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Status quo der Vitalitätsbeurteilung von alten Bäumen · PDF fileRahmen eines...

Date post: 07-Feb-2018
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Alte Bäume üben im Vergleich zu solchen in der Jugend- und Reifephase besonders vielfältige und wertvolle Funktionen aus. Da sie im Zuge ihres jahrzehntelangen Wachstums große und weit ausladende Kronen sowie einen starken Stamm ausbilden, ist es verständlich, wenn sich der verkehrssicherungspflichti- ge Baumeigentümer fragt, ob in Anbetracht steigender Kon- troll- und Pflegekosten ihre Erhaltung noch sinnvoll ist. Für die Beantwortung dieser Frage spielt die Vitalitätsbeurtei- lung eine entscheidende Rolle, denn von ihr hängt es ab, ob dem zu beurteilenden Baum noch eine angemessene Rest- standzeit am Standort zugesprochen wird. Ab dem Ende ihrer Reifephase haben Bäume ihre Kronenausbildung und ihr Hö- henwachstum weitgehend abgeschlossen und bilden alters- bedingt kaum noch vegetative Langtriebe, sondern vermehrt Blütentriebe/generative Kurztriebe mit Fruchtanhang aus (Mül- ler-Haubold et al. 2015), die zu einer alterstypischen Verän- derung der Kronenarchitektur führen. Der Kronenumbau wird zusätzlich durch Versorgungsengpässe gefördert (Lonsdale 2003; Meinzer et al. 2015; Rust und Roloff 2002; Woodruff et al. 2004), auf die alte Bäume mit einer kontinuierlich oder pe- riodisch voranschreitenden Verkleinerung der Oberkrone sowie Ausbildung einer tiefer angesetzten, besser zu versorgenden Sekundärkrone durch adaptive Reiteration reagieren („crown retrenchment“/Kronenrückzug (Fay 2002, 2011 u. 2015, Bru- di et al. 2009)). Nicht nur die Kronenstruktur, sondern die ge- samte Baumgestalt unterliegt daher im Zuge des Alterungs- prozesses einer stetigen Veränderung, die durch den natürli- chen Lebenszyklus der Bäume bestimmt wird und keine Vita- litätseinbuße darstellt, wie sie nach traumatischen Störungen auftritt. Vitalitätsbeurteilung: Begriffsdefinition, Status quo und gängige Modelle Unter Vitalität [lat. vitalitas = Lebenskraft] versteht man die erblich (genetisch) bedingte und durch Umwelteinflusse mo- difizierte „Lebensfähigkeit“ eines Individuums im Vergleich zu einem anderen. Als Vitalitätskriterien können dienen: Le- bensdauer, Überlebensrate, Zahl der Nachkommen, Frucht- barkeit, Konkurrenzstärke, Widerstandsfähigkeit gegen un- günstige Umweltbedingungen und Krankheiten, Anpassungs- fähigkeit an wechselnde Umweltbedingungen und Regene- rationsfähigkeit. Unterschiedliche Vitalität bestimmt die Fit- ness eines Individuums und damit seinen Anpassungswert unter dem Einfluss der Selektion (Lexikon der Biologie 2016). Die wohl am meisten publizierte und angewandte Methode zur Vitalitätsbeurteilung basiert auf dem Vitalitätsstufen- Schlüssel nach Roloff. Aufbauend auf einem Modell, das auf Gesetzmäßigkeiten der Kronenentwicklung von Laubbaum- arten basiert, wurden von Roloff (1985, 1986, 1987, 1988, 1989, 1998, 1999, 2001, 2002, 2008, 2013, 2015, 2016) im 2 PRO BAUM 4 | 2016 Ulrich Weihs Status quo der Vitalitätsbeurteilung von alten Bäumen Eine kritische Reflexion Die Vitalität alter Bäume steht im Mittelpunkt einer in diesem Herbst aufgekommenen wissenschaftlichen Kontroverse. Prof. Dr. Ulrich Weihs von der Hochschule für Ange- wandte Wissenschaft und Kunst in Göttingen kritisiert den von Prof. Dr. Andreas Roloff, Technische Universität Dresden, entwickelten Vitalitätsstufen-Schlüssel, der in der praktischen Regelkontrolle von Bäumen häufig angewendet wird. Gekappte Linden an der Werra in Hannoversch Münden – vital oder nicht vital? Foto: Zuckmayer
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Alte Bäume üben im Vergleich zu solchen in der Jugend- undReifephase besonders vielfältige und wertvolle Funktionen aus.Da sie im Zuge ihres jahrzehntelangen Wachstums große undweit ausladende Kronen sowie einen starken Stamm ausbilden,ist es verständlich, wenn sich der verkehrssicherungspflichti-ge Baumeigentümer fragt, ob in Anbetracht steigender Kon-troll- und Pflegekosten ihre Erhaltung noch sinnvoll ist. Für die Beantwortung dieser Frage spielt die Vitalitätsbeurtei-lung eine entscheidende Rolle, denn von ihr hängt es ab, obdem zu beurteilenden Baum noch eine angemessene Rest-standzeit am Standort zugesprochen wird. Ab dem Ende ihrerReifephase haben Bäume ihre Kronenausbildung und ihr Hö-henwachstum weitgehend abgeschlossen und bilden alters-bedingt kaum noch vegetative Langtriebe, sondern vermehrtBlütentriebe/generative Kurztriebe mit Fruchtanhang aus (Mül-ler-Haubold et al. 2015), die zu einer alterstypischen Verän-derung der Kronenarchitektur führen. Der Kronenumbau wirdzusätzlich durch Versorgungsengpässe gefördert (Lonsdale2003; Meinzer et al. 2015; Rust und Roloff 2002; Woodruff etal. 2004), auf die alte Bäume mit einer kontinuierlich oder pe-riodisch voranschreitenden Verkleinerung der Oberkrone sowieAusbildung einer tiefer angesetzten, besser zu versorgendenSekundärkrone durch adaptive Reiteration reagieren („crownretrenchment“/Kronenrückzug (Fay 2002, 2011 u. 2015, Bru-di et al. 2009)). Nicht nur die Kronenstruktur, sondern die ge-

samte Baumgestalt unterliegt daher im Zuge des Alterungs-prozesses einer stetigen Veränderung, die durch den natürli-chen Lebenszyklus der Bäume bestimmt wird und keine Vita-litätseinbuße darstellt, wie sie nach traumatischen Störungenauftritt.

Vitalitätsbeurteilung: Begriffsdefinition, Status quo und gängige Modelle

Unter Vitalität [lat. vitalitas = Lebenskraft] versteht man dieerblich (genetisch) bedingte und durch Umwelteinflusse mo-difizierte „Lebensfähigkeit“ eines Individuums im Vergleichzu einem anderen. Als Vitalitätskriterien können dienen: Le-bensdauer, Überlebensrate, Zahl der Nachkommen, Frucht-barkeit, Konkurrenzstärke, Widerstandsfähigkeit gegen un-günstige Umweltbedingungen und Krankheiten, Anpassungs -fähigkeit an wechselnde Umweltbedingungen und Regene-rationsfähigkeit. Unterschiedliche Vitalität bestimmt die Fit-ness eines Individuums und damit seinen Anpassungswertunter dem Einfluss der Selektion (Lexikon der Biologie 2016).Die wohl am meisten publizierte und angewandte Methodezur Vitalitätsbeurteilung basiert auf dem Vitalitätsstufen-Schlüssel nach Roloff. Aufbauend auf einem Modell, das aufGesetzmäßigkeiten der Kronenentwicklung von Laubbaum -arten basiert, wurden von Roloff (1985, 1986, 1987, 1988,1989, 1998, 1999, 2001, 2002, 2008, 2013, 2015, 2016) im

2 PROBAUM 4 |2016

Ulrich Weihs

Status quo derVitalitätsbeurteilungvon alten BäumenEine kritische Reflexion

Die Vitalität alter Bäume steht im Mittelpunkt

einer in diesem Herbst aufgekommenen

wissenschaftlichen Kontroverse. Prof. Dr.

Ulrich Weihs von der Hochschule für Ange-

wandte Wissenschaft und Kunst in Göttingen

kritisiert den von Prof. Dr. Andreas Roloff,

Technische Universität Dresden, entwickelten

Vitalitätsstufen-Schlüssel, der in der

praktischen Regelkontrolle von Bäumen häufig

angewendet wird.

Gekappte Linden an der Werra in Hannoversch Münden –vital oder nicht vital?

Foto: Zuckmayer

Rahmen eines Vitalitätsstufen-Schlüssels für Rotbuche (Fa-

gus sylvatica L.) in Waldbeständen und später auch für vieleStadt- und Straßenbäume die vier Wachstumsphasen Explo-ration, Degeneration, Stagnation und Resignation entwickelt.Sein Wachstumsphasen- bzw. Wuchspotenzmodell berück-sichtigt ausschließlich die Verzweigungs- und Kronenstruk-turen sowie den Trieblängenzuwachs.Um eine möglichst einheitliche Beurteilung von Bäumen zuerreichen, wurden von der Deutschen Gartenamtsleiterkon-ferenz (GALK) im Arbeitskreis Stadtbäume 2002 die vonTauchnitz (2000) vorgestellten Empfehlungen für die allge-meine Beurteilung von Bäumen in der Stadt übernommen.Laut GALK (2002) äußert sich die Vitalität von Bäumen ins-besondere in:– dem Gesundheitszustand– der Leistungsfähigkeit

(Wachstum, Entwicklung, Fortpflanzung)– der Anpassungsfähigkeit an die Umwelt– der Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten/Schädlinge– der RegenerationsfähigkeitVitale Bäume können zurückliegende oder aktuelle Schädi-gungen durch Kompensationsmechanismen (z. B. Wundholz-und Kompensationsholzbildung, Reiterationsfreudigkeit, etc.)vollständig oder teilweise ausgleichen. Die Empfehlungen derGALK (2002) sehen für die Beurteilung von Bäumen in derStadt fünf Schadstufen (0–4) vor, die von „gesund bis leichtgeschädigt“ (0) bis „sehr stark geschädigt bis ab ster bend/tot“ (4) abgestuft sind.Die Vitalitätsdefinition der Forschungsgesellschaft Land-schaftsentwicklung Landschaftsbau e. V. (FLL) aus den Jah-ren 2006 und 2010 entspricht weitgehend der oben darge-stellten Definition von Tauchnitz (2000) und der GALK(2002), ohne dass konkrete Vitalitäts-/Schadstufen ausge-wiesen werden. Die FLL (2006 u. 2010) definiert den BegriffVitalität wie folgt:„Lebenstüchtigkeit eines Organismus. Sie wird von seiner ge-netischen Ausstattung und den Umweltbedingungen beein-flusst. Die Vitalität äußert sich im Gesundheitszustand, ins-besondere in– Wachstum, Kronenstruktur und Zustand der Belaubung– der Anpassungsfähigkeit an die Umwelt– der Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und

Schädlinge – der Regenerationsfähigkeit.“

Diskussion zur aktuellen Vitalitätsbeurteilung

Der Vitalitätsbeurteilung von alten Bäumen stellt die Grund-lage für die Prognose ihrer verbleibenden Reststandzeit amStandort und damit für ihre Erhaltungswürdigkeit dar. Die fol-gende Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Vi-talitätsbeurteilung von alten Bäumen soll dazu beitragen,

unnötige Fällungen alter Bäume im Sinne einer erhaltendenBaumpflege zu vermeiden. Von den vorgestellten Beurtei-lungsschlüsseln steht der Vitalitäts stufen-Schlüssel von Ro-loff im Fokus, da er in den letzten Jahren durch eine Vielzahlvon Veröffentlichungen eine große Verbreitung erfahren hatund im Rahmen der praktischen Regelkontrolle häufig ange-wandt wird.Hauptmerkmal des Wachstumsphasenmodells von Roloff istdie langfristig abnehmende Länge des jährlichen Zuwach-ses und deren Auswirkungen auf die Musterbildung der Kro-ne. An den zeitlichen und räumlichen Veränderungen im Wip-feltrieb macht er deutlich, wie unter Einbeziehung derZweigablösung das Gerüst der Krone aufgebaut und umge-staltet wird. Er vertritt die Auffassung, dass die Wuchspotenzeines Baumes, die sich in seinen Trieblängen äußert, einensehr guten Vitalitätsweiser darstellt und die Explorations-phase der Normalfall für die Wipfeltriebe vitaler Bäume bisins hohe Alter ist. Entsprechend schlussfolgert er, dass dieAbnahme der Trieblängen aller Baumarten nach überschrei-ten eines Kulminationspunktes im frühen Baumleben als einNachlassen der Vitalität angesehen werden muss. Die Ursa-chen der sich verändernden Kronenstrukturen sind nach Ro-loff (1999) die langfristigen Trieblängenabnahmen, die einechronische Schädigung oder Vitalitätseinbuße darstellen.

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Naturdenkmal „Kastanienring“ in Göttingen. Die 120 Jah-re alten, vitalen Bäumein der Kronenrückzugs-phase bilden neue Sekundärkronen durchStammaustriebe aus.

Fotos: Ulrich Weihs

Chronologie des 100-jährigen Veränderungs-prozesses der ArthurClough Oak durch Rück-zug ihrer Primärkroneund „Zurückverjüngung“durch adaptive Reiteration.

Strukturveränderungen der Krone durch alterungsbedingte Einflüsse

Im Gegensatz zu Roloff sehen andere Autoren wie Raimbault(1995), Gleissner (1998a, 1998b, 1998c, 1998d), Pfisterer,J. A. (1998), Fay (2002, 2011, 2015) und Londsdale (2013)die im Zuge des Alterungsprozesses zu verzeichnende Verän-derung der Baum- und Kronengestalt als morpho-physiolo-gische Entwicklungsstadien, in denen sich die streng hierar-chische Kronenarchitektur junger Bäume zu einerpolyarchischen im Alter verändert. Traumatische Reaktionennach einem Schadereignis ausgeschlossen, spiegelt die Kro-nenreduktion alter Bäume (sog. crown retrenchment Brudiet al. (2009); Fay (2015)) einen natürlichen Prozess im Zu-ge von physiologischen und biomechanischen Veränderun-gen wider, denen Bäume mit zunehmender Dimension undAlterung (Seneszenz) unterliegen.In der Kronenrückzugsphase kommt dem Prozess der adapti-ven Reiteration eine große Bedeutung zu. Er trägt dazu bei,

dass Bäume ihre Kronenproduktivität und Langlebigkeit er-halten, indem sich das Verhältnis von Atmung zu Photosyn-theseleistung verringert; sich die hydraulische Leitfähigkeitverbessert; neue Blattmasse entwickelt; Nährstoffverluste re-duziert werden und sich die Apikalmeristeme verjüngen, wo-durch die Lebensdauer sowie Reproduktionsleistung erhöhtwerden (Ishii et al. 2007, 2011). Auch Gleissner (1995,1998a, 1998b, 1998d) beschreibt die seneszenzbedingte Rei-teration als Element des natürlichen altersbedingten Kro-nenumbaus. Nach Lage und Austriebsfreudigkeit der Reite-rate unterscheidet er vier Reiterationstypen und zeigt fürverschiedene Baumarten im Detail, wie das Sprosssystem beiErreichen der maximalen Kronenausbreitung schrittweise kol-labiert und der Abgang von Gerüstteilen durch altersbeding-te Reiterationen kompensiert wird.

Strukturveränderungen der Krone durch traumatische Einflüsse

Nach Gleissner (1995, 1998a, 1998b, 1998d) lässt sich diealtersbedingte Reiteration von einer stressbedingten, trau-matischen Reiteration, die eine Antwort des Baumes auf ei-ne schadensbedingte Verlichtung seiner Kronenperipheriedarstellt, anhand von überwiegend plagiotrop ausgerichte-ten Neuaustrieben abgrenzen. Der Schadensbeginn kann an-hand von Proben aus dem Baumwipfel am Alter dieser „Angst-triebe“ auf ein bis zwei Jahre genau bestimmt werden. BeimWiederauftreten von orthotrop wachsenden Reiterations-trieben kann auf eine Regeneration geschlossen werden.Bei traumatisch bedingten Kronenveränderungen differen-ziert Gleissner (1998a, 1998c) zwischen vier unterschiedli-chen Schadenstypen (Tilia-, Betula-, Aesculus- und Fagus-Typ),und weist zur Abgrenzung der durch traumatische Reaktio-nen hervorgerufenen Musteränderungen der Krone devitali-sierter Bäume von der altersbedingten Kronenumgestaltung

4 PROBAUM 4 |2016

Altersbedingte Verände-rung der Kronenstrukturdurch wiederholte starkeFruchtbildung links: Naturdenkmal „LindeZiegenbein“ in Ronshau-sen.

Neu ausgetriebene Sekundärkrone nach dreiVegetationsperioden andem gekappten Natur-denkmal „Dorflinde Gladebeck“ im Sommer2016.

vier Schadstufen (dam0–dam3) aus, denen sich stressbedingtdevitalisierte Bäume in der Alterungsphase anhand der Aus-prägung bestimmter Schadenszeichen zuordnen lassen.Gleissner (1998c) hält es für fragwürdig, ob überhaupt, undwenn ja, in welchem Ausmaß die schadensbedingte Stress-reaktion von Bäumen als Variation des beschriebenen al-tersbedingten Wuchsprogramms aufgefasst werden darf.

Strukturveränderungen der Krone durch räumliche Einflüsse

Neben dem Alterungsgradienten und traumatischen Einflüs-sen folgt das Wuchsprogramm von Baumkronen auch einemGradienten in der räumlichen Verteilung innerhalb der drei-dimensionalen Krone. Mit dem Älterwerden des Baumes wirddie Kronenperipherie mit ihren Erneuerungsknospen immerweiter nach außen verschoben und bei abnehmenden Trie-blängen im Verhältnis zum Gerüst immer grüner. Im Kronen-inneren und in den unteren Kronenbereichen kommt es ab-schattungsbedingt zu einer natürlichen Lichtmangel situati-on, was dazu führt, dass abgeschattete Zweige eine „Schat-tenarchitektur“ mit plagiotroper Ausrichtung, geringem In-ternodiendurchmesser und reduzierter Blühfrequenz zeigen(Gleissner 1998a).

Strukturveränderungen der Krone durch Blütenbildung

Bei der Kronenansprache alter Bäume muss nach Gleissner(1998c) berücksichtigt werden, wie die Blütenbildung daszunächst nur vegetative Verzweigungsmuster der Krone kom-plett verändert. An den Leittrieben nehmen die weiblichenund männlichen Blütenstände die Stelle vegetativer Seiten-achsen im basalen Abschnitt des Jahrestriebes ein. An nach-geordneten Trieben können alle Seitenknospen als repro-duktive Organe entwickelt sein, so dass nur die Ter minal knos-pe zum Weiterwachsen verbleibt. Je älter der Baum und je re-

gelmäßiger die Blütenbildung, desto stärker treten die Blü-tenstände in Konkurrenz zu den vegetativen Dauerachsen undhinterlassen entsprechende „Lücken“ in der Verzweigung. Au-ßerdem ist die Zuwachseinheit im reproduktiven Zustandauch in ihrer Längenausdehnung vermindert. Die Untersu-chungen von Gleissner (1998a) zeigen auch, dass bei einertraumatischen Schädigung bei allen Arten außer der Ross-kastanie die Blühbereitschaft mit dem Voranschreiten derSchadsymptome abnimmt. Devitalisierte Altbäume fruktifi-zieren seltener und tragen weniger Mast als vitale.Die mit der Blühfreudigkeit und der Blütenverteilung in derKronenperipherie einhergehenden Strukturveränderungen deralternden Baumkrone erfordern ebenso wie die in Bezug aufdie Blühhäufigkeit zwischen geschädigten und ungeschä-digten Altbäumen bestehenden Unterschiede eine Berück-sichtigung bei der Vitalitätsbeurteilung. Auch wenn im Scha-densfall die Längenabnahme der Leittriebe ein Merkmal füreine nachlassende Vitalität darstellt, gilt das nicht für denaltersbedingten Umbau des Kronenverzweigungsmusters.Gleissner (1998a) kritisiert, dass Roloff nicht dargestellt hat,wie der auffällige Unterschied in der Blühhäufigkeit zwischengeschädigten und seneszenten Bäumen zu erklären ist undwelchen Einfluss die in der Kronenperipherie gebildeten re-produktiven Elemente auf das Verzweigungsmuster von altenBäumen haben. Nach Gleissner (1998d) weiß jeder Prakti-ker aus eigener Anschauung, dass sich eine Baumkrone imLaufe ihres Lebens stetig verändert. Selbst wenn die Kroneihre maximale Größe erreicht hat, kann sie noch viele Jahr-zehnte oder Jahrhunderte überdauern. Die Blüten- undFruchtausbildung stellt ein wesentliches Moment in diesemlebenslangen Änderungs- und Alterungsprozess sowie einenVitalitätsindikator dar, da sie mit einem erheblichen Ener-gieaufwand einhergeht (Paar et al. 2011). Diese Auffassungwird durch die Untersuchungsergebnisse von Gruber (2003a,

54 | 2016 PROBAUM

Vitale Überwallung ehemaliger Astansätzean einer Rotbuche.

Kompensationsholz-bildung und vitale, orthotrop wachsendeStamm austriebe an einer alten Rosskastanie.

2003b, 2003c, 2004a, 2004b), Gruber et al. (2004) und ausder Waldschadensforschung (M.f.u.l.e.w.u.f. 2011) gestützt.

Schlussfolgerungen

Die kritische Reflektion des Status quo der Vitalitätsbeur-teilung verdeutlicht, dass es sich bei der Vitalitätsansprachevon Bäumen um eine komplexe Angelegenheit handelt, diesich nicht allein auf den monokausalen Faktor „Wuchspotenz“(Jahrestrieblänge und Verzweigungsgrad der Krone) redu-zieren lässt, zumal diese bei stark geschnittenen oder ge-kappten Bäumen gar nicht angesprochen werden kann.Aus den dargestellten alterungsbedingten Veränderungen derKronenstruktur darf nicht auf eine nachlassende Vitalität ge-schlossen werden. Vielmehr ist eine Unterscheidung zwischender alterungsbedingt fortschreitenden Veränderung des Ver-zweigungsmusters, die allein im Lebenszyklus des Baumesbegründet liegt, und einer durch eine traumatische Störungauftretenden Kronenmodifizierung notwendig. Ebenso ist esim Interesse einer erhaltenden Baumpflege erforderlich, dieim Rahmen des natürlichen Alterungsprozesses zu verzeich-nenden, morpho-physiologischen Veränderungen der Baum-und Kronengestalt (Bedeutung reproduktiver Elemente imVerzweigungsmuster, Diskontinuitäten im Zuwachs durch Blü-tenbildung und Abschattung, seneszenzbedingte Reiterati-on, sowie den altersbedingten natürlichen Rückzug der Pri-märkrone (crown retrenchment)) bei der Vitalitätsansprachezu berücksichtigen.Gleiches gilt für eine ganze Reihe weiterer Vitalitätspara-meter wie Zuwachs am Stamm, Wundholz- und Kompensati-onsholzbildung, Belaubungsdichte und -farbe sowie Blatt-und Knospengröße unter Beachtung periodisch wirkenderStöreinflüsse.Nur die gesamtheitliche Betrachtung aller genannten Para-meter führt zu einer Vitalitätsbeurteilung, die dem Ökosys-tem Baum und seiner Erhaltungswürdigkeit bis ins hohe Al-ter gerecht wird.Aus den genannten Gründen schlägt der Autor nach inten-siver fachlicher Diskussion mit weiteren Baumsachverstän-digen (Rathai, Jillich u. Köhler 2016) in Anlehnung an dieZTV-Baumpflege (FLL 2006) folgende Vitalitätsbeurteilungvon Bäumen vor:Unter Vitalität versteht man die Lebenstüchtigkeit eines Or-ganismus, welche maßgeblich von den Umweltbedingungenaber auch von der genetischen Ausstattung beeinflusst wird.Vitalität äußert sich neben dem Wachstum, Kronenstrukturund Zustand der Belaubung auch in der Anpassungsfähigkeitan die Umwelt sowie in der Widerstandsfähigkeit gegenüberKrankheiten, Schädlingen und der Regenerationsfähigkeit.Die altersbedingten morpho-physiologischen Veränderungender Baum- und Kronengestalt sind bei der Vitalitätsanspra-che zu berücksichtigen.

Vitale Bäume können zurückliegende oder aktuelle Schädi-gungen durch Kompensationsmechanismen (z. B. Wund-holzbildung, Ersatztriebbildung etc.) teilweise oder voll-ständig ausgleichen.Da es sich bei der Baumvitalität um ein sehr komplexes Phä-nomen handelt, ist es erforderlich, bei ihrer Beurteilung ei-ne ganzheitliche Betrachtung zu wählen, die verschiedene,unterschiedliche Merkmale berücksichtigt.Hierzu zählen:– Zuwachs am Stamm und in der Krone– altersbedingte und/oder traumatische Veränderungen der

Zuwachseinheiten und der Kronenstruktur/Totholzbildung– Fähigkeit zur Wundholz- und Kompensationsholzbildung– Reiterations- und Blühfreudigkeit– Belaubungsdichte und -farbe sowie Blatt- und Knospen-

größe unter Beachtung periodisch wirken der StörfaktorenAnhand dieser Beurteilungskriterien lassen sich Bäume in vierVitalitätsstufen (VS 0–3) einteilen. Die Einstufung in die je-weilige VS orientiert sich dabei am Alter sowie an der Art unddem Standort des Baumes. Dabei können wechselnde Um-weltbedingungen, wie z. B. Witterung, Veränderungen amBaumumfeld, zu einer Reduzierung oder zu einer Verbesse-rung der Vitalität führen.VS 0 = vital

gute Wuchskraft mit alters- und arttypischer Kronenstruktur und Belaubung, Auffälligkeiten sind unbedeutend, effektive Kompensations- und Reaktionsmechanismen

VS 1 = leicht geschwächte Vitalitätnachlassende Ausprägung der Beurteilungskriterien, jedoch mit einer positiven Tendenz und ausreichendem Kompensationswachstum

VS 2 = deutlich geschwächte VitalitätAusbleiben einzelner/mehrerer Beurteilungskriterien mit negativer Tendenz, keine ausreichende Wuchskraft, um Schäden künftig ausgleichen zu können

VS 3 = abgängiger BaumAusbleiben aller Beurteilungskriterien, keine Reaktion und Kompensation mehr erkennbar, Baum in der Abbauphase/abgestorben

Das Literaturverzeichnis kann auf Anfrage beim Autor bezogen werden.

_ Status quo der Vitalitätsbeurteilung von alten Bäumen

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