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Staats- und Verfassungskrise 1933 () || Legitimität und Repräsentation in der EU in...

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197 Sonja Puntscher Riekmann Legitimität und Repräsentation in der EU in zeitgeschichtlicher Perspektive Der europäische Einigungsprozess ist die Antwort auf die große Zer- störung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Zerstörungen durch zwei Weltkriege mit 50 Millionen Toten und die Shoah, die Zerstörung von Rechtsstaat, Demokratie und republikanischer Ord- nung durch Autoritarismus, Faschismus und schließlich Totalitaris- mus des Dritten Reiches. Die Festigung des stalinistischen totalitären Sowjetkommunismus und die Etablierung der Sowjethegemonie im Osten der Nachkriegszeit sind weitere Folgen dieser Entwicklung und sollten Europa bis 1989 spalten. Der Europäische Einigungsprozess als Projekt der Vorkehrung Die Ausschaltung der Parlamente markierte den Auftakt zu diesem Zivilisationsbruch. Die Institutionenordnung der Europäischen Ge- meinschaft sollte eine Wiederholung dieser Katastrophe verhindern, sie ist ein Projekt der Vorkehrung. 1 Schon die Europäische Gemein- schaft für Kohle und Stahl hatte neben dem Rat, der Hohen Behörde und dem Gericht auch eine parlamentarische Versammlung vorge- sehen, wenngleich diese weitgehend auf konsultative Funktionen beschränkt war. Doch mit dem Vertrag für die Europäische Wirt- schaftsgemeinschaft beginnt auch die Diskussion um eine Direkt- wahl der supranationalen Parlamentarischen Versammlung, die sich bald selbst Parlament nennt, auch wenn es erst 1976 zu einem ein- 1 Vgl. Mette Eilstrup-Sangiovanni/Daniel Verdier, European Integration as a Solution to War, in: European Journal of International Relations (2005) 11, 99–135; Tony Judt, Post-War: A History of Europe since 1945, London 2005. Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/6/14 12:07 AM
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Sonja Puntscher Riekmann

Legitimität und Repräsentation in der EU in zeitgeschichtlicher Perspektive

Der europäische Einigungsprozess ist die Antwort auf die große Zer-störung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Zerstörungen durch zwei Weltkriege mit 50 Millionen Toten und die Shoah, die Zerstörung von Rechtsstaat, Demokratie und republikanischer Ord-nung durch Autoritarismus, Faschismus und schließlich Totalitaris-mus des Dritten Reiches. Die Festigung des stalinistischen totalitären Sowjetkommunismus und die Etablierung der Sowjethegemonie im Osten der Nachkriegszeit sind weitere Folgen dieser Entwicklung und sollten Europa bis 1989 spalten.

Der Europäische Einigungsprozess als Projekt der Vorkehrung

Die Ausschaltung der Parlamente markierte den Auftakt zu diesem Zivilisationsbruch. Die Institutionenordnung der Europäischen Ge-meinschaft sollte eine Wiederholung dieser Katastrophe verhindern, sie ist ein Projekt der Vorkehrung.1 Schon die Europäische Gemein-schaft für Kohle und Stahl hatte neben dem Rat, der Hohen Behörde und dem Gericht auch eine parlamentarische Versammlung vorge-sehen, wenngleich diese weitgehend auf konsultative Funktionen beschränkt war. Doch mit dem Vertrag für die Europäische Wirt-schaftsgemeinschaft beginnt auch die Diskussion um eine Direkt-wahl der supranationalen Parlamentarischen Versammlung, die sich bald selbst Parlament nennt, auch wenn es erst 1976 zu einem ein-

1 Vgl. Mette Eilstrup-Sangiovanni/Daniel Verdier, European Integration as a Solution to War, in: European Journal of International Relations (2005) 11, 99–135; Tony Judt, Post-War: A History of Europe since 1945, London 2005.

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schlägigen Beschluss und 1979 tatsächlich zur ersten direkten Wahl dieses Organs kommt. Seither hat das Europäische Parlament von Vertragsänderung zu Vertragsänderung an Kompetenzen gewonnen und ist nun im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren des Vertrags von Lissabon gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat. Zu-gleich hat es selbst über den Hebel seiner Budgetrechte und durch in-terinstitutionelle Abkommen mit dem Rat und der Kommission die Erweiterung seiner Rechte betrieben, selbstbewusst konstitutionelle Initiativen ergriffen (siehe z. B. die Spinelli-Initiative zum Vertrags-entwurf für eine Europäischen Union von 1984), deren Wirkung in der Einheitlichen Europäischen Akte und im Vertrag von Maastricht deutlich zu erkennen sind, und die Kandidaten für die Europäische Kommission zu Hearings vor den jeweiligen, aber allen Abgeordne-ten des Europäischen Parlaments offen stehenden, Fachausschüssen „gezwungen“.

So folgt auch die Union dem Prinzip, dass eine Demokratie unab-dingbar an die Existenz eines Parlaments gebunden ist, wenngleich es nach wie vor über kein Initiativrecht verfügt und in manchen Politik-bereichen nur Anhörungsrechte genießt. Es kontrolliert die Kommis-sion und ist durch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren mit dem Rat gleichberechtigtes Gesetzgebungsorgan. Auch die unabhängige Europäische Zentralbank diskutiert regelmäßig zumindest die großen Linien der Geldpolitik mit dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments, um die eigene Legitimität zu erhöhen.

Der Vertrag von Lissabon bekräftigt durch einen neuen Titel mit Bestimmungen zu den demokratischen Grundsätzen der Uni-on das Prinzip der repräsentativen Demokratie (Art. 10 EUV). Die Bürgerinnen/Bürger sind direkt im Europäischen Parlament und die Staaten im Rat und Europäischen Rat vertreten. Darin finden wir auch Bekenntnisse zur Relevanz europäischer Parteien (Art. 10, Abs. 4 EUV), zur Einbindung zivilgesellschaftlicher Kräfte und der Sozial-partner (Art. 11, Abs. 1 EUV) und ein direktdemokratisches Element mit der Europäischen Bürgerinitiative (Art. 11, Abs. 4 EUV). Bemer-kenswert ist schließlich Art. 12 EUV zu den nationalen Parlamenten,

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die „aktiv zur guten Arbeitsweise der Union“ beitragen sollen. Die beiden Protokolle „Über die Rechte der Nationalen Parlamente in der Europäischen Union“ (1) und „Über die Anwendung der Grund-sätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“ (2) spezifizieren diese Rechte. Diese Aufwertung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente veranlassten die Autoren Elmar Brok und Martin Selmayr, den Vertrag von Lissabon als „Vertrag der Parlamen-te“ zu feiern.2

Doch ist diese Euphorie auch gerechtfertigt? Sind die Parlamente tatsächlich in das Zentrum der europäischen Politik zurückgekehrt3, nachdem der Integrationsprozess jahrzehntelang als Siegeszug der Exekutiven, der Staatskanzleien und der Mehrebenenbürokratie, ja der Technokratie, beschrieben worden war?4 Und erhöht die explizite Repräsentationsfunktion des Europäischen Parlaments und subsidiär der nationalen Parlamente die Legitimität der europäischen Politik? Ist dies das Ende des vielbeklagten europäischen Demokratiedefizits?5 Man hätte die neuen Bestimmungen in diesem Sinne lesen können, doch auch für die europäischen Institutionen gilt der Grundsatz: Der Lackmustest findet stets in Krisen statt und das Inkrafttreten des Ver-trages von Lissabon am 1. Dezember 2009 fiel mit der größten Krise des Einigungsprozesses zusammen.

2 Elmar Brok/Martin Selmayr, Der „Vertrag der Parlamente“ als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensichtlich unbegründeten Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, in: integration (2008) 3, 217–234; zu den neuen Bestimmungen des Vertrages von Lissabon vgl. auch Sonja Punt-scher Riekmann, Constitutionalism and Representation. European Parli-amentarism in the Treaty of Lisbon, in: Petra Dobner/Martin Loughlin (Hg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010, 120–137.

3 Vgl. kritisch Andreas Maurer/Wolfgang Wessels (Hg.), National parlia-ments on their ways to Europe: losers or latecomers? Baden-Baden 2001.

4 Vgl. Alison Harcourt/Claudio Radaelli, Limits to EU technocratic regu-lation? in: European Journal of Political Research (1999) 35, 1, 107–122.

5 Vgl. stellvertretend für viele Andreas Follesdal/Simon Hix, Why there is a democratic deficit in the EU: a response to Majone and Moravcsik, in: Journal of Common Market Studies (2006) 44, 3, 533–62.

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Der Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 und die daraus folgende Schuldenkrise der EU-Mitgliedstaaten mit ihren ersten Höhepunkten in Irland und Griechenland (2009-2010) hat einen Ausnahmezustand heraufbeschworen, der die vertraglichen Errun-genschaften infrage stellt. Das Europäische Parlament gehörte in der Krisenbekämpfung nicht zu den zentralen Akteuren, während die nationalen Parlamente, denen unerwartet eine neue Macht in den Ratifikationsprozessen der intergouvernementalen Abkommen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt (Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) zugewachsen ist, mit Argumenten der Alternativlosigkeit und der Gefahr für den Euro, und damit für die ganze EU, zur Zustimmung genötigt werden. Legendär ist in die-sem Zusammenhang der Satz Angela Merkels, zu diesen Abkommen gäbe es keine Alternative, während Mario Monti in einem Spiegel-Interview nicht davor zurückscheute, die Notwendigkeit einer Re-gierung, „ihr Parlament im Griff zu haben“, zu betonen: „Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden ließen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu be-wahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration.“6 Doch Monti sah sich nach 34 Vertrauens-abstimmungen im Parlament mit dem Ende seiner Regierung und einem bescheidenen Wahlergebnis von zehn Prozent am 25. Februar 2013 konfrontiert, während der deutsche Bundesrat angesichts neuer Mehrheiten ebenfalls im Februar 2013 das Merkel‘sche Prestigepro-jekt, den Fiskalpakt, abgelehnt hat.7 Während die Verhandlungen darüber zur Zeit im Gange sind, erwartet die Öffentlichkeit für den Herbst 2013 mit Spannung das endgültige Urteil des Deutschen Bun-

6 Der Spiegel 05.08.2012. 7 Zur Debatte über die Krisenpakete in den nationalen Parlamenten

Deutschlands, Österreichs und Italiens vgl. Sonja Puntscher Riekmann/Doris Wydra, Representation in the European State of Emergency: Parli-aments against Governments?, in: Journal of European Integration (2013) (i. E.)

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desverfassungsgerichts über den ESM, den er allerdings im einstwei-ligen Verfahren vom September 2012 befürwortet und auch die deut-sche Beteiligung am Euro-Rettungsschirm ESM sowie am Fiskalpakt unter Vorbehalten im Juni 2013 genehmigt hat. In allen Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit europäischer Verträge seit Maastricht hat Karlsruhe stets die Rolle des Deutschen Bundestages gestärkt.8 Zu-gleich hat Karlsruhe die umfassende Repräsentationsfunktion des Europäischen Parlaments abgelehnt, und dies mit Argumenten, die jede Möglichkeit einer vollen Demokratie jenseits des Nationalstaa-tes infrage stellen, worauf ich noch zurückkomme.9

Nationale Parlamente und ihre europäische Herausforderung

Demokratische Politik steht und fällt mit funktionierenden Parla-menten auf allen Ebenen. Ein Parlament ist das wichtigste Organ der Repräsentation der Bürginnen/Bürger, die zentrale Arena der Ausei-nandersetzung über die politische Ordnung und das „gute Leben“ einer politischen Gemeinschaft; es ist vor allem der Ort der Recht-fertigung von Entscheidungen: Demokratie beruht auf dem Recht auf Rechtfertigung, wie Rainer Forst das moralische Minimum von Demokratie definiert hat.10 Dies ist auch die nobelste Aufgabe des Europäischen Parlaments und daher seine Existenz unhintergehbar. Überall wo Macht durch Exekutiven ausgeübt wird, bedarf es dieser Einrichtung, daher ist auch die österreichische Diskussion um die Abschaffung der Landesparlamente solange antidemokratisch, solan-ge es Landesregierungen gibt.

Das Europäische Parlament (EP) ist aber noch aus einem ande-ren Grund wichtig: Es repräsentiert europäische Bürgerinnen/Bür-ger. Auch wenn die Wahlen nach nationalen (allerdings überall nach

8 Siehe zuletzt 2BvR 1390/12. 9 BvR 182/09. 10 Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstrukti-

vistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2007.

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proportionalen) Wahlrechten und unter nationalen politischen wie sozio-ökonomischen Bedingungen stattfinden, erfolgt die Organisa-tion der politischen Willensbildung im EP in nach Parteienfamilien und nicht nach Nationalitäten konstituierten Fraktionen. Es reprä-sentiert gemeinsam mit der Kommission europäische Interessen. Die Sorge der europäischen Abgeordneten sind europäische Lösungen von europäischen Problemen, während nationale Präferenzen im Rat und Europäischen Rat zur Sprache kommen. Nationale Parlamente in den europäischen Politikprozess einzubinden, kann nur der Legitimation der Positionen nationaler Regierungen und deren Kontrolle dienen. Sie können nur schwer die gesamteuropäischen Interessen im Auge haben, denn die im ersten Protokoll „Über die Rolle der Nationalen Parlamente in der Europäischen Union“ anvisierte Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parla-menten (Art 9 und 10) kann zwar deren Austausch und gegenseitiges Verständnis fördern, aber nicht per se Entscheidungen nationaler Par-lamente auf ihre Wirkung auf Dritte ausrichten. Im zweiten Protokoll zum Vertrag von Lissabon „Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ sind die Rechte der nati-onalen Parlamente im wesentlichen „Abwehrrechte“ gegen national unerwünschte europäische Lösungen. Eine wirksame Ausübung die-ser Rechte hätte die Fähigkeit der nationalen Parlamente zu multina-tionalen interparlamentarischen Allianzen zur Voraussetzung, für die es bisher kaum Evidenzen gibt. Auch die im Fiskalpakt verankerte gemeinsame Konferenz des Europäischen Parlaments und der natio-nalen Parlamente zur Behandlung geldpolitischer Fragen harrt einer Konkretisierung. Zugleich ist die Kontrolle des Europäischen Rates, des ECOFIN-Rates, der Eurogruppe, aber vor allem der Troika aus Kommission, EZB und IWF höchst prekär, wenn nicht unmöglich.

Rolle der Parlamente in der Finanz- und Fiskalkrise

Die europäische Finanz- und Fiskalkrise hat dennoch die nationalen Parlamente aufgerufen, eine neue Verantwortung zu übernehmen,

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die sie verpflichtet, die Externalitäten ihrer Entscheidungen, d. h. deren Wirkungen auf Dritte, zu berücksichtigen. Das haben sie zu-nächst, wenn auch zähneknirschend, getan. Die Abstimmungen über Rettungsschirme und die damit einhergehenden Konditionalitäten fanden Mehrheiten, immer wieder auch mit den Stimmen der Op-position, trotz oft tief gespaltener Parteien und Öffentlichkeiten in Geber- wie in Nehmerländern. Das Dilemma der nationalen Parla-mente liegt in der Aufgabe, die auf europäischer Ebene intergouver-nemental getroffenen Entscheidungen zu legitimieren und zugleich die damit verbundenen Opfer den eigenen Wählerinnen/Wählern gegenüber rechtfertigen zu müssen.

Das Europäische Parlament bleibt in der Krise zunächst weitge-hend auf der Zuschauerbank. War seine Zustimmung zu vier der sechs Gesetzesvorhaben im sogenannten Six-Pack und später zum Two-Pack – sie dienen allesamt einer stärkeren Überwachung und Sanktionierung der nationalen Fiskaldisziplin – noch notwendig, so kommen die einschneidenden Verträge zum ESM und zum Fiskal-pakt ohne es zustande, was die Abgeordneten aller Fraktionen heftig kritisierten. EP-Präsident Martin Schulz wurde im Unterschied zu seinen Vorgängerinnen/Vorgängern zu einem lautstarken Anwalt des Parlaments. Dass der Fiskalpakt Informationsrechte des Euro-päischen Parlaments und eine gemeinsame Versammlung des Euro-päischen Parlaments und der nationalen Parlamente zur Erörterung fiskal- und wirtschaftspolitischer Themen in Aussicht stellt (Artikel 13), empfindet man wohl zu Recht als Feigenblatt und das Verspre-chen, den Fiskalpakt zu gegebener Zeit in EU-Recht zu überführen, als vage.

Das Europäische Parlament ist aber auch in den Verhandlungen zum siebenjährigen Finanzrahmen (2013 bis 2019) in eine Zwick-mühle geraten: zum einen sind die Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat zum erwarteten Bazar über Rabatte und Ausnahmen (40 an der Zahl) und zum anderen über das Sichern von Beständen wie in der Agrarpolitik geraten. Der äußerst geringe Finanzrahmen von knapp einem Prozent des EU-BIPs ist

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trotz Erweiterung auf 28 Staaten und gewachsener Aufgaben und vor allem Erwartungen an die Union zum ersten Mal in der Geschichte der Union kleiner als zuvor, enthält aber darüber hinaus eine vor-hersehbare Kluft von programmierten Ausgaben und tatsächlicher finanzieller Abdeckung von 60 Milliarden Euro. Das EP kalkuliert angesichts bereits in der Vergangenheit akkumulierter und den po-tentiell neu entstehenden Defiziten mögliche Schulden von 300 Mil-liarden Euro. Da es der Union verboten ist, Schulden zu machen, bleibt unklar, wie diese Lücke zu schließen ist. Im März 2013 hat das Europäische Parlament im Sinne der Vertragstreue und „good gover-nance“ den Finanzrahmen abgelehnt und kann dennoch in Zeiten der Austeritätspolitik diese Haltung nur mit größten Schwierigkeiten erklären. Da 2014 die nächsten EP-Wahlen stattfinden, wird man sich wohl mit einigen Kompromissen, vor allem zur Flexibilisierung innerhalb des vorgegebenen Rahmens, zufrieden geben.

Europäisches Parlament – ein „Organ mit Fragezeichen“

Das Europäische Parlament ist trotz aller Machtzuwächse bis heute ein Organ mit Fragezeichen. EP-Wahlen sind weitgehend nationale Wahlen mit immer geringerer Wahlbeteiligung, die seit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 von einer durchschnittlichen Beteiligung von 63 Prozent auf 43 Prozent im Jahr 2009 gesunken ist. Dies gilt mit wenigen Ausnahmen für alle Mitglieder, auch in Österreich ist seit der ersten Wahl 1996 ein Verlust von mehr als 20 Prozentpunkten im Jahr 2009 zu verzeichnen. Die postkommunistischen Demokrati-en liegen allesamt weit unter dem gesamteuropäischen Durchschnitt. Das mit 1. Juli 2013 beigetretene Kroatien konnte im Mai 2013 ganze 20 Prozent der Wahlberechtigten zur Europawahl bewegen. Europa-wahlen sind sogenannte „second-order-elections“ zur Sanktionierung nationaler Regierungen über nationale Themen, die Union figuriert darin meist als Subventionstopf, aus dem wahlkämpfende Partei-en versprechen, ein Maximum für das eigene Land oder die eigene Region heimzuholen. Dies ist umso verblüffender als die europäi-

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schen Bürgerinnen/Bürger diesem und anderen EU-Organen mehr Vertrauen schenken als nationalen Parlamenten und Regierungen, auch wenn die Klage über die Distanziertheit des Europäischen Par-laments und der eigenen Abgeordneten groß ist.11

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Rivalität zwi-schen nationalen Organen und dem Europäischen Parlament, wobei die Position des deutschen Bundesverfassungsgerichts einen pro-minenten Platz einnimmt. Wie schon erwähnt, wird das Gericht in seinem Lissabon-Urteil nicht müde, die Unmöglichkeit eines echten Parlaments auf europäischer Ebene zu betonen. Zum einen sei durch die degressive Proportionalität das „one man, one vote“-Prinzip verletzt, zum anderen aber die Inexistenz eines europäischen Volkes ein unaufhebbarer Mangel. Dies ist ein Diskurs des 19. Jahr-hunderts, in dem ein kulturell homogenes Volk Voraussetzung von Repräsentation im Nationalstaat war. Es ist hier nicht der Ort, auf dieses Konstrukt im Detail einzugehen, doch sei so viel hervorgeho-ben: Kulturelle Homogenität ist in keinem Nationalstaat gegeben, auch die Nation ist eine „imaginierte Gemeinschaft“, die über Jahr-hunderte und durch eine Vielzahl sozio-politischer und kultureller Praktiken hervorgebracht wird. Die gemeinsame Sprache hat die Österreicherinnen/Österreicher nicht davon abgehalten, nach dem Zusammenbruch der Habsburgerreiches an der Nation Österreich zu zweifeln, mit allen Konsequenzen, die im Rahmen dieses Sym-posions besprochen wurden. Noch bemerkenswerter ist, dass Italien und Deutschland trotz einheitlicher Sprache und Kultur späte Nati-onalstaaten im europäischen Verbund sind. Beide Einheiten wurden durch Zwang und Gewalt hergestellt, bevor die Konstruktion einer nationalen Identität beginnen konnte. In Italien – wie im übrigen auch in Spanien, Belgien und dem Vereinigten Königreich – wird die Legitimität der Einheit immer wieder hinterfragt. Der vielzitierte und dem Einheitspolitiker Massimo d’Azeglio zugeschriebene Satz

11 Eurobarometer 78 (2012); siehe dazu auch Matthias Krupa, Völker hören keine Signale, in: Die Zeit, 23.05.2013.

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„abbiamo fatto l’Italia, ora dobbiamo fare gli italiani“ (wir haben Ita-lien gemacht, jetzt müssen wir die Italiener machen) charakterisiert bis heute ein Projekt mit offenem Ausgang.

Konstruktion eines europäischen Demos?

Bliebe also die Frage, ob und wie man ein europäisches Volk konstru-ieren kann. Wenn wir dieses sehr deutsche Wort mit all seinen ethni-zistischen Belastungen durch den Begriff Demos ersetzen, gewinnen wir einen festeren Boden. Der moderne Demos entsteht weder aus einer gemeinsamen Sprache noch aus einer wie immer definierten ge-meinsamen Kultur, sondern zunächst im gemeinsamen Wahlakt von Repräsentationsorganen. Das ist das Minimum, aus dem ein politi-sches System erwächst, das in der Tat unterschiedliche Ausprägungen von Repräsentations- und Rechtfertigungsinstitutionen hervorbrin-gen kann. Seit dem 18. Jahrhundert ist die Montesquieu‘sche Idee der Gewaltenteilung zu einem ebenso zentralen Prinzip erhoben worden wie die allgemeine und geheime Wahl eines Parlaments, aus dem eine Exekutive hervorgeht, die nicht unbedingt der direkten Wahl, wohl aber einer parlamentarischen Mehrheit und Kontrolle bedarf.

Der Demos kann auch aus einem gemeinsamen konstitutionel-len Akt, als pouvoir constituant, entstehen. Dies war die Geburt des amerikanischen und des französischen Demos in den Revolutionen des 18. Jahrhunderts, die jenen „constitutional moment“ erzeugten, der bis in unsere Zeit vor allem in Krisenzeiten immer wieder erneu-ert wurde und die Verfassung festigte, auch wenn er sie erneuerte. In-sofern wäre eine in allen EU-Mitgliedstaaten zeitgleich stattfindende Ratifikation der Verträge ein wichtiges Moment zur Erzeugung eines europäischen Demos, das seinen „constitutional moment“ intellek-tuell und emotional lebt. Vertragsratifikationen sind ein Akt ex post, indem nur ein Ja oder ein Nein möglich ist, und Bejahung oder Ver-neinung haben im Laufe der Ratifikationsprozesse stets sehr unter-schiedliche Gründe gehabt, die oft wenig mit dem vorgelegten Text zu tun hatten. Das zeigen viele Untersuchungen zur Ablehnung des

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Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005. In beiden Staaten stand der Denkzettel für die respektiven Re-gierungen im Vordergrund; in Frankreich diente das Nein der linken Parteien mehr der eigenen Konsolidierung – über die Dämonisierung der Union als neoliberales Projekt – als der Frage von Kompetenzen, die just in diesem Vertrag kaum erweitert wurden. Gerade die Ver-gemeinschaftung der Wirtschaftspolitik war nicht erfolgt, eine fatale Entscheidung für die Finanz- und Fiskalkrise. Ähnliches gilt für das wiederholte Nein in irischen Abstimmungen, die nach der Modifi-kation einzelner Bestimmungen wiederum positiv verliefen. Dabei ist zu erwähnen, dass in allen Staaten mit negativen Volksabstimmun-gen stets die Zustimmung des nationalen Parlaments vorausgegangen war. Die Diskrepanz zwischen parlamentarischer Zustimmung und plebiszitärer Ablehnung bedarf einer eigenen Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Unübersehbar ist darin allerdings das Zer-würfnis von Repäsentantinnen/Repräsentanten und Repräsentierten, das mit einer Eliten-Skepsis gegenüber Volksabstimmungen, ja mit einer veritablen Volksphobie der Regierenden in Europa, quittiert wird.

Das Recht der Bürgerschaft auf Mitwirkung

Doch gerade die irischen Abstimmungen zeigen, wie wichtig eine ex ante-Debatte über Vertragsänderungen wäre. Angesichts der in der Krise notwendig gewordenen nächsten Vertragsänderung durch einen Konvent (ventiliert durch eine Reihe politischer Akteurinnen/Akteure sogar in Deutschland und in der Mitteilung der Kommission „Kon-zept für eine vertiefte, echte Wirtschafts- und Währungsunion“12) schließe ich mit meinem cetero censeo: Ein solcher Konvent sollte in einer allgemeinen europäischen Wahl zustande kommen, in der Kandidatinnen/Kandidaten ihre konstitutionelle Vision der Union darlegen. Artikel 48 EUV legt nur fest, aus welchen nationalen und

12 KOM (2012) 777 final (Brüssel 28.11.2012)

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europäischen Organen die Konventsmitglieder zu entsenden sind, nicht, wie erstere die Auswahl der Delegierten treffen. Die ebenso europaweite Ratifikation wäre der zweite notwendige Schritt. Nichts dient der Konstruktion eines Demos besser als der Respekt vor dem Recht einer Bürgerschaft, einen gestaltenden Beitrag zur Verfassung leisten zu können, mit und unter der sie in der Folge zu leben hat. Dann könnte der Streit um die Neuverteilung der Macht zwischen europäischer, nationaler und subnationaler Ebene, um Delegation von Aufgaben und Kontrolle der delegierten Macht, um Rechte und Pflichten der Bürgerinnen/Bürger beginnen. Damit, und nicht durch weitere heimliche Zentralisierungsschritte zur Gestaltung einer Fis-kalpolitik des Überwachens und Strafens, könnte die Aneignung der Union durch die Bürgerschaft gelingen, deren diffuse Skepsis und nationalistischen Reflexe durchbrochen werden. „Pooling of sove-reignty“ – die Bildung einer Souveränitätsgemeinschaft – heißt nicht nur, dass die Glieder Souveränität auf eine neue Ebene übertragen, sondern auch, dass sie einen neuen Souverän hervorbringen. Der Souverän ist unter demokratischen Bedingungen kein anderer als der Demos. Dieser wird noch lange, vielleicht immer, ein Mixtum aus nationalen Demoi bleiben, die zwischen ihren nationalen Kontexten und dem europäischen Kontext hin- und herpendeln werden. Das ist in allen Föderationen der Fall. Im Unterschied zu diesen ist aber der europäische Kontext als supranationale Klammer noch nicht außer Streit gestellt und jeder Vertiefungsschritt ein Vabanquespiel.

Literatur

Brok, Elmar/Selmayr, Martin, Der „Vertrag der Parlamente“ als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensichtlich unbegründeten Verfas-sungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, in: integration (2008) 3, 217–234.

Eilstrup-Sangiovanni, Mette/Verdier, Daniel, European Integration as a Solution to War, in: European Journal of International Relations (2005) 11, 99–135.

Follesdal, Andreas /Hix, Simon, Why there is a democratic deficit in the

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EU: a response to Majone and Moravcsik, in: Journal of Common Market Studies (2006) 44, 3, 533–562.

Forst, Rainer, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivis-tischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2007.

Harcourt, Alison/Radaelli, Claudio, Limits to EU technocratic regulation? in: European Journal of Political Research (1999) 35, 1, 107–122.

Judt, Tony, Post-War: A History of Europe since 1945, London 2005. Krupa, Matthias, Völker hören keine Signale, in: Die Zeit, 23. Mai 2013. Maurer, Andreas/Wessels, Wolfgang (Hg.), National parliaments on their

ways to Europe: losers or latecomers? Baden-Baden 2001. Puntscher Riekmann, Sonja, Constitutionalism and Representation. Eu-

ropean Parliamentarism in the Treaty of Lisbon, in: Petra Dobner/Martin Loughlin (Hg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010, 120–137.

Puntscher Riekmann, Sonja/Wydra, Doris, Representation in the Euro-pean State of Emergency: Parliaments against Governments?, in: Jour-nal of European Integration (2013) (i. E.)

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