezuges muss zB umsogeringer veranschlagt werden je weiter beide Instanzen voneinander getrennt je groumlszliger die ter-minologische Unschaumlrfe der verwendeten Begriffe und je unspezifischer die Thematik ist Ammeisten vermisst man dergleichen Uumlberlegungen in der Arbeit Hachmanns dieser (Leserfuumlh-rung 113) bringt zB das Auftreten der Begriffe fortuna und deus in epist 129mit der synonymenVerwendung der Begriffe fortuna fatum necessitas conditor ille iuris humani rerum natura im91 Brief ndash also mehr als einen Oxford-Band spaumlter ndash zusammen und erklaumlrt raquoDas scheinbar zu-faumlllige Nebeneinander von fortuna und deus in ep 129 hat sich vom spaumlten Brief 91 betrachtetals bewusste Setzung erwiesen Sie deutet auf die zweite Haumll f te des Epistelcorpusvoraus (Hervorhebung UD) in der die letztliche Identitaumlt von fortuna und deusmehrfach heraus-gestellt wirdlaquo Die geringe Beweiskraft solcher Bezugsetzungen liegt auf der Hand nach solcherMethode wird fast alles mit allem verbindbar was nur dem gleichen philosophischen Themen-gebiet zugehoumlrt ndash Hachmann uumlbersieht uumlbrigens dass auch im 91 Brief die Begriffe nicht be-liebig austauschbar sondern Beschreibungen verschiedener Sichtweisen sind Wie im 12 Briefverwendet Seneca fortuna wenn das schwer zu akzeptierende Ereignis aus Sicht des Betroffenengeschildert wird deus (uumlbrigens auch in 916) fatum usw um etwas in der kosmische Sichtweisersaquovon obenlsaquo also als Gabe des goumlttlichen Willens zu betrachten2 raquoIl est impossible de voir dans cette collection de lettres un plan meacutethodique drsquoensemblelrsquoexposeacute progressif et systeacutematique drsquoune doctrinelaquo (132) raquo[] il est manifeste qursquoaucun effortnrsquoa eacuteteacute fait dans le recueil des Lettres pour suivre un ordre logiquelaquo (133)3 Naumlheres zur Forschungsgeschichte auf diesem Gebiet bei Mazzoli Valore letterario 1860ndash1863

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 19

er Uumlbereinstimmungen und Gemeinsamkeiten der Briefthematik in benachbartenBriefen (wie zB im 94 und 95 Brief) rein biographischsup1

Im Gegensatz zu Hilgenfeld versuchen die neueren Vertreter der Komposi-tionsthese nicht das Nebeneinander vieler Ideen in den Briefen zu bestreitensondern deuten es vielmehr als von langer Hand geplantes und absichtlich ange-legtes Beziehungsgeflecht Ihr Kompositionsverstaumlndnis ist nicht linear sondernsimultan

Zweifellos werden solcheModelle dem Befund Senecas besser gerecht als dasProkrustesbett Hilgenfelds doch umgekehrt sind sie gezwungen zu behauptenalle Elemente des Zufaumllligen alle Anzeichen biographischer Genese (wie sie ebd134ndash136 anfuumlhrt) seien bloszlige literarische Fiktion kuumlnstliche Nachbildung vonEchtheit Die Briefe werden zu einer blutleeren Erfindung sie erhalten geradezursaquoReiszligbrettcharakterlsaquosup2

Schwerer noch wiegt jedoch die solchen Modellen inhaumlrente Unverbindlich-keit Denn wie alle ihre Vertreter anerkennen macht es die Offenheit der Brief-gattung Seneca leicht in jedem rsaquoSchreibenlsaquo zahllose verschiedene Themen anzu-schneidensup3 Hier nun Haupt- und Nebenthemen sicher voneinander abzugrenzenist ndash vor allem in den fruumlhen Briefen ndash nahezu unmoumlglich Noch mehr Beliebig-keit erzeugt das Bestreben bestimmte thematische und formale Bezuumlge zwischeneinzelnen Briefen als Kompositionsindikatoren fuumlr das Briefcorpus anzusetzenNicht selten sieht sich der Leser dieser Untersuchungen vor die Tatsache gestelltdass er viele andere Bezuumlge zu anderen Briefen entdecken kann die mit gleicherWahrscheinlichkeit ein anderes Kompositionsschema rechtfertigen koumlnnten⁴

Was fehlt ist erstens eine klare Bestimmung dessen wann eine moumlgliche Be-zugsetzung auch als vom Autor intendierte Bezugssetzung im Sinne eines Kompo-

1 ZB Albertini La Composition 134 raquoIls reacutesultent simplement de ce fait que les lettres eacutecritespendantunepeacuteriodedonneacutee sontunies entre elles par lrsquoinfluencedes circonstancesdans lesquel-les elles ont eacuteteacute reacutedigeacutees par la communauteacute de certains souvenirs ou de certaines lectures parla persistance de certaines preacuteoccupationslaquo2 Mazzoli Valore letterario 1863 bringt es (gegen Maurach Bau) auf den Punkt raquoIn questaottica la specificitagrave epistolare viene completamente persadi vista il destinatariodiviene lrsquoastratto(e ingannato) rsaquoLeserlsaquo tutto il rapporto tra emittente e fruitore del messagio morale si irrigidiscenellrsquoartificiosa messa in opera e decrittazione drsquouna rsaquoverborgene Systematiklsaquolaquo3 Nicht nur die Briefsammlung sondern schon die einzelnen Briefe tragen ja bekanntlich uumlber-aus haumlufig die Zuumlge einer Themensammlung zutreffend daher die Kritik Hachmanns Spruche-piloge S 391f Anm 9 am Versuch Rosenbachs in der Briefuumlbersicht fuumlr jeden Brief eine tref-fende Uumlberschrift zu finden Sinnvoller ist fuumlr solche Texte in der Tat Albertinis Methode derParaphrase (105ndash132)4 Daher die bereits oben (S 17 mit Anm 2) aufgefuumlhrten gravierenden Abweichungen zwischenden Ergebnissen der Untersuchungen Canciks Maurachs und Hachmanns

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20 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 21

tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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22 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 23

Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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24 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 25

was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 6: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

18 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

tagewennmandie verschiedenenForschungsansaumltze gegeneinander haumllt und jemehr Strukturanalysen man liest umso weniger kann man sich ndash nochmals un-geachtet desWertes der hierbei gemachten Einzelbeobachtungen ndash des Eindrucksvon Willkuumlrlichkeit erwehrensup1

Warum nun ist bisher kein vermittelnder Versuch unternommen worden dieBriefe als opus mixtum aus zufaumllligen vielleicht auch assoziativ gefuumlgten Kompo-nenten und systematischer angelegten Elementen zu verstehen Auchdies erklaumlrtsich aus der Forschungshistorie Die starke Kompositionsthese entwickelte sichin der Auseinandersetzung mit Vorwuumlrfen eines mangelnden kompositorischenWollens oder Koumlnnens wie sie am gewichtigsten 1923 Albertini vorgetragen hat-te Dieser hatte in seinem Werk La Composition dans les ouvrages philosophiquesde Seacutenegraveque den Briefen jeglichen Kompositionscharakter abgesprochensup2 Alber-tini wandte sich damit gegen den in der Tat wenig uumlberzeugenden Versuch Hil-genfelds (Senecae epistulae morales 1890) eine Einteilung der Briefe in vier insich geschlossene Themenkomplexe vorzunehmensup3 Konsequenterweise deutete

1 Es fehlt das Kriterium das bewusste (geplante kompositorische) Bezugnahmen sauber vonunbewussten oder sich allein aus der Natur der Sache ergebenden oder gar zufaumllligen Paralle-len abgrenzen wuumlrde Die Wahrscheinlichkeit der Absicht eines solchen Bezuges muss zB umsogeringer veranschlagt werden je weiter beide Instanzen voneinander getrennt je groumlszliger die ter-minologische Unschaumlrfe der verwendeten Begriffe und je unspezifischer die Thematik ist Ammeisten vermisst man dergleichen Uumlberlegungen in der Arbeit Hachmanns dieser (Leserfuumlh-rung 113) bringt zB das Auftreten der Begriffe fortuna und deus in epist 129mit der synonymenVerwendung der Begriffe fortuna fatum necessitas conditor ille iuris humani rerum natura im91 Brief ndash also mehr als einen Oxford-Band spaumlter ndash zusammen und erklaumlrt raquoDas scheinbar zu-faumlllige Nebeneinander von fortuna und deus in ep 129 hat sich vom spaumlten Brief 91 betrachtetals bewusste Setzung erwiesen Sie deutet auf die zweite Haumll f te des Epistelcorpusvoraus (Hervorhebung UD) in der die letztliche Identitaumlt von fortuna und deusmehrfach heraus-gestellt wirdlaquo Die geringe Beweiskraft solcher Bezugsetzungen liegt auf der Hand nach solcherMethode wird fast alles mit allem verbindbar was nur dem gleichen philosophischen Themen-gebiet zugehoumlrt ndash Hachmann uumlbersieht uumlbrigens dass auch im 91 Brief die Begriffe nicht be-liebig austauschbar sondern Beschreibungen verschiedener Sichtweisen sind Wie im 12 Briefverwendet Seneca fortuna wenn das schwer zu akzeptierende Ereignis aus Sicht des Betroffenengeschildert wird deus (uumlbrigens auch in 916) fatum usw um etwas in der kosmische Sichtweisersaquovon obenlsaquo also als Gabe des goumlttlichen Willens zu betrachten2 raquoIl est impossible de voir dans cette collection de lettres un plan meacutethodique drsquoensemblelrsquoexposeacute progressif et systeacutematique drsquoune doctrinelaquo (132) raquo[] il est manifeste qursquoaucun effortnrsquoa eacuteteacute fait dans le recueil des Lettres pour suivre un ordre logiquelaquo (133)3 Naumlheres zur Forschungsgeschichte auf diesem Gebiet bei Mazzoli Valore letterario 1860ndash1863

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11 Senecas Therapeutik Tendenzen der Forschung | 19

er Uumlbereinstimmungen und Gemeinsamkeiten der Briefthematik in benachbartenBriefen (wie zB im 94 und 95 Brief) rein biographischsup1

Im Gegensatz zu Hilgenfeld versuchen die neueren Vertreter der Komposi-tionsthese nicht das Nebeneinander vieler Ideen in den Briefen zu bestreitensondern deuten es vielmehr als von langer Hand geplantes und absichtlich ange-legtes Beziehungsgeflecht Ihr Kompositionsverstaumlndnis ist nicht linear sondernsimultan

Zweifellos werden solcheModelle dem Befund Senecas besser gerecht als dasProkrustesbett Hilgenfelds doch umgekehrt sind sie gezwungen zu behauptenalle Elemente des Zufaumllligen alle Anzeichen biographischer Genese (wie sie ebd134ndash136 anfuumlhrt) seien bloszlige literarische Fiktion kuumlnstliche Nachbildung vonEchtheit Die Briefe werden zu einer blutleeren Erfindung sie erhalten geradezursaquoReiszligbrettcharakterlsaquosup2

Schwerer noch wiegt jedoch die solchen Modellen inhaumlrente Unverbindlich-keit Denn wie alle ihre Vertreter anerkennen macht es die Offenheit der Brief-gattung Seneca leicht in jedem rsaquoSchreibenlsaquo zahllose verschiedene Themen anzu-schneidensup3 Hier nun Haupt- und Nebenthemen sicher voneinander abzugrenzenist ndash vor allem in den fruumlhen Briefen ndash nahezu unmoumlglich Noch mehr Beliebig-keit erzeugt das Bestreben bestimmte thematische und formale Bezuumlge zwischeneinzelnen Briefen als Kompositionsindikatoren fuumlr das Briefcorpus anzusetzenNicht selten sieht sich der Leser dieser Untersuchungen vor die Tatsache gestelltdass er viele andere Bezuumlge zu anderen Briefen entdecken kann die mit gleicherWahrscheinlichkeit ein anderes Kompositionsschema rechtfertigen koumlnnten⁴

Was fehlt ist erstens eine klare Bestimmung dessen wann eine moumlgliche Be-zugsetzung auch als vom Autor intendierte Bezugssetzung im Sinne eines Kompo-

1 ZB Albertini La Composition 134 raquoIls reacutesultent simplement de ce fait que les lettres eacutecritespendantunepeacuteriodedonneacutee sontunies entre elles par lrsquoinfluencedes circonstancesdans lesquel-les elles ont eacuteteacute reacutedigeacutees par la communauteacute de certains souvenirs ou de certaines lectures parla persistance de certaines preacuteoccupationslaquo2 Mazzoli Valore letterario 1863 bringt es (gegen Maurach Bau) auf den Punkt raquoIn questaottica la specificitagrave epistolare viene completamente persadi vista il destinatariodiviene lrsquoastratto(e ingannato) rsaquoLeserlsaquo tutto il rapporto tra emittente e fruitore del messagio morale si irrigidiscenellrsquoartificiosa messa in opera e decrittazione drsquouna rsaquoverborgene Systematiklsaquolaquo3 Nicht nur die Briefsammlung sondern schon die einzelnen Briefe tragen ja bekanntlich uumlber-aus haumlufig die Zuumlge einer Themensammlung zutreffend daher die Kritik Hachmanns Spruche-piloge S 391f Anm 9 am Versuch Rosenbachs in der Briefuumlbersicht fuumlr jeden Brief eine tref-fende Uumlberschrift zu finden Sinnvoller ist fuumlr solche Texte in der Tat Albertinis Methode derParaphrase (105ndash132)4 Daher die bereits oben (S 17 mit Anm 2) aufgefuumlhrten gravierenden Abweichungen zwischenden Ergebnissen der Untersuchungen Canciks Maurachs und Hachmanns

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20 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 21

tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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22 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 23

Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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24 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 25

was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 27

szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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er Uumlbereinstimmungen und Gemeinsamkeiten der Briefthematik in benachbartenBriefen (wie zB im 94 und 95 Brief) rein biographischsup1

Im Gegensatz zu Hilgenfeld versuchen die neueren Vertreter der Komposi-tionsthese nicht das Nebeneinander vieler Ideen in den Briefen zu bestreitensondern deuten es vielmehr als von langer Hand geplantes und absichtlich ange-legtes Beziehungsgeflecht Ihr Kompositionsverstaumlndnis ist nicht linear sondernsimultan

Zweifellos werden solcheModelle dem Befund Senecas besser gerecht als dasProkrustesbett Hilgenfelds doch umgekehrt sind sie gezwungen zu behauptenalle Elemente des Zufaumllligen alle Anzeichen biographischer Genese (wie sie ebd134ndash136 anfuumlhrt) seien bloszlige literarische Fiktion kuumlnstliche Nachbildung vonEchtheit Die Briefe werden zu einer blutleeren Erfindung sie erhalten geradezursaquoReiszligbrettcharakterlsaquosup2

Schwerer noch wiegt jedoch die solchen Modellen inhaumlrente Unverbindlich-keit Denn wie alle ihre Vertreter anerkennen macht es die Offenheit der Brief-gattung Seneca leicht in jedem rsaquoSchreibenlsaquo zahllose verschiedene Themen anzu-schneidensup3 Hier nun Haupt- und Nebenthemen sicher voneinander abzugrenzenist ndash vor allem in den fruumlhen Briefen ndash nahezu unmoumlglich Noch mehr Beliebig-keit erzeugt das Bestreben bestimmte thematische und formale Bezuumlge zwischeneinzelnen Briefen als Kompositionsindikatoren fuumlr das Briefcorpus anzusetzenNicht selten sieht sich der Leser dieser Untersuchungen vor die Tatsache gestelltdass er viele andere Bezuumlge zu anderen Briefen entdecken kann die mit gleicherWahrscheinlichkeit ein anderes Kompositionsschema rechtfertigen koumlnnten⁴

Was fehlt ist erstens eine klare Bestimmung dessen wann eine moumlgliche Be-zugsetzung auch als vom Autor intendierte Bezugssetzung im Sinne eines Kompo-

1 ZB Albertini La Composition 134 raquoIls reacutesultent simplement de ce fait que les lettres eacutecritespendantunepeacuteriodedonneacutee sontunies entre elles par lrsquoinfluencedes circonstancesdans lesquel-les elles ont eacuteteacute reacutedigeacutees par la communauteacute de certains souvenirs ou de certaines lectures parla persistance de certaines preacuteoccupationslaquo2 Mazzoli Valore letterario 1863 bringt es (gegen Maurach Bau) auf den Punkt raquoIn questaottica la specificitagrave epistolare viene completamente persadi vista il destinatariodiviene lrsquoastratto(e ingannato) rsaquoLeserlsaquo tutto il rapporto tra emittente e fruitore del messagio morale si irrigidiscenellrsquoartificiosa messa in opera e decrittazione drsquouna rsaquoverborgene Systematiklsaquolaquo3 Nicht nur die Briefsammlung sondern schon die einzelnen Briefe tragen ja bekanntlich uumlber-aus haumlufig die Zuumlge einer Themensammlung zutreffend daher die Kritik Hachmanns Spruche-piloge S 391f Anm 9 am Versuch Rosenbachs in der Briefuumlbersicht fuumlr jeden Brief eine tref-fende Uumlberschrift zu finden Sinnvoller ist fuumlr solche Texte in der Tat Albertinis Methode derParaphrase (105ndash132)4 Daher die bereits oben (S 17 mit Anm 2) aufgefuumlhrten gravierenden Abweichungen zwischenden Ergebnissen der Untersuchungen Canciks Maurachs und Hachmanns

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20 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 21

tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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22 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 23

Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 8: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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sitionselementes anzusehen istsup1 Nur wo dies geleistet waumlre ndash ich glaube aller-dings nicht dass das uumlberhaupt moumlglich ist ndash koumlnnte eine Kompositionsidee alsdie eigentlich intendierte erwiesen werden

Zweitensbeduumlrfte es klarer Kriterien zurUnterscheidung von raquoHaupt- undNe-benthemenlaquosup2 nicht nur der einzelnen Briefe sondern vor allem der so genanntenrsaquoBriefkreiselsaquo Ist zB eine (moumlgliche) Zuordnung verschiedener Motive zu einemgemeinsamen Systembereich stoischer Ethik schon ausreichend um diesen zumrsaquoGrundgedankenlsaquo einer Briefgruppe zu erklaumlrensup3

Drittens wird eine Unterscheidung von Haupt- und Nebengedanken ndash zumalwenn sie auf mehrere Briefe in Folge passen soll ndash nicht leicht moumlglich sein⁴ Jaes besteht wie Mazzoli richtig andeutet die Gefahr dass die Methode hier be-reits ihre Ergebnisse vorherbestimmt⁵ Denn es ist nicht verwunderlich dass dieSuche nach den ausschlaggebenden raquoVerknuumlpfungenlaquo⁶ ndash vor allem weil sie ohneGegenprobe vorgeht ndash fast immer erfolgreich ist (zumal fuumlr den Fall eines Nega-tivbefundes das bequeme Instrument des rsaquoTrennbriefeslsaquo zu Diensten steht)

Insgesamt scheinen mir die Briefe was die internen Bezugnahmen betrifftweder einem Historiengemaumllde (mit einer durch und durch determinierten Struk-

1 Vgl oben Anm 1 auf S 182 Maurach Bau 183 ZB ebd 74 (zu epist 12ndash15) raquoZugrunde liegt demnach allen Briefen dieser Gedanke Ruumlckzugvom Koumlrper schafft Freiheit von der Furcht das Morgen koumlnnte nicht kommen man koumlnnte seineGuumlter verlieren [] Von diesem Grundgedanken her erklaumlren sich all die Motive die scheinbardisparat nebeneinander standenlaquo4 Die in den Briefen vorzufindende groszlige Vielfalt von thematischen Parallelen sich systema-tisch ergaumlnzendenGedankenusw versperrt sich einer eindimensionalenDeutung dh einer ein-heitlichen Zielrichtung (es ist auf einer houmlheren Stufe das alte ProblemHilgenfelds) Vielleichtwaumlre es angesichts dessen konsequenter gewesen statt einem eindimensionalen ein rsaquomehrlagi-geslsaquo Kompositionsmodell aufzustellen Am naumlchstem kommt diesem Gedanken Canciks Begriffdes reacuteseau entrelaceacute (Untersuchungen S 68) doch auch sie haumllt (S 138ff) am Vorhaben festgewissermaszligen den Plan fuumlr die Briefe zu rsaquodechiffrierenlsaquo5 Mazzoli Valore letterario 1862 gibt (gegen Cancik) zu bedenken eine solche Untersuchungginge von der unabdingbaren Voraussetzung aus raquoche le lettere constituiscono un insiemecostruito artificialmente con strategie (ove il mittente soverchia) dissimulate dalla tattica (epis-tolare)laquo ndash Dem ersten Teil der Kritik kann ich voll zustimmen Den zweiten sehe ich allerdingsnicht zwingend mit dem ersten verknuumlpft eine Strategie kann im Gesamtwerk durchaus ange-legt sein auch wenn das Werk selbst nicht eine literarische Einheit (im Sinne eines organischgegliederten Ganzen vgl unten Anm 1 auf S 28) darstellt6 Maurach Bau zB S 15 dabei wird stillschweigend vorausgesetzt dass inhaltliche odersprachliche Aumlhnlichkeiten eine die Briefe als solche verknuumlpfende Funktion haben Ich waumlre davorsichtiger erstens erklaumlren sich vieleAnklaumlnge schondaraus dass Senecas Gedanken ohnehinimmer um dieselben Themen kreisen Und zweitens werden vielleicht gar nicht Briefe verknuumlpftsondern einfach nur Themen

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tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

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Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 9: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 21

tur) noch einer Farbpalette voll mit zufaumlllig verteilten Farbklecksen zu gleichensondern einer zwar bunt gemischten aber doch feinfuumlhlig ausdifferenzierten Col-lage in der eine gewisse Entwicklung in der Farbverteilung sichtbarwird Auch soetwas kann man mit Recht als Komposition bezeichnen Doch man darf es nichtmit rsaquoSystematiklsaquo gleichsetzen

Am ehesten kann man Senecas Briefe in dieser Beziehung mit der KompositionvonOvidsMetamorphosenvergleichen BeideWerkendashwohl kaumzufaumlllig angren-zenden Epochen entstammend ndash sind eine im Prinzip freie Sammlungsform Sieorientieren sich dabei an einem rsaquoroten Fadenlsaquo der jedoch ndash um im Bild zu blei-ben ndashnicht sonderlich straff gespannt ist sondern durchaus in Schleifen und Kur-ven verlaumluft und allerlei buntes Zeug an sich zu haumlngen hat bei Seneca ist dieserFaden in der allmaumlhlichen Steigerung des philosophischen Niveaus zu sehen beiOvid im chronologischen Fortschritt die Entwicklung erfolgt jeweils nicht zwin-gend von Brief zuBrief bzw Metamorphose zu Metamorphose ist aber doch in derGesamtanlage ohne Muumlhe zu erkennen Die Verknuumlpfungen zwischen den ein-zelnen Abschnitten sind auch bei Ovid sehr frei undeterminiert und assoziativSeine Mythenverklammerungen erwecken stellenweise den Eindruck von gerade-zu ostentativer Willkuumlrlichkeit Unddoch sind seineMetamorphosenwohlkompo-niert sie folgen ndash im Ganzen gesehen ndash einem schluumlssigen Entwicklungskonzeptund diverse Arten interner Anspielungen undVerweise sorgen fuumlr eine innere Ver-klammerung ndash doch diese eben nicht im Sinne eines fixen Planes sondern ehernachArt einer raquoSinfonielaquosup1Wie derMetamorphosendichter versteht es auch Sene-ca seinem Werk durch Ergaumlnzung von verbindenden weiterfuumlhrenden kontras-tiven und korrektiven Elementen eine groumlszligere kompositorische Geschlossenheitzu verleihen doch darf eben dies nicht dazu verleiten diese Geschlossenheit mitexakter Bestimmtheit zu verwechseln

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieserArbeit

Ich glaube dass wir ndash unabhaumlngig von der Frage der Faktizitaumlt der Korrespon-denzsup2 ndash die Briefform als solche wie sie Seneca nun einmal gewaumlhlt hat ernstnehmen muumlssen und diese ist wie Knoche (unter Verweis auf ihre Abkunft vommuumlndlichen Gespraumlch sermo) zutreffend feststellt von ihrer Grundanlage her

1 Vgl Schmidt Ovids poetische Menschenwelt s auch unten S 992 S dazu unten Kapitel 132 ab S 35

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22 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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24 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 25

was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 27

szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 10: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

22 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

raquounsystematischlaquosup1 Nicht dass sie deswegen nicht trotzdem einer gewissen Ord-nung folgte die in ihnen abgebildete allmaumlhliche Entwicklung des Lucilius istganz offensichtlichsup2

Trotzdem waumlre es gewiss verfehlt in den Briefen ein verkapptes oder gar of-fenes Lehrwerk sehen zu wollensup3 Die Briefe sind nicht allein von ihrer Form son-dern auch von ihrem Inhalt her keine Ars Wenn die Einheit des Briefwerkes wieCancik richtig gesehen hat⁴ in seiner erzieherischen Zielsetzung besteht so im-pliziert das geradenicht dass es nach einembis insDetail festgelegtenPlan rsaquokom-poniertlsaquo ist⁵ Erziehung ist kein bis ins Detail vorauszuplanender Vorgang undwie in einer guten Kindererziehung die Prinzipien und die Leitziele feststehender Weg aber jeweils ad hoc festgelegt wird und immer wieder neu bestimmt wer-den muss so geben sich auch Senecas Briefe als stets auf die Situation neu abge-stimmte Einwirkungsversuche

Hilfreich ist an dieser Stelle die von Mazzoli⁶ vorgeschlagene Bestimmungvon Senecas Briefen als raquowork-in-progress (anche nel senso etico della προϰοπή)laquoDiese Bezeichnung hat aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit den Vorteil sowohl derbunten sicherlich auchbiographisch verursachten Vielfalt der Briefform als auchder Einheit in der Themenentwicklung gerecht zu werden

Das Bild der Kindererziehung passt uumlberhaupt gut auf die Intention der Epi-stulae morales Es kann uns insbesondere fuumlr einen Aspekt sensibilisieren derbisher noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stand naumlmlich inwieweit es fuumlrden zu Erziehenden nicht manchmal vorteilhafter ist wenn ihm die volle Wahr-heit in bestimmten Situationen vorenthalten wird Es geht mithin um die Fragewie weit die Pflicht zur Wahrheit in einer paumldagogischen Beziehung reicht In Ab-haumlngigkeit von der persoumlnlichen Reife der Beteiligten gibt es durchaus Situatio-nen in denen sachferne (bzw gar sachfremde)Antworten einfachuumlberzeugenderund zielfuumlhrender sind als unbeschraumlnkte Lauterkeit

1 Knoche Freundschaft in Senecas Briefen 158 raquoWie das Gespraumlch ist der Brief unsystema-tischlaquo Zur Briefform s unten Kapitel 133 ab S 452 Vgl zB Stuumlckelberger Brief als Mittel 1373 Extrem Hachmann zB Hachmann Spruchepiloge 404 raquoBleibt noch die Frage zu klaumlren anwelcher Stelle seines cursus philosophicus [ dieser Ausdruck schon Maurach Bau 97 Anm 78 ndash(Anm UD) ] Seneca den Methodenwechsel vornimmt und wo genau zwischen den Briefen die Caumlsurliegtlaquo Zur Lehrwerkfrage genauer unten Kapitel 33 ab S 1504 S o S 16 mit Anm 15 Richtig Lana Lettere a Lucilio 284 raquoUn fatto egrave certo lrsquoomogeneitagrave dellrsquoopera sicura per ciograveche riguarda lo scopo (la formazione dei mores) non ne riguarda la struttura e lrsquoarticolazionelaquo6 Valore letterario 1863 vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 137

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 23

Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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24 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 11: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 23

Ich glaube dass dies ndash mutatis mutandissup1 ndash auch fuumlr Senecas Briefe gilt unddass gerade hierin dh in der Art und Weise wie Seneca seinen Brieflesersup2 unbe-merkt an die ndash in seinen Augen ndash rsaquorichtigelsaquo Sichtweise heranfuumlhrt eine besonderepaumldagogische Kunst Senecas gesehen werden kann

Dieses Thema ist zwar mit der Frage der Komposition von Senecas Schrif-ten verbunden jedoch nicht mit ihr identisch Denn ich moumlchte keine systema-tischen oder kompositorischen Aufbaustudien vornehmen sondern ndash die beab-sichtigte Offenheit der Briefgattung ernst nehmend ndash lediglich in Laumlngsschnittenzeigen wie sich rsaquoSenecaslsaquo Zugehen auf rsaquoLuciliuslsaquo veraumlndert Ich sehe dabei imUnterschied zu den Arbeiten Canciks Maurachs und Hachmanns das GeschickSenecas nicht nur darin wie er den philosophischen Stoff auswaumlhlt aufteilt an-ordnet und einkleidetsup3 sondern vielmehr darin wie er ihn immer wieder verklei-det Denn Seneca ist ein Meister der Psychagogie Ich werde in dieser Arbeit zuzeigen versuchen wie er bestimmte Aussagen bewusst verunklart und kalkuliertverschleiert wie er es in heiklen Fragen mitunter lange bei vagen Andeutungenbelaumlsst um auf diese Weise der Schroffheit und abstoszligenden Polaritaumlt vieler stoi-scher Lehrsaumltze auszuweichen⁴ Genau das ist wie bisher nur selten bemerktwor-den ist der Grund dafuumlr dass Seneca es zu Beginn der Briefe vermeidet die Pa-

1 Lucilius wird zB von Seneca nicht wie ein Kind behandelt sondern so wie es fuumlr ihn ndash einenMann reiferen Alters ndash passt doch da in erzieherischer Hinsicht niemand endguumlltig erwachsenist (vgl zB Senecas Vergleich zur Furcht kleiner Jungen vor Masken epist 2413) darf ohne Wei-teres einmal gepruumlftwerden ob in der Formulierung eines Argumentes auch rsaquotaktischelsaquo Gesichts-punkte eine Rolle spielen Immerhin ist zu beachten dass durch das erzieherische Anliegen vonselbst ein Vorrang des (langfristig) wirksameren vor einem eventuell rsaquowahrerenlsaquo jedoch ineffek-tiven Argument entsteht2 Zur Adressatenfrage s unten Kapitel 132 ab S 353 rsaquoEinkleidenlsaquo ist hier nicht rein aumluszligerlich (im Sinne rhetorischen Aufputzes) gemeint sondernim Sinne des rsaquoIn-Worte-Fassenslsaquo Cancik Untersuchungen 4 insistiert zu Recht auf der Untrenn-barkeit der sprachlichen Gestaltung der Briefe von ihrer erzieherischen Funktion4 Ich moumlchte das ndash soviel sei vorausgeschickt ndash nicht exklusiv verstanden wissen Ich vertretenicht die These dass die Briefe nur therapeutisch gelesen werden koumlnnen etwa in dem Sinnedass die Briefe amAnfang noch nicht die stoische Lehre enthielten ganz im Gegenteil man kannsie von Beginn an und mit Gewinn aus stoischer Perspektive lesen Doch ich bin der Meinungdass der besondere Reiz der Briefe und ihre auszligergewoumlhnliche Anziehungskraft fuumlr verschie-dene Lesergruppen von der (sprachlichen und dispositorischen) Kunst Senecas herruumlhren be-stimmte Lehrinhalte in therapeutischer rsaquoVerwaumlsserunglsaquo darzubieten und dabei ganz verschiedenvorgepraumlgten Adressaten jeweils das gleiche Gefuumlhl zu vermitteln dass es genau ihr Erkennt-nisstand ist den der Autor anspricht ndash Zur Bedeutung von rsaquoTherapeutiklsaquo im philosophischenKontext s unten Kapitel 3 ab S 120

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24 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 25

was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 27

szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 12: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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Abb 11 Verwendungshaumlufigkeit der Begriffe honestum und virtus

radoxizitaumlt und den Rigorismus der stoischen Dogmen ndash fuumlr Auszligenstehende eherabschreckende Merkmale ndash zum Streitthema werden zu lassensup1

Diesen Lesereindruck untermauert eine einfacheWortstatistik zum Gebrauchder die Lektuumlre der spaumlten Briefen weitgehend praumlgenden stoischen Zentralbe-griffe honestum und virtus (Abb 11)sup2 Sie verraumlt dass Seneca sich offenbar rechtlange damit zuruumlckhaumllt diese stoischen Leitworte gehaumluft anzuwenden oder un-ter gegenseitiger Erlaumluterung der Begriffe zu beschreibensup3 ganz im Gegensatz zuden spaumlteren Briefen kommen innerhalb der Briefe 1ndash66 nicht einmal in jedem10 Brief die Begriffe virtus und honestum gemeinsam (geschweige denn in einemgemeinsamen Argumentationskontext) vor

Neu hieran ist freilich nicht die Beobachtung der Zuruumlckhaltung an sich SosprechenMaurach undHachmannbeide von der raquoverdeckten Systematiklaquo in Se-necas Briefen⁴ Doch darf man sich von diesen Worten nicht taumluschen lassen DerTeufel steckt wie immer imDetail DenndaswasMaurachwie auchHachmannunter raquoverdeckter Systematiklaquo verstehen ist vollkommen verschieden von dem

1 Vgl Hadot Seelenleitung 54f Anm 86 raquoAuch abgesehen von der Verwendung epikureischerSentenzen vermeidet Seneca in den allerersten Briefen eine zu schroffe Konfrontierung mit derstoischen Lehrelaquo) Doch dieses Vorgehen Senecas ist keineswegs nur auf die raquoallerersten Briefelaquobeschraumlnkt und im Detail ist es gaumlnzlich unerforscht2 Beruumlcksichtigt ist hier nur ob die Begriffe vorkommen nicht wie oft Es entstehen also keineVerzerrungen durch extrem haumlufige Nennungen wie zB im 66 Brief3 Natuumlrlich unter der Voraussetzung dass die Briefe in ihrer beabsichtigten Reihenfolge auf unsgekommen sind siehe unten Kapitel 131 ab S 304 Maurach Bau 177ndash179 Hachmann Leserfuumlhrung 118 uouml

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was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 13: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 25

was manmeiner Meinung nach fuumlr das eigentliche Charakteristikum von Senecaspsychagogischer Technik ansehen muss

Maurach und Hachmann sind gleichermaszligen der Meinung Seneca beginnevon Anfang an das richtige (dh das stoische) rsaquoSystemlsaquo aufzubauen ndash moumlge erauch die Zusammenhaumlnge im Einzelnen noch verschweigensup1

Konsequenterweise versuchen beide das rsaquoheimlichelsaquo stoische System dashinter denBriefen stecke herauszupraumlparierenWaumlhrendMaurachsArbeit dabeiaufgrund ihrer gruumlndlichen Analysen auch auszligerhalb dieser These mit Gewinnzu lesen ist bleibt Hachmanns Untersuchung weitgehend farblos Praktischnirgends unterscheidet er zwischen dem was man in Senecas Aumluszligerungen anstoischer Philosophie hineinlesen kann und dem wasman so deutenmuss SeineFolgerungen die er aus dem Seneca-Text zieht sind dementsprechend weitrei-chend wie unverbindlich

Bei naumlherem Hinsehen wird sich jedoch zeigen dass von einer heimlichenSystematik im Sinne eines philosophischen Lehrgebaumludes hinter Senecas Briefenkeine Rede sein kann Im Gegenteil was Seneca zu Beginn der Briefe versteckthaumllt ist nicht etwa nur das Systematische sondern die stoische Lehre als solcheEs ist kein Zufall und nur zu einem unbedeutenden Teil biographischen Faktorengeschuldet dass er sich so stark Epikur annaumlhert das was Seneca anfangs als Ek-lektiker erscheinen laumlsst ist eine kalkulierte Abschwaumlchung des stoischen Profilsauf Zeit

Es ist Teil dieser Strategie dass Seneca in der fruumlhen Phase der Briefe sichnicht nur fuumlr Epikur offen zeigt sondern im Gegenzug auch die Stoa und insbe-sondere ihre Protagonisten an die epikureische Lehre heranruumlcktsup2 Dieser Zusam-menhangwird zB daraus evident dassdieVerweise auf die stoischenKoryphaumlenZenon und Chrysipp in den ersten 33 Briefensup3 samt und sonders in einem Kontextstehen der sie in Beziehung zu Epikur setzt und auf die Alltagstauglichkeit der

1 ZB Maurach Bau 178 raquoIn dieser Weise ist ein senecanischer Brief aus Absaumltzen gebaut diescheinbar unverbunden nebeneinanderstehen und in der Tiefe doch systematisch verbundensind [] laquo ebd 179 raquoSeneca zerteilt nicht nur die Themen er verteilt auch die Aspekte syste-matischen Voraussetzungen und Nutzanwendungen auf mehrere Briefe Auch hier ist der Leseraufgefordert selbst in beharrlichem Vergleichen die verborgene Systematik zu erfassen [] laquoTreffende Beschreibung dieser Position bei Mazzoli Valore letterario 1862 raquoDunque la siste-maticitagrave sussiste ma viene celata in superficie [] laquo2 Insofern ist es nur die halbe Wahrheit wenn Stuumlckelberger Brief als Mittel 137 sagt eswerde raquozunaumlchst [] die spezifisch stoische Terminologie gemieden [] und die Zielsetzung derPhilosophie in allgemeinen Begriffen angedeutetlaquo ndash denn Seneca versucht nicht nur die Unter-schiede zwischen den konkurrierenden Lehren herunterzuspielen sondern ganz aktiv die Stoain der Naumlhe des Alltagsempfindens zu positionieren3 Zur Scharnierfunktion dieses Briefes s unten S 229

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26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 27

szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 14: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

26 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Stoikerfraktion abhebtsup1 Im 22 Brief etwa zieht Seneca Zenon und Chrysipp alsKronzeugen nicht etwa fuumlr die stoische Irrelevanz aumluszligerer Guumlter (der ἀδιάφορα)herbei sondern imGegenteil fuumlr dieAchtung die auch ihnengegenuumlber angemes-sen sei wenn er Lucilius zugesteht nicht auf alles verzichten zu muumlssen (Hervor-hebung von mir)sup2

2211ndash12sup3 11 Ita est Lucili paucos servitus plures servitutem tenent Sed si deponere il-lam in animo est et libertas bona fide placuit in hoc autem unum advocationem petis ut sineperpetua sollicitudine id tibi facere contingat quidni tota te cohors Stoicorum probatura sitomnes Zenones et Chrysippi moderata honesta tua suadebunt 12 Sed si propterhoc tergiversaris ut circumaspicias quantum feras tecum et quam magna pecunia instruasotium numquam exitum invenies nemo cum sarcinis enatat

11 So ist es Lucilius nur wenige bindet die Knechtschaft weit mehr binden sich an sieAber wenn du vorhast sie abzulegen und du dich ehrlichen Herzens fuumlr die Freiheit ent-schieden hast du aber fuumlr diesen einen Punkt Beistand suchst dass dir das zu tun ohne an-dauernde finanzielle Sorge vergoumlnnt sein soll warumsoll dichdarin nicht die ganze Stoiker-truppe unterstuumltzen All ihre Vertreter Leute wie Zenon und Chrysipp werden dir empfeh-len was maszligvol l und ehrbar is t und zu dir passt 12 Wenn du aber deshalbeinen Ruumlckzieher machst damit du dich umsehen kannst wieviel Vermoumlgen du dir mit-nimmst und mit wieviel Geld du deine Muszlige ausstattest dann wirst du nie ein Ende findenbei einem Schiffbruch entkommt niemand den Fluten der sein Gepaumlck mitnimmt

Offenkundigwill Seneca Luciliusmit dieser Argumentation die Sorge nehmen dieStoa verpflichte ihn auf eine radikale Beduumlrfnislosigkeit und damit den Verzichtauf den gewohnten Wohlstand undKomfort DerWerbeeffekt ist nur zu offensicht-lich Die Empfehlungen der ndash fuumlr ihre Sittenstrenge beruumlhmten ndash Autoritaumlten sindmoderata verlangen mithin nichts Extremes und Menschenunmoumlgliches (Signaldie diesbezuumlglichen Vorurteile gegenuumlber der Stoa sind falsch) sie sind ndash im Ge-gensatz zur gemeinhin als schaumlbig verschrieenen epikureischen Lehre⁴ und nochmehr zur unphilosophischen Lebensweise der Masse ndash honesta (Signal fuumlr einenUumlbertritt zur Stoa muss man sich nicht schaumlmen) sie sind schlieszliglich tua womitSeneca den Schwenk zum Adressaten vollzieht und aus der Beschreibung einenAppell macht (Signal die Stoa ist etwas genau fuumlr Leute wie Dich) Das abschlie-

1 epist 66 914 2211 334 ndash Genauer zur psychagogischen Funktion des 9 Briefes s unten 432ab S 2372 Natuumlrlich ist auch das gute stoische Lehre Traditionell wird dieses Element des Systems abereben nicht in einem fruumlhen Stadium der Argumentation verwendet sondern erst wenn derAdressat bereits von der Indifferenz der aumluszligeren Guumlter uumlberzeugt werden konnte3 Zitate ohne Autorennennung stammen von Seneca fehlt auch die Werkbezeichnung so han-delt es sich um Passagen aus Senecas Epistulae morales4 Wogegen sich Seneca selbst mehrfach wendet in den Briefen ua 219 s unten S 166

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 27

szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 15: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 27

szligende Woumlrtchen draumlngt Lucilius foumlrmlich sich uumlber seine eigene PositionierungGedanken zu machen denn wenn das stoische rsaquoPaketlsaquo nichts anderes enthaumllt alswas Lucilius im Innern eigentlich laumlngst denkt dann gibt es laumlnger keinen Grundseine Annahme zu verweigern

Damit hat Seneca recht deutlich gemacht wie er die Stoa bewertet wissenmoumlchte Aus inhaltlicher Sicht jedoch bleibt die Lehre der Stoa unbestimmt unddas nicht nur an dieser Stelle Seneca bezieht sich zwar unausgesprochen auf einmehr oder weniger klares Vorwissen seines Lesers (hier zB die etablierten Vorur-teile gegenuumlber der Stoa und die Kenntnis der groszligen Namen ihrer Geschichte)gibt sich jedoch kaum Muumlhe systematisches Wissen aufzubauen Und wo dies inden am Anfang der Sammlung stehenden Briefen doch (ansatzweise) geschiehtlaumlsst sich das wie noch deutlich werden soll der Marketingstrategie zuordnendie Stoa als Lehre fuumlr die gebildete Mitte der Gesellschaft zu erweisen

Senecas Entscheidung gegen eine systematisch angelegte Darstellungsformist jedoch nicht auf die fruumlhen Briefe beschraumlnkt Auch spaumlter wenn er offen aufstoischem Fundament steht wird er kein vollstaumlndiges System liefern das ein fin-diger Leser nur noch rsaquozusammenpuzzlenlsaquo muumlsstesup1 Die Erfahrung die ein jederbei der Lektuumlre der Senecabriefe machen kann ist vielmehr die dass man gera-de die theorielastigen spaumlteren Briefe nur dann verstehen kann wenn man sichauf anderem Wege uumlber den Inhalt der stoischen Lehren informiert (bzw bereitsinformiert ist) Zu einem Lehrbuch stoischer Systematik taugen die Briefe Sene-cas jedenfalls denkbar schlechtsup2 Ein stoisches rsaquoAuslesenlsaquo der Briefe wie es ins-besondere Hachmann praktiziert beraubt uns demgegenuumlber des Blickes fuumlr dieRaffinesse mit der Seneca die stoische Lehre ndash vor allem zu Beginn ndash durch ihreigentlich fremde jedoch dem intendierten Leser naumlher stehende philosophischeUumlberzeugungen rsaquoabpuffertlsaquo

Doch es hieszlige ins andere Extrem zu verfallen wenn man den Briefen jegli-chen systematischen Aspekt absprechen wolltesup3 Denn auch wenn sie selbst nurselten etwas systematisch entwickeln so spiegeln sie doch zumindest die Aneig-nung systematischen Wissens beim Leser

1 So die gaumlngige Meinung der Seneca-Kompositionsanalyse vgl etwa Hachmann Leserfuumlh-rung 118 raquoDie andere Tatsache dass erst bei naumlherem Zusehen die Vol ls taumlndigkeit der be-ruumlhrten Thematik bemerkt wird macht die rsaquoverdeckte Systematiklsaquo in Senecas Darstellungswei-se deutlichlaquo (meine Hervorhebung)2 Vgl unten Kapitel 33 ab S 1503 Extrem Freise Epikur-Zitate 538 raquoSeneca will gar kein philosophisches System liefern wirftman ihm also Systemlosigkeit vor so missversteht man ihn gruumlndlich [] Sondern mit seinenSchriften reagiert Seneca zunaumlchst einmal auf mehr oder weniger schwierige Situationen seineseigenen Lebenslaquo

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28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 16: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

28 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Von diesem Problem wird noch ausfuumlhrlicher zu sprechen sein fuumlr jetzt magdie Festlegung der Arbeitshypothese genuumlgen dass der gewollten Undeutlichkeitund Unbestimmtheit auf Seiten Senecas eine ebensolcheUnbestimmtheit auf Sei-ten des rsaquoLuciliuslsaquo entspricht Es gibt zahlreiche Indizien dass Seneca gar nichtmit einer einzigen Lesart seiner Briefe rechnet und sie auch nicht intendiert ei-ne Suche nach dem alles bestimmenden Kompositionsprinzipsup1 waumlre dementspre-chend verfehlt Sie suggeriert eine Eindeutigkeit die Seneca nicht nur nicht ange-strebt hat sondern wie ich zeigen moumlchte bewusst vermeiden wollte Vor allemzu Beginn des Briefcorpus ist diese Offenheit der Lesart das praumlgende psychago-gische Mittelsup2 Auf diese Weise kann ein breites Publikum bei der Lektuumlre zuerstseine eigenen Themen und Fragen entdecken die Briefe bestehen gleichsam ausmehreren uumlbereinandergelegten rsaquoFolienlsaquo deren Mannigfaltigkeit die Heterogeni-taumlt der intendierten Leserschaft spiegelt und deren Uumlbereinanderschichtung einschillerndes Gesamtbild ergibt bei dem einfach nicht zu entscheiden ist was Se-neca rsaquoeigentlichlsaquo gemeint hat

Im Gegensatz zu einer systemorientierten Untersuchung der Epistulae mora-les wird diese Arbeit also keine heimliche Struktur ndash sei es philosophischer oderliterarischer Art ndash und keinen rsaquoGesamtplanlsaquo fuumlr das Briefcorpus aufdecken wol-len Statt dessen werden ihre Ergebnisse der Mahnung Nussbaums Nachdruckverleihen der zufolge bei Seneca ndash nicht anders als bei Lukrez ndash die Form des Ge-dankens nie ohne Beruumlcksichtigung ihrer inhaltlichenEinbettung undumgekehrtbetrachtet werden darfsup3

Historians of philosophy who have usually turned to Lucretius and Seneca as the source forarguments that they can use to reconstruct the Greek Epicurean and Stoic positions shouldrecognize that they cannot without violence to the overall philosophical enterprise ndash in-deedwithoutmissing someofwhat is actually being arguedndash remove the ldquoargumentsrdquo fromthe entire context of their expression Classical literary scholars who frequently attend tothe literary form of these works without bothering much with the philosophical argumentsshould recognize that the form is not separable from the philosophy and can be fully under-stood only as a philosophical expression

1 Vgl zB Maurach Bau 17 raquoDas Corpus besteht demnach nicht aus unzusammenhaumlngendenSchreiben sondern aus Hauptteilen die durch Briefkreise aus Kapiteln die durch die einzel-nen Episteln gebildet sind Der Ausdruck rsaquoCorpuslsaquo der die Idee des Organischen enthaumllt scheintgerechtfertigt Senecas Werk ist ein corpusmit seinenmembralaquoMaurach verweist in diesem Zu-sammenhang auf den Koumlrpervergleich Platons im Rahmen von dessen Theorie von literarischerEinheit (Plat Phaedr 264cff) Genau in diesem Sinne sagt er spaumlter (191) Senecas Briefe haumltten(ganz wie die Briefe des Apollonios von Tyana) die raquoAbsicht ein wohlgeformtes Ganzes zu bil-denlaquo2 Zur Abgrenzung dieser Bezeichnung von der rsaquoOffenheitlsaquo bei Maurach s unten S 1213 Therapy 487

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12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 17: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

12 Die Spezifik von Senecas Therapeutik der Ansatz dieser Arbeit | 29

Denn wenn sich zeigen sollte dass die rsaquoWahrheitlsaquo von Senecas Aumluszligerungen dhder Grad in dem diese mit der letztlich favoisierten Meinung rsaquowirklichenlsaquo Mei-nung Senecas uumlbereinstimmen) davon abhaumlngig waumlre zu wem er mit welcher In-tention spraumlche dann muumlssten wir Wissenschaftler wesentlich vorsichtiger seineinzelne Aumluszligerungen Senecas aus seinen Werken rsaquoherauszubrechenlsaquo um darausauf seine philosophische Meinung oder gar auf seine Person zu schlieszligen Dievorliegende Untersuchung wird daher auch nicht umhin kommen die Frage vonSenecas Eklektizismus und seine Haltung zu Epikur neu zu uumlberdenkensup1

Die Methode und das Interesse dieser Untersuchung sind ndash obgleich sie sichselbstverstaumlndlich auf philosophischeDetailarbeit zu stuumltzenhabenndashprimaumlr phi-lologisch In einemgewissermaszligen rsaquoexperimentellenlsaquo Lesenwerden dabei folgen-de Fragen an den Text gerichtet

1) Welche Assoziationen duumlrfte das verwendete Vokabular bei Lesern verschie-dener philosophischer (oder eben auch unphilosophischer) Vorpraumlgung je-weils hervorrufen

2) Welche Deutungen laumlsst der konkrete Text je nach rsaquoLeserprofillsaquo zu3) Inwieweit existieren ndash falls der Text fuumlr mehrere Lesarten offen ist ndash Signa-

le in Wortwahl und Argumentation die dem kundigen Leser die eindeutigersaquorichtigelsaquo Interpretation offenbaren

4) Inwieweit uumlbt der Text zwingenden argumentativenDruck aus dh inwieferndraumlngt oder zwingt er bestimmte Lesergruppen zu einer Korrektur der eigenenSichtweise

Ich moumlchte damit zeigen wie Seneca bestimmte ndash besonders polarisierende oderzum Widerspruch herausfordernde ndash Elemente der stoischen Lehre von denen erdurchaus uumlberzeugt ist so lange zuruumlckhaumllt (bzw rsaquoverdunkeltlsaquo rsaquoverwaumlssertlsaquo rsaquover-biegtlsaquo usw) bis er sich durch Absicherung von vielen anderen Seiten und durchdas Wirken der Zeit sicher sein kann dass er die rsaquorichtigelsaquo Sicht ohne Anstoszlig prauml-sentieren darf

Dabei scheint Seneca sowohl in der Art der Zuruumlckhaltung als auch in der Prauml-sentation ganz eigene Formen entwickelt zu haben Zwar ist der Grundgedankeder therapeutischen Dosierung und Verwaumlsserung bereits durch die altstoischeLehre legitimiert (Kapitel 23) und ist auch gar nicht auf die stoische Schule be-schraumlnkt in der Spaumltantike gelangt er insbesondere bei den Neuplatonikern im

1 S unten Kapitel 411 ab S 157

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30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 18: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

30 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Prinzip des gestaffelten Lektuumlrekanons herausragende Bedeutungsup1 Doch nur beiSeneca scheint er so eng mit der sprachlichndashstilistischen Gestaltung seiner Texteverbunden zu sein

Das Ziel dieser Untersuchung ist also nicht eine Suche nach der rsaquoultimativenWahrheitlsaquo des Textes Stattdessen erfolgt in ihr ein experimentelles Ausloten moumlg-licher Lesarten Eben die Ambiguitaumlt der Formulierung und das berechnende Zu-ruumlckhalten bestimmter Lehrbestandteile werden sich als die spezifischen Metho-den herausstellen in der sich Senecas therapeutisches Philosophieren bevorzugtmanifestiert Aus ihnen entwickelt Seneca eine subtile Technik psychagogischerBeeinflussung die es ihm erlaubt auch ein disparates Leserpublikum uumlber laumln-gere Zeit gemeinsam zu fuumlhren

13 Brief und Adressat

131 Abfassungszeit Uumlberlieferung Briefreihenfolge

1311 AbfassungszeitDie Briefe entstammen ndash wie De beneficiis und die Naturales Quaestiones ndash Sene-cas letzter Schaffensperiode nach dem Ruumlckzug aus der Politik (Fruumlhjahr 62 TacAnn 1453ndash56)sup2 Je nachdem ob man der rsaquogroszligenlsaquo oder der rsaquokleinenlsaquo Chronologiefolgtsup3 erhaumllt man als Abfassungszeitraum Fruumlhjahr 62 ndash Ende 64 bzw Fruumlhjahr63 ndash Ende 64

1312 UumlberlieferungUns erhalten sind 124 Briefe eingeteilt in 20 Buumlcher die auf zwei im Mittelaltergetrennten Wegen uumlberliefert wurden⁴ Gellius (1222ff) zitiert jedoch auch Teilevon Briefen aus einem 22 Buch Es spricht ndash da die von ihm zitierten Passagensich nicht in unserer Uumlberlieferung finden ndash nichts dagegen anzunehmen dass

1 Dazu Erler Philosophie als Therapie und Thiel Stoische Ethik und neuplatonische Tugend-lehreDie literarischeUmsetzungeines solchenKonzepts erlebenwir anBoethiusrsquoConsolatio Phi-losophiae in der sich das literarische Ich zunaumlchst mit stoischen spaumlter dann mit platonischenArgumenten uumlber die missliche Gegenwart hinwegtroumlstet (fuumlr den Anfang des Werkes glaumlnzenddargelegt von Most Lesererziehung in Boethiusrsquo Consolatio)2 Dies ist weitgehend Konsens in der Forschung vgl Mazzoli Valore letterario 18513 Siehe ebd 1851f mit weiterer Literatur Es geht dabei um die Frage ob die in den Briefen ent-haltenenBezugnahmen auf historische und jahreszeitliche Ereignisse auf zwei oder auf drei Jahrezu verteilen sind4 Zur Uumlberlieferungsgeschichte Reynolds Medieval tradition

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13 Brief und Adressat | 31

ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 19: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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ihm die gleiche moumlglicherweise von Seneca selbst vorgenommene Bucheintei-lung vorlagsup1 In dem uns erhaltenen Teil scheinen jedoch Briefe zu fehlen DasHauptproblem besteht in den Buumlchern XIndashXIII (epist 84ndash88) sowie XVIIndashXVIII(epist 101ndash109)sup2 Verdacht erregt dass hier (a) die Buchtrennungsformeln zwi-schen denBuumlchern fehlen und (b) die enthaltenen Briefe zuwenig Text enthaltenum auf eine den uumlbrigen Buumlchern vergleichbare Textmenge zu kommen Beson-ders trifft das auf die Buumlcher XIndashXIII zusup3 hier muumlssten zudem fuumlnf Briefe (84ndash88) auf nur drei Buumlcher verteilt werden Zwangslaumlufig wuumlrde dann zumindest einBuch von einem Brief allein gebildet werden ndash eine bizarre Vorstellung da diesbei keinem anderen Brief nicht einmal bei einem der beiden mit Abstand laumlngs-ten Briefe der Sammlung (epist 94 und 95) der Fall ist⁴

Foerster⁵ stellt ausgehend von Beobachtungen uumlber die Verschiedenartig-keit der Buchtrennungsformeln fest dass ihr Fehlen nur innerhalb derjenigerBuchgruppen zu verzeichnen ist an deren Ende ndash in einem fruumlheren Uumlberliefe-rungsstadium ndash ein Teilbandende⁶ zu vermuten ist Dieser Befund laumlsst sich ihmzufolge jedoch nicht einfach durch mechanischen Ausfall erklaumlren (Verlust desAnfangs oder Endes eines Teilbandes) Denn zum einen sind jeweils am Ende derfruumlheren Teilbaumlnde die Buchtrennungsformeln erhalten zum anderen sind alleBriefe (bis auf 9815ndash18) vollstaumlndig dh ohne groumlszligere Textluumlcken uumlberliefert

Sollte also bewusst eine Auswahl hergestellt worden sein Foersters Erklauml-rungsversuch ein Schreiber habe bei der (Wieder-)Vereinigung der Teilbaumlnde zueinem Corpus gegen Endeder urspruumlnglichen Baumlnde ausWillkuumlr oder Nachlaumlssig-keit Briefe weggelassen scheint wenig plausibel Warum haumltte dieser Schreiberbeispielsweise nicht auch Briefe vom Beginn der ihm vorliegenden Teilbaumlnde aus-

1 Cancik Untersuchungen 4 mit Anm 102 Siehe Albertini La Composition 163ndash168 Foerster Handschriftliche Untersuchungen 35ndash44 va 38ff (39 unter Verweis auf Vorarbeit von Albertini La Composition 162ff) CancikUntersuchungen 8ndash12 Mazzoli Valore letterario geht auf das Problem der Luumlcken innerhalb deserhaltenen Briefcorpus nicht ein3 Fuumlr die Buumlcher XVIIndashXVIII (Briefe 101ndash109) ist wie Cancik Untersuchungen 10 ausfuumlhrt derverhaumlltnismaumlszligig geringe Textumfang nicht unbedingt ein Indiz fuumlr eine Luumlcke in der Uumlberliefe-rung er ist nicht so klein dass er sich nicht auch uumlber Laumlngenvariation erklaumlren lieszlige In dieseLuumlcke faumlllt jedoch auch dermissing link von Brief 102 dazu gleich mehr im Haupttext4 Diese sind obwohl sie einzeln schon jeweils fast so lang sind wie der Dialog De providentia(Lana Lettere a Lucilio 272f) uumlbrigens gemeinsam in einemBuch uumlberliefert (B XV) ndash das sogarnoch einen dritten Brief (epist 93) mit einschlieszligt5 Handschriftliche Untersuchungen 43f6 Nach Foerster vier Teilbaumlnde IndashV (epist 1ndash52 [wo auch Reynolds Medieval tradition 17einen Einschnitt in den Handschriften diagnostiziert]) VIndashXIII (epist 53ndash88) XIVndashXVIII (epist89ndash109) und XIX- (epist 110 bis zum uns verlorenen Ende der Briefsammlung)

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32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 20: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

32 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

lassen sollen Hier laumlsst sich wohl nicht mehr endguumlltig Licht in das Dunkel derUumlberlieferung bringen Insgesamt duumlrften die Ausfaumllle jedoch nicht den Umfangmehrerer Buumlcher sondern allenfalls mehrerer Briefe habensup1

Den deutlichsten Hinweis fuumlr einen Ausfall mindestens eines Briefes liefertder 102 Brief ndash falls denn Senecas Verweis auf einen voraufgehenden Briefsup2 ernstund nicht als fiktive Briefeinkleidung zu nehmen istsup3 Letzteres ist freilich nichtunwahrscheinlich Grundsaumltzlich lassen sich solche rsaquomissing linkslsaquo (zB auch12118) natuumlrlich ebensogut als echte Verweise wie auch als Imitationen einerBriefwirklichkeit interpretieren Es spricht indes fuumlr die Fiktivitaumlt dieser Ruumlckver-weise bei Seneca dass es kein Beispiel eines missing link gibt wo das Fehlen desjeweils angesprochenen Briefes ernsthaft das Verstaumlndnis des auf ihn verweisen-den Briefes behindert⁴

1313 BriefreihenfolgeWederdurch ihren Inhalt nochdurchdieUumlberlieferungwird inFragegestellt dassdie Briefe in der Reihenfolge tradiert sind in der sie urspruumlnglich zusammenge-stellt wurden⁵ Etwas anderes ist es freilich ob sie auch in der vorliegenden Ord-nungabgefasstwurden Letztlich ist dasnicht endguumlltig zuklaumlren obgleich einigeBriefe durchAnspielungen auf historische Fakten⁶ einen terminus post quem ihrerAbfassung bieten alle diese Briefe liegen in einer nicht widerspruumlchlichen Rei-henfolge vor Theoretisch waumlre es trotzdem denkbar dass Seneca einzelne Brie-fe spaumlter an rsaquofalscherlsaquo Stelle in die sukzessiv entstandene Sammlung eingefuumlgthat Doch neben einer gewissen natuumlrlichenWahrscheinlichkeit spricht vor allemdagegen dass fuumlr eine Neuanordnung ein Redaktionsvorgang fuumlr die Veroumlffentli-chung oder zumindest ein Delegieren dieses Redaktionsvorganges angenommen

1 Vgl dazu Cancik Untersuchungen 8ndash12 ihre Klarstellung dass Laumlngenvariation in einem ge-wissen Maszlige von vornherein das Briefcorpus charakterisiert allerdings ist ihre daruumlber hinaus-gehende Argumentation aus der vermeintlichen Buchkomposition wenig zwingend2 1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse eqs3 Siehe auch Foerster Handschriftliche Untersuchungen 414 Richtig dazu zB Cancik Untersuchungen 9f mit Anm 20 Gerade das soeben (Anm 2) zi-tierte Beispiel des 102 Briefes zeigt vielmehr dass der Verweis selbst die noumltigen Informationenbereitstellt die der Leser benoumltigt um den Folgebrief problemlos zu verstehen5 Stuumltzende innere Argumente bei Abel Bauformen 167ndash169 (richtige Reihenfolge bestimmterEreignisse wie zB Lehrtaumltigkeit des Metronax 764 und sein Tod 931 Abfolge der Jahreszeiteninterne Verweise) vgl auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1376 911 Bezugnahme auf den Brand Lyons im August 64 weitere historische Bezuumlge aufgefuumlhrt beiGrimal Seneca 323f

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13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 21: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 33

werden muumlsste Ein solcher Schritt ist jedoch angesichts von Senecas kurzfristigherbeigefuumlhrtem Tod ganz und gar unwahrscheinlichsup1

Die einzig ernsthafte Instanz einer Stoumlrung der Briefreihenfolge ist das vonSchultesssup2 in die Diskussion eingebrachte Problem einer moumlglichen Vertau-schung des 70 mit dem 49 Brief Denn im einleitenden Gedanken zum 49 Briefheiszligt es

491 Ecce Campania et maxime Neapolis ac Pompeiorum tuorum conspectus incredibile estquam recens desiderium tui fecerint totus mihi in oculis es

Sieh nur es ist unglaublichwas fuumlr ein frisches Verlangen nach dir mir Campanien und vorallem Neapel und der Anblick deines Pompeji eingegeben haben du bist mir ganz und garvor Augen

Angesichts dessen scheint es verwunderlich wenn Seneca zu Beginn des 70 Brie-fes behauptet

701 Post longum interval lum Pompeios tuos vidi In conspectum adulescentiae meaereductus sum quidquid illic iuvenis feceram videbar mihi facere adhuc posse et paulo antefecisse

Nach langer Zeit habe ich dein Pompeji (wieder) gesehen (Dadurch) bin ich auf denAnblick meiner Jugend zuruumlckgefuumlhrt worden von allem was ich hier als junger Mann ge-macht hatte schien es mir dass ich es auch jetzt noch machen koumlnne und es vor kurzemerst getan habe

Warum spricht Seneca von rsaquolanger Zeitlsaquo War er denn nicht wie es der 49 Brief be-zeugt erst vor wenigen Monaten in Pompeji gewesen Nicht einmal mit Berufungauf die so genannte rsaquolangelsaquo Chronologie laumlsst sich eine solche Ausdrucksweiserechtfertigensup3 Auch wenn nach dieser Berechnung (fast) ein ganzes Jahr (Som-mer 63 ndash Fruumlhjahr 64) zwischen beiden Briefen laumlge das ist mitnichten ndash schongar nicht aus Sicht des alten Mannes Seneca ndash ein longum intervallum auszligerdemerinnert er sich im 70 Brief offensichtlich nicht an die Vergangenheit des 49 Brie-fes sondern an laumlngst vergangene Kinderzeiten

Andererseits Schultessrsquo Annahme einer Vertauschung der beiden Briefeschafft keine wirkliche Abhilfe Zwar waumlre der Anstoszlig an der Wendung rsaquonach lan-ger Zeitlsaquo beseitigt doch von Inhalt und Wortwahl mag der 70 Brief so ganz undgar nicht an die Stelle des 49 (und jener nicht an die Stelle des 70) Briefes pas-sen Ich werde das erst im Verlauf der weiteren Untersuchung greifbarer machen

1 Griffin Seneca 418 mit Anm 4 Abel Faktizitaumlt 478 mit Anm 252 Schultess De Senecae quaest nat et epistulis 39f3 Gegen Grimal Seneca 319

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34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 22: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

34 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

koumlnnensup1 dazu kommt dass Schultess nicht erklaumlren kann wie es zu genau zudieser einen Vertauschung gekommen sein soll (eine mechanische Stoumlrung derBriefreihenfolge haumltte weitere Bruumlche nach sich gezogen und man moumlchte wohlkaum annehmen ein Schreiber habe zu einem fruumlhen Stand der Uumlberlieferungabsichtlich nur diese beiden Briefe vertauscht)

Moumlglicherweise weist der Loumlsungsweg Peterssup2 und Albertinissup3 in die richti-geRichtung Sieweisendarauf hin dassder 49 Brief gar nicht voneinem Besuchvon Pompeji spreche sondern nur von einem Blick nach Pompeji aus der Fer-ne In der Tat erwaumlhnt Seneca an dieser Stelle Pompeji und Neapel die doch aufverschiedenen Seiten des Vesuvs liegen in einem Atemzug wie wenn er an ih-nen vorbeigesegelt sei oder sie doch nur von Ferne (etwa vom Golf von Sorrentaus) gesehen habe Nun ist zwar zuzugeben dass auch der 70 Brief nicht konkretvon einem Besuch sondern ebenfalls zunaumlchst nur von einem Sehen von Pompe-ji spricht die Fortsetzung mit quidquid i l l ic feceram eqs deutet aber auf einenBesuch hin bei dem Seneca Details der Stadt zu Gesicht bekam die in ihm danndie alten Erinnerungen weckten

Ich halte es aber auch fuumlr moumlglich dass Seneca mit dem Beginn des 70 Brie-fes ein dramaturgischer Lapsus unterlaufen ist Dafuumlr koumlnnte sprechen dass bei-de Briefeinleitungen den gleichen Gedankengang anschlieszligen (rsaquoWie schnell dieZeit vergeht Auch an schon laumlngst vergangene Zeiten wirkt die Erinnerung nochfrischlsaquo) ndash vielleicht hat Seneca hier also eine Idee zweimal verwendet in die-sem Falle muumlssten wir das als zusaumltzliches Indiz fuumlr die Fiktivitaumlt der Korrespon-denz werten Dieser Fragestellung moumlchte ich mich daher nun intensiver zuwen-den

1 Charakteristisch ist zB die in diesem nicht gerade kurzen Brief (s auch unten Kapitel 522)auffallende Konzentration auf die Behandlung eines Themas das zudem in beide Richtungenruhig abwaumlgend eroumlrtertwird (mandarf durchaus zumFreitod alsMittel greifen ndash aber keinesfallsaus Angst) beide Merkmale sind charakteristisch fuumlr den erst in spaumlteren Briefen auftretendenquaestio-Brieftyp vgl Kapitel 521) Seneca vertritt die stoische Guumlterlehre erst vom 66 Brief anoffensiv von da an kommt es auch erst zu ausfuumlhrlichen Sachdiskussionen von Themen diemit der summum-bonum-Lehre zusammenhaumlngen wie zB hier der grundsaumltzlich qualitativenLebensauffassung des sapiens (704 Itaque sapiens vivet quantum debet non quantum potest)2 Peter Brief 2353 Albertini La Composition 199 Anm 2

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13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 23: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 35

132 rsaquoLuciliuslsaquo zur Adressatenfrage

1321 Echte oder fiktive KorrespondenzDie Forschung hat schon seit langem die Frage beschaumlftigt ob die Briefe uumlber-haupt als rsaquoechtelsaquo Briefe dh als separat (oder in Paketen) verschickte Medieneines sukzessiven Informationsaustausches fungiert haben Kann man sie alswirkliche (oder wenigstens als aus einem wirklichen Austausch hervorgegange-ne) Korrespondenz ansehen In dieser lange heiszlig umkaumlmpften Fragesup1 hat sichmittlerweile weitgehend die Meinung vom fiktiven Charakter der Briefe durch-gesetztsup2 Ein wichtiges Indiz dafuumlr sind ohne Zweifel Senecas Berufungen aufdie Nachwelt am deutlichsten in der Verheiszligung an Lucilius (epist 213ndash5) erkoumlnne ihm mit seinem Briefwechsel zur Unsterblichkeit verhelfensup3 Weitere guteGruumlnde auch zu psychologischen Ungereimtheiten die sich aus der Echtheits-these ergeben traumlgt Griffin in ihrer Senecabiographie⁴ zusammen⁵ Wichtig istihre methodische Klarstellung dass viele der uumlblicherweise vorgebrachten Argu-mente in beide Richtungen ausdeutbar sind so kann man etwa in der stimmigen

1 Die wichtigsten Ausgangspunkte der Diskussion waren im 20 Jh (jeweils mit Vorlaumlufern)Bourgery Les lettres agrave Lucilius sont-elles des vraies lettres (Fiktion) und Albertini La Com-position (realer Briefwechsel) die Uumlberlegungen Albertinis modifizierend unternahm Grimal(Seneca Anhang I) einen beeindruckenden Versuch chronologische Elemente aus den Briefenmit Uumlberlegungen zum Nachrichtenwesen zu einer Rekonstruktion des Briefwechsels zu verbin-den Dabei musste jedoch auch er zu der Hilfsannahme greifen die Briefe seien zeitweise in gan-zen Buumlndeln zugleich verschicktworden gegen dieseAuffassungndashwenn auchnicht direkt gegenGrimals gleichzeitig entstandene Monographie ndashGriffin Seneca 418 raquoThis is to take allmean-ing out of the phrase ldquogenuine correspondencerdquolaquo ndash Zur diesbezuumlglichen Forschungsgeschichtebis 1989 siehe Mazzoli Valore letterario 1846ndash1850 zu ergaumlnzen ist insbesondere Graver The-rapeutic reading 13ndash222 Vgl v Albrecht Wort und Wandlung 11 Anm 1 Inwood Selected philosophical letters134f ndash Das bedeutet allerdings nicht dass ndash wie Peter Brief 228 zu Recht zu bedenken gibt ndashnicht trotzdem in einzelne Briefe wirkliche Schreiben eingeflossen sein koumlnnen raquoMag sein dassBriefwechsel zwischen den beiden getrennten Freunden uumlber philosophische Themata in Senecaden Plan wachgerufen hat auch dass fuumlr einzelne Nummern wirkliche Briefe benutzt wordensind nicht nur solche an Lucilius was uns jetzt vorliegt ist fuumlr die junge Welt Roms gedacht undniedergeschrieben und in Wahrheit Lucilius nur gewidmetlaquo vgl auch Stuumlckelberger Briefals Mittel 135f3 214ndash5 Quis Idomenea nosset nisi Epicurus illum litteris suis incidisset [] Nomen Attici perireCiceronis epistulae non sinunt [] Quod Epicurus amico suo potuit promittere hoc tibi promittoLucili habebo apud posteros gratiam possum mecum duratura nomina educere Treffende Beur-teilung dieser Stelle bei Graver Therapeutic reading 27 raquo it would be intolerable had not thefact of publication given it already the status of a literary courtesylaquo4 Griffin Seneca 347ndash353 und 416ndash4195 Vgl ferner auch Graver Therapeutic reading 22ndash24

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36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 24: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

36 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Abfolge der in den Briefen erwaumlhnten Jahreszeiten ebenso gut einen Beweis fuumlrdie Authentizitaumlt der Briefe sehen wie fuumlr eine kunstvolle Imitation dieser Authen-tizitaumltsup1 Eine Auseinandersetzung uumlber die ambivalent auslegbaren rsaquoBriefrealienlsaquoist also wenig hilfreich wenn nicht zwingendere Gesichtspunkte hinzutreten

Solche hat ndash nach meinem Dafuumlrhalten ndash vor allem Abel vorgebracht Zumeinenweist er auf die zahlreichen Ihr-Apostrophen in denBriefenhin die schlech-terdings nicht mit der vorgeblichen kommunikativen Situation ndash dem Austauschzwischen zwei Briefpartnern ndash in Einklang zu bringen sindsup2 Zum anderen sindwie Abel (zB anhand von epist 75) zeigen kann diese Hinwendungen an einZweit- (oder besser an das eigentliche) Publikummehrfach so engmit demEinzel-brief und dieser wiederum mit den Umgebungsbriefen verbunden dass sie nichtals erst nachtraumlgliche Ergaumlnzung verstanden werden koumlnnen Die Briefe sind alsovon vornherein ein literarisches Produkt und in Lucilius ist ndash als durchaus histo-rischer Person ndash nicht ihr Adressat zu sehen sondern ihr Widmungsempfaumlngersup3

Aumlhnliche Schlussfolgerungen lassen sich auch aus Passagen ziehen diewenn sie an Lucilius persoumlnlich gerichtet waumlren einen Affront bedeuteten Bei-spielsweise rechtfertigt Seneca an einer Stelle ndash im Rahmen der Auslegung einesEpikurbonmots⁴ das er bereits im vierten Brief (410) in fast identischer Fassungvorgelegt hatte ndash Epikurs staumlndige Wiederholungen und Variationen des Gedan-

1 Vgl auch Russell Letters to Lucilius 72 raquoDates thus arrived at are of course dramatic datesIt seems safe to assume that the correspondence is intended to look chronological But to assumefurther that the letters were all written in this order or that the absolute dates are dates of compo-sition is to go further than the evidence warrantslaquo Das stellt nicht die Briefreihenfolge in Fragesondern wendet sich gegen eine naive Gleichsetzung der Briefchronologie mit der Abfassungs-zeit2 Besonders instruktiv ist das Beispiel aus dem 95 Brief wo Seneca im Rahmen einer Sittenpre-digt gegen den Tafelluxus es sich ndash nach kokettierendem Zoumlgern ndash nicht nehmen laumlsst das Ge-wicht eines Prachtexemplars vonMeerbarbe zu erwaumlhnen und er begruumlndet dies wie folgt (952)quare autem non pondus adicio et aliquorum gulam inrito Man muss nur einmal versuchen dieSchreiber-Adressaten-Konstellation ernst zu nehmen um zu merken wie deplatziert eine solcheAumluszligerung in einem Privatbrief an Lucilius waumlre wenn nicht schlicht sinnlos Die Nennung vonaliqui deren Gaumen Seneca kitzeln moumlchte hat erst dann eine Funktion wenn es von Anfangan intendiert ist dass sie den Brief auch irgendwann einmal zu lesen bekommen Demnachmussvon einem raquozweiten Empfaumlngerkreislaquo (Abel Faktizitaumlt 477) neben Lucilius ausgegangenwerden(vgl Graver Therapeutic reading 26 raquothe two Luciliilaquo)3 Vgl Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf der vorherigen Seite) sowie Abel Faktizitaumlt 490letzterer verweist ebd Anm 72 auf das ganz aumlhnliche Vorgehen von De tranquillitate animi auchhier passen nicht alle Antworten auf die Lage des Serenus Ergaumlnzen koumlnnte man hierzu ebensoDe ira ndash Siehe auch ders Leben und Leistung 2554 rsaquoDivitiae sunt ad legem naturae composita paupertaslsaquo (279)

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13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 25: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 37

kens vom inneren Reichtum der sich aus der Beschraumlnkung auf die natuumlrlichen(und notwendigen) Begierden ergebe und erklaumlrt freimuumltig

279 [] numquam nimis dicitur quod numquam satis discitur quibusdam remedia mon-stranda quibusdam inculcanda sunt

[] niemals sagt man das zu oft was niemals genug gelernt wird manchen Leuten mussman die Heilmittel (nur) zeigen manchen aber muss man sie eintrichtern

Ohne weiteren Kommentar laumlsst Seneca mit dieser Feststellung den Brief endenEr verschwendet keinerlei Muumlhe darauf Lucilius zu versichern dass dieser natuumlr-lich nicht in die letztgenannte Kategorie falle Und offenbar muss Seneca diesesMissverstaumlndnis auch gar nicht befuumlrchten ndash weil es gar nicht Lucilius ist an densich dieser Brief wendet

An einer anderen Stelle (7716ndash18) steigert sich Seneca in eine diatribenhaf-te Sittenpredigt hinein die unmoumlglich auf Lucilius gemuumlnzt sein kann sondernschlicht eine Apostrophe in der Du-Form ist Das ist jedoch nur in einem literari-schen Brief sinnvoll in einem Privatbrief an Lucilius waumlre sie geschmacklossup1 Esgenuumlgt hier ein kurzer Auszug

7716ndash17 (Warumsolltest duaneinerFortsetzungdeines Lebenshaumlngen) 16 Voluptatesipsas quae te morantur ac retinent consumpsisti nulla tibi nova est nulla non iam odiosaipsa satietate Quis sit vini quis mulsi sapor scis nihil interest centum per vesicam tuam anmille amphorae transeant saccus es Quid sapiat ostreum quidmullus optime nosti nihil tibiluxuria tua in futuros annos intactum reservavit Atqui haec sunt a quibus invitus divelleris17 Quid est aliud quod tibi eripi doleas Amicos Scis enim amicus esse Patriam tanti enimillam putas ut tardius cenes Solem quem si posses extingueres quid enim umquam fecistiluce dignum

16 Die dir wohlbekannten Luumlste die Dich fest im Bann halten hast Du doch alle schonaufgebraucht keine ist Dir neu keine ist Dir nicht schon durch den Uumlberdruss an ihr schonzuwider Du kennst den Geschmack von Wein und Met es macht keinen Unterschied obhundert oder tausend Amphoren davon durch Deine Blase rinnen Du bist ein Filter Wieeine Auster mundet und wie eine Meerbarbe weiszligt Du genau nichts hat dir Deine Schwel-gerei fuumlr kuumlnftige Jahre noch unberuumlhrt aufgehoben Und doch sind das die Dinge von de-nen Du Dich nur ungern losreiszligen laumlsst 17 Was gibt es denn auch anderes woruumlber Dutraurig waumlrst wenn Du es verlierst Die Freunde Verstehst Du eigentlich etwas davon einFreund zu sein Oder das Vaterland Achtest Du es eigentlich so hoch dass Du dafuumlr in

1 Pusch Der dialogische Charakter 32f zeigt am Beispiel von De providentia wie Seneca denWechsel von einer echten (dialogischen) Du-Anrede uumlber eine apostrophische Du-Anrede an denLeser (prov 42) hin zu einer Ihr-Apostrophe (prov 46) vollzieht und dann in wechselnder Positi-on weiter agiert Sie weist im weiteren Verlauf des Kapitels nach dass diese Technik sich in allenDialogi Senecas finden laumlsst und ermittelt Ciceros Paradoxa Stoicorum als einen der Vorgaumlngerhierfuumlr

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38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 26: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

38 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Kauf naumlhmest spaumlter zu speisen Oder das Sonnenlicht Das wuumlrdest Du doch am liebstenausloumlschen was hast Du naumlmlich je getan was des Lichtes wuumlrdig war

Sollte Lucilius wenn er solche Zeilen persoumlnlich erhalten haumltte den Briefverkehrnicht sofort abgebrochen haben Etwas anderes ist kaum vorstellbar Demge-genuumlber sind derlei Passagen bei Annahme einer breit gestreuten Leserschaftganz unproblematisch der eigentliche Adressat der Briefe der Briefleser darfsich angesichts solcher Stellen fragen zu welcher Gruppe er denn gehoumlre Undauch wenn er den Gesamttenor einer solchen Stelle bequem mit dem Verweisauf andere von sich weisen wird zugleich wird er vor sich selbst seine ndash erfreu-licherweise weit von solchen Extremfaumlllen entfernten ndash heimlichen Neigungenund Defizite eingestehen und sich idealerweise vornehmen daran zu arbeitenAumlhnlich wird es Lucilius ergangen sein sofern er sich nicht als Adressat sondernals Widmungsempfaumlnger gesehen hat

Doch nicht nur angesichts solcher Unzumutbarkeiten Lucilius gegenuumlber isteine Varianz des angesprochenen Leserkreises aus psychologischer Sicht nahe-liegend Es ist laumlngst aufgefallen ndash vor allem bei denen die von der Fiktivitaumlt desBriefwechsels uumlberzeugt sind ndash dass sich die in den Briefen gezeichnete Gestaltdes Lucilius fuumlrweite Kreise der roumlmischenLeserschaft ideal als Projektionsflaumlcheeignetsup1

1322 Der intendierte Leserkreis und seine philosophischen AffinitaumltenDiese Beobachtung gewinnt anGewicht wenn sie dazu verwendetwird umRuumlck-schluumlsse auf den von Seneca intendierten Leserkreis zu ziehen Aumluszligerst sensibleUumlberlegungen hierzu stellt Graversup2 an und erschlieszligt als Zielgruppe fuumlr die Epi-stulae morales den Kreis von raquowealthy male senatorslaquo (38) Selbst Senecas Ent-scheidung seine philosophischen Schriften auf Latein abzufassen ndash eine fuumlr sei-ne Zeit nicht selbstverstaumlndliche Wahlsup3 ndash laumlsst sich wie Graver ausfuumlhrt⁴ wo-

1 So wie gesagt schon Peter Brief 228 (zitiert oben Anm 2 auf Seite 35) Nussbaum Therapy487weist zu Recht darauf hin dass Lucilius als raquointernal surrogate for the readerlaquo im Prinzip die-selbe Funktion erfuumlllt wie Memmius bei Lukrez oder die Gespraumlchspartner in Platons Dialogen2 Therapeutic reading 36ndash453 In der beginnenden Kaiserzeit wurde die Stellung von Latein ndash gerade in der Philosophie ndashwieder vom Griechischen uumlberschattet zu diesen Entwicklungen siehe Leonhardt Latein 81ndash894 Ebd 39ndash42 auf Anregung Inwoods

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13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 27: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 39

moumlglich aus dem anvisierten Leserkreis erklaumlrensup1 es ist nicht unwahrscheinlichdass Seneca rhetorisch wohlgebildete Schichten erreichen wollte die der Philo-sophie jedochbislang fern standen und kein Interesse daranhatten sichmit grie-chischen Originaltexten auseinanderzusetzen Der betont untechnische Charak-ter der Briefe deutet ebenfalls in diese Richtungsup2

Ebenso aufschlussreich ist was wir uumlber die philosophischen (bzw halb-philosophischen) Vormeinungen der Leserschaft erfahren Denn offenbar sind esganz verschiedene Stroumlmungen auf die Seneca eingehtsup3 Hierbei sind besondersdie epikureischen Tendenzen unverkennbar⁴

Im Gegensatz zu so mancher ehedem renommierter zu Senecas Zeiten aberverwaister Schule⁵ erfreute sich der Epikureismus wie ua Senecas 79 Brief be-weist auch im 1 Jh n Chr breiter Beliebtheit⁶Auf dessenWertvorstellungengehtSeneca ndash uumlbrigens ganz in der Nachfolge seines Lehrers Attalos ndash immer wiedersehr geschickt ein⁷ Ein Meisterstuumlck in dieser Hinsicht ist der vierte Brief Alleinein Blick auf die zahlreichen epikureisch gefaumlrbten Vokabeln der Lust und der

1 Dagegen erklaumlrt Griffin Seneca 7 dieses Bestreben aus Senecas schriftstellerischem EhrgeizraquoSenecarsquos choice of Latin as a medium is a sure sign that his interest in writing was at least asgreat as his interest in philosophylaquo2 Ergaumlnzend kann man darauf verweisen dass sich der Schwerpunkt der philosophischen Lehrezu Senecas Jugendzeit von Griechenland (Athen) nach Rom verschoben hatte vgl FuhrmannSeneca und Nero 48 Das duumlrfte sicher auch zu einer verstaumlrkten Breitenwirkung und damit zueinem gestiegenen Bedarf an Philosophie in Popularform gefuumlhrt haben3 Vgl Inwood Selected philosophical letters xix4 S dazu ausfuumlhrlicher Kapitel 411 ab S 1575 Seneca nennt nat quaest 7322 als Schulen die aufgrund des Desinteresses der roumlmischenGesellschaft (bzw noch schlimmer aufgrund des allgemeinen Interesses fuumlr seichte Freizeitge-staltungsformen wie den Mimus) zu seiner Zeit ohne Nachfolger dastanden die alte und die juumln-gere (dh skeptische) Akademie Pyrrhons Skepsis die Pythagoreer und die Sextier Weder dieStoiker noch die Epikureer werden in dieser raquoroten Listelaquo gefuumlhrt6 7915 Vides Epicurum quantopere non tantum eruditiores sed haec quoque imperitorum turbamiretur Weitere Belege fuumlr den Epikureismus des (spaumlteren) 1 Jh Timpe Epikureismus in derroumlmischen Kaiserzeit passim ferner Griffin Philosophy Politics and Politicians at Rome 8 mitAnm 13 (epikureische Adressaten von Statius und Plinius dJ)7 Schottlaender Epikureisches bei Seneca 133ndash136=WdF 167ndash171 zeigt anhand der von Sene-ca uumlberlieferten Zeugnisse inwiefern ihm Attalos hierin vorausgeht Bereits jener habe offenbarstandardmaumlszligig stoische Gedanken raquomit dem spezifisch epikureischen Argument des Gewinnsbzw der Einbuszlige an Lustlaquo (133=WdF 168) versehen Schottlaender schildert dies wie eine Ent-deckung doch er hat sie nicht als erster gemacht sondern befindet sich selbst in der NachfolgeUseners der in seinen Epicurea (57ff) minutioumls eben dieselben Beobachtungen noch erweitertum Betrachtungen zur Epikurrezeption durch Cicero und diverse Mittelplatoniker ausfuumlhrt ndashAuf Senecas Technik der rsaquoEinverleibunglsaquo Epikurs werde ich unten in Kapitel 4 ausfuumlhrlicher zusprechen kommen

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40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 28: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

40 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

inneren Reinheit lehrt dass Seneca hier nicht einseitig eine stoische Lesart an-steuert (Sperrungen im Text)

41ndash2 1 Persevera ut coepisti et quantum potes propera quo diutius fru i emendato animoet composito possis Fruer is quidem etiam dum emendas etiam dum componis alia tamenilla voluptas est quae percipitur ex contemplatione mentis ab omni labe purae et splendi-dae 2 Tenes utique memoria quantum semper senser is gaudium cum praetexta po-sita sumpsisti virilem togam et in forum deductus es maius expecta cum puerilem animumdeposueris et te in viros philosophia transscripserit

1 Fahre fort wie du begonnen hast und eile so sehr du kannst damit du laumlnger deine ver-besserte und geordnete innere Einstellung genieszligen kannst Und du wirst sie sogar ge-nieszligen waumlhrend du sie verbesserst und waumlhrend du sie ordnest doch es ist noch einmaleine ganz andere Lust die man aus der Betrachtung seiner von jedem Schmutz gereinig-ten und glaumlnzenden Geisteshaltung gewinnt 2 Du erinnerst dich bestimmt noch daranwie groszlige Freude du empfunden hast als du die toga praetexta ab- unddieMaumlnner-toga angelegt hast und dann aufs Forum geleitet worden bist erwarte eine groumlszligere Freudewenn du deine kindische innere Verfassung abgelegt haben wirst und dich die Philosophiein die Maumlnnerliste uumlbertraumlgt

Natuumlrlich kann man das alles ebenso gut stoisch verstehen und genau das tutScarpat auch in seinem Kommentar (ad loc) emendare bezeichne dann in ne-gativer Bestimmung die Methode sich zur virtus emporzuarbeiten indem mandie vitia beseitige waumlhrend componere in positiver Darstellung den aktiven An-gleichungsprozess an die Naturordnung abbildesup1 Soweit so gut Scarpat machtaber leider mit keiner Silbe darauf aufmerksam dass diese Auslegung eben nureinKann ist Nichts zwingt denLeser zu dieser Sichtweise ImGegenteil die epiku-reische Lesart liegt viel naumlher So ist von virtus und vitiumweit und breit keine Re-de die emendatio und compositio animi kann jeder Epikureer ebensogut fuumlr sichreklamieren und darf sich in dieser Auffassung durch das begleitende Lustvoka-bular bestaumltigt fuumlhlen Und der sich anschlieszligende Vergleich zu der Aumlngstlichkeitder Kinder zeigtweit groumlszligereNaumlhe zudem (vonSeneca epist 1106 zustimmend zi-tierten) lukrezischen Bild (255ndash58)sup2 als zu den von Scarpat (78) angefuumlhrten stoi-

1 Scarpat Lettere libro primo 74 raquoemendare e componere sono le due operazioni con cuilrsquouomo si porta alla virtugrave lrsquouna rappresenta la parte negativa lrsquoaltra la parte positiva con laprima si libera dai vizi con la seconda si armonizza con la naturalaquo2 (Lukrez vergleicht die Unbegruumlndetheit unserer Aumlngste mit der von Kindern die sich imDunkeln fuumlrchten)

nam vel uti pueri trepidant atque omnia caecis 55in tenebris metuunt sic nos in luce timemusinter dum nihilo quae sunt metuenda magis quamquae pueri in tenebris pavitant finguntque futura

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13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 29: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 41

schen Belegensup1 Noch evidenter wird die gesuchte Naumlhe zur epikureischen Lehrein dem was Seneca nun folgen laumlsst

43 Nullum langmalumrangmagnum quod extremum est Mors ad te venit timenda erat si tecumesse posset necesse est aut non perveniat aut transeat

Kein Uumlbel das extrem ist ist groszlig Der Tod kommt zu dir er waumlre zu fuumlrchten gewesenwenn er bei dir sein koumlnnte aber notwendigerweise dringt er entweder nicht zu dirvor oder geht an dir vorbei

Die Behauptung der Tod koumlnne Lucilius gar nicht antreffen entspricht exakt derberuumlhmten epikureischen Alternative rsaquoSolange wir sind ist der Tod nicht da undist der Tod da so sind wir nicht (mehr) dalsaquosup2 Die epikureische Sicht tritt also ganzdeutlich hervor

Doch das heiszligt auch wieder nicht dass die Stelle ausschlieszliglich epikureischzu lesen ist mit der Formulierung aut transeat deutet Seneca ja die Moumlglichkeitdes Weiterlebens der Seele nach dem Tod zumindest an also eine Sicht die demstoischen (sowie dem pythagoreischen und platonischen) Weltbild entsprichtDas heiszligt Seneca waumlhlt Formulierungen die sich ndash philosophisch gesehen ndashausschlieszligen aber gerade dadurch auf verschiedene Leser passen der Epikureerkann sich in ihnen genauso wiederfinden wie der Stoiker

Die epikureische Sicht scheint dabei durch das Lustvokabular an der zuerstgenannten Stelle und den Umstand dass an der zweiten Stelle die epikureischeVariante (aut non perveniat) zuerst genannt wird psychologisch leicht im Vor-teil Indes Fuumlr den Kenner ist Senecas eigentliche Stoszligrichtung bereits erkenn-bar Denn nur wenige Zeilen spaumlter favorisiert Seneca als Mittel gegen die Angstdie praemeditatio futurorum malorum von der die Epikureer nicht viel hieltensup3

Bereits in Platons Phaidon ist der Vergleich mit der Aumlngstlichkeit der Kinder ndash auch hier mitdem Bezug zu Gespenstern allerdings noch ohne die Hell-Dunkel-Entgegensetzung ndash vorgepraumlgt(Phd 77e) ΚΕΒΗΣ ἀλλrsquo ἴσως ἔνι τις ϰαὶ ἐνἡμῖνπαῖς ὅστις τὰ τοιαῦτα [ wie die These die See-le werde mit dem Tod vom Winde verstreut ] φοβεῖται τοῦτον οὖν πειρῶ μεταπείϑειν μὴ δεδιέναιτὸν ϑάνατον ὥσπερ τὰ μορμολύϰεια1 Die von Scarpatgenannten Stellen (epist1158 8913 SVF 3537ff) sind insofern nicht parallelals sie saumlmtlich ndash anders als Lukrez ndash nicht auf das kindliche Wesen der Furcht abheben ndash EineNaumlhe zu dem lukrezischenMotiv (wie Kinder sich imDunkeln vorNichtigem fuumlrchten so fuumlrchtenwir uns im Hellen vor anderen Nichtigkeiten) zeigt im Uumlbrigen auch der 24 Brief (2413) in demSeneca die Angst der Kinder vor Masken als Vergleichspunkt waumlhlt non hominibus tantum sedrebus persona demenda est Beide Motive in Verbindung miteinander const sap 52 vgl auchPlut exil 600d-e und Epict diatr 3221062 So im Menoikeusbrief DiogLaert 10125 ὅταν ἡμεῖς ὦμεν ὁ ϑάνατος οὐ πάρεστιν ὅταν δὲ ὁϑάνατος παρῇ τόϑrsquo ἡμεῖς οὐϰ ἐσμέν3 Vgl unten S 80

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42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 30: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

42 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

waumlhrend sie fuumlr die Stoa ein wichtiges Werkzeug darstelltesup1 Indes findet Senecaauch hierfuumlr eine epikurnahe rsaquoVerpackunglsaquo indem er sie mit dem Argument despersoumlnlichen Nutzens versieht

41ndash6 Nullum bonum adiuvatsup2 habentem nisi ad cuius amissionem praeparatus est ani-mus nullius autem rei facilior amissio est quam quae desiderari amissa non potest Ergo ad-versus haec quae incidere possunt etiam potentissimis adhortare te et indura

Kein Gut nuumltzt dem der es hat auszliger wenn er innerlich auf seinen Verlust vorbereitet istkeine Sache kann aber unbeschwerter verloren gehen als die die wenn sie verloren istnicht ersehntwerdenkannAlsoermahneundwappnedichgegenuumlberdenDingen die auchden Maumlchtigsten zustoszligen koumlnnen

Es waumlre allerdings falsch den Leserkreis allein im epikureischen oder im stoi-schen Milieu beheimatet zu sehen Das zeigt ganz deutlich der unmittelbar fol-gende Brief Seneca haumllt es in diesem fuumlr noumltig eine Warnung an rsaquoLuciliuslsaquo aus-zusprechen

51ndash2 1 [] Illud autem te admoneo ne eorummore qui non proficere sed conspici cupiuntfacias aliqua quae in habitu tuo aut genere vitae notabilia sint 2 asperum cultum et in-tonsum caput et neglegentiorembarbam et indictum argento odium et cubile humi positum etquidquid aliud ambitionem perversa via sequitur evita

1 [] Ich ermahne ich aber daran dass du nicht nach Art derer die nicht vorankommensondern auffallen wollen bestimmte Dinge tust die in deinem Aussehen oder in deiner Le-bensfuumlhrungAufsehen erregen 2 vermeide eine liederlicheKoumlrperpflege ungeschorenesHaar einen verwilderten Bart ostentativen Hass auf alles was Silber ist eine Lagerstatt aufdem Boden und alles andere was auf entartete Weise nach Beruumlhmtheit strebt

Dass sich in diesen Mahnungen Senecas Tendenzen seiner Zeit spiegeln liegt aufder Hand und ist auch anderweitig durch zahlreiche Zeugnisse verbuumlrgtsup3 Wohlkaum aber ist Lucilius gluumlhender Epikureer und zum Fanatismus neigender Kyni-ker in einer Person Ein raquoEpikureismuslaquo des historischen Lucilius⁴ ist damit aus-

1 Zu ihrer Ableitung aus der stoischen Erkenntnistheorie siehe Wildberger Theory of Cogniti-on 922 Vgl auch die Verwendung von adiuvare 172 [] pervides quantum philosophia prosi t[] quantum ubique nos adiuvet etc3 Man vergleiche nur Epiktets Diatribe Περὶ ϰυνισμοῦ (diatr 322) siehe dazu den ausgezeichne-ten Kommentar von Billerbeck (Epiktet Vom Kynismus) Weiteres zum Kynismus der Kaiserzeitbei Billerbeck Demetrius 1ndash11 Goulet-Cazeacute Cynisme agrave lrsquoeacutepoque impeacuteriale Navia ClassicalCynicism Abschnitt 5 sowie Doumlring Die Kyniker Abschnitt 44 Vgl bereits Schottlaender Epikureisches bei Seneca 139=WdF 174 Auch Abel hatte ur-spruumlnglich (1967) diese Meinung vertreten (Bauformen 104) korrigierte diese dann aber zuguns-ten der Ansicht der Fiktivitaumlt der Korrespondenz (Faktizitaumlt 1981)

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13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 31: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 43

zuschlieszligen Haumltte Lucilius eine Affinitaumlt dazu dann waumlre epist 5 an ihn fehl-adressiert welchen Epikureer muumlsste man schon davor warnen in kynischen Ex-tremismus abzugleiten

Natuumlrlicher ist auch hier die Erklaumlrung dass Seneca ein sehr breites ndash oderauch ein noch sehr unentschlossenes falls nicht gar wankelmuumltiges ndash Leser-spektrum abzudecken sucht deshalb auch die direkte Abfolge dieser Briefe DerAbschluss des vierten Briefes mit der epikureischen Neudefinition des Reichtumsdurch die Naturgemaumlszligheit der Beduumlrfnisse (410f) mahnt zur Beschraumlnkung deseigenen Wohlstandsstrebens der Beginn des fuumlnften Briefes hingegen mahntzur Beschraumlnkung dieser Beschraumlnkung Weder ungehemmtes Reichtumsstrebennoch plakative Armut sind sagt Seneca der richtige Weg

Neben dieser Information auf der Sachebene transportiert der Brief eine viel-leicht noch wichtigere Botschaft Einem zoumlgerlichen Leser der von der Stoa be-fuumlrchtet sie werde ihn auf einen rigiden Kurs einschwoumlrensup1 wird hier das Signalgegeben dass er diese Sorge getrost fahren lassen duumlrfe Die Stoa fordere nichtsUumlbermenschliches von ihm sie sei keine Extremposition sondern selbst genaudieseMitte zwischenden Extremensup2 Aumluszligerst geschickt verweist Seneca in diesemZusammenhang auf die Unvereinbarkeit eines kynischenFanatismusmit der stoi-schen Telosformel raquoUnser Vorhaben ist es doch gemaumlszlig der Natur zu leben Dasaber ist gegen dieNatur seinen Koumlrper zumartern ein ohne groszligenAufwandzuhabendes gepflegtes Aumluszligeres zu hassen Schmutzigkeit eigens anzustreben undsich von nicht nur billigen sondern uumlbel schmeckenden und dreckigen Speisenzu ernaumlhrenlaquosup3

Diese Formulierung laumlsst einen weiteren Ruumlckschluss zu Sie zeigt an dassder von Seneca anvisierte Leser offenbar schon von Anfang an uumlber eine gewisseGrundvorstellung von der stoischen Lehre verfuumlgt

1 Vgl neben der gleich zitierten Passage des 8 Briefes auch den 9 Brief (s unten Kapitel 432ab S 237) und ferner 227f 7 Puto nunc et Stoicam sententiam quaeris Non est quod quisquamillos apud te temeritatis infamet cautiores quam fortiores sunt Exspectas forsitan ut tibi haec di-cant lsquoturpe est cedere oneri luctare cum officio quod semel recepisti Non est vir fortis ac strenuusqui laborem fugit nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultatersquo 8 Dicentur tibi ista si operaepretium habebit perseverantia si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit alioquisordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa2 Die pseudoepikureischen und die pseudokynischen Entartungen bleiben die Pole von denensich Seneca abzusetzen sucht vgl zB 514 quemadmodum inter tortores habitare nolim sic neinter popinas quidem3 Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere hoc contra naturam est torquere cor-pus suum et faciles odisse munditias et squalorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed tae-tris et horridis (54) Allerdings laumlsst Seneca hier vollkommen unbestimmt was hierbei eigentlichnatura bedeuten soll Erst im 41 Brief wird er das genauer determinieren s unten S 211

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44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 32: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

44 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Das duumlrfte angesichts der Verbreitung der stoischen Lehre de facto auf jeden Leser zutref-fen Es gab fuumlr jede der bedeutenden Philosophenschulen bestimmte Theorieelemente die inder Auszligenwahrnehmung eine Schulidentitaumlt stifteten und wohl aumlhnlich bekannt waren wie dieheutigen ebenfalls recht schlagwortartig gezogenen Assoziationen rsaquoDarwin ndash Evolutionslehrelsaquooder rsaquoEinstein ndash Relativitaumltstheorielsaquo So spielt Seneca beispielsweise im neunten Brief (916) mitder groumlszligten Selbstverstaumlndlichkeit auf die Lehre vom Weltenbrand (ἐϰπύρωσις) ansup1 ohne dassman darin eine Uumlberforderung seines Publikums sehen muumlsste Selbst Ovid konnte sie offenbarfuumlr seine Leser voraussetzenwenn er Jupiter im ersten Metamorphosenbuch uumlberlegen laumlsst wieer das ruchlose Menschengeschlecht vernichten kann und dabei beschreibt wie dieser von derMoumlglichkeit der Bestrafung durch Blitze Abstand nimmt (met 1253ndash258)

Iamque erat in totas sparsurus fulmina terras253sed timuit ne forte sacer tot ab ignibus aetherconciperet flammas longusque ardesceret axisesse quoque in fatis reminiscitur adfore tempus256quo mare quo tellus correptaque regia caeliardeat et mundi moles obsessa laboret

Weitere derartige stoische rsaquoMarkenzeichenlsaquo waren sicherlich die Forderung des aktiven politi-schen Lebens (dazu gleich) die stoische fatum-Vorstellung (vgl 164) und die ἀπάϑεια-Forderung(s dazu unten S 240 und Kapitel 44 ab S 242)

Der durchschnittliche Briefleser mag vielleicht (im Detail) uninformiert seindoch er ist interessiert Diese ndash literarische ndash Konstellation ermoumlglicht es SenecaSpannungen zwischen der Vorerwartung des Lesers und seiner eigenen Durch-fuumlhrung zu erzeugen So beginnt der 8 Brief mit dem Gegeneinwand

81 rsaquoTu melsaquo inquis rsaquovitare turbam iubes secedere et conscientia esse contentum ubi illapraecepta vestra quae imperant in actu morilsaquo

rsaquoTu traumlgst mir auflsaquo schreibst du rsaquoder Menge aus dem Weg zu gehen mich abzusondern undmich [statt an der Anerkennung von auszligen ndash (Anm UD) ] an meinem guten Gewissen zufreuen Wo sind denn eure beruumlhmten Vorschriften die besagen man solle im Einsatz [fuumlrdas Gemeinwohl ndash (Anm UD) ] sterbenlsaquo

Natuumlrlich kann diesen Text jede Person verstehen der die stoische Forderungnach der vita activa noch kein Begriff ist Aber er zeigt doch an mit welchen Vor-kenntnissen Seneca rechnetesup2 Und indem er diese Vorkenntnisse nicht etwa nur

1 rsaquoQualis tamen futura est vita sapientis si sine amicis relinquatur in custodiam coniectus vel in ali-qua gente aliena destitutus vel in navigatione longa retentus aut in desertum litus eiectuslsaquo Qualisest Iovis cum resoluto mundo et dis in unum confusis paulisper cessante natura acquie-scit sibi cogitationibus suis traditus2 Genau auf dieses Vor- bzw Halbwissen uumlber die Stoa bezog sich zB Tigellinus als er Nerodazu uumlberredete Rubellius Plautus ermorden zu lassen (Tac Ann 14573) Dazu leitete er ausdessen Sympathie fuumlr die Exempla der roumlmischen Geschichte und fuumlr die Stoa eine latente Gefahr

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13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 33: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 45

rsaquomiteinbeziehtlsaquo sondern sie im Gegenteil dazu nutzt um sich selbst herausfor-dern zu lassen gelingt es ihm auch kritisch eingestellten Lesern Identifikations-moumlglichkeiten zu bieten Gerade durch die in Senecas Briefe gespiegelten Zweifeldes Lucilius besteht fuumlr eine breite Leserschaft immer die Chance sich in ihnen ndashsei es auf Senecas sei es auf Luciliusrsquo Seite ndash wiederzufinden nicht nur angehen-de Stoiker sondern auch philosophieinteressierte Laien die mit dem Epikureis-mus oder Kynismus liebaumlugeln zugleich aber eine gewisse Skepsis mitbringengehoumlrten offenbar zum intendierten Adressatenkreis der Epistulae morales Es istwohl auch diese Adressatenbreite die den Grund fuumlr den uumlber Jahrhunderte waumlh-renden Erfolg der Briefe gelegt hat

133 Die Wahl der Briefform

Die Wahl der Briefform fuumlr philosophische Texte ist nicht selbstverstaumlndlich undbedarf einer Erklaumlrung Doch will ich an dieser Stelle nicht unnoumltig wiederholenwas anderswo schon ausfuumlhrlich diskutiert worden istsup1 Ein paar zusammenfas-sende und ergaumlnzende Uumlberlegungen sollen genuumlgen

Fuumlr Seneca war der Schritt zur Briefform ndash biographisch gesehen ndash nicht be-sonders groszlig Denn seine Dialogisup2 aumlhneln in ihrer Einkleidung und in ihrer per-soumlnlichen Ansprache an den Adressaten bereits so sehr der Briefform dass diese

ab dass er die Macht an sich reiszligen wolle Plautum magnis opibus ne fingere quidem cupidinemotii set veterum Romanorum imitamenta praeferre adsumpta etiam Sto icorum adrogantiasectaque quae turbidos et negotiorum adpetentes faciat ndash Plautus fragte uumlbrigens in dieserGefahr seinenHausphilosophen (doctor sapientiae) den beruumlhmten Stoiker Musonius Rufus umRat und dieser empfahl ihm lieber mit constantia den Tod zu erwarten als weiter ein Leben inUnsicherheit und Sorge fuumlhren zu muumlssen (Tac Ann 14591)1 Siehe vor allem (chronologische Reihenfolge) Mutschmann Seneca und Epikur Syku-tris Epistolographie Cancik Untersuchungen 46ndash58 Maurach Bau 181ndash199 ThraedeGriechisch-roumlmischeBrieftopik undders ZwischenGebrauchstext undPoesie StuumlckelbergerBrief alsMittel 135f fernerCugusi Evolutionee formedellrsquoepistolografia 195ndash206Mazzoli Va-lore letterario 1856ndash1860 Lana Lettere a Lucilio 258ndash268 Graver Therapeutic reading 30ndash35Hamacher Senecas 82 Brief 37ndash48 sowie Inwood Importance of Form2 DieBedeutungderGattungsbezeichnungdialogus ist nicht endguumlltig geklaumlrt Aufder einenSei-te steht Dahlmann Rezension zu Koumlstermann 367 (rsaquoDialogelsaquo nicht in der NachfolgePlatons oderdes Cicero-Vorbilds Aristoteles sondern in der Tradition des hellenistischen Lehrvortrags derδιάλεξις raquoin der nur einer redet der sich haumlufig unterbricht durch Einwuumlrfe eines fingierten In-terlocutorslaquo) an ihn schlieszligt sichPusch Der dialogische Charakter 72ndash75 an Dagegen stellt sichGriffin Seneca 412ndash415 (normale roumlmische Praxis haumltte Transskription oder zumindestWieder-gabe durch ein genuin roumlmisches Wort vorgezogen nicht Wiedergabe eines griechischen Begrif-fes durch einen anderen statt dessen sei Herkunft des Begriffs aus der rhetorischen Technik ndashals Analogon zu sermocinationdash wahrscheinlich) ndash Zumantiken Dialog s jetzt auchden Tagungs-

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46 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 34: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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wie ihre natuumlrliche Fortsetzung scheintsup1 Zu Recht bemerkt Lanasup2 dass sich ei-nige Briefe ohne weiteres als dialogi lesen lieszligensup3 Dennoch stellt sich die Fragewarumes Seneca fuumlr reizvoll hielt diesen Schritt zur Briefform tatsaumlchlich zu voll-ziehen Hierfuumlr ist es zweckmaumlszligig zwischen rsaquoaumluszligerenlsaquo (gattungsgeschichtlichen)und rsaquoinnerenlsaquo (motivischen) Faktoren zu unterscheiden⁴

Zunaumlchst zu den aumluszligeren Gruumlnden Innerhalb der lateinischen Literatur sindSenecas philosophische Briefe ohne Beispiel⁵ Doch sie sind nicht ohne VorbildIhre Einzigartigkeit beruht groszligenteils auf dem Umstand dass die Philosophieauch in Rom ndash trotz prominenter Ausnahmen⁶ ndash weitgehend griechische Domauml-ne geblieben war Die meisten der in Rom wirkenden Philosophen waren Grie-chen und zwar nicht nur zu Ciceros sondern auch zu Senecas Zeiten Ein Vertre-ter dieser Gruppe war zB Demetrius der unter Nero wirkende und von Senecabewunderte kynische Philosoph⁷ Und im Gegensatz zu Cicero zogen es im erstenJh n Chr die roumlmischenPhilosophenwieder vor ihr Fach in griechischer Sprachezu betreiben wie zB C Musonius Rufus Senecas um eine Generation juumlngererZeitgenosse Seneca ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme⁸

band Der Dialog in der Antike Formen und Funktionen einer literarischen Gattung zwischenPhilosophie Wissensvermittlung und dramatischer Inszenierung (hg FoumlllingerMuumlller)1 Konsequenterweise fragt daher Maurach Bau 198 auch nach den raquoVorformen bei Senecaselbstlaquo Sehr groszlige Naumlhe besteht zu De tranquillitate animi (der Anfang dieses rsaquoBrieflsaquo-Dialogsunten zitiert S 70) ferner zu der ndash ebenfalls Lucilius gewidmeten ndash Schrift De providentia sunten S 264 Im Grunde lassen sich die Einleitungen aller Dialoge Senecas ndash sofern erhalten ndashals Briefbeginn lesen2 Lettere a Lucilio 272f3 S dazu unten Kapitel 521 ab S 263 Gegen den Versuch den Briefen aber insgesamt ihrenBriefcharakter abzusprechen und sie als Essays und dgl mit Briefoberflaumlche zu bezeichnen sieheWilson Senecarsquos Epistles Reclassified4 Vgl Cugusi Evolutione e forme dellrsquoepistolografia5 Allenfalls das erste Epistelbuch von Horaz koumlnnte man anfuumlhren Auf das Verhaumlltnis zu ihmkomme ich gleich zu sprechen6 Von den Philosophen bis zu Senecas Zeit sind erhalten Lukrez Cicero Seneca verloren dieSchriften der Epikureer Rabirius T Catius und vor allem Amafinius (sowie von dessen ndash offenbargar nicht ganzwenigenndashNachahmern vglCic Tusc 46f) ferner die philosophischen SchriftenVarros des (spaumlteren Caumlsarmoumlrders)M Iunius Brutus sowie dieWerke desNeupythagoreers P Ni-gidius Figulus auch der Historiker Livius hatte offenbar philosophischeWerke verfasst (1008) ndashKurzuumlbersicht bei Goumlrler Philosophie in Rom7 Vgl va benef 782 und 791ndash106 ferner epist 209 Zu Demetrius Senecas Verhaumlltnis zu ihmund zum Neukynismus in Rom uumlberhaupt siehe Griffin Seneca 311f Billerbeck Demetriusebd S 19 Anm 39 auch zur Frage der Unterweisung in griechischer Sprache8 Siehe Leonhardt Latein 84f Graver Therapeutic reading 38ndash40 und bereits oben S 38

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13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 35: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 47

Dessen (griechischsprachiger) Schuumller Epiktet wirkte spaumlter (uumlber die Nach-schriften seiner muumlndlichen Lehre durch Arrian) stark auf Mark Aurel einsup1 Undauch dieser verfasste seine Selbstbetrachtungen ndash freilich in einer nun gaumlnzlichgraecophilen Epoche ndash auf Griechisch Anders als in der Dichtung aber auch an-ders als zB in der Historiographie oder Rhetorik hat sich die lateinische Philoso-phie nie von der Vormacht des Griechischen loumlsen koumlnnen

Im Kontext dieser generell zweisprachigen Kulturepochesup2 muumlssen wir nichtnur lateinische sondern auch griechische Autoren (und auch nicht nur Brieflite-ratur sondern auch andere Gattungen) in die Suche nach moumlglichen Vorbilderneinbeziehensup3 Im Bereich der lateinischen Literatur existierte schon vor Seneca ndashund zwar mit Horazrsquo erstem Epistelbuch ndash eine philosophische BriefsammlungDoch die dort versammelten Schreiben heben sich schon durch ihre poetischeForm (Hexameter) von gewoumlhnlichen Gebrauchsbriefen ab⁴ Waumlhrend Seneca inFormundTondem Alltagsbrief moumlglichst nahe zu kommen sucht ndash obschondiesersaquoPostlsaquo wie gesagt houmlchstwahrscheinlich nie verschickt wurde sie war eben nurdie Nachahmung einer echten Korrespondenz ndash sind umgekehrt die Horazbrie-fe zwar Artefakte mit einem hohen Grad an Stilisierung aber eben in der Regeldoch mit einem wirklichen Sitz im Leben Sie hatten wirklich einmal die Funkti-on eines (wenn auch geschraubten) Einladungsbillets EmpfehlungsschreibensGruszliges usw

Ein weiterer markanter Unterschied besteht darin dass die Horazbriefe anganz verschiedene Adressaten gerichtet sind Allenfalls im Bestreben bei der Zu-sammenstellung der Briefe zu einem Buch bestimmte kompositorische Mittel zurGeltung zu bringen⁵ oder in der Varianz der Brieflaumlngen⁶ koumlnnte man Parallelenzu dem augusteischen Dichter ziehen das reicht aber nicht hin um in ihm ein

1 Mark Aurels Hochachtung gegenuumlber Epiktet aumluszligert sich ua darin dass er ihn in einem Atem-zug mit Chrysipp und Sokrates erwaumlhnt (7192) Πόσους ἤδη ὁ αἰὼν Χρυσίππους πόσους Σω-ϰράτεις πόσους ᾿Επιϰτήτους ϰαταπέπωϰεν2 Konsequenterweise beschrieb deshalbDihle die Literatur der Kaiserzeit in einer gemeinsamengriechisch-lateinischen Literaturgeschichte3 Zu Vorbildern siehe va Maurach Bau 181ndash199 zusammenfassend mit weiterer Literatur In-wood Importance of Form 136 ndash Nicht unbedeutend duumlrfte zB der Einfluss der Diatribe ge-wesen sein vgl bereits die Zusammenstellungen bei Weber De Senecae philosophi dicendi ge-nere Bioneo auch Stuumlckelberger Brief als Mittel 133f nimmt starken Diatribeneinfluss anInwood Selected philosophical letters xiv weist zu Recht auf Beeinflussung durch Ciceros Definibus und Tuskulanen hin4 Die poetische Formunterscheidet Senecas Briefe ebenso vondenendes Satirikers Lucilius vglauch Stuumlckelberger Brief als Mittel 1355 Maurach Bau 196f6 Lana Lettere a Lucilio 263

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48 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 36: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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echtes Vorbild zu sehen Wir muumlssen zudem beachten dass im Gegensatz zumsenecanischen Epistelwerk bei der Sammlung der Horazbriefe der Eindruck einesgeschlossenen Ganzen nicht durch Identifikation des Lesers mit einem Adressa-ten erfolgt dem jener sich allmaumlhlich immer vertrauter fuumlhlen darf sondern al-lein durchdie Einheit der hinter der Sammlung stehenden Person HorazUnd die-se Person tritt ndash ganz anders als der sich immer gleich im philosophischen Vor-waumlrtsstreben zeigende Seneca ndash als raquopersonaggio mixtuslaquosup1 in Erscheinung kurzEs gibt in den Briefen des Horaz kein gemeinsames und durchgaumlngiges Strebens-ziel fuumlr die Trias Absender Adressat und Leser

Nochweniger als dieHorazbriefe scheinenCicerosBriefe anAtticus als eigent-liche Vorbilder fuumlr Seneca in Frage zu kommen kritisiert doch Seneca (1181f)sup2ausdruumlcklich ihre Banalitaumltsup3 Doch moumlglicherweise ist es nicht ganz so wie Sene-ca es gesehen haben moumlchte Sein hartes Urteil taumluscht daruumlber hinweg dass ersichwohl inmancher ndashwenn vielleicht auchnur sekundaumlrer ndashHinsicht vondieserSammlung inspirieren lieszlig Immerhinwaren ihm die Briefe anAtticus so vertrautdass er ndash im Gegensatz zu den Horazbriefen ndash gelegentlich aus ihnen zitiert In ih-nen fand er ferner bereits das besonders persoumlnliche Verhaumlltnis zwischen Autorund Adressat angelegt das auch seinen Briefen ihren eigenen Reiz verleiht⁴ Se-neca erkennt im Uumlbrigen (214) ihre literarische Bedeutung neidlos an wenn ersie in eine Reihe derjenigen Briefsammlungen stellt die nicht nur ihren Autorensondern auch ihren Empfaumlngern Unsterblichkeit verliehen haumltten Er vergleichtsie hierin ua mit den Idomeneusbriefen Epikurs⁵

Eben diese Epikurbriefe⁶ sind das Werk das wohl ndash in Verbindung mit der ci-ceronischen Form ndash die groumlszligte Vorbildwirkung auf Senecas Briefe ausuumlbte⁷ Zwar

1 Lana Lettere a Lucilio 2622 Z B mit der Feststellung Numquam potest deesse quod scribam ut omnia illa quae Ciceronisimplent epistulas transeam (1182)3 Richtig Stuumlckelberger Brief als Mittel 135 sowie Lana Lettere a Lucilio 260f4 Vgl Mazzoli Valore letterario 1857f (unter Ruumlckgriff auf Cugusi Evolutione e formedellrsquoepistolografia 203 mit weiteren Uumlberlegungen) ferner Inwood Importance of Form 141f5 Siehe oben S 35 mit Anm 36 Und das heiszligt eben nicht die vier im 10 Buch bei Diogenes Laertius uumlberlieferten Epikurbriefe(die drei Lehrbriefe an Herodot Pythokles und Menoikeus sowie das Abschiedsschreiben an Ido-meneus vom Tag seines Todes) sondern die heute verlorene Privatkorrespondenz In der Antikewar ndash ganz abgesehen von den boumlsartigen Faumllschungen (vgl DiogLaert 103f) eine erheblicheAnzahl von Briefen im Umlauf7 Griffin Seneca 350 Die Briefe folgten dem epikureischen Vorbild und seien raquoSenecan dia-logues with an epistolary veneer inspired by Cicerolaquo Die Gleichsetzung der Briefe mit der Dia-logform trifft allerdings nur begrenzt und auf keinen Fall fuumlr alle Briefe zu vgl Wilson SenecarsquosEpistles Reclassified

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13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 37: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

13 Brief und Adressat | 49

ist die Korrespondenz Epikurs nie als literarisches Corpus zusammengestellt wor-densup1 doch das ist wie Mazzolisup2 zu Recht hervorhebt kein Grund Epikur nur informaler Hinsicht als Vorlaumlufer fuumlr Senecas Briefe anzusehensup3 Bereits Mutsch-mann (Seneca und Epikur 1915) hatte zu beweisen versucht dass die Epikurbrie-fe fuumlr Seneca in direkter Anschauung vorlagen und sein inhaltliches und forma-les Vorbild fuumlr die ersten drei Briefbuumlcher waren Er wandte sich damit gegen dieGnomologienhypothese Useners die behauptete Seneca habe alle Epikurzitateaus einem Zitatenhandbuumlchlein entnommen⁴ Zwar konnte Setaioli⁵ durch ein-gehende Analyse der Epikurzitate nachweisen dass auch Mutschmanns Thesezu weit geht Vielmehr gelte ein rsaquosowohl als auchlsaquo⁶ doch es steht fest dass Sene-ca sich intensiv ndash und durchaus in direkter Lektuumlre⁷ ndash mit den Epikurbriefen aus-einandergesetzt hat Im Gegensatz etwa zu den Briefen Platons oder denen desAristoteles zeigen diese bereits den typisch hellenistischen Impetus nicht Sach-fragen abzuhandeln sondern in direkter und persoumlnlicher Darstellungsweise ei-ne moralische Einflussnahme auf den Leser auszuuumlben Sie waren therapeutischangelegt⁸

Aber damit sind wir schon bei den rsaquoinnerenlsaquo Beweggruumlnden Gehen wir ihnenetwas genauer nach Es ist nicht nur der therapeutische Impetus an Epikurs Brie-fen der geeignet war Seneca zu beeindrucken Sie taugten vielmehr wie Graverausfuumlhrt⁹ auch in methodologischer Hinsicht als Leitbild zeigten sie doch bei-

1 Maurach Bau 187 gleichwohl existierten zusammenhaumlngende Briefsammlungen Mutsch-mann Seneca und Epikur 330ff erschlieszligt eine chronologisch undnach Adressaten zusammen-gestellte Zusammenstellung sowie eine nach Briefanfaumlngen geordnete Sammlung Seneca ha-be (zumindest) die chronologisch geordnete Zusammenstellung verwendet vgl 189 ([] quasscripsit Charino magistratu ad Polyaenum)2 Valore letterario 18573 Aumlhnliche berechtigte Kritik auch bei Inwood Selected philosophical letters xiv4 Usener Epicurea lv5 Seneca e i Greci 171ndash1826 ZT unter Verwendung von Mutschmanns Beobachtungen zeigt Setaioli dass Seneca we-nigstens fuumlnf Briefe Epikurs im Wortlaut gekannt habe (benutzt in (a) 918 (b) 189 (c) 213ndash7 so-wie 225 (d) 523f (e) 7915 ) Seneca zitiere an diesen Stellen nicht nur ein paar Worte Senecassondern lasse eine detaillierte Kenntnis des Briefablaufes durchblicken7 Eineweitere gute Beobachtung die gegen dieGnomologienhypothese sprichtmachtGiganteSeneca Nachfolger Philodems 32 raquoWenn Epikur fuumlr Seneca kein Meister von Zuumlgellosigkeit undkein verderblicher Verkuumlnder materieller Genuumlsse ist so geschieht es weil er aus zuverlaumlssigenQuellen schoumlpftlaquo8 Zur Charakteristik der Epikurbriefe wie sie Seneca vorgelegen haben koumlnnten siehe InwoodImportance of Form 142ndash1459 Therapeutic reading 140f

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50 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 38: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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spielhaft die Technik des Umgangs mit geschriebenen Texten zum Zweck seeli-schen Fortschrittes

Graver deckt auf (63ndash66) dass Seneca an manchen Stellen in seinen Briefendas Problem der Schriftlichkeit und das der Entfernung vom Ratgeber zum Rat-suchenden in einer Weise thematisiert die an die Schriftkritik des PlatonischenPhaidros (Phaedr 274c-278b) erinnertsup1 Ohne behaupten zu muumlssen dass Sene-ca direkt auf den Platondialog reagiert kann doch als sicher gelten dass er sichder Problematik schriftlicher Unterweisung ndash zumal uumlber groumlszligere Entfernungenund Zeitabstaumlnde hinweg ndash bewusst war Die Briefform koumlnnte nun so Graver(72ndash82) derartige Bedenken aus platonischer Sicht gegenuumlber einem rsaquoFernkurslsaquoin dreifacher Hinsicht gemildert haben

1) Seneca praumlsentiert in den Briefen viele rsaquoEinzelfallstudienlsaquo Konsolations-schriften Charakterstudien wie die zum widerspenstigen (epist 29) oderzum fluumlchtiger Leser (epist 425) und va die vielen Einzelaufnahmen vonSeneca und Lucilus sorgen dafuumlr dass die Briefe dem Leser eine groszlige Er-fahrungsbreite und damit vielfaumlltige Identifikationsmoumlglichkeiten bietenDazu traumlgt auch ndash worauf Teichertsup2 aufmerksam macht ndash bei dass Senecaallein seine Seite der Kommunikation praumlsentiert die Antwortbriefe von Lu-cilius rsaquofehlenlsaquo bekanntlich Das ist leserpsychologisch gesehen kein Mangelsondern ein Gewinn verhindert es doch dass der Leser den Eindruck einerabgeschlossenen auszligerhalb von ihm ablaufenden Kommunikation erhaumlltDie kuumlnstliche Luumlcke fordert ihn geradezu auf sich in seinem Innern dieAntwort zu konstruieren die er an Luciliusrsquo Stelle geben wuumlrde

2) Der fehlende persoumlnliche Kontakt wird (ersatzweise) durch die lebendigeSelbstdarstellung des Autors hergestellt

1 221f 452 711 8832f Besonders rsaquoplatonischlsaquo klingt der Beginn des 71 Briefes Subinde me derebus singulis consulis oblitus vasto nos mari dividi Cum magna pars consilii sit in tempore ne-cesse est evenire ut de quibusdam rebus tunc ad te perferatur sententia mea cum iam contrariapotior est Consilia enim rebus aptantur res nostrae feruntur immo volvuntur ergo con-silium nasci sub diem debetAllerdings hat Seneca ndash das sollten wir nicht uumlbersehen ndash bei seinendiesbezuumlgliche Aumluszligerungen nur den zeitlichen Aspekt im Auge Bestimmte Ratschlaumlge sagt erpassen nur auf bestimmte Situationen wenn diese ndash was schnell geschehen koumlnne ndash sich aumln-dern passen auch die Ratschlaumlge nicht mehr Platons Gedanke geht jedoch weit daruumlber hinauswenn er nicht die Wandelbarkeit der aumluszligeren Umstaumlnde sondern viel grundsaumltzlicher die Wan-delbarkeit der Interpretationsmoumlglichkeiten eines schriftlichen Textes thematisiert und damit aufdie Begruumlndungsbeduumlrftigkeit jeder schriftlichen Aumluszligerung aufmerksam macht2 Der Philosoph als Briefschreiber 71f

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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52 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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13 Brief und Adressat | 51

3) Die Kuumlrze der Argumentationen und uumlberhaupt die Briefform bewirkt einegroumlszligtmoumlgliche Aumlhnlichkeit zur Muumlndlichkeit wie sie sonst in schriftlichenTexten fast nicht zu erreichen ist (vgl epist 38)sup1

Wir sollten uns allerdings auch hier davor huumlten vorschnell Schluumlsse auf die his-torische Person Seneca zu ziehen und zu glauben er habe die Briefe nur als rsaquoNot-behelflsaquo als rsaquozweitbeste Fahrtlsaquo und gewissermaszligen als Surrogat fuumlr die rsaquobesserelsaquoFormder direktenmuumlndlichenUnterweisung entwickelt In dieserHinsicht duumlrfteer sich deutlich von Platon unterscheiden Denn Seneca hat in seinem Leben vie-le und auszligergewoumlhnlich vielseitige Rollen ausgefuumllltsup2 doch die des praktischenSeelenleiters war ndash nach allem was wir wissen ndash nicht darunter

Wenn er sich in seinen philosophischen Werken gleichwohl als ein solcherpraumlsentiertsup3 dann ist das nur eine Rolle die persona durch die er zu seinen Le-sern spricht Er selbst war ndash wenigstens daswissen wir genau ndash zeit seines Lebensein Mann der schriftlichen Aumluszligerung⁴ ein (ungemein vielseitiger) rsaquolitteacuterateurlsaquo⁵

Die Beobachtungen Gravers deuten jedoch darauf hin dass er sich als sol-cher darumbemuumlht hat eine Formzufinden die aumlhnlich eindringlichwarwie dieder muumlndlichen Rede ndash genauer wie die des Gespraumlches (epist 381) Es ist naumlm-lich auchdies einweiterer nicht unbedeutender rsaquoinnererlsaquo Vorteil der BriefgattungIn einem Brief muss eine Einflussnahme auf den Adressaten nicht zum Abschlussgebracht werden es herrscht kein Zwang zum Resultat Ein Briefwechsel (auchein fiktiver) eroumlffnet wie die muumlndliche Unterweisung die Moumlglichkeit des Verta-gens mit anderen Worten Er bietet die Zeit die fuumlr das gedankliche und emotio-nale Reifen noumltig ist Streng argumentierende philosophische Literatur hingegenmuss den einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende gehen ein Halt auf freierStrecke ist ihr nicht gestattet Briefe aber koumlnnen warten Dies so glaube ich istihr groszliger Vorteil gegenuumlber der Form der Dialogi

1 Auch hierin aumlhnlich Teichert Der Philosoph als Briefschreiber 712 Siehe Inwood Selected philosophical letters xv-xvii3 S zB den unten (S 70) zitierten Beginn von De tranquillitate animi4 Genauer ein Mann der Massenbeeinflussung durch das Wort Seneca hatte bekanntlich sei-ne Karriere als Redner begonnen Doch darauf kommt es hier nicht an es geht darum dass ereben nicht im kleinen Kreise unterrichtet und philosophische Zirkel abgehalten hat Er war keinEpiktet5 ebd xvii ich meine allerdings trotzdem nicht (gegen Inwood) dass wir dieser persona keinezentrale Bedeutung fuumlr die Interpretation der Epistulae morales zumessen duumlrften Wir muumlssensie vielmehr ebenweil sie Seneca immer wieder thematisiert als explizite Leseanweisung fuumlr dieBriefe auffassen ndash zumindest solange und insoweit sie Seneca benutzt Seine Seelenleiterrollebeschraumlnkt sich demzufolge rein auf die literarische persona

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 40: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel

141 Seneca der Epikurfreund Umriss einer therapeutischen Lesart

Bis jetzt haben wir einiges zur Affinitaumlt des intendierten Publikums zu Epikur ge-sagt Doch was ist mit Senecas eigenem Verhaumlltnis zur Philosophie des GartensBekanntlich steht er Epikur ndash und nicht nur ihm als Person sondern auch ein-zelnen Elementen seiner Guumlterlehre ndash zuweilen ausgesprochen wohlwollend ge-genuumlber Wenn ich darauf auch an passender Stelle ausfuumlhrlicher eingehen wer-desup1 moumlchte ich bereits jetzt ansatzweise deutlich machen welchen interpretato-rischen Mehrwert auch fuumlr diese Frage eine therapeutische Lesart bietet

Ganz offensichtlich aumluszligert sich naumlmlich Seneca ndash was in der Forschung kaumpraumlsent ist ndash gegen Ende der Briefe wesentlich kritischer ja sogar feindselig ge-genuumlber Epikur und seiner Lehre Ein paar Belege moumlgen genuumlgen

Die Lust ist ein nichtiges Gut nur geeignet fuumlr animalische Kreaturen

12316 Voluptas humilis res et pusilla est et in nullo habenda pretio communis cum mutisanimalibus ad quam minima et contemptissima advolantsup2

Die Lust ist eine minderwertige und unbedeutende Sache man darf ihr keinerlei Wert bei-messen sie ist (uns) gemeinsam mit den nicht mit Sprache begabten Tieren ihr eilen diekleinsten und verachtetsten Tierchen zusup2

Der Mensch steht an zweiter Stelle im Kosmos Epikur aber hat seinen rechtenPlatz bei den Tieren

926ndash7 6 Si non es solahonestate contentus necesse est aut quietemadici velis quamGrae-ci ἀοχλησίαν vocant aut voluptatem Horum alterum utcumque recipi potest vacat enim ani-musmolestia liber ad inspectum universi nihilque illum avocat a contemplatione naturae Al-terum illud voluptas bonum pecoris est adicimus rationali inrationale honesto inhonestummagno sup3 vitam facit titillatio corporis 7 Quid ergo dubitatis dicere bene esse homini si

1 Unten Kapitel 4 ab S 1572 Dieser Satz ist Teil der rsaquoPalinodielsaquo die Seneca zur Abwehr einer Versuchungsrede eines An-tiphilosophen (s unten S 55) empfiehlt ndash Wie Hachmann Leserfuumlhrung 234 angesichts dieserpolemischen Abwertung der Lust meinen kann die Stelle mit als Beleg fuumlr eine nun (seit 11613)ausschlieszliglich sachlich gefuumlhrteDiskussion uumlber die Rolle der voluptas verwenden zu koumlnnen istmir unbegreiflich Zwar ist seine Beobachtung richtig dass epist 12117 die Lust sachlich in ihreStellung im Rahmen der οἰϰείωσις einordnet Es ist aber eine ganz unzureichende Schlussfolge-rung zu behaupten damit sei Polemik vonnun an ausgeschlossenAn der vorliegenden Stelle istsie unuumlbersehbar sie ergibt sich ganz natuumlrlich aus der Notwendigkeit dass ein Gegengewichtzu der Versuchungsrede des Lustmenschen geschaffen werden muss3 Der lateinische Text ist unvollstaumlndig uumlberliefert Meine Uumlbersetzung folgt Reynoldsrsquo Ergaumln-

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palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 41: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 53

palato bene est Et hunc tu non dico inter viros numeras sed inter homines cuius summumbonum saporibus et coloribus et sonis constat Excedat ex hoc animaliumnumero pulcherrimoac dis secundo mutis adgregetur animal pabulo laetum

6 Wenn du nicht mit der Sittlichkeit allein zufrieden bist dann musst du entweder die Ru-he hinzufuumlgen wollen welche die Griechen rsaquoUnbeschwertheitlsaquo nennen oder die Lust Vondiesen kann man das eine noch irgendwie hingehen lassen ein von aller Beschwernis frei-er Geist ist naumlmlich frei fuumlr die Betrachtung des Kosmos und nichts lenkt ihn ab von derBetrachtung der Naturordnung Jenes andere Gut die Lust ist das Gut des Viehs Sollenwir dem vernunftbestimmten Gut ein vernunftloses hinzufuumlgen dem sittlichen ein unsittli-ches dem groszligen langein schmaumlchtiges Soll fuumlr ein gluumlcklichesrangsup3 Leben ein Sinneskitzel sor-gen 7 Was zoumlgert ihr also zu sagen es gehe dem Menschen gut wenn es seinem Gaumengut gehe Und diesen (Kerl) zaumlhlst du noch ich will nicht sagen unter die Maumlnner sondernunter die Menschen dessen houmlchstes Gut sich aus Geschmacksempfindungen Farben undKlaumlngen ergibt Er soll aus dieser schoumlnsten und nur den Goumlttern nachrangigen Gruppe derLebewesen austreten und sich als mit seinem Futter zufriedenes Tier den anderen nicht mitSprache begabten Tieren zugesellen

Epikur entfernt die Buumlrger aus ihrem Vaterlandsup1 und die Goumltter aus der Weltsup2er macht die virtus zum Anhaumlngsel der voluptas

9035 Non de ea philosophia loquor quae civem extra patriam posuit extra mundum deosquae virtutem donavit voluptati sed ltdegt illa quae nullum bonum putat nisi quod honestumest etc

Nicht von der Philosophie rede ich die den Buumlrger auszligerhalb seines Vaterlandes stellt unddie Goumltter auszligerhalb der Welt und von der welche die virtus der voluptas zum Geschenkgibt sondern von jener die nichts fuumlr gut haumllt auszliger das sittlich Richtige

Diese Stellen lassen ndash aus stoischer Sicht ndash an Schaumlrfe nichts zu wuumlnschen uumlbrigDoch obwohl der Kontrast zwischen der kaum verhuumlllten Feindseligkeit in diesenBriefen zu der geradezu freundschaftlich zu nennenden Behandlung in den ers-ten 30 Briefensup3 groumlszliger nicht sein koumlnnte wird er doch gern verschwiegen⁴ oderverharmlost⁵

zungsvorschlag langpusillum Beatamrang1 Gemeint ist weil er politische Nichtbeteiligung predigt2 Weil er sie in so genannten intermundia ansiedelt und ihnen jedwede Beteiligung an den Vor-gaumlngen auf der Erde abspricht3 Und noch weit daruumlber hinaus s unten Kapitel 41 und 43 ab S 157 bzw 226 die einzige Aus-nahme ist der 9 Brief s dazu unten Kapitel 432 ab S 2374 Nicht einmal Schottlaender Epikureisches bei Seneca der doch bis in den 123 Brief hinein(142=WdF 177 zu 1233) den (positiven) Anklaumlngen an Epikurs Lehre nachspuumlrt erwaumlhnt diesemassiven Anfeindungen auch nur mit einem Wort5 ZB Freise Epikur-Zitate 536 raquoFreiraumdesDenkens fuumlr unbefangenes SuchenderWahrheitohne Schulzwanglaquo raquo[] und es zeigen sich Eigenschaften die wir vielleicht an Seneca beson-

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54 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 42: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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Aber wie koumlnnen wir angesichts dieser Stellen noch ernsthaft an eine raquoEpi-kurisierunglaquo Senecas (Schottlaender)sup1 zum Zeitpunkt der fruumlheren Briefe glau-ben Denn wenn wir nicht eine radikale biographische Wende Senecas innerhalbseiner letzten beiden Lebensjahre annehmen wollensup2 muumlssen wir uns fragen obPassagenwie die eben genanntennicht retrospektiv ein anderes Licht auf die allzufreundlichen Anfangsaumluszligerungen werfensup3

Draumlngt sich nicht geradezu der Verdacht auf Seneca habe zu Anfang ganz be-wusst und aus taktischem Kalkuumll die Guumlterfrage offen gelassen weil er so ndash ohnefreilich die Grenzen zur Selbstverleugnung zu uumlberschreiten ndash Epikurs rsaquogute Sei-tenlsaquo dafuumlr nutzen konnte um daraus eine Bruumlcke zwischen der Lebensauffassungseines umworbenen Lesers und der von ihm angestrebten zu bauen⁴ Schlieszliglichwar es die epikureische Philosophie in dermangemeinhinndashmochte sie sich auchselbst dagegen verwehren ndash die groumlszligte Verwandtschaft zu der Lebenseinstellungder unphilosophischen Menschheit sah⁵

ders schaumltzen Toleranz clementia humanitaslaquo Grundsaumltzlich richtiger Hachmann Leserfuumlh-rung 220ndash237 va 235 Allerdings meint er ndash trotz der (ihm durchaus bewussten) expliziten Kri-tik an Epikur im 87 Brief (8517ndash18) ndash die raquogesamte polemische Diskussionlaquo richte sich raquovor allemgegen die epikureisch eingestellten Zeitgenossen Senecaslaquo (237) und nicht etwa gegen Epikurselbst Siehe aber dazu unten S 235 mit Anm 4 ndash Weit treffender Setaioli Seneca e i Greci 1711 Epikureisches bei Seneca 140=WdF 1762 Richtig Graver Therapeutic reading 138 raquo[] an rsaquoEpicurean phaselsaquo seems scarcely credi-ble in Seneca who is generally hostile to Epicurean ethicslaquo Im Detail widerlegt bereits AndreacuteSeacutenegraveque et lrsquoEpicureisme durch einen Vergleich der eindeutig antiepikureischen Positionen Se-necas in De vita beata und den spaumlteren Epistulae morales alle biographischen Erklaumlrungsver-suche stellvertretend fuumlr einen solchen sei auf Weissenfels (1886) verwiesen raquohoc monendumvidetur progredientibus annis magis magisque Senecam ab exaggerata illa sapientia recessisseatque humanius locutum esse [] Mitior igitur est in praeclarissimis illis quas senex ad Lucili-um scripsit epistulislaquo (26)3 Hachmann Leserfuumlhrung 220ndash237 macht es sich zu leicht wenn er die Spannung nur auf denGegensatz zwischen derHochachtung vonEpikurs Person (unddermit der stoischenDoktrin ver-einbaren Elemente epikureischer Lehre) einerseits sowie der Lustlehre andererseits zuruumlckfuumlhrtohne nennenswert zu untersuchen warum sich beide Pole der Epikurdarstellung so ungleichuumlber die Briefe verteilen4 Ansatzweise jedoch ohne die Konsequenzen aus dem Gedanken zu ziehen bereits Schott-laender Epikureisches bei Seneca 136f=WdF 171 als er denSinnvon 209 (invideas licet) richtigumschreibt mit raquoSei du nur eifersuumlchtig wenn du magst ndash auch jetzt wird Epikur zu meinenGunsten zahlenlaquo5 Es ist die (ua von Cicero im 2 Buch von De finibus ausfuumlhrlich kritisierte) Ambivalenz desLustbegriffs die es so bequem machte sich der vulgaumlrepikureischen Fehlinterpretation anzu-schlieszligen (vgl Sen vit beat 123ndash5) das ist fuumlr Seneca auch der Grund warum er im 95 Briefdie voluptas insgesamt negativ konnotiert verwendet (9533 voluptas ex omni quaeritur) Der ge-woumlhnlicheMenschunterscheidet ebennicht zwischen diesen Lustformen und es kommt ihmnur

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 43: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 55

Seneca gibt dieser Meinung beispielsweise in der Schrift De vita beata ganzoffen Ausdruck Er unterscheidet darin (123ndash133) zwischen der Lehre von Epikurselbst die eine voluptas propagiert die Seneca anerkennend mit raquonuumlchtern undtrockenlaquo bezeichnet und den Scharen von Faulpelzen Schlemmern und Luumlst-lingen (132 ille quisquis desidiosum otium et gulae ac libidinis vices felicitatemvocat) also den Pseudoepikureern die sich Epikur nur deshalb als Patron ge-waumlhlt haben um unter dem raquoDeckmantellaquo (velamentum) seines Namens umsohemmungsloser ihren Lastern froumlnen zu koumlnnen

vit beat = dial 7 124 Itaque non ab Epicuro inpulsi luxuriantur sed vitiis dediti luxuriamsuam in philosophiae sinu abscondunt et eo concurrunt ubi audiant laudari voluptatem Necaestimant voluptas illa Epicuri ndash ita enim mehercules sentio ndash quam sobria ac sicca sit sedad nomen ipsum advolant quaerentes libidinibus suis patrocinium aliquod ac velamentum

Ihr ausschweifendes Leben fuumlhren diese Leute daher nicht auf Veranlassung Epikurs son-dern sie verbergen in der Hingabe an ihre Laster ihren Lebensstil unter dem Gewand derPhilosophie und laufen dahin zusammen wo sie houmlren dass die Lust gelobt wird Und sieschaumltzen nicht ab wie sehr Epikurs Lust ndash denn davon bin ich bei Gott uumlberzeugt ndash einenuumlchterne und trockene Angelegenheit ist sondern sie fliegen allein auf die Bezeichnunghin herbei weil sie fuumlr ihre Begierden nach einem Schutz und einem Deckmantel suchen

Der (Vulgaumlr-)Epikureismus ist also aus Senecas Sicht durchaus ein Anknuumlpfungs-punkt fuumlr ernsthafte philosophische Einflussnahme Doch an anderer Stelle im123 Brief fuumlhrt uns Seneca auch die Kehrseite dieser rsaquoBruumlckenfunktionlsaquo von Epi-kur vor Augen Seneca laumlsst dort ndash zum ersten Mal uumlberhaupt ndash einen erklaumlrtenPhilosophieveraumlchter prominent zu Wort kommen Dessen Rede zeigt dass dasepikureische Lustprinzip eine deutlicheAffinitaumlt zu der Lebenseinstellungder un-philosophischen Menge hatsup1

12310ndash11 10 rsaquoVirtus et philosophia et iustitia verborum inanium crepitus est una felicitasest bene vitae facere esse bibere frui patrimonio hoc est vivere hoc est semortalem esseme-minisse Fluunt dies et inreparabilis vita decurrit Dubitamus Quid iuvat sapere et aetati nonsemper voluptates recepturae interim dum potest dum poscit ingerere frugalitatem [] lsaquosup2

gelegen wenn er sich auf Epikur berufen kann Hachmann Leserfuumlhrung 232 erklaumlrt die Diffe-renz dieser Lustauffassung zu Epikur richtig Allerdings faumlllt ihm nicht auf welche Bedeutung eshat dass Seneca diese Unterscheidung an der besagten Stelle eben gerade nicht thematisiertndashZumepikureischenLustbegriff sieheHeldHedone undAtaraxiabei Epikur zur allgemeinenPrauml-senz epikureischen Denkens im roumlmischen Reich vgl Ferguson Epicureanismunder the RomanEmpire1 Vgl auch Sen vit beat 102Atqui quis ignorat plenissimos esse voluptatibus vestris stultissimosquosque eqs2 DerausgelasseneSatz ist verderbt Reynoldshat daggerEo daggermortempraecurre et quidquid illaablatu-

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56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 44: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

56 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

10 raquorsaquoTugendlsaquo rsaquoPhilosophielsaquo und rsaquoGerechtigkeitlsaquo ndash das ist doch nur ein Herumgeklapper mitleeren Worten es gibt nur ein Gluumlck und das ist es seinem Leben gut gehen zu lassen zuessen zu trinken seinVermoumlgen zu verbrauchenndashdas heiszligt leben das heiszligt daran denkendass man sterblich ist Die Tage verflieszligen und unwiederbringlich laumluft das Leben davonWoraufwarten wirWas bringt es rsaquovernuumlnftiglsaquo zu sein unddemLeben das doch nicht immerdie Genuumlsse aufnehmen wird in eben jener Zeit da es das kann und es danach fordertBescheidenheit zu verordnenlaquo

Neben der offen zutage tretenden Abneigung gegen den andenAnfang () der Auf-zaumlhlung gesetzten stoischen Leitbegriff virtus faumlllt das an (pseudo-) epikureischeWerte angelehnteArgumentationsmuster auf Die Fortsetzung zeigt wie leicht einsolcher Vulgaumlrhedonismus in grundsaumltzliche Philosophiefeindlichkeit abgleitenkann

10 (Forts) rsaquoNon amicam habes non puerum qui amicae moveat invidiam cottidie sobriusprodis sic cenas tamquam ephemeridem patri adprobaturus non est istud vivere sed alienaevitae interesse 11 Quanta dementia est heredis sui res procurare et sibi negare omnia ut tibiex amico inimicummagna faciat hereditas plus enim gaudebit tua morte quo plus acceperitIstos tristes et superciliosos alienae vitae censores suae hostes publicos paedagogos assis nefecerissup1 nec dubitaveris bonam vitam quam opinionem bonammallelsaquo

10 (Forts) rsaquoDu hast keine Freundin und keinen Knaben der die Freundin eifersuumlchtig ma-chen koumlnnte jeden Tag trittst du nuumlchtern an die Oumlffentlichkeit du speisest so als wenndu deinem Vater das Haushaltsbuch zur Absegnung vorlegen muumlsstest Das ist doch nichtleben sondern an einem fremden Leben teilnehmen 11 Was ist das fuumlr ein Schwachsinnfuumlr das Vermoumlgen seines Erben vorzusorgen und sich alles zu versagen so dass ihn dir diegroszlige Erbschaft aus einem Freund zum Feindemacht er wird sich naumlmlich umso mehr uumlberdeinen Tod freuen je mehr er kriegt Diese sauertoumlpfischen und gestrengen Erzieher der Oumlf-fentlichkeit abersup2 die Sittenwaumlchter fremden Lebens und Feinde ihres eigenen die halte fuumlrkeinen roten Heller wertsup1 und zoumlgere nicht ein gutes Leben einem guten Ruf vorzuziehenlsaquo

Der Erzhedonist traumlgt seine Apotreptik mit auszligerordentlichem Geschick und ndashnichtsdestoweniger ndash mit philosophischer Raffinesse vorsup3 infamerweise greift er

ra est iam sibi daggerinterere dagger auch eo ist schlecht uumlberliefert Der Sinn duumlrfte in etwa sein rsaquoDadurchnimmst du deinen eigenen Tod voraus und versagst dir jetzt schon was er ohnehin wegraffenwirdlsaquo1 Vielleicht Anspielung auf Catulls (52ndash352ndash3) rumoresque senum severiorum omnes unius aesti-memus assis (so Inwood Selected philosophical letters 358) Derlei Wendungen duumlrften jedochumgangssprachlich verbreitet gewesen sein (vgl Otto Sprichwoumlrter 39) gegen eine direkte Na-chfolge Catulls scheint dieAndersartigkeit des Bildes bei Senca zu sprechen (nicht rsaquoeinenlsaquo Hellerwert sondern rsaquokeinenlsaquo Heller wert ferner facere statt aestimare)2 Gemeint sind die Philosophen die generis humani paedagogi (epist 8913)3 Inwood Selected philosophical letters 358 raquopseudo-philosophical argument [] whichuses rhetorical techniques to urge us on to vice and self-indulgencelaquo

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 57

dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 45: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

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dabei ndash und eben das macht seinen Angriff so gefaumlhrlich ndash auf solche Argumen-te zuruumlck die aus epikureischer Perspektive gewoumlhnlich protreptische Funktionbesitzen Die Lebenszeit eilt dahin (fluunt dies inreparabilis vita decurrit)sup1 siemuss ndash in Anbetracht unserer Endlichkeit (se mortalem esse meminisse) ndash genutztwerden so lange esuumlberhauptmoumlglich ist (dumpotest dumposcit)wirklich zu le-ben bedeutet selbstbestimmt zu leben (und nicht alienae vitae interesse)sup2 ein klu-ger Mensch setzt deshalb nicht auf die Meinung der Menge also auf den Scheinsondernauf dasSein unddasheiszligt auf das guteLeben selbst (bonamvitamquamopinionem bonam malle) Auch im Abbilden der Lustaufnahme durch die Gefaumlszlig-metapher (aetas non semper voluptates receptura) verraumlt der Antiphilosoph seineNaumlhe zu dem Begruumlnder des Gartenssup3 ja sogar die rsaquoleeren Wortelsaquo (verba inania)entsprechen genuin epikureischer Terminologie⁴

Das alles ist natuumlrlich nichts als eine uumlble Verkehrung dessen was Epikurgefordert hatte Doch aus therapeutischer Perspektive erklaumlrt sich leicht warumeinem Lesertypus wiewir ihn beschriebenhaben nicht gleich zuAnfang der Lek-tuumlre eine solche Anfechtung zugemutet werden durfte⁵ Der Leser haumltte das Buchkaum dass er es begonnen hatte womoumlglich gleich wieder aus der Hand gelegt

1 Man vergleiche ndash auch zu den folgenden Wendungen ndash die zahlreichen Anklaumlnge an die Ge-danken des 1 Briefes Es ist erstaunlich wie leicht es Seneca im 123 Brief gelingt seinen Philoso-phenhasser das Argumentationsmaterial des ersten Briefes so geschmeidig umformen zu lassendass eine komplett entgegengesetzte Aussageabsicht entsteht2 Diese Antithese wurde in aumlhnlicher Verzerrung schon von Thrasymachos in Platons Staat ge-braucht (Rep 1343c ἀλλότριον ἀγαϑόν) vgl ebd 3583 Freilich ist der Sinn gegenuumlber Epikur pervertiert Lukrez betont extra dass das rsaquoGefaumlszliglsaquo nichtdurchloumlchert oder verschmutzt sein duumlrfe (3935ndash939 Nam si grata fuit tibi vita anteacta priorque| et non omnia pertusum congesta quasi in vas | commoda perfluxere atque ingrata interiere |cur non ut plenus vitae conviva recedis | zum Doppelbild des Loumlchrigen bzw Verschmutzten620ndash23) Einem vulgaumlren Lustgenieszligen erteilt Lukrez hingegen im Danaidenbild (31003ndash1010)ausdruumlcklich eine Absage4 Zur epistemologischen Bedeutung der epikureischen Termini ϰενός (inanis) ματαῖος (frustraincassum) ϰενοδοξία usw vgl den ausgezeichneten Beitrag von Voelke Opinions vides (fuumlrfalsche Meinungen existieren keine Korrelate in den προλήψεις bzw den Verbindungen aus ih-nen)5 Wie nahe anfaumlngliche Lust zur Beschaumlftigung mit Philosophie und die Gefahr einer grundsaumltz-lichen Abwendung beieinander liegen skizziert Seneca im 29 Brief am Fall des gemeinsamenFreundes Marcellinus (291ndash8) Interessanterweise verhandelt eben dieser Brief in seinen erstenAbschnitten die Frage inwieweit ein Philosoph seine Meinung anderen aufdraumlngen darf (wozusich Seneca sehr reserviert aumluszligert) undwie im 123 Brief (12315ndash16) thematisiert er die Gefahr fuumlrdie Glaubwuumlrdigkeit der Philosophie insgesamt die von philosophischen Marktschreiern (circu-latores 296) wie Ariston ausgeht

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58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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Page 46: Strategie und Philosophie bei Seneca (Untersuchungen zur therapeutischen Technik in den "Epistulae morales") || 1. Senecas Briefe aus taktischer Perspektive: eine Problembeschreibung

58 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Oder um es naumlher an der literarischen Konstellation zu beschreiben Es bestanddie Gefahr dass Lucilius den Briefverkehr einfach abbricht

142 Dialektik und Dialektikkritik

Weitere Ruumlckschluumlsse auf Senecas Umgang mit seinem Publikum erlaubt sei-ne vieldiskutierte rsaquoLogikfeindlichkeitlsaquosup1 Vom 45 Brief an (455)sup2 gieszligt Senecabekanntlich haumlufiger einmal Pech und Galle uumlber alle Formen dialektischen Her-umdisputierens aus und sein Hohn klingt durchaus ernst gemeint wenn erbeispielsweise Zenons Weg zur Furchtbekaumlmpfung angreift

829 Zenon noster hac conlectione utitur lsquonullummalum gloriosum est mors autem glorio-sa est mors ergo non est malumrsquo ndash Profecisti liberatus sum metu post hoc non dubitaboporrigere cervicem

Unser Zenon verwendet folgenden Schluss rsaquokein Uumlbel ist ruhmreich der Tod aber ist ruhm-reich also ist der Tod kein Uumlbellsaquo ndash Du hast es geschafft Ich bin von Furcht befreit von nunan werde ich nicht zoumlgern meinen Hals hinzuhalten

Diese Worte sind deutlich Doch duumlrfen wir aus ihnen wirklich schlieszligen Sene-ca habe ndash in einseitiger Beschraumlnkung auf rhetorische Seelenleitungsmethoden ndashverkannt welchen Wert die Beschaumlftigung mit stoischer Logik fuumlr die moralischeEntwicklung hatsup3 Denn erstens fragt sich warum uumlberhaupt Seneca den Syllo-gismen so viel Raum in seinen Briefen einraumlumt wenn er ihnen wirklich keinerleiGewicht beimisst⁴ Zumindest muss diesem Vorgehen auf Leserseite ein gewis-ses Beduumlrfnis entsprechen (so dass sozusagen rsaquoLuciliuslsaquo der Anlass fuumlr SenecasTiraden waumlre) Denn Barnes⁵ hat vollkommen Recht wenn er darauf hinweistdass Senecas Warnungen an Lucilius ndash zumal sie eben nicht nur in einer Privat-korrespondenz stuumlnden sondern sich an eine breite Oumlffentlichkeit wendeten ndashnur dann sinnvoll seien wenn sie einer real existierenden rsaquoGefahrlsaquo entsprechen

1 Zum Diskussionsstand wohltuend sachlich und differenzierend Inwood Selected philosophi-cal letters 218f sowie Hamacher Senecas 82 Brief 22ndash362 Und damit uumlbrigens erst deutlich nach der epikurfreundlichen Eingangsphase im Kapitel zurEntwicklung des Umgangs mit der epikureischen Lehre (4) wird deutlich werden dass das keinZufall ist Ebenso wie Seneca sich anfaumlnglich epikurnah zeigt gibt er kalkuliert darauf Achtalles was die Stoa in Misskredit bringen koumlnnte zunaumlchst zuruumlckzuhalten3 Cooper Seneca on Moral Theory passim va 47 51 und 554 Darauf hatte bereits Leeman Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 307ndash313 in ei-nem weiterreichenden Argumentationskontext hingewiesen siehe auch Inwood Selected phi-losophical letters xviii und 2185 Logic and Imperial Stoa 13f

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wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 59

wolltensup1 Senecas Kritik koumlnnte sich demzufolge auch nur gegen Auswuumlchse inder Anwendung der Dialektik wenden nicht aber gegen sie selbstsup2 Dazu passtdass Seneca nirgendwo die Logik als solche angreift sondern stets nur den miss-braumluchlichen Umgang mit ihr anprangert ferner erstreckt sich die Kritik auch garnicht auf logische Themen allein sondern auf das leichtfertige rsaquoHerumspielenlsaquomit Argumentationsketten in allen moumlglichen ernsthaften ethischen und meta-physischen Gebieten So kritisiert er in den spaumlteren Abhandlungsbriefensup3 diesich umfassend mit der Explikation und Evaluation solcher Argumentationsket-ten befassen regelmaumlszligig gegen Ende die geringe moralische Relevanz von derleiargumentatorischen Spiegelfechtereien⁴

Doch das sind alles Argumente e persona lectoris Ist es aber denkbar dassauch Senecas Abneigung nicht gar so grundsaumltzlich ist wie er es scheinen las-sen moumlchte Barnes⁵ macht in diesem Zusammenhang auf Senecas breite Vertei-digung altstoischer Beweisketten im 87 Brief aufmerksam (8711ndash41) Bereits fuumlnfBriefe vorher hatte Seneca seine Schwaumlche fuumlr die ineptiae Graecae (828) einge-standen ndash ein wie Leeman⁶ treffend in Anlehnung an Catull (851) bemerkt raquocu-rious odi et amolaquo Im 121 Brief verteidigt Seneca sogar gegen Lucilius und im Vor-aus sein Referat das sich mit der Frage des sensus sui und der Aneignungslehre(οἰϰείωσις) befassen und dazu vier Gegenthesen widerlegen wird

1 Die dialektikfeindlichen Texte zeigten raquothat Lucilius had a passionate interest in the subjectJust as Fronto later feared for Marcus so Seneca fears for Lucilius For you do not inveigh againsta practice in which nobody engages and you od not urge a man to forgo something unless heis already involved in itlaquo (13) vgl auch Graver Therapeutic reading 41 In der Tat laumlsst Senecaseinen Lucilius an einigen Stellen durchaus eine Affinitaumlt zu solchen Beweisketten zeigen zB1023 Negas me epistula prima totam quaestionem explicuisse in qua probare conabar id quodnostris placet claritatem quae post mortem contingit bonum esse Id enim me non solvisse quodopponitur nobis rsaquonullumlsaquo inquiunt rsaquobonum ex distantibus hoc autem ex distantibus constatlsaquo undSeneca fordert von Lucilius am Ende des 108 Briefes nicht nur aufmerksame sondern auch neu-gierige Ohren fuumlr den 109 Brief (10831 ne ad rem spinosam et auribus erectis curiosisque au-diendam lassus accedas2 Hierzu und zum Folgenden Barnes Logic and Imperial Stoa 14ndash19 mit lohnenswerten Beob-achtungen3 Zu diesem Brieftyp ausfuumlhrlicher unten ab S 2634 Beruumlhmt ist das Ende des 106 Briefes ndash einer Abhandlung zur Frage bonum an corpus sit(1063)NachDurchnahmedesThemashofftSeneca dass seinLeser sichbereits ebensobeschwe-ren werde wie er es nun tue (10611) Quoniam ut voluisti morem gessi tibi nunc ipse dicammihiquod dicturum esse te video latrunculis ludimus In supervacuis subtilitas teritur non faciunt bo-nos ista sed doctos [] non vitae sed scholae discimus5 Logic and Imperial Stoa 17f6 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 308

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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60 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

1213 Cum langquaerorangsup1 quare hominem natura produxerit quare praetulerit animalibus cete-ris longe me iudicas mores reliquisse falsum est Quomodo enim scies qui habendi sint nisiquid homini sit optimum inveneris nisi naturam eius inspexeris Tunc demum intelleges quidfaciendum tibi quid vitandum sit cum didiceris quid naturae tuae debeas

Wenn ich frage warum die Natur den Menschen hervorgebracht und warum sie ihn denuumlbrigen Lebewesen vorgezogen hat dann meinst du dass ich das Gebiet der Sitten schonweit hinter mir gelassen habe Irrtum Wie wirst du naumlmlich wissen welche man habenmuss wenn du nicht gefunden hast was der Mensch als Bestes hat und wenn du nichteinen Einblick in seine Natur gewonnen hast Dann erst wirst du begreifen was du tun undlassen musst wenn du gelernt hast was du deiner Natur schuldig bist

Ist fuumlr diesen erstaunlichen Wandel eine biographische Entwicklung verantwort-lich Und wenn ja Ist er ndash so Leemans These ndash die Folge davon dass Seneca ndashmit dem Unterfangen die Moralis philosophia zu verfassen konfrontiert ndash sichals rsaquosein eigener Schuumllerlsaquosup2 erst mehr und mehr in die Materie einarbeiten mussteund dadurch allmaumlhlich zu einer gewissen Anerkennung der dialektischen Argu-mentationsformen fandsup3 Ich glaube (mit Barnes)⁴ dass solche Annahmen nichtnotwendig sind Barnesmeint allerdings die unterschiedlichenUmgangsweisenSenecas daraus hinreichend erklaumlren zu koumlnnen dass die Logik fuumlr ihn einen neu-tralen und lediglich auxiliaumlren Wert habe Das halte ich in der Sache durchaus fuumlrrichtig Doch es erklaumlrt nicht warum sich die unterschiedlichen Beurteilungenuumlber Trugschluumlsse und Beweisketten so ungleich uumlber die Briefe verteilen

Eine therapeutische Lesart kann auchhierfuumlr eine ndashwie ichmeinendashplausibleErklaumlrung anbieten Die ostentative und wiederholte Ablehnung der cavillationeszu Beginn der Auseinandersetzung hat ihren guten Grund Sie ist ein wirksames

1 In den Handschriften fehlt das Praumldikat (Ausfall leicht durch Haplographie zu erklaumlrenrestituiert durch Schweighaumluser)2 Senecarsquos lsquoMoralis Philosophiarsquo and his Epistles 310 raquoHere like everywhere in the Epistulaemorales Seneca ist his own pupillaquo3 VorallemgegenEndedesuns vorliegendenBriefcorpus verraumlt Senecamit einigenAumluszligerungendass er der Beschaumlftigung mit syllogistischen Argumentationsketten durchaus seinen Wert zuer-kennt Gleich zu Beginn des 124 Briefes ndash also zu Beginn der Abhandlung uumlber die Frage utrumsensu conprendatur an intellectu bonum ndash lobt er beispielsweise ausdruumlcklich seinen Briefpart-ner dass er sich von keiner subtilitas (dies schon vorher die Bezeichnung fuumlr kleine muumlhsamewenig ertragreiche aber vielleicht doch nicht wertlose Studienbeschaumlftigungen vgl 5820256514 8224 8843 10611 11725) davon abhalten lasse sich mit derlei Dingen zu befassen erlobt ihn freilich im selben Atemzug ebenso dafuumlr dass er stets versuche diese Beschaumlftigungimmer ethisch fruchtbar werden zu lassen Non refugis [] nec ulla te subtilitas abigit non estelegantiae tuae tantummagna sectari sicut illud probo quod omnia ad aliquem profectum redigiset tunc tantum offenderis ubi summa subtilitate nihil agitur Quod ne nunc quidem fieri laborabo4 Logic and Imperial Stoa 18f

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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62 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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14 rsaquoSenecalsaquo Anpassung an Leser und Ziel | 61

Mittel allen Lesern die bisher nichts mit Logik zu tun hatten oder haben woll-ten auch weiterhin eine Moumlglichkeit zur Identifikation mit Senecas Briefen zu ge-ben ndash und sie nichtsdestoweniger allmaumlhlich mit der rsaquodornigenlsaquo Materiesup1 vertrautzu machen Das bedeutet natuumlrlich nicht dass Seneca seine Ablehnung nur vor-taumluscht und in Wirklichkeit ein besonderer Freund der stoischen Dialektik waumlreSicherlich sind seine Vorbehalte echt doch entscheidend ist wie er sich jeweilsim Spannungsfeld von Ablehnung und partikularer Anerkennung positioniert

Anfangs sind seine Ausfaumllle gegen die cavillationes besonders heftig Unddoch Hinter den Kulissen koumlnnen wir erkennen dass Seneca die Beschaumlftigungmit diesem Gebiet von seinem Leser laumlngst erwartet

1) Diejenigen die den so genannten Houmlrnerschluss nicht kennen werden sichim 45 Brief (458) vor lauter Raumltsel gestellt sehen denn Senecas Anspielun-gen sind zu dunkel um ihnen ohne Vorkenntnisse folgen zu koumlnnensup2 ndash Uumlber-haupt muss Lucilius einen wenigstens ungefaumlhren Vorbegriff von derlei Fehl-schluumlssenhaben umSenecas ausfuumlhrlicheWarnungen vor ihnen (455ndash8) be-greifen zu koumlnnen

2) Seneca bedient sich selbst in zunehmender Zahl syllogistischer Beweisrei-hen auch wo es von der Briefoumlkonomie nicht gefordert ist Beispielsweiseendet der 54 Brief mit einer eigenen collectio Senecas

547 (DerWeise soll nicht erst dannMut zumSterben fassenwennder Tod ohnehin naht) quae est enimvirtus cumeiciaris exire Tamen est et hic virtus eicior quidem sed tamquamexeam Et ideo numquam eicitur sapiens quia eici est inde expelli unde invitus recedas nihilinvitus facit sapiens necessitatem effugit quia vult quod coactura est

was ist naumlmlich Tugendhaftes dabei den Koumlrper zu verlassen wenn du hinausgeworfenwirst Und doch gibt es auch hier Tugend Ich werde zwar hinausgeworfen doch so wiewenn ich hinaus gehe Und deshalb wird der Weise niemals hinausgeworfen weil hinaus-geworfen zu werden bedeutet von dort vertrieben zu werden von wo du gegen deinen Wil-len weggehst Doch der Weise tut nichts gegen seinen Willen er ist der Notwendigkeit nichtunterworfen weil er moumlchte wozu sie ihn zu zwingen beabsichtigt

Die logische Struktur des Schlusses ist folgende(i) Der Weise tut nichts wider seinen Willen (sondern er tut gern was das

Schicksal verlangt)

1 res spinosa (10839)2 Dazu unten ausfuumlhrlicher auf S 154 Diese Stelle ist ein gewichtiges Argument ex silentio dafuumlrdass Senecas Briefe nicht als Primaumlrunterweisung dienen wollen sondern allenfalls als Sekun-daumlrtext die Beschaumlftigung mit den stoischen Lehrschriften unterstuumltzen wollen vgl insgesamtAbschnitt 33

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(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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(ii) rsaquoAus seinem Koumlrper hinausgeworfen zu werdenlsaquo bedeutet wider Willenvon dort vertrieben zu werden

(iii) Also kann der Weise nicht aus seinem Koumlrper rsaquohinausgeworfenlsaquo werden(sondern nur freiwillig aus ihm herausgehen)

Einen solchen rsaquoBeweislsaquo duumlrfte Lucilius nicht ohne Schmunzeln gelesen habenund zwar desto mehr je groumlszliger bereits seine Vertrautheit mit stoischen Beweis-ketten war Denn Seneca verwendet hier in typisch stoischer Manier das Weisen-ideal ndash uumlbrigens in Form eines Paradoxons ndash zur Korrektur der Beschreibung vonRealitaumlt (und nicht etwa umgekehrt die Realitaumlt als Pruumlfstein fuumlr die Beschreibungdes Weisen) Auch wenn eine tiefere Wahrheit dahinter stecken mag (der stoischeWeise laumlsst sich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Weise zu etwas zwingen) istdoch das Faktum selbst (manche Krankheiten fuumlhren zu einem schleichendenVerfall dessen Ende ein Aus-dem-Koumlrper-Geworfen-Werden ist) damit nicht ausder Welt zu schaffensup1

Der Beweis wird dementsprechend nicht mittels einer Befragung der aumluszlige-ren Wirklichkeit gefuumlhrt sondern lediglich anhand der definitorischen Auffaumlche-rung des Begriffs rsaquoeicerelsaquo und seiner Messung am Begriff des Weisen Ein solchesSchlussverfahren ist natuumlrlich ndash Seneca konnte das unmoumlglich uumlbersehen ndash inder Sache um keinen Deut besser als der (oben S 58 wiedergegebene) von Senecamassiv kritisierte Beweis Zenons aus dem 82 Brief

15 Zusammenfassung

Diese Uumlberlegungen erheben noch keinen endguumlltigen Beweisanspruch und be-duumlrfen vielfaumlltiger Absicherungsup2 Sie sollen lediglich eine Richtung fuumlr die Frage-stellungen der vorliegenden Arbeit vorgeben Dochder interpretatorischeNutzender zu erwarten ist liegt auf der Hand

Die Uumlbersicht uumlber die Forschung zur Therapeutik in Senecas Briefen hat ge-zeigt dass die Bemuumlhungen von Cancik Maurach und Hachmann sich daraufrichteten ein philosophisches rsaquoSystemlsaquo hinter den Briefen aufzudecken Ein sol-

1 AuszligerdemWennSeneca ernsthaft vertraumlte derWeise koumlnne gar nicht hinausgeworfenwerdendann untergruumlbe er dadurch die Autoritaumlt seines soeben vorgetragenen Appells der Weise solleeinem solchen Zeitpunkt aktiv zuvorkommen2 Zu klaumlren ist insbesondere die Frage der philosophischen Legitimation fuumlr ein solches rsaquoverdeck-teslsaquo therapeutisches Vorgehen und die der einheitlichen Anwendbarkeit dieser These zumindestauf bestimmte Briefabschnitte

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ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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15 Zusammenfassung | 63

ches Vorgehen wird den Briefen nicht gerecht und muss abgelehnt werden ImGegensatz dazu versucht diese Arbeit die Briefe zumindest in der ersten Haumllftedes uumlberlieferten Corpus polyvalent aufzufassen Dementsprechend waumlren vieleAumluszligerungen in verschiedener philosophischer Couleur deutbar

Das Teilkapitel rsaquoBrief und Adressatlsaquo (Kapitel 131) widmete sich den Voraus-setzungen die es uumlberhaupt erst ermoumlglichen die Briefe unter therapeutischemAspekt zu lesen Trotz der Unvollstaumlndigkeit der Uumlberlieferung ndash es fehlen nachdem 124 Briefmindestens zwei ganze Buumlcher dazu sind noch an ein bis zwei wei-teren Stellen des Werkes Ausfaumllle von mehreren Briefen wahrscheinlich ndash deutetalles darauf hin dass der uns erhaltene Teil der Briefe (a) den Groszligteil der zurVeroumlffentlichungbestimmten Sammlung repraumlsentiert und (b) die Briefe in der ur-spruumlnglichen Reihenfolge bietet Letzteres meint nicht zwingend die Reihenfolgein der sie der Autor Seneca abgefasst hat (auch wenn eine Uumlbereinstimmung hier-in recht wahrscheinlich ist)sup1 sondern die Reihenfolge im veroumlffentlichten Brief-corpus Wir duumlrfen also davon ausgehen dass Entwicklungslinien innerhalb derBriefe vom Autor angelegt sind

Es schlossen sich Beobachtungen zum intendierten Leserkreis (132) und zurWahl der Briefform (133) an Zahlreiche Indizien deuten darauf hin dass Luciliusnicht im historischen Sinne als Adressat der Briefe anzusehen ist InsbesondereAbel Faktizitaumlt konnte nachweisen dass die gegenteilige Annahme ndash der Brief-wechsel sei im Kern die wirkliche Korrespondenz zwischen Seneca und seinemFreund Lucilius ndash erhebliche Ungereimtheiten in der Briefsituation (zB mehr-fache Ihr-Apostrophen) zur Folge haumltte zugleich erhielten zahllose Passagen inpsychologisch unglaubwuumlrdiger Weise den Charakter von Taktlosigkeiten Daherscheint es sinnvoll in Lucilius ndash ebensowie in denAdressaten dermeisten vonSe-necas Dialogi ndash aus historischer Perspektive den Widmungsempfaumlnger zu sehenaus psychologischer Perspektive jedoch eine Identifikationsfigur fuumlr den LeserHoumlchstwahrscheinlichwollte Seneca einen disparaten der Philosophie vielleichtnur oberflaumlchlich vertrauten Empfaumlngerkreis ansprechen Sowohl die Briefformals auch die persona des Lucilius sind jedenfalls gut geeignet rsaquoniederschwelligelsaquoDenkangebote anbieten zu koumlnnen Der Verzicht auf eine Praumlsentation der Ant-worten des rsaquoLuciliuslsaquo vergroumlszligerte die Leerstelle die durch die Briefform ohnehingegeben war So blieb dem Leser viel Platz um sich nach eigenem Ermessen mitSeneca oder Lucilius identifizieren zu koumlnnen Aus der dramaturgischen Span-nung der sich in den Briefen spiegelnden rsaquoAuseinandersetzunglsaquo zwischen rsaquoSene-calsaquo und rsaquoLuciliuslsaquo entsteht fuumlr den wirklichen Leser dieMoumlglichkeit sich in einemsehr breiten Spektrum philosophischer Anschauungen repraumlsentiert zu fuumlhlen

1 Siehe oben Anm 5 auf Seite 32

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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64 | 1 Senecas Briefe aus taktischer Perspektive eine Problembeschreibung

Die vielen freundlichen Aumluszligerungen Senecas gegenuumlber der Person und derLehre Epikurs vor allem im ersten Werkdrittel werden gegen Ende des Corpusdurch houmlchst feindselige Aumluszligerungen entwertet (141) Am naheliegendsten ist esinmeiner Augen diesenBefund inUumlbereinstimmungmit den vorgenanntenUumlber-legungen taktisch zu erklaumlren Demnach waumlren die freundlichen Worte nicht alseinladende Geste zu verstehen sondern als taktisches Mittel der Leserbeeinflus-sung In der Tat geht aus manchen Stellen hervor dass Seneca die epikureischeLehre als Bruumlcke zur Lebensauffassung der unphilosophischen (dh vulgaumlrepiku-reisch eingestellten) Menge ansah

In seiner ab dem45 Brief vorgebrachten Dialektikkritik zeigt sich Seneca son-derbar zweigesichtig (142) Scharfen Verurteilungen stehen sowohl die haumlufigePraumlsenz des Themas als auch eigene Anwendungen dialektischer Methoden ent-gegen Dieser Befund laumlsst sich ebenfalls therapeutisch erklaumlren Seneca verfolgtoffenbar das Ziel (a) bestimmte stoische Inhalte die auf Vorbehalte bei seinenLesern stoszligen koumlnnten auf bestimmte Zeit zuruumlckzuhalten (daher Beschaumlftigungmit stoischen Syllogismen erst ab dem 45 Brief) ferner (b) durch seine scharfeVerurteilung einerseits die Stimmung desjenigen Teiles der Leserschaft aufzufan-gen der sich von solchen logischen Winkelzuumlgen abgestoszligen fuumlhlt sowie ande-rerseits die entgegengesetzt interessierte Klientel davor zu warnen uumlber die Be-geisterung fuumlr die Syllogistik deren Hauptanwendungszweck die Ethik zu ver-gessen (c) Und ganz nebenbei gelingt es Seneca durch die dauernde Praumlsenz desThemas den noch unvorgebildeten Teil der Leserschaft allmaumlhlich an solch tro-ckene fuumlr die vertiefte Beschaumlftigung mit der stoischen Lehre aber notwendigeKost zu gewoumlhnen

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