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Standardisierung gehobener Regelungsfunktionen als ... · erstmals versucht, das Konzept der...

Date post: 27-Aug-2019
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VDI-Berichte Nr. 1980, 2007 83 Standardisierung gehobener Regelungsfunktionen als Messstellen-Typen Standardization of Advanced Process Control Functions in Form of DCS-Templates Dr.-Ing. B-M. Pfeiffer, Siemens AG, Karlsruhe Kurzfassung Ein Messstellen-Typ (Template) in einem Prozessleitsystem ist eine standardisierte Vorlage zur Erstellung von Signalflussplänen, die bei der Automatisierung einer Anlage mehrfach vorkommen. Die Signalflusspläne (CFC: Continuous Function Chart) für viele Messstellen ähnlicher Art werden also durch Bildung von Instanzen eines Messstellen-Typs per Knopf- druck erzeugt und müssen anschließend nur noch parametriert und mit konkreten Mess- und Stellwerten verbunden werden. Parametrierung und Verschaltung können mit Hilfe einer Im- port-Datei automatisiert werden. Mit der Advanced Process Library von Simatic PCS7 wird erstmals versucht, das Konzept der Messstellen-Typen auf gehobene Regelungsfunktionen (Advanced Process Control) auszudehnen, z.B. für PID Gain-Scheduling, ablösende Rege- lung (Override-Control), Smith-Prädiktor Regelung für Totzeitstrecken, dynamische Störgrö- ßenaufschaltung (Lead-Lag Feedforward Control), Fuzzy Control und modellbasierte Prädik- tivregelung. Abstract A DCS-Template is used to generate continuous function charts that are needed in large numbers of instances for the automation of one plant. Chart instances are automatically sup- plied with parameter values and signal names from an import file. In the Advanced Process Library of Simatic PCS7, this concept is extended to advanced process control functions for the first time, e.g. PID Gain-Scheduling, override control, Smith-predictor for deadtime proc- esses, lead-lag feedforward control, fuzzy control and model-based predictive control (MPC). 1. Einführung Anhand von Beispielen für Messstellen-Typen (Templates) in einem Prozessleitsystem wird deutlich, welche Art von Funktionen darin zusammengefasst sind. Ein Messstellen-Typ für
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VDI-Berichte Nr. 1980, 2007 83

Standardisierung gehobener Regelungsfunktionen als Messstellen-Typen Standardization of Advanced Process Control Functions in Form of DCS-Templates Dr.-Ing. B-M. Pfeiffer, Siemens AG, Karlsruhe Kurzfassung

Ein Messstellen-Typ (Template) in einem Prozessleitsystem ist eine standardisierte Vorlage

zur Erstellung von Signalflussplänen, die bei der Automatisierung einer Anlage mehrfach

vorkommen. Die Signalflusspläne (CFC: Continuous Function Chart) für viele Messstellen

ähnlicher Art werden also durch Bildung von Instanzen eines Messstellen-Typs per Knopf-

druck erzeugt und müssen anschließend nur noch parametriert und mit konkreten Mess- und

Stellwerten verbunden werden. Parametrierung und Verschaltung können mit Hilfe einer Im-

port-Datei automatisiert werden. Mit der Advanced Process Library von Simatic PCS7 wird

erstmals versucht, das Konzept der Messstellen-Typen auf gehobene Regelungsfunktionen

(Advanced Process Control) auszudehnen, z.B. für PID Gain-Scheduling, ablösende Rege-

lung (Override-Control), Smith-Prädiktor Regelung für Totzeitstrecken, dynamische Störgrö-

ßenaufschaltung (Lead-Lag Feedforward Control), Fuzzy Control und modellbasierte Prädik-

tivregelung.

Abstract A DCS-Template is used to generate continuous function charts that are needed in large

numbers of instances for the automation of one plant. Chart instances are automatically sup-

plied with parameter values and signal names from an import file. In the Advanced Process

Library of Simatic PCS7, this concept is extended to advanced process control functions for

the first time, e.g. PID Gain-Scheduling, override control, Smith-predictor for deadtime proc-

esses, lead-lag feedforward control, fuzzy control and model-based predictive control (MPC).

1. Einführung Anhand von Beispielen für Messstellen-Typen (Templates) in einem Prozessleitsystem wird

deutlich, welche Art von Funktionen darin zusammengefasst sind. Ein Messstellen-Typ für

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alle Durchfluss-Regelkreise einer Anlage kann folgende Funktionen (Funktionsbausteine)

enthalten: Analogeingabe-Funktion für Regelgröße und Stellungsrückmeldung, PID-Regler,

Analogausgabe-Funktion für die Stellgröße, Sicherheitslogik für Messwertausfall, Regelkreis-

Überwachung (Control Performance Monitoring) sowie eine primitive Prozess-Simulation

(Verzögerungsglied erster Ordnung) für Testzwecke.

Ein Messstellen-Typ für alle Kaskaden-Regelkreise einer Anlage enthält neben zwei PID-

Reglern incl. AnalogFunktionn, Sicherheits- und Überwachungsfunktionen auch die logi-

schen Verknüpfungen, die erforderlich sind, um die stoßfreie Umschaltung zwischen ver-

schiedenen Betriebsarten sowie den Nachführbetrieb des Führungsreglers bei Auftrennen

der Kaskade am Folgeregler zu organisieren.

Weitere regelungstechnisch orientierte Templates sind z.B. Verhältnisregelung, Split-Range-

Regelung, Schrittregelung mit/ohne Stellungsrückmeldung.

Für den Anwender ergeben sich durch die Verwendung von Templates bei der Projektierung

folgende Vorteile:

• Einsparung von Engineering-Kosten.

• Vermeidung von Fehlern, indem die Erfahrungen des Systemlieferanten genutzt wer-

den.

• Vermeidung von Fehlern, die durch manuelle Wiederholung eintöniger Tätigkeiten

entstehen.

• Zentrale Pflege der Template-Typen im Projekt, incl. zentrale Änderbarkeit.

Mit der Advanced Process Library von Simatic PCS7 wird erstmals versucht, das Konzept

der Messstellen-Typen auf gehobene Regelungsfunktionen (Advanced Process Control)

auszudehnen, z.B. für (s. z.B. [2], Kap. 1.2.2 und 2.4.3)

• PID Gain-Scheduling

• Ablösende Regelung (Override-Control),

• Smith-Prädiktor Regelung für Totzeitstrecken,

• Dynamische Störgrößenaufschaltung (Lead-Lag Feedforward Control),

• Fuzzy Control,

• Modellbasierte Prädiktivregelung.

Dabei wird unterschieden zwischen zwei Arten von Templates:

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1. „Insertible Templates“: Dabei handelt es sich um Messstellen-Typen im engeren

Sinn, die wie oben beschrieben direkt zur Bildung von Instanzen im Projekt genutzt

werden können. Dies bietet sich an bei Strukturen, die tatsächlich genau gleichartig in

großen Stückzahlen in einer Anlage gebraucht werden und typischerweise direkt mit

der Analogperipherie verbunden sind.

2. „Simulation Templates“: Diese Templates umfassen neben den eigentlichen Re-

gelungsfunktionen eine realitätsnahe Prozess-Simulation, so dass die speziellen Ei-

genschaften einer bestimmten Advanced-Control-Funktion anhand der Simulation

ausprobiert werden können, bevor sie an der realen Anlage zum Einsatz gelangen.

Durch eine Benchmark-Struktur mit zwei gleichartigen Regelstrecken können die Vor-

teile der gehobenen Regelungsfunktion gegenüber einer konventionellen Lösung des

gleichen Problems demonstriert werden. Die Übertragung ins Projekt erfolgt dann

durch Kopieren von Signalflussplänen und anschließende individuelle Modifikation.

Dies bietet sich an bei Strukturen, die typischerweise bei jeder Instanzbildung modifi-

ziert werden und nicht nur direkt mit der Peripherie verbunden, sondern ggf. als über-

lagerte Regelung hinzugefügt werden. Diese Templates haben also eher den Charak-

ter von Musterlösungen, als von Messstellentypen im engeren Sinn.

In den folgenden Abschnitten werden die Gestaltung und der Anwender-Nutzen der Templa-

tes anhand ausgewählter Beispiele dargestellt.

2. Messstellentyp Standard-PID-Regelkreis und Erweiterungen Ein Beispiel für den Messstellentyp PID_Control aus dem Prozessleitsystem Simatic PCS7

ist in Bild 1 gezeigt.

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Bild 1: Messstellentyp Standard-PID-Regelkreis im CFC (Continuous Function Chart) von

Simatic PCS7, PID-Regler PID_ConL, Analog-Eingangsfunktion CH_AI, Analog-

Ausgangsfunktion CH_AO, Regelkreisüberwachung ConPerMon, Verzögerungsglied

erster Ordnung Lag

Viele gleichartige Regelkreise nach diesem Grundmuster können mit Hilfe einer Importdatei

erzeugt werden, in der Parameterwerte und Signalnamen als MS-Excel-Tabelle vorliegen.

Falls bei einigen speziellen Regelkreis-Instanzen Schwierigkeiten wegen nichtlinearen Pro-

zessverhaltens auftreten, werden diese Instanzen entsprechend der Vorlage des Gain-

Scheduling-Templates mit einem zusätzlichen Funktionsbaustein zur Parametersteuerung

erweitert. Nach derselben Vorgehensweise können einzelne Regelkreis-Instanzen mit Erwei-

terungen zur Kompensation von messbaren Störungen („lead-lag feedforward“) oder zur

Kompensation von Totzeiten (Smith-Prädiktor) erweitert werden. Die Vorlagen dazu finden

sich bei den entsprechenden Simulations-Templates.

Es ist für den Anwender sogar möglich, in einer projektspezifischen Bibliothek eigene Mess-

stellentypen zu definieren, falls er beispielsweise viele gleichartige Regelkreise mit Smith-

Prädiktor erzeugen will.

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3. Benchmarking-Template am Beispiel Störgrößenaufschaltung

Am Beispiel der Störgrößenaufschaltung wird die anschauliche Darstellung eines Benchmar-

king der konventionellen und der gehobenen Methode demonstriert.

Eine Feedforward-Störgrößenaufschaltung kann angewendet werden, wenn eine bekannte,

kräftige Störung auf den Prozess einwirkt, deren Ursache gemessen werden kann. In diesen

Fällen gilt die generelle Strategie: „Soviel steuern wie möglich (soweit vorab bekannt und von

einem Modell beschrieben), so viel regeln wie nötig (den Rest incl. Modellfehlern und nicht-

messbaren Störungen)“.

Störgröße c(s)

Störgrößen-aufschaltung

Stör-Übertragungsfunktiongz(s)

Prozess g(s)Sollwert Regelgröße

PV

PID Regler

MV

PV

SP

MV_FeForw

z

Bild 2: Störgrößenaufschaltung

Die Auswirkung einer messbaren Störung kann in Form einer Übertragungsfunktion gz(s)=

y(s) / z(s) abgeschätzt werden, wenn der Regler im Handbetrieb läuft, so dass keinerlei Än-

derungen der Regelgröße y=PV von der Stellgröße MV des Reglers verursacht werden und

alle Veränderungen der Störung z(s) zugeschrieben werden können.

Die Übertragungsfunktion einer idealen Störgrößenaufschaltung c(s) kann von der Anforde-

rung abgeleitet werden, dass die Auswirkung von z auf y gleich null sein soll für jedes belie-

bige Störsignal z(s):

( )!

z zg (s)z c(s)g(s)z g (s) c(s)g(s) z 0+ = + =

Um diese Gleichung zu erfüllen, muss der Kompensations-Baustein die Gleichung

zg (s)c(s)g(s)

= −

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so gut wie möglich approximieren. Dafür muss die Störübertragungsfunktion gz(s)=y(s)/z(s)

bekannt sein und die Übertragungsfunktion der Hauptstrecke g(s)= y(s)/u(s), u=MV invertiert

werden. Falls beide als Übertragungsfunktionen erster Ordnung mit Totzeit modelliert wer-

den

θsS est

ksg −

+=

11)( und zs

z

zSz e

stk

sg θ−

+=

11)(

und zθθ < gilt, muss das resultierende Kompensationsglied daher exakt die Übertragungs-

funktion

zS z s ( )1

S 1 z

k 1 t sc(s) ek 1 t s

− θ − θ+= −+

darstellen.

z(s) MV_FeForw

PT1

DT1

Tt P

Bild 3: Template für Lead-Lag-Glied

Die Lead-Lag-Übertragungsfunktion kann außerhalb des Reglers mit einer Kombination ele-

mentarer CFC-Bausteine gemäß Bild 3 als Parallelschaltung eines Differenzierers mit Ver-

zögerung und eines Verzögerungsglieds erster Ordnung (mit derselben Nenner-

Zeitkonstante und Verstärkung 1) erstellt werden. Dahinter werden noch ein Totzeitblock

sowie ein Verstärkungsfaktor in Reihe geschaltet.

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Bild 4: Benchmark-Simulation einer Störgrößenaufschaltung auf der Operator-Station von

Simatic PCS7. Bei einer Störung von 40% auf den Prozesseingang ist die Regelab-

weichung bei TIC301 mit Störgrößenaufschaltung deutlich geringer als bei TIC302

ohne Störgrößenaufschaltung.

4. Struktur-Alternativen am Beispiel ablösende Regelung Am Beispiel der ablösenden Regelung werden die Vor- und Nachteile zweier verschiedener

Realisierungs-Alternativen diskutiert. Bei einer ablösenden Regelung müssen sich zwei oder

mehr Regler ein gemeinsames Stellglied teilen. In Abhängigkeit vom aktuellen Prozesszu-

stand wird entschieden, welcher Regler tatsächlich Zugriff auf das Stellglied bekommt, d.h.

die verschiedenen Regler lösen sich gegenseitig ab.

Ein typisches Anwendungsbeispiel ist eine Gas-Pipeline mit Druck und Durchflussregelung

über ein einziges Ventil. Das wesentliche Regelungsziel besteht darin, einen bestimmten

Durchfluss zu erzielen, aber aus Sicherheitsgründen muss der Druck innerhalb bestimmter

Grenzen gehalten werden. Daher wird der Druckregler auch als „begrenzender Regler“ oder

sekundärer Regler bezeichnet.

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PIC

FIC

Logische Entscheidung

Bild 5: Ablösende Regelung mit Hauptregler FIC für den Durchfluss, und Begrenzungsregler

PIC für den Druck.

Die logische Entscheidung, welcher Regler aktiv sein soll, kann aufgrund zweier verschiede-

ner Kriterien getroffen werden, woraus sich zwei verschiedene Arten ablösender Regelungen

ergeben:

1. Die logische Entscheidung basiert auf einer messbaren Prozess-Ausgangsgröße,

z.B. einer der beiden Regelgrößen. Im o. g. Beispiel können die Warngrenzen des Druckreg-

lers herangezogen werden um zu entscheiden, ob der Druckregler aktiv werden soll. Der

jeweils passive Regler wird nachgeführt, um Windup-Probleme zu vermeiden und eine stoß-

freie Umschaltung zu gewährleisten. Der Sollwert des sekundären Reglers muss etwas tiefer

als die Umschaltschwelle liegen, damit die Umschaltung auch wieder rückgängig gemacht

werden kann. Diese Art der ablösenden Regelung ist leicht zu verstehen und zu implemen-

tieren. Sie hat den Vorteil, dass die sekundäre Regelgröße (z.B. Druck) auf Ober- und Un-

tergrenze überwacht werden kann, aber den Nachteil, dass eine Grenzzyklus-Schwingung

entsteht, sobald der Begrenzungsregler eingreifen muss. Der sekundäre Regler wird immer

versuchen, seine Regelgröße in den sicheren Bereich zurückzuführen und das Kommando

an den Hauptregler (z.B. Durchfluss) zurückzugeben, so dass es zu einem ständigen Wech-

sel zwischen aktivem und passivem Regler kommt. Daher wird diese Variante nur empfoh-

len, wenn der sekundäre Regler selten gebraucht wird und eher die Funktion eines Si-

cherheits- oder Backup-Systems hat.

2. Die logische Entscheidung basiert auf einem Vergleich der Stellgrößen beider Reg-ler, z.B. bekommt derjenige Regler die Kontrolle über das Stellglied, der die größere (oder

kleinere) Stellgröße verlangt. Im o. g. Beispiel bekommt derjenige Regler das Kommando,

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der das Ventil weiter öffnen möchte. Der Sollwert des sekundären Reglers definiert die

Schaltschwelle. Beide Regler laufen die ganze Zeit in Automatik. Um Windup-Probleme zu

vermeiden, müssen die Stellgrößenbegrenzungen in einer Überkreuz-Struktur nachgeführt

werden: Wenn die größere (kleinere) Stellgröße gewinnt, müssen die Unter- (Ober-)grenzen

aller Regler der aktuellen größten (kleinsten) Stellgröße in einem geringen Abstand z.B. 2%

des Stellbereichs unterhalb (oberhalb) nachgeführt werden. Dadurch kann dieses Schema

auch auf Anwendungen mit mehr als zwei Regelgrößen angewendet werden. Es gibt keine

Windup-Probleme an der Obergrenze, da die größte Stellgröße ohnehin das Kommando

übernimmt. Dieser Ansatz vermeidet die Grenzzyklus-Schwingung von Alternative 1, aber er

ist prinzipiell asymmetrisch, d.h. es kann entweder eine Ober- oder eine Untergrenze der

sekundären Regelgröße überwacht werden, nicht beides gleichzeitig. Diese Art der ablösen-

den Regelung wird in den meisten regelungstechnischen Lehrbüchern beschrieben, v.a. in

den USA, aber sie kann nur angewendet werden im Zusammenhang mit PID-Algorithmen,

die eine Online-Manipulation der Stellgrößenbegrenzungen erlauben (bei PCS7 ab V6.0).

5. Mehrgrößenregelung mit einem systemintegrierten schlanken Prädiktivregler Am Beispiel der modellbasierten Prädiktivregelung wird der Umgang mit einem schlanken,

nahtlos in das Prozessleitsystem eingebetteten MPC gezeigt. Sehr viele Anwendungen, bei

denen bisher der Einsatz eines Prädiktivreglers aus Kostengründen nicht in Erwägung gezo-

gen wurde, werden durch die Existenz eines Standard-MPC-Funktionsbausteins für eine

Mehrgrößenregelung zugänglich.

Beispiele:

• Temperaturregelung an Zweistoff-Destillationskolonnen. Da sich mit konventionellen

Mitteln nur entweder die Temperatur am Kopf oder am Sumpf der Kolonne regeln

lässt, gibt es viele verschiedene Varianten zur Regelung von Kolonnen über eine ein-

zige Temperatur. Durch den routinemäßigen Einsatz eines 2x2-MPC können alle Ko-

lonnen mit derselben standardisierten Automatisierungsstruktur ausgestattet werden:

Regelung von Kopf- und Sumpftemperatur über Rücklaufverhältnis und Heizdampf-

menge. Über Priorisierungen im Gütekriterium des Prädiktivreglers kann der Anwen-

der im Einzelfall vorgeben, welche Regelgröße ihm besonders wichtig ist.

• Regelung von Polymerisationsreaktoren: Regelgrößen Produkt-Viskosität (hochprior,

da qualitätsrelevant) und Füllstand (Regelzone, niederprior), Stellgrößen Reaktor-

Druck und Produkt-Abfluss.

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• „Unscharfe“ Override-Regelung: Anstelle einer scharfen Umschaltung zwischen zwei

Regelgrößen, für die nur ein Stellglied zur Verfügung steht, wird permanent ein Kom-

promiss zwischen beiden Regelungszielen gesucht, der sich über die Wahl von Ge-

wichtungsfaktoren priorisieren lässt.

Im Einzelfall kann der Prädiktivregler-Baustein auch für dynamisch besonders schwierige

Eingrößen-Regelungen herangezogen werden, z.B. ist er bei Strecken mit nicht-

phasenminimalem oder stark oszillierendem Verhalten einem PID-Regler überlegen.

Regelgrößen

Stellgrößenbeschränkungen

Nachführbetrieb

Sollwerte

Handstellgrößen

Messbare Störgröße‚Führungsgrößen-Filter

Betriebsarten-Umschaltung

Bild 6: Schlanker Mehrgrößenregler ModPreCon im CFC von Simatic PCS7

Bild 6 zeigt den neuen schlanken Mehrgrößenregler ModPreCon für Simatic PCS7. Er be-

herrscht bis zu vier miteinander gekoppelte Stell- und Regelgrößen sowie eine messbare

Störgröße. Der Algorithmus ist eine Variante des bekannten DMC-Verfahrens [3] bei dem

das Optimierungsproblem offline unter Vernachlässigung der Beschränkungen gelöst wird.

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Der Funktionsbaustein selbst enthält die analytische Lösung des Optimierungsproblems.

Stellgrößenbegrenzungen (sowohl absolut als auch bezüglich der Gradienten) werden als

„hard constraints“ im Online-Algorithmus behandelt. Exakte Sollwerte oder Zielzonen für die

Regelgrößen werden als „soft constraints“ des Optimierungsproblems betrachtet. Neben in-

dividuell pro Regelkanal gewichteten zukünftigen Regelabweichungen werden auch zukünf-

tige Stellgrößenbewegungen mit kanalspezifischen Gewichten im Gütekriterium berücksich-

tigt, womit die Aggressivität des Regelverhaltens wie bei einem Zustandsregler angepasst

werden kann. Über einen Führungsgrößenfilter für zukünftige Sollwertverläufe lässt sich das

Führungsverhalten unabhängig vom Störverhalten gestalten (Regelstruktur mit 2 Freiheits-

graden, engl. 2 „DoF control“), und sogar online feinjustieren.

Handhabung, Bedienung und Betriebsarten sind soweit wie möglich an den konventionellen

PID-Regler angelehnt, so dass auch weniger erfahrene Benutzer leicht damit zu Recht

kommen. Konfiguration und Inbetriebnahme können mit Hilfe eines dazu passenden Engi-

neering-Tools ohne regelungstechnische Spezialkenntnisse durchgeführt werden. Dazu wer-

den alle Eingangsgrößen des Prozesses dynamisch angeregt und die Messdaten mit dem

CFC-Trendkurvenschreiber aufgezeichnet. Das Konfigurationstool identifiziert daraus ein

mathematisches Prozessmodell und entwirft den prädiktiven Regler. Für jede der maximal

16+4 Teil-Übertragungsfunktionen wird dabei ein Modell vierter Ordnung mit Totzeit ge-

schätzt. Das Tool verwendet in gekapselter Form Algorithmen aus der Matlab System Identi-

fication Toolbox, erfordert aber keine Matlab-Lizenz und keine Matlab-Kenntnisse beim An-

wender.

Mehrere ModPreCon-Blöcke können kaskadiert oder über Störgrößenaufschaltungen mitein-

ander koordiniert werden, um auch Mehrgrößenprobleme mit mehr als vier Stell- und Regel-

größen zu lösen. Ebenso kann der ModPreCon-Baustein mit nachgelagerten Split-Range-

Bausteinen kombiniert werden, um beispielsweise Heiz- und Kühlstellgrößen anzusprechen.

Der Regelalgorithmus selbst basiert auf einem linearen, zeitinvarianten Prozessmodell. Bei

nichtlinearen Strecken kann er mit vor- oder nachgelagerten Polygonzügen zur Linearisie-

rung kombiniert werden. Außerdem kann er entsprechend dem in [4] beschriebenen Schema

entlang von Trajektorien geführt werden. Durch diese geschickte Kombination von (ggf.

nichtlinearer) Feedforward-Steuerung und Feedback-Regelung kleiner Abweichungen von

der Trajektorie werden auch Arbeitspunktwechsel an nichtlinearen Strecken beherrschbar.

6. Zusammenfassung Der Engineering-Aufwand bei der Projektierung von Regelkreisen wird signifikant reduziert

indem zahlreiche, strukturell gleichartige Instanzen von einer Musterlösung bzw. einem

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Messstellentyp abgeleitet werden. Im Rahmen der Musterlösungen kann Erfahrungswissen

des Systemlieferanten an Kunden weitergegeben, und typische Fehler vermieden werden.

Mit der Advanced Process Library von Simatic PCS7 werden erstmals Musterlösungen für

gehobene Regelungsfunktionen (Advanced Process Control) in den serienmäßigen Liefer-

umfang der Bibliothek aufgenommen, z.B. für PID Gain-Scheduling, ablösende Regelung,

Smith-Prädiktor Regelung, dynamische Störgrößenaufschaltung und modellbasierte Prädik-

tivregelung. Durch den geringeren Einstandspreis einer systemintegrierten und musterlö-

sungsbasierten Implementierung werden zahlreiche Applikationen auch an kleinen und mitt-

leren Anlagen für Advanced-Control-Verfahren zugänglich, bei denen es aufgrund der Amor-

tisationszeiten nicht in Frage kommt, kostspielige APC-Softwarepakete von außen an das

Prozessleitsystem anzukoppeln.

Literatur [1] Dittmar, R., Pfeiffer, B-M.: Modellbasierte prädiktive Regelung in der industriellen

Praxis. at 12/2006.

[2] Dittmar, R., Pfeiffer, B-M.: Modellbasierte prädiktive Regelung - Eine Einführung für

Ingenieure. Oldenbourg Verlag, München, 2004.

[3] Cutler, C.R., Ramaker, B.L.: Dynamic matrix control – a computer control algorithm.

Proc. Joint American Control Conference, 1980, Paper WP5-B.

[4] Pfeiffer, B-M., Schneider, M.: Flachheitsbasierte Steuerstrategien für Batch-

Reaktoren. at 2/2006, S. 78-92.


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