Institut für
Informations-,
Telekommunikations-
und Medienrecht
ITM | Leonardo-Campus 9 | 48149 Münster
Prof. Dr.
Bernd Holznagel, LL.M. Direktor
Leonardo-Campus 9
48149 Münster
Tel. +49 251 83-38641
Fax +49 251 83-9038644
http://itm.uni-muenster.de
Stellungnahme
zur schriftlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien des
Landtags Nordrhein-Westfalen
Staatsvertrag zur Modernisierung der Medienordnung in Deutschland
(Medienstaatsvertrag)
Antrag der Landesregierung auf Zustimmung gemäß Artikel 66 Satz 2 der
Landesverfassung Drucksache 17/9052
Zusammenfassung:
1. Der zur Abstimmung stehende Medienstaatsvertrag ist eine – auch im
europäischen Vergleich - innovative Antwort auf die Herausforderungen, die
vom globalen Internet und den Sozialen Medien für die nationalen
Kommunikationsordnungen ausgehen. Den Ländern gelingt es überzeugend,
das bestehende Rundfunk-und Presserecht mit dem Ziel der Vielfaltssicherung
weiterzuentwickeln. Damit wird ein Paradigmenwechsel im
Kommunikationsrecht eingeleitet, der dem der Einführung des kommerziellen
Rundfunks Mitte der 80er Jahre gleichkommt.
2
2. Die Vielfaltsvorgaben des MStV sind in Ermangelung europäischer Kompetenz
nicht als europäisches Vorbild geeignet. Es empfiehlt sich jedoch, diese
Gesichtspunkte notwendig in die Bewertung kartellrechtlicher
Entscheidungen, z.B. bei der Beurteilung missbräuchlichen Verhaltens,
einzubeziehen. Hierfür sollten auf europäischer Ebene die notwendigen
Vorkehrungen getroffen werden.
3. Soweit Medienintermediäre, Medienplattformen und Benutzeroberflächen
betroffen sind, sollte eine gemeinsame Medienanstalt der Länder zuständig
sein. Um eine effektive Rechtsanwendung und –durchsetzung zu
gewährleisten, bedarf es einer Fachabteilung, die über entsprechendes
Fachwissen über Plattformen und Internetdienste verfügt.
4. Die Vorgaben der AVMD-RL zur Barrierefreiheit sind noch nicht vollständig im
MStV-E umgesetzt, z.T. soll und kann die Umsetzung jedoch auch außerhalb
des Staatsvertrags erfolgen.
5. Weiterentwicklungsbedarf des MStV besteht insbesondere bezüglich
Regelungen des Medienwahlkampfrechts und Verlautbarungsrechts im
Telemedienbereich sowie (journalistischer) Auskunftsrechte für
Informationsdienste i.S.v. § 19 Abs. 1 Satz 2 MStV-E.
6. Förderung des (Online-)Journalismus sollte in Form bedarfsgerechter
Unterstützung für bestehende Angebote und Hilfestellungen bei Gründungen
oder Austauschplattformen für lokale und hyperlokale Anbieter erfolgen.
Vorbilder für derartige Modelle finden sich im europäischen Ausland, insb. in
den skandinavischen Ländern.
7. Die Definition von Social Bots in § 18 Abs. 3 MStV-E wirft weder rechtliche noch
praktische Probleme im Zusammenhang mit der Verwendung von
Management-Tools zur zeitversetzten Veröffentlichung menschengenerierter
Inhalte auf.
8. Die positive Diskriminierung bestimmter Angebote (privilegierte
Auffindbarkeit) mit dem Ziel der Vielfaltsförderung begegnet keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken.
9. Durch die Mitteilung der EU-Kommission im Notifizierungsverfahren entstehen
keine verfahrensrechtlichen Hindernisse für das weitere innerdeutsche
Gesetzgebungsverfahren zum MStV. Die Bedenken hinsichtlich der
Vereinbarkeit des Marktortprinzips für Medienintermediäre,
3
Medienplattformen und Benutzeroberflächen mit dem Herkunftslandprinzip
der E-Commerce-RL sind jedoch tragfähig und bergen rechtliche Risiken für
die Zukunft des Staatsvertrags.
10. Die Regelung zum Bagatellrundfunk knüpft sachgerecht an die
Meinungsbildungsrelevanz für die Schwelle der Zulassungspflicht der
Rundfunkdienste an und stellt damit eine Erleichterung im Vergleich zur
grundsätzlichen Zulassungspflicht des RStV dar.
1. Wie bewerten Sie die Bedeutung des Medienstaatsvertrags
Die Länder stehen in der Pflicht, die publizistische Vielfalt zu schützen und zu
fördern.1 Dies gilt auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen auf den
Medienmärkten und der Kommunikationstechnologie.2 Die Informationsflut im
Internet ändert daran nichts. Ganz im Gegenteil: die Medienordnung muss mit
der medialen Entwicklung Schritt halten und der Konvergenz der Medien
Rechnung tragen. Die Einbeziehung der neuen „Gatekeeper“, wie soziale
Netzwerke, Smart-Speaker, Suchmaschinen, Smart-TVs und VoD-Plattformen, in
den Regulierungsrahmen ist vor diesem Hintergrund genauso geboten, wie die
Ausweitung der journalistischen Sorgfaltspflichten auf sämtliche publizistische
Telemedien.
2. Kann dieser Medienstaatsvertrag eine Vorlage für zukünftige
europäische Regelungen sein?
Die Vorbildsfunktion des MStV-E für die europäische Medienregulierung muss
differenziert beurteilt werden. Soweit die neu vorgesehenen Vorschriften der
Umsetzung der AVMD-RL dienen, stellt sich diese Frage nicht. In Bezug auf die
Regelungen für Medienplattformen und Medienintermediäre, die bisher kein
europarechtliches Äquivalent haben, sind die Grenzen der EU-Kompetenz im
Medienbereich zu beachten.
Die EU verfügt nicht über eine spezifische Kompetenzgrundlage für Regelungen
im Bereich des Medienrechts.3 Vielmehr stützen sich die einschlägigen
1 Vgl. BVerfGE 57, 295 (319); 73, 118 (152 f.); 90, 60 (88); 114, 371 (387 ff.). 2 BVerfGE 119, 181 (214). 3 Insb. folgt diese nicht Art. 167 AEUV.
4
Rechtsakte, wie etwa die AVMD-RL,4 auf die Kompetenz des Art. 53 Abs. 1 i.V.m.
Art. 62 AEUV. Medien und Medieninhalte können als Wirtschaftsgüter hierüber
adressiert werden, soweit die Harmonisierung von Rechtsvorschriften der
Schaffung des einheitlichen Binnenmarktes für Dienstleistungen dient.5 Der den
Medien gleichermaßen innewohnende Charakter als Kulturgüter führt jedoch zur
Begrenzung der europäischen Handlungskompetenzen. Die Hoheit im
Kulturbereich verbleibt bei den Mitgliedstaaten. Die EU hat ausweislich Art. 6 lit. c
AEUV hierfür nur eine sog. Ergänzungs- und Koordinierungskompetenz, die gem.
Art. 2 Abs. 5 AEUV die eigene Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht verdrängt.
Harmonisierung ist in diesen Bereichen nicht zulässig. Vorschriften mit
schwerpunktmäßigem Bezug zu Vielfaltszielen und -vorgaben, wie sie der MStV-E
erstmals für Medienplattformen enthält, sind in dieser Form auf europäischer
Ebene daher nicht möglich.
Zur indirekten Förderung von Vielfaltszielen kann jedoch auch das
wirtschaftsbezogene Wettbewerbsrecht instrumentalisiert werden. Gerade der
Umgang mit dominanten Intermediären ist thematisch im Querschnittsbereich
zwischen Medienrecht und Kartellrecht angesiedelt.6 Anknüpfend an die
wirtschaftliche und strategische Marktposition von Plattformen auf digitalen
Märkten können etwa Diskriminierungsverbote hinsichtlich Zugang, Ranking u.A.
sowie Transparenzpflichten, wie sie auch der MStV-E für Medienplattformen und
–intermediäre enthält, eingeführt werden. Für den Teilbereich der Plattformen,
über die dritte Wirtschaftsteilnehmer Waren und Dienstleistungen anbieten,
existieren ähnliche Vorgaben bereits im Rahmen der europäischen Platform-to-
Business-VO (VO (EU) 2019/1150). Dieses Themenfeld des Umgangs mit digitaler
Marktmacht wird zudem europäisch und international in mehreren hochrangigen
aktuellen Studien und Berichten behandelt.7 Die Weiterentwicklung und
4 Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2010/13/EU zur Koordinierung
bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Bereitstellung audiovisueller Mediendienste im Hinblick auf sich verändernde
Marktgegebenheiten, COM(2016) 287 final, 25.05.2016, 5. 5 Grundlegend zur Einordnung von Rundfunk als Dienstleistung vgl. EuGH, Urt. v.
30.04.1974, Rs. 155-73 – Sacchi. 6 Siehe hierzu auch den Referentenentwurf zur 10. GWB Novelle BMWI,
Referentenentwurf GWB-Digitalisierungsgesetz v. 24.01.2020. 7 Vgl. zur europäischen Dimension Crémer/de Montoyer/Schweitzer, Competition
policy for the digital era, 2019; s.a. den sog. Furman Report aus Großbritannien Digital
5
Adaption der auch im MStV-E verfolgten Ziele kann auf europäischer Ebene nur
über diese wettbewerbsrechtliche Schnittstelle erfolgen. Denkbar ist dabei etwa
die Integration von Pluralitätsgesichtspunkten in die kartellrechtliche Bewertung,
etwa bei der Evaluierung wettbewerbswidriger Vereinbarungen und
marktmissbräuchlichen Verhaltens.
3. Wird es aus Ihrer Sicht den Aufsichtsbehörden gelingen, das neue Gesetz
auch tatsächlich anzuwenden und die Regelungen durchzusetzen?
Die Landesmedienanstalten wurden Mitte der 80er mit dem Start des
kommerziellen Rundfunks in Deutschland gegründet. Tätigkeitsschwerpunkt war
zunächst die Zulassung und Aufsicht über private Rundfunkveranstalter. Mit dem
Medienstaatsvertrag wird der Tätigkeitskreis der Landesmedienanstalten nun auf
die Regulierung aller elektronisch verbreiteten Medien erweitert. Neue
Aufgaben sind die Aufsicht über Medienplattformen, Medienintermediäre und
Video-Sharing-Dienste. Dies stellt einen Neuanfang dar, der Parallelen zur
Gründungssituation vor 35 Jahren aufweist. Heute wie damals muss durch eine
Evaluation überprüft werden, ob die Aufsichtsbehörden das neue Gesetz auch
tatsächlich anwenden und durchsetzen können.8
Die aktuelle Struktur mit vierzehn Landesmedienanstalten bietet dafür nicht die
besten Voraussetzungen und muss weiterentwickelt werden. Soweit es um
Vorgaben für Medienintermediäre und Medienplattformen geht, sollte eine
gemeinsame Medienanstalt der Länder für ihren Vollzug zuständig sein. Der
Aufbau einer Fachabteilung für Medienplattformen und -intermediäre ist
ebenso angezeigt. Es werden Informatiker benötigt, die sich mit der
Funktionsweise von Algorithmen auskennen. Ein Sachverständigengremium
reicht nicht aus. So wird auf Bundesebene über eine Digitalagentur diskutiert, die
Knowhow über Plattformen und Internetdienste aufbauen soll.
Competition Expert Panel, Unlocking digital competition, 2019; zu den USA siehe
Stigler Comittee on Digital Platforms, Final report, 2019; zum Ansatz aus Australien siehe
Australian Competition and Consumer Commission, Digital Platforms Inquiry
Preliminary Report, 2018. 8 Damals: G.-M. Hellstern/W. Hoffmann-Riem/J. Reese/M. P. Ziethen, Rundfunkaufsicht
in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 16/I Begleitforschung des Landes Nordrhein-
Westfalen zum Kabelpilotprojekt Dortmund, Düsseldorf, 1989.
6
Vorbilder für ein transparentes und zügiges Entscheidungsverfahren können
auch die unabhängigen Beschlusskammern der Bundesnetzagentur und des
Bundeskartellamts sein. Diese setzen sich aus Juristen, Ökonomen und Technikern
zusammen. Die Entscheidungen der Beschlusskammern und die tragenden
Gründe werden publiziert, anders als dies bei den Landesmedienanstalten oft
der Fall ist. Weil zu vermuten ist, dass die neuen Aufsichtsfelder zu vermehrten
Rechtsstreitigkeiten führen werden, könnte die gerichtliche Kontrolle bei einem
Gericht gebündelt werden. Dieses kann dann ebenfalls das hierfür benötigte
Fachwissen aufbauen.
4. Wie schätzen Sie die Maßgaben zur Barrierefreiheit ein und wo sehen Sie
hier weiteren Handlungsbedarf?
Der MStV-E sieht für Rundfunkveranstalter in § 7 eine Verpflichtung zur Aufnahme
barrierefreier Angebote sowie eine Berichtspflicht vor. Im Unterschied zur derzeit
geltenden Regelung in § 3 Abs. 2 RStV ist die „stetige und schrittweise“
Ausweitung dieser Angebote vorgegeben, d.h. eine anhaltende Steigerung des
Anteils barrierefreier Inhalte. Entsprechende Verpflichtungen für Anbieter
fernsehähnlicher Telemedien finden sich in § 76 MStV-E, der auf § 7 MStV-E
verweist. Daneben wird der Anteil barrierefreier Angebote positiv bei der
Ermittlung der Angebote, die im besonderen Maße zur Angebots- und
Meinungsvielfalt beitragen, berücksichtigt (§ 84 Abs. 5 Nr. 4 MStV-E).
Maßgeblich für die Beurteilung der Vorschriften zur Barrierefreiheit im MStV-E sind
zunächst die Vorgaben in Art. 7 der AVMD-RL. Hiernach soll der barrierefreie
„Zugang“ zu Mediendiensten i.S.d. Richtlinie „stetig und schrittweise verbessert“
werden. Die Formulierung unterscheidet sich dabei von der Fassung des § 7 Abs.
1 MStV-E, der auf die „Aufnahme“ barrierefreier Angebote abstellt. Der Zugang
zu Mediendiensten, den Art. 7 Abs. 1 AVMD-RL voraussetzt, bezieht sich auf den
vollständigen Dienst, d.h. das gesamte bereits vorhandene Angebot, das
barrierefrei umgestaltet werden soll, während die Aufnahme barrierefreier
Angebote gem. § 7 Abs. 1 MStV-E dem Wortlaut nach die zusätzliche
Bereitstellung einzelner Inhalte meint. Die Beschränkung auf die jeweiligen
technischen und finanziellen Möglichkeiten der Veranstalter ist nicht zu
beanstanden.
7
Die Berichtspflicht der Veranstalter aus § 7 Abs. 2 MStV-E beruht unmittelbar auf
Art. 7 Abs. 2 AVMD-RL und dient zugleich der Erfüllung der mitgliedsstaatlichen
Berichtspflicht gegenüber der EU-Kommission aus Art. 7 Abs. 2 S. 2 AVMD-RL.
Ausweislich der Begründung (S. 131) soll sich der Bericht der Veranstalter auch auf
zukünftig geplante Maßnahmen beziehen und damit die Erarbeitung von
Aktionsplänen i.S.d. Art. 7 Abs. 3 AVMD-RL darstellen, wobei dies aus dem
Wortlaut („Bericht über die getroffenen Maßnahmen“) nicht eindeutig
hervorgeht.
Nicht im MStV-E umgesetzt ist die Einrichtung einer Online-Anlaufstelle i.S.d. Art. 7
Abs. 3 AVMD-RL. Dies soll mittels Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und
Ländern erfolgen.
Weiterhin regelt Art. 7 Abs. 5 AVMD-RL die Barrierefreiheit von
Notfallinformationen. Derartige Warnungen oder Durchsagen über den Rundfunk
auf der Grundlage von Verlautbarungrechten (vgl. § 36 Abs. 1 LMG NRW) sind
auf öffentliche Stellen, i.d.R. Bundes- und Landesregierungen, begrenzt. Die
näheren Anforderungen an Notfallinformationen, einschließlich der
Barrierefreiheit, sind daher i.d.R. in Runderlassen oder Verwaltungsvorschriften
festgelegt und somit kein Regelungsgegenstand des MStV-E.
Für andere (nicht-rundfunkähnliche) Telemedien regelt § 21 MStV-E abgestufte
Vorgaben. Im Gegensatz zu Anbietern von Rundfunk und fernsehähnlichen
Telemedien sollen sonstige Telemedienanbieter den barrierefreien Zugang
lediglich „unterstützen“. Die geforderte Unterstützung bezieht sich dabei
ausschließlich auf Fernsehprogramme und fernsehähnliche Telemedien, d.h. auf
(Dritt-)Angebote der nach §§ 7, 76 MStV-E verpflichteten Anbieter. Dies geht über
die Vorgaben der AVMD-Richtlinie hinaus, die allgemeine Telemedienangebote
nicht adressiert, steht jedoch im logischen Zusammenhang mit den neu in den
Anwendungsbereich des MStV-E aufgenommenen Kategorien
Medienplattformen, Medienintermediäre und Benutzeroberflächen. An die
Telemedienangebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden wiederum in
§ 30 Abs. 3, 4 MStV-E höhere Anforderungen bezüglich der Barrierefreiheit
formuliert.
Für diese Angebotskategorien ist zusätzlich die europäische RL über
Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (RL (EU)
8
2019/882) zu beachten, deren Umsetzung bis Mitte 2022 erfolgen muss. Diese
enthält insbesondere für Telemedien (elektronische Kommunikationsdienste)
sowie Dienste, die den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten vermitteln
Regelungen, die jedoch erst ab Juni 2025 zur Anwendung kommen müssen (vgl.
Art. 2 Abs. 2 lit. a, b RL 2019/882). U.a. müssen danach elektronische
Programmführer „wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust [sein] und
Informationen über die Verfügbarkeit von Barrierefreiheit bereitstellen“ (Anhang
2, Abschnitt IV). Dies geht über die bloße Pflicht zur Unterstützung gem. § 21 MStV-
E hinaus. Der hier bestehende weitere Handlungsbedarf wird jedoch bereits in
der Begründung (S. 130) anerkannt.
5. An welchen Stellen muss der Medienstaatsvertrag aus Ihrer Sicht in den
nächsten Jahren noch erweitert/weiterentwickelt werden?
Weiterer Handlungsbedarf ergibt sich in den folgenden Bereichen:
Medienwahlkampfrecht: Der Einfluss des Internets auf den Wahlkampf ist in den
letzten Jahren weiter gestiegen. Das bestehende Instrumentarium, um einen
fairen Wahlkampf zu garantieren, ist aber weiterhin rundfunk- und pressezentriert.
Es blendet vor allem die Gatekeeper-Stellung von Medienintermediären
weitestgehend aus. Schon länger wird deshalb darauf hingewiesen, dass hier
Reformbedarf besteht.9 Insbesondere kann nicht länger darauf vertraut werden,
dass durch Selbstverpflichtungserklärungen der politischen Parteien ein fairer
Wahlkampf unter Verwendung von Social Media garantiert ist.10 Ebenso wenig
ist es angezeigt, dass die Wahlkampfregeln von den dominanten privaten
Plattformen wie Facebook, YouTube oder Twitter geschrieben werden.
Verlautbarungsrecht: Es fehlt an einer digitalen Fortschreibung des klassischen
Verlautbarungsrechts. Dieses verpflichtet Rundfunkveranstalter, der
Bundesregierung und den obersten Landesbehörden im Falle von erheblichen
Gefahren für die öffentliche Sicherheit (Naturkatastrophen, Krieg) für amtliche
Verlautbarungen „angemessene Sendezeit“ im Rundfunk unverzüglich und
9 Holznagel, JZ 2012, 165 ff. 10 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-03/die-gruenen-nrw-wahlkampf-
fairness; https://netzpolitik.org/2017/gruene-beschliessen-selbstverpflichtung-gegen-
social-bots-und-fake-news/.
9
unentgeltlich einzuräumen.11 Informationen zu bestimmten Gefährdungslagen
oder Hinweise zum Schutz können so direkt an die Bevölkerung gerichtet werden.
Mit Blick auf die Entwicklung der Mediennutzung in Deutschland kann auf diesem
Weg schon jetzt ein großer Teil der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr erreicht
werden. Sachgerecht ist es, diese Pflicht den neuen Gatekeepern, also
Medienplattformen und -intermediären, aufzulegen. Ähnliches wird derzeit in
den USA im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gefordert.
Auskunftsrechte für Informationsdienste: Die Einführung journalistischer
Sorgfaltspflichten für alle publizistischen Telemedienanbieter kann dann nicht
überzeugen, wenn diesen nicht zugleich die notwendigen journalistischen
Rechercheinstrumente eingeräumt werden. Journalistische Pflichte müssen mit
journalistischen Sonderrechten korrespondieren. Deshalb muss das behördliche
Auskunftsrecht im Sinne der kommunikativen Chancengleichheit neben den
Pressediensten i.S.v. § 19 Abs. 1 Satz 1 MStV-E auch den Informationsdiensten i.S.v.
§ 19 Abs. 1 Satz 2 MStV-E zugestanden werden.
6. (Frage richtet sich an die LMAs)
[nicht beantwortet]
7. In der ergänzenden Protokollerklärung aller Länder zum
Medienstaatsvertrag verpflichten sich die Länder in Punkt 3 „Regionale
Vielfalt“ über die Vereinbarung des Medienstaatsvertrages hinaus
Maßnahmen zur Sicherung der regionalen und lokalen Medienvielfalt zu
prüfen. Weiter heißt es: „Neben tradierten Medienhäusern sollen in
diesen Prozess auch weitere Akteure (u.a. Medienplattformen und -
intermediäre) einbezogen werden.“
a) Die Protokollerklärung spricht von Maßnahmen zur Sicherung der regionalen
und lokalen Medienvielfalt, mit dem Ziel, auch künftig eine differenzierte,
professionelle und relevante Berichterstattung zu gewährleisten. Für
Nordrhein-Westfalen ist die Sicherung nur in Teilen des Landes möglich. In
anderen Teilen müsste die Medienvielfalt zunächst wiederhergestellt werden.
Beispielsweise gibt es in manchen ländlichen Regionen nur noch eine lokale
11 §§ 8 WDRG, 38 Abs. 1 LMG NRW.
10
Tageszeitung (sog. Einzeitungskreise). Um dies zu erreichen, sollte direkt beim
Journalismus angesetzt werden. Im Gegensatz zur reinen
Distributionsförderung kann dies z.B. die Förderung des (Online-)Journalismus
durch bedarfsgerechte Unterstützung für bestehende Angebote und
Hilfestellungen bei Gründungen oder die Initiierung und Unterstützung von
Austauschplattformen für lokale und hyperlokale Anbieter sein.12 Die nötige
Staatsferne kann durch ein unabhängiges Vergabegremium gewährleistet
werden, das an objektiven und nachprüfbaren Kriterien ansetzt (z.B: Zahl der
Redakteure, Anzahl der Seiten/Stücke mit originären Beiträgen der eigenen
Redaktion).13
b) Vorbildhafte Modelle aus anderen Bundesländern sind nicht ersichtlich. Es ist
aber zu beobachten, dass der lokale Hörfunk mittlerweile in fast allen
Bundesländern gefördert wird. Innovative Programme finden sich jedoch z.T.
im (europäischen) Ausland.14 Die dort bewährten Programme, etwa der
skandinavischen Länder, sind auch im Hinblick auf ihre beihilferechtliche
Zulässigkeit von Interesse. Es liegen auch verlässliche Langzeitstudien der
faktischen Wirkung der Maßnahmen vor.
c) Zentraler Distributionsweg auch für lokale und regionale Inhalte sind
Medienintermediäre wie Facebook und Google. Schon aus Gründen der
kommunikativen Chancengleichheit und Diskriminierungsfreiheit ist es
angezeigt, die Auffindbarkeit von regionalen und lokalen Inhalten
abzusichern. Empfehlenswert ist eine turnusmäßige Evaluierung zur
Entwicklung der regionalen und lokalen Medienvielfalt. Auf der Grundlage
empirischer Befunde kann die Wirksamkeit bereits getroffener Maßnahmen
bewertet werden und es können Rückschlüsse für weitere Regulierungsschritte
gezogen werden.15
8. Welche rechtlichen Gefahren und praktischen Probleme sehen Sie durch
die im Medienstaatsvertrag hinterlegte sehr weit gefasste Definition (§ 18
Abs. 3 letzter Satz Medienstaatsvertrag) von kennzeichnungspflichtigen
12 Holznagel/Röper, Vielfalts- und Journalismusstärkung, 2010, 57. 13 Holznagel/Röper, Vielfalts- und Journalismusstärkung, 2010, 54 f. 14 Einen Überblick bieten Ukrow/Cole, Aktive Sicherung lokaler und regionaler Vielfalt,
2019, 171 ff. 15 Siehe auch Ukrow/Cole, Aktive Sicherung lokaler und regionaler Vielfalt, 2019, 271 f.
11
Social Bots, insbesondere dann, wenn durch Social Media-Dashboards
oder Social Media-Managementwerkzeuge wie etwa Hootsuite,
Kurzmeldungen oder Tweets zeitgesteuert veröffentlicht werden?
Die Kennzeichnungspflicht des § 18 Abs. 3 MStV-E trifft Anbieter von Telemedien
in sozialen Netzwerken. Dies können grds. sowohl kommunizierende Nutzer des
Netzwerkes als auch der Betreiber der jeweiligen sozialen Plattform sein. Hier ist
jedoch die Formulierung Telemedien „in“ sozialen Netzwerken zu beachten, die
nahelegt, dass nicht der Anbieter des Netzwerkes selbst gemeint ist. Dieser wird
hingegen durch § 93 Abs. 4 MStV-E verpflichtet, die Kennzeichnung
sicherzustellen.
Das Merkmal der „automatisierten Erstellung von Inhalten oder Mitteilungen“ in §
18 Abs. 3 MStV-E sieht zwei Alternativen vor: zum einen die vollständige
automatisierte Erzeugung des Inhalts, zum anderen der Rückgriff auf einen
vorgefertigten Inhalt. Festzuhalten ist zunächst, dass beide Varianten nicht auf
den Versand, sondern auf die Erstellung des Inhalts abstellen. Der Versand der
Inhalte ist insofern ein kumulativ vorausgesetztes Merkmal, keine eigene
Tatbestandsvariante. Zu unterscheiden sind grundsätzlich die Erzeugung des
Inhalts und dessen Veröffentlichung.
Bei systematischer Betrachtung des § 18 Abs. 3 S. 3 MStV-E im Zusammenhang mit
S. 1 der Vorschrift wird deutlich, dass gerade die Erstellung des Inhalts „mittels
eines Computerprogramms“ (so S. 1) erfolgen muss. Die beiden Varianten der
Erstellung, die in Satz 3 normiert sind, beziehen sich unter dieser Prämisse lediglich
auf den unterschiedlichen Zeitpunkt der Erstellung durch das
Computerprogramm: während die erste Variante eine instantane automatisierte
Erstellung unmittelbar vor dem Versand (so auch der Wortlaut des S. 3) regelt,
erfasst die zweite Variante den Rückgriff auf zu einem früheren Zeitpunkt durch
das Programm erstellte Inhalte.
Dies korreliert auch mit Sinn und Zweck der Vorschrift ausweislich S. 1, wonach die
Irreführung der Nutzer durch Nutzerkonten, deren äußeres Erscheinungsbild die
Inhalteerstellung durch natürliche Personen nahelegt, vermieden werden soll.
Unter diesen Voraussetzungen entstehen durch die Regelung weder rechtliche
noch praktische Probleme im Zusammenhang mit der Verwendung von
12
Management-Tools zur zeitversetzten Veröffentlichung menschengenerierter
Inhalte.
9. Inwieweit kann das im Medienstaatsvertrag hinterlegte Konzept der
„privilegierten Auffindbarkeit“ verfassungsrechtliche Bedenken
erzeugen? Wird dadurch die Chancengleichheit für alle Inhalteanbieter
ausgehebelt?
Die neuen Regeln zur Auffindbarkeit von Rundfunk und rundfunkähnlichen
Angeboten finden sich in § 84 Abs. 3, 4 MStV-E. Die dort vorgesehenen Privilegien
sind in zwei Dimensionen zu differenzieren: Zunächst normiert § 84 Abs. 3 S. 1 MStV-
E eine unmittelbare Auffindbarkeit für alle auf der Medienplattform vorhandenen
Rundfunkangebote (Basisauffindbarkeit für Rundfunk in seiner Gesamtheit). Dies
stellt eine Bevorzugung des linearen Rundfunks gegenüber nicht-linearen
Angeboten dar. Daneben sehen die § 84 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 MStV-E eine „leichte“
Auffindbarkeit für Rundfunk und rundfunkähnliche Angebote der öffentlich-
rechtlichen Anbieter und der privaten Angebote vor, die „in besonderem Maß
einen Beitrag zur Meinungs- und Angebotsvielfalt“ leisten. Diese linearen und
nicht-linearen Angebote werden gegenüber den nicht öffentlich-rechtlichen
und nicht vielfaltsfördernden Angeboten privilegiert.
Die Grundkonzeption der positiven Diskriminierung bestimmter Angebote mit
dem Ziel der Vielfaltsförderung begegnet keinen verfassungsrechtlichen
Bedenken. Eine (verfassungsrechtlich relevante) Beeinträchtigung der
Chancengleichheit zulasten der nicht privilegierten Inhalteanbieter stellen die
Regelungen nicht dar. Hier ist auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG zu
rekurrieren, wonach die Rundfunkfreiheit als dienende Freiheit nicht zuförderst in
der abwehrrechtlichen Dimension zugunsten der einzelnen Grundrechtsträger
wirkt, sondern am übergreifenden, objektiv-rechtlichen Ziel der Herstellung von
Pluralität zur Ermöglichung der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung
auszurichten ist.16
Das BVerfG betont in diesem Zusammenhang die aus Art. 5 Abs. 1 GG folgende
Aufgabe des Gesetzgebers mittels einer positiven Ordnung die Wiedergabe der
16 BVerfGE 57, 295 (319 f.).
13
Vielfalt der bestehenden Meinung im Rundfunk sicherzustellen.17 Diese
Verpflichtung betrifft ebenso das private Angebotsspektrum.18 Meinungsvielfalt
entsteht nicht automatisch durch quantitative Angebotsvielfalt und Wettbewerb
auf dem freien Markt.19 Auch der Wegfall der tradierten Kapazitätsbegrenzungen
und die technologiebedingte Ausdifferenzierung der Verbreitungswege
genügen daher allein nicht zur Gewährleistung von Qualität und Vielfalt.20 Die
Aufgabe der positiven Vielfaltssicherung obliegt dem Gesetzgeber damit
unverändert.
Die Auffindbarkeits-Vorschriften des § 84 MStV-E sind Instrument der positiven
Vielfaltssicherung und insofern vergleichbar mit den seit Jahren etablierten
Belegungsregeln („Must-Carry“) für infrastrukturgebundene Plattformen (§ 52b
RStV, nunmehr § 81 MStV-E), die ebenfalls bestimmte Programme hinsichtlich der
Aufnahme in das gebündelte Angebot des Plattformanbieters bevorzugen.
Bestimmten Programmen und Angeboten, namentlich den öffentlich-
rechtlichen, wohnt eigens ihrer binnenpluralen Struktur und ihrer strengen Bindung
an Objektivität und journalistische Standards bereits die Vermutung der
Förderung von Vielfaltszielen inne. Für private Angebote muss indes der
besondere Vielfaltsbeitrag nach den in § 84 Abs. 5 MStV-E festgelegten Kriterien
positiv festgestellt werden.
Zu kritisieren sind die vorgesehenen Regelungen nicht aufgrund der
Beeinträchtigung der Chancengleichheit nicht-privilegierter Anbieter, sondern
vielmehr aufgrund der Aufrechterhaltung der überholten Trennung zwischen
linearen und nicht-linearen Angeboten, wobei Ersteren insgesamt mittels der
Basisauffindbarkeit eine höhere Meinungsbildungsrelevanz attestiert wird. Dies
entspricht jedoch sowohl den Wertungen der AVMD-RL als auch der
Rechtsprechungslinie des BVerfG. Ebenso wäre eine stringentere Ausgestaltung
der Vielfaltsregeln auch in Bezug auf Intermediäre wünschenswert gewesen.
Schließlich ist auch die konstitutive Einstufung besonders vielfaltsfördernder
privater Angebote durch die Landesmedienanstalten gem. § 84 Abs. 5 MStV-E
17 BVerfGE 57, 295 (302). 18 BVerfGE 73, 118 (159 ff.). 19 BVerfGE 149, 222 (260). 20 BVerfGE 149, 222 (261).
14
bedenklich. Eine derartige inhaltliche Bewertung von Medienangeboten sollte
einem unabhängigen plural besetzten Gremium vorbehaltlich sein.
10. Die EU-Kommission hat beurteilt, dass der Medienstaatsvertrag prinzipiell
mit dem EU-Recht vereinbar ist, aber in ihren Anmerkungen Bedenken
geäußert. Insbesondere gibt es Konflikte mit der E-Commerce-Richtlinie
der EU. Inwieweit sehen Sie diese Konflikte ebenfalls im
Medienstaatsvertrag?
a) Verfahrensrechtliche Einordnung und Bedeutung der Mitteilung der
Kommission im Notifizierungsverfahren
Die Europäische Kommission hat sich im Rahmen des sog. Notifizierungsverfahrens
zum Entwurf des Medienstaatsvertrages geäußert. Dieses Verfahren beruht auf
der Richtlinie über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen
Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (RL
(EU) 2015/1535). Grundsätzlich sieht das Verfahren drei Reaktionsmöglichkeiten
für die Kommission und andere Mitgliedstaaten auf notifizierte Vorschriften vor:
Untätigkeit, das Vorbringen von Bemerkungen (Art. 5 Abs. 2 RL 2015/1535) und
die Abgabe einer ausführlichen Stellungnahme (Art. 6 Abs. 2 RL 2015/1535).
Darüber hinaus kann die Kommission gem. Art. 6 Abs. 3, 4 RL 2015/1535 bekannt
geben, dass für die von der notifizierten Vorschrift berührten Bereiche
Gesetzesentwürfe auf europäischer Ebene bestehen oder beabsichtigt sind.
Die Erklärungen nach Art. 6 Abs. 3, 4 RL 2015/1535 sowie die Abgabe einer
ausführlichen Stellungnahme lösen jeweils eine Verlängerung der sog.
Stillhaltefrist aus, die die Mitgliedstaaten an der Annahme der notifizierten
Vorschriften hindert (vgl. Art. 6 RL 2015/1535). Demgegenüber hindern die
Untätigkeit sowie das Vorbringen von Bemerkungen das nationale
Gesetzgebungsverfahren nicht.
Vorliegend erfolgten die Äußerungen der Kommission in Form der Übermittlung
von Bemerkungen gem. Art. 5 Abs. 2 RL 2015/1535. Diese müssen „bei der
weiteren Ausarbeitung […] so weit wie möglich berücksichtigt [werden]“. Eine
Stillhaltefrist wird hierdurch nicht ausgelöst. Verfahrensrechtliche Hindernisse
bestehen damit für das weitere innerdeutsche Gesetzgebungsverfahren zum
MStV nicht.
15
b) Materielles Ergebnis der Kommission und Analyse
Die Kommission teilte inhaltlich mit, dass Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit
des MStV-E mit dem Gemeinschaftsrecht bestünden. Insbesondere die Regelung
des § 1 Abs. 8 MStV-E zum räumlichen Anwendungsbereich für
Medienintermediäre, Medienplattformen und Benutzeroberflächen könnte in
ihrer derzeitigen Form gegen das Herkunftslandprinzip der E-Commerce-RL
verstoßen. Die von der EU-Kommission im Rahmen des Notifizierungsverfahrens
mitgeteilten Bedenken sind tragfähig.
Die E-Commerce-RL regelt in Art. 3 Abs. 1, 2 ihren territorialen
Anwendungsbereich in Form des sog. Herkunftslandprinzips. Dies entspricht i.Ü.
auch dem Konzept, nach dem der räumlichen Anwendungsbereich der AVMD-
RL (Art. 2) zu bestimmen ist. Zur sachgerechten Umsetzung beider Richtlinien ist
innerhalb des jeweiligen sachlichen Anwendungsbereichs auch im deutschen
Recht die territoriale Grenze entsprechend zu ziehen. Jeder Sachverhalt
innerhalb des harmonisierten Bereiches darf grundsätzlich nur der Rechtshoheit
eines Mitgliedstaates unterfallen. Das Herkunftslandprinzip dient der Schaffung
des Binnenmarktes, innerhalb dessen Grenzen die Mitgliedstaaten Dienste unter
der Rechtshoheit anderer Mitgliedstaaten nicht einschränken dürfen. Regeln die
Mitgliedstaaten hingegen den räumlichen Anwendungsbereich abweichend,
besteht die Gefahr von Kollisionen zwischen den nationalen Rechtsordnungen
und der Behinderung des Dienstleistungsverkehrs.
Der räumliche Anwendungsbereich des MStV-E für Rundfunk entspricht
grundsätzlich den Vorgaben der AVMD-RL. Für Telemedien, einschließlich den der
AVMD-RL unterfallenden rundfunkähnlichen Telemedien, verweist § 1 Abs. 7
MStV-E auf die Vorschriften des TMG, welches die Bestimmung der Rechtshoheit
nach den Vorgaben der AVMD- und E-Commerce-RL vornimmt (§§ 2a, 3 TMG).
Eine Ausnahme vom Grundsatz des § 1 Abs. 7 MStV-E ist jedoch für
Medienintermediäre, Medienplattformen und Benutzeroberflächen in § 1 Abs. 8
MStV-E vorgesehen. Die Rechtshoheit wird hier – abweichend vom
Herkunftslandprinzip – nach dem sog. Marktortprinzip bestimmt. Entscheidend ist
die „Bestimmung zur Nutzung in Deutschland“, ausgehend von verwendeter
Sprache, angebotenen Inhalten, Marketingaktivitäten und Anteil des deutschen
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Marktes an der Refinanzierung des Dienstes. Eine Rückausnahme ist wiederum für
Video-Sharing-Dienste, die der AVMD-RL unterfallen, vorgesehen.
Die adressierten Dienstekategorien (Medienintermediäre, Medienplattformen
und Benutzeroberflächen) stellen Dienste der Informationsgesellschaft i.S.d. E-
Commerce-RL (Art. 2 lit. a E-Commerce-Rl i.V.m. Art. 1 lit. b RL (EU) 2015/1535) dar
und fallen so in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie. Diesen
Diensten werden Verpflichtungen auferlegt, die nach dem weiten Verständnis
der „Einschränkung“ i.S.d. Art. 3 Abs. 2 E-Commerce-RL gegen das
Herkunftslandprinzip verstoßen, so etwa die Anzeigepflicht gem. § 79 Abs. 2 MStV-
E oder die Vorschriften zu Transparenz und Diskriminierungsfreiheit nach §§ 93, 94
MStV-E.
Die fraglichen Regelungen des MStV-E betreffen dabei weder einen der im
Anhang zur E-Commerce-RL genannten Bereiche, die nach Art. 3 Abs. 3 E-
Commerce-RL vom Herkunftslandprinzip ausgenommen sind, noch ist der
Abweichungstatbestand des Art. 3 Abs. 4 E-Commerce-RL eröffnet, der u.a. für
Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
nach einem vorliegend nicht beschrittenen Verfahren (Art. 3 Abs. 4 lit. b E-
Commerce-RL) Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip erlaubt.
Eine Umgehung der Vorschriften der Richtlinie ist zudem auch nicht unter dem
Aspekt des Pluralismusschutzes zulässig (so jedoch die Begründung, S. 118). Bei
der in Art. 1 Abs. 6 E-Commerce-RL vorgesehene Bestimmung, wonach nationale
Maßnahmen, die „unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts“ u.a. dem
Pluralismusschutz dienen, von der Richtlinie „unberührt“ bleiben, handelt es sich
nicht um eine Bereichsausnahme, so dass die Richtlinie, einschließlich des
Herkunftslandprinzips, uneingeschränkt anwendbar bleibt.
Art. 1 Abs. 6 E-Commerce-RL betrifft nach richtiger Leseart den sachlich von der
Richtlinie koordinierten Bereich. Dies ergibt sich auch aus der Zusammenschau
mit Art. 1 Abs. 3 E-Commerce-RL. Die Richtlinie „ergänzt“ lediglich das Recht der
Dienste der Informationsgesellschaft und lässt andere Vorschriften, z.B. auch aus
dem Bereich des Verbraucherschutzes, unberührt. Dies bedeutet, dass über die
Vorschriften der E-Commerce-RL hinaus (die i.Ü. keine Vollharmonisierung
anstrebt) weiteres, nationales oder europäisches Recht zur Anwendung kommen
kann. Ebenso verhält es sich mit dem Vorbehalt für Pluralismusschutz aus Art. 1
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Abs. 6 E-Commerce-RL. Für Dienste der Informationsgesellschaft unter ihrer
eigenen Rechtshoheit können die Mitgliedstaaten daher zusätzliche
Anforderungen in den nicht explizit von der E-Commerce-RL geregelten
Bereichen normieren. Spezifisch in Bezug auf den Pluralismusschutz ist dies
lediglich eine Klarstellung, da die EU diesbezüglich nicht über eigene
Regelungskompetenz verfügt (siehe hierzu bereits die Stellungnahme zu Frage 2).
Diese Möglichkeit der sachlichen Ergänzung der Richtlinienbestimmungen geht
jedoch nicht mit der Möglichkeit einher, diese auf Dienste außerhalb der eigenen,
durch die Richtlinie verbindlich vorgegebenen, Rechtshoheit zu erstrecken. Die
Kollision des MStV-E mit der E-Commerce-RL wird daher auch nicht durch die
(materiellen) Vorschriften für Medienplattformen ausgelöst, sondern beruht auf
der Erweiterung des Anwendungsbereiches für diese Vorschriften.
c) Konsequenz und rechtliche Risiken
Der Abschluss des Notifizierungsverfahrens hat keine Legalisierungswirkung. Es
handelt sich bei der Stellungnahme der Kommission und anderer Mitgliedstaaten
nicht um eine abschließende und verbindliche Bewertung der Vereinbarkeit der
notifizierten Vorschriften mit dem europäischen Recht. Dies ist schlichtweg nicht
Sinn und Zweck der RL 2015/1535, die auf die Kohärenz technischer Normen und
Vermeidung von Konflikten geplanter Unionsgesetzgebung mit
Gesetzgebungsverfahren in den Mitgliedstaaten ausgerichtet ist (vgl. hierzu nur
Art. 6 Abs. 4 sowie Erwgr. 15 RL 2015/1535).
Insbesondere entfaltet das Ergebnis des Notifizierungsverfahrens daher keine
Sperr- oder Bindungswirkung im Sinne eines Vertrauensschutzes in Hinblick auf
spätere Prüfung der EU-Rechtskonformität durch Kommission oder auch den
EuGH. Trotz des Verzichts der Kommission auf Beanstandungen („ausführliche
Stellungnahme“) des MStV ist dieser somit nicht gegen zukünftige Verfahren auf
europäischer Ebene abgesichert. Materiell-rechtlich bestehen jedenfalls gegen
die Regelung des § 1 Abs. 8 MStV-E tragfähige Bedenken.
Schließlich besteht das Konfliktpotential des MStV-E mit dem höherrangigen
europäischen Recht nicht ausschließlich im Verhältnis zur E-Commerce-RL
sondern ist perspektivisch auch in Bezug auf deren geplante Überarbeitung und
Weiterentwicklung durch den Digital-Services-Act deutlich absehbar. Dieser soll
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nach Ankündigung der Kommission u.a. Transparenzvorschriften für Algorithmen
und Online-Plattformen als digitale Gatekeeper enthalten,21 und überschneidet
sich damit ggf. mit den Regelungsbereichen des MStV-E.
11. Wie bewerten Sie die im Medienstaatsvertrag hinterlegten Grenzen für
den sogenannten Bagatellrundfunk? Würde diese Regelung, bedingt
durch die daraus folgenden Regulierungen über die
Landesmedienanstalten, nicht auch massiv in die Rechte der
streamenden Verlage und Privatpersonen eingreifen? Wo sehen Sie
Vorteile bzw. Probleme für die völlige Freigabe, vergleichbar mit der
Zulassungsfreiheit von Audiostreams, von solchen visuellen
Streamingangeboten?
Die Regelung zum „Bagatellrundfunk“ in § 54 Abs. 1 MStV-E ist sachgerecht. §
54 Abs. 1 Nr. 1 MStV-E setzt zutreffend beim Kriterium der
Meinungsbildungsrelevanz für die Schwelle vom zulassungsfreien zum
zulassungspflichtigen Rundfunk an. Dies entspricht den verfassungs- und
europarechtlichen Vorgaben. Die zahlenmäßige Grenze von 20.000
gleichzeitigen Nutzern in § 54 Abs. 1 Nr. 2 MStV-E ist zunächst plausibel
gewählt, muss aber in spätestens zwei Jahren überprüft werden. Von
entscheidender Bedeutung ist die satzungsmäßige Konkretisierung der
Vorschrift durch die Landesmedienanstalten, § 54 Abs. 2 MStV-E.
Die Regelung in § 54 Abs. 1 MStV-E stellt sowohl für (linear) streamende
Verlage und Privatpersonen eine Erleichterung und Vereinfachung zur
bisherigen Rechtslage dar. Im Bereich des „Bagatellrundfunks“ entfällt
nämlich die grundsätzlich und bislang bestehende Zulassungspflicht (vgl. § 20
Abs. 1 RStV).
Mit dem MStV werden lineare Internet-Hörfunkprogramme denjenigen
Hörfunkprogrammen gleichgestellt, die über herkömmliche Technologien
(UKW, DAB+) verbreitet werden. Die bisherige Anzeigepflicht von linearem
Internet-Hörfunk entfällt. Solche Hörfunkprogramme sind nunmehr entweder
(zulassungsfreier) Bagatellrundfunk oder (zulassungspflichtiger) regulärer
21 Europäische Kommission, „Europas digitale Zukunft gestalten“, Mitteilung v. 19.2.2020,
COM (2020) 67 final, 12.
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Rundfunk. Damit ist neben linearen audiovisuellen Streamingangeboten auch
für lineare Internet-Hörfunkprogrammen das Kriterium der
Meinungsbildungsrelevanz für die Schwelle vom zulassungsfreien zum
zulassungspflichtigen Rundfunk maßgeblich, § 54 Abs. 1 MStV-E. Diese
Regelung entspricht den verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben.
Gerade im Hinblick auf gleichwertige Wettbewerbsverhältnisse zwischen
(zulassungspflichtigem) Rundfunk und (zulassungsfreien) Telemedien ist es
aber angezeigt, weitere Lockerungen zu prüfen. Dies wird mit dem 4.
Zusatzprotokoll zum MStV zugesichert.
Münster, 12.06.2020
Prof. Dr. Bernd Holznagel, LL.M. Jan Christopher Kalbhenn, LL.M.
Dr. Sarah Hartmann