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Staats- und Verfassungskrise 1933 () || Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 Zugleich...

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75 Ewald Wiederin Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 Zugleich Mutmaßungen über die Gründe einer Begriffsrenaissance Der Titel meines Beitrags mag eine Frage provozieren: Eine Rechts- staatskonzeption der Verfassung 1934, 1 gab es so etwas denn über- haupt? Um die Antwort sind wir verlegen, weil wir über den Inhalt dieser Verfassung wenig wissen. 2 Wir hegen jedoch starke Zweifel, dass sie rechtsstaatliche Substanz haben kann, weil wir über ihre Ent- stehung gut informiert sind. 1933: Ausschaltung des Nationalrats und des Verfassungsgerichtshofs Der Rücktritt der drei Präsidenten des Nationalrates am 4. März 1933 bot der Bundesregierung Anlass, fortan ohne das lästige Parlament zu agieren: Sie verhinderte weitere Sitzungen des Nationalrates und 1 Nur von der verfassungsrechtlichen Rechtsstaatskonzeption ist im Fol- genden die Rede, nicht davon, ob Österreich zwischen 1934 und 1938 als Rechtsstaat bezeichnet werden kann. Ein Urteil hierüber dürfte sich nicht mit einer Analyse der Verfassung begnügen, sondern müsste die Ge- setzgebung ebenso einbeziehen wie die Praxis der Gerichte und Verwal- tungsbehörden. Vgl. dazu Ilse Reiter-Zatloukal, Der Bundesgerichtshof 1934–1938. Wendeexperte oder Verteidiger des Rechtsstaates? in: Jabloner u. a. (Hg.), Gedenkschrift für Robert Walter, Wien 2013, 657–678; Klaus Axmann, Der österreichische Bundesgerichtshof, politikw. Diplomarbeit Wien 2012. 2 Ewald Wiederin, Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grund- lage: Eine Strukturanalyse der Verfassung 1934, in: Ilse Reiter-Zatloukal/ Christiane Rothländer/Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien/Köln/Weimar 2012, 31 (31 f.). Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/2/14 4:44 PM
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Ewald Wiederin

Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 Zugleich Mutmaßungen über die Gründe einer Begriffsrenaissance

Der Titel meines Beitrags mag eine Frage provozieren: Eine Rechts-staatskonzeption der Verfassung 1934,1 gab es so etwas denn über-haupt? Um die Antwort sind wir verlegen, weil wir über den Inhalt dieser Verfassung wenig wissen.2 Wir hegen jedoch starke Zweifel, dass sie rechtsstaatliche Substanz haben kann, weil wir über ihre Ent-stehung gut informiert sind.

1933: Ausschaltung des Nationalrats und des Verfassungsgerichtshofs

Der Rücktritt der drei Präsidenten des Nationalrates am 4. März 1933 bot der Bundesregierung Anlass, fortan ohne das lästige Parlament zu agieren: Sie verhinderte weitere Sitzungen des Nationalrates und

1 Nur von der verfassungsrechtlichen Rechtsstaatskonzeption ist im Fol-genden die Rede, nicht davon, ob Österreich zwischen 1934 und 1938 als Rechtsstaat bezeichnet werden kann. Ein Urteil hierüber dürfte sich nicht mit einer Analyse der Verfassung begnügen, sondern müsste die Ge-setzgebung ebenso einbeziehen wie die Praxis der Gerichte und Verwal-tungsbehörden. Vgl. dazu Ilse Reiter-Zatloukal, Der Bundesgerichtshof 1934–1938. Wendeexperte oder Verteidiger des Rechtsstaates? in: Jabloner u. a. (Hg.), Gedenkschrift für Robert Walter, Wien 2013, 657–678; Klaus Axmann, Der österreichische Bundesgerichtshof, politikw. Diplomarbeit Wien 2012.

2 Ewald Wiederin, Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grund-lage: Eine Strukturanalyse der Verfassung 1934, in: Ilse Reiter-Zatloukal/Christiane Rothländer/Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien/Köln/Weimar 2012, 31 (31 f.).

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übernahm dessen Aufgabe, die Gesetzgebung, der Sache nach selbst – durch Erlassung von Verordnungen, die sie auf das Kriegswirt-schaftliche Ermächtigungsgesetz 1917 stützte.

Dass diese Grundlage längst nicht alles deckte, was tatsächlich erlassen wurde, war auch der Regierung klar. Deshalb schaltete sie nach dem Nationalrat auch den Verfassungsgerichtshof aus, bevor er ihre Verordnungen überprüfen konnte. Das geschah auf dermaßen perfide Weise, dass uns noch heute der Atem stockt, wenn wir die Abfolge der Züge analysieren.3 Zunächst trat ein Mitglied des Ge-richtshofes – der Regierung nahe stehend, aber vom Parlament für den Verfassungsgerichtshof vorgeschlagen – von seinem Amt zurück. Darauf reagierte die Regierung mit einer Verordnung, die fünf weite-re Mitglieder in ihrer Funktion inhibierte, ebenso wie die drei Ersatz-mitglieder, die auf Vorschlag des Parlaments ernannt worden waren. Das konnte man der Öffentlichkeit als Entpolitisierungsmaßnahme verkaufen, und es bedeutete, einem verbreiteten Vorurteil zuwider,4 noch keine Lähmung des Gerichtshofs, denn es blieben elf Personen übrig, genug also, um jeden Beschluss zu fassen und jedes Erkenntnis zu fällen. Ansonsten hätte man in der Bundesregierung die nötige Einstimmigkeit wohl gar nicht erzielt. Erst danach kam es zu wei-teren Rücktritten, erst sie drückten das Plenum unter das Quorum. Aber die Lähmung war nicht irreversibel, die Regierung hätte durch Vorschlag neuer Mitglieder den Gerichtshof jederzeit wieder zum Gehen bringen können.

3 Dazu eingehend Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zer-störung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie, Wien 1975; Thomas Zavadil, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichts-hofs 1933. Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 1997.

4 Gustav Kafka, Der gesetzgebende Richterspruch, Graz 1967, 14; Georg Graf, Reine Rechtslehre und schmutzige Verfassungstricks. Rechtstheo-retische Überlegungen zu einigen Verordnungen des Jahres 1933, in: Kurt R. Fischer/Franz M. Wimmer (Hg.), Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930–1950, Wien 1993, 59 (61).

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Ähnlich subtil kalkuliert war die Maßnahme, die die Lähmung bewirkte.5 Die Verordnung richtete sich an den Präsidenten des Ver-fassungsgerichtshofs, dem sie die Ladung bestimmter Mitglieder ver-bot, an eben diese Mitglieder, denen sie die Teilnahme an den Sitzun-gen untersagte, und schließlich an das Plenum des Gerichtshofs, das bei Beurteilung der Quoren den Ausschluss bestimmter Mitglieder zu beachten hatte. Wenn auch nur einer dieser Adressaten sich fügte, war vom Verfassungsgerichtshof nichts mehr zu befürchten. Deshalb hatte die Regierung ihr Spiel im Grunde schon gewonnen, als der Präsident zu den Sitzungen der Junisession nur die auf Vorschlag der Regierung ernannten Mitglieder einlud.6 Das Rumpfplenum konnte die Prüfung der Besetzungsverordnung noch beschließen, das einge-leitete Verfahren aber nicht mehr fortsetzen. Nach dem Nationalrat war also auch der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet, aber nicht mit brachialer Gewalt, sondern durch den Einsatz von Recht – von rechtswidrigem Recht zwar, das sich aber selbst immunisierte, indem es den Gerichtshof an seiner Prüfung hinderte. Unter der Dezember-verfassung 1867 hätte diese Taktik nicht funktioniert, denn unter ihr war jeder Richter zur Verordnungsprüfung befugt; jetzt aber war die Normenprüfung monopolisiert. Merkl hat das klar erkannt, wenn er schreibt:7

„Ein Bombenabwurf auf die Elektrizitätszentrale kann den ganzen Eisenbahnverkehr mit einem Schlag zum Stillstand bringen, was selbstverständlich beim Dampfbetrieb nicht möglich ist. In ähnli-cher Weise hat der Schlag gegen den Verfassungsgerichtshof – als die zentrale Verordnungskontrollstelle – jede behördliche Verord-nungskontrolle lahmgelegt.“

5 Verordnung der Bundesregierung vom 23. Mai 1933, betreffend Abände-rungen des Verfassungsgerichtshofgesetzes 1930, BGBl. 1933/191 (i. d. F.: Besetzungsverordnung).

6 Zavadil, Ausschaltung (FN 3), 104 ff.7 Adolf Merkl, Selbstausschaltung des Verfassungsgerichtshofes, in: Der Ös-

terreichische Volkswirt 25/2 (1933), 949 (950).

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Kurzum: Die Regierung hatte auf die Achillesferse der Verfas-sungsgerichtsbarkeit gezielt und das Rechtssystem im Zentrum ge-troffen. Die Art und Weise, wie das erfolgt ist, beschäftigt uns wie ein Trauma bis heute.8

1927: Das brennende Recht

Konnte die Verfassung 1934 nach dieser Vorgeschichte rechtsstaatlich sein? Ich meine, sie musste es sein, weil die neue Verfassung andern-falls nicht legitim erschienen wäre, nicht einmal im eigenen Lager. Das, was geschehen war, wurde nämlich auch dort nicht goutiert. Die Verfassungsbrüche taten den Christlichsozialen emotional sogar besonders weh, weil es zu ihrem Selbstverständnis gehörte, das eigene Lager als Burg der Rechtsstaatlichkeit zu betrachten.

Das wiederum hat mit einem anderen Ereignis zu tun, das ähnlich schockierend wirkte. Nach dem Freispruch der Schützen von Schat-tendorf, den ein Geschworenengericht in Wien gefällt hatte,9 kam es am 15. Juli 1927 zu Streiks, zu Demonstrationen – und schließlich zum Sturm auf den Justizpalast, der von der Menge in Brand ge-steckt wurde.10 Auch hier war das Recht im Zentrum getroffen: Das

8 Vgl. Ludwig K. Adamovich/Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger/Stefan L. Frank, Österreichisches Staatsrecht Bd. 1: Grundlagen, 2. Aufl. Wien/New York 2011, Rz. 08.002: „Die damals angewendete Technik ei-nes Staatsstreiches mit legalem Anstrich hat im österreichischen Verfas-sungsverständnis ein tiefes Trauma hinterlassen.“

9 Darstellung des Verfahrens bei Viktor Liebscher, Die österreichische Ge-schworenengerichtsbarkeit und die Juliereignisse 1927, in: Die Ereignisse des 15. Juli 1927. Protokoll des Symposiums in Wien am 15. Juni 1977, Wien 1979, 60 (75 ff.).

10 Zum Ablauf der Ereignisse vgl. Gerhard Botz, Ungerechtigkeit, die De-monstranten, der Zufall und die Polizei: der 15. Juli 1927, in: Bundesmi-nisterium für Justiz u. a. (Hg.), 80 Jahre Justizpalastbrand. Recht und gesellschaftliche Konflikte, Innsbruck/Wien/Bozen 2008, 21 (30 ff.); zu den Motiven Gerhard Botz, Die „Juli-Demonstranten“, ihre Motive und die quantifizierbaren Ursachen des „15. Juli 1927“, in: Die Ereignisse des 15. Juli 1927 (FN 9), 17 (29 ff.).

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oberste Gericht der Republik war obdachlos geworden,11 und, noch symbolkräftiger, Teile des Grundbuchs, Teile des Eisenbahnbuchs und unzählige Prozessakten brannten.12 Nicht nur das Gebäude hat-te Feuer gefangen, die Rechtsordnung selbst stand in Flammen.13 Dieser Angriff machte eine tiefe Spaltung der Gesellschaft sichtbar. Am Tag danach war nicht nur die Stadt verändert, „auch die junge und noch ungefestigte Demokratie war nicht mehr dieselbe“.14 Von konservativer Seite, auf der auch die verstörte Richterschaft15 über-wiegend stand, wurde für den Angriff bald versteckter, bald offener16 die Sozialdemokratie verantwortlich gemacht. Ein Wandel in der Bewertung des Parlamentarismus war die Folge: Um den Rechtsstaat zu bewahren, glaubte man die Demokratie eindämmen oder gar be-seitigen zu müssen.

1934: Kontinuitäten

Die neue Verfassung des Jahres 1934 hat den Rechtsstaat auf unspek-takuläre Weise verankert, indem sie das Traditionsgut übernahm und

11 Gustav Ratzenhofer, Die Juli-Ereignisse und ihre Lehren, in: Gerichts-Zeitung 1927, 225 (225).

12 Ernst Bum, Der schwarze Freitag, in: Juristische Blätter 1927, 225 (226): „[M]an ist fast versucht, an die Zerstörung der berühmten Bibliothek von Alexandrien zu denken!“

13 Eingehend Christoph Konrath, Das brennende Recht, in: Thomas Köh-ler/Christian Mertens (Hg.), Justizpalast in Flammen. Ein brennender Dornbusch, Wien/München 2006, 13 (13 ff.).

14 Heinz Fischer, Enthüllung der Gedenktafel zur Erinnerung an den Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927, in: 80 Jahre Justizpalastbrand (FN 10), 11 (11).

15 Vgl. Franz Klaus, Die Zerstörung des Justizpalastes am 15. Juli 1927, in: Österreichische Richterzeitung 1927, 91 (93): „Es wäre nur zu wünschen, daß sich der Zorn des Volkes mit der gleichen Zügellosigkeit auch einmal gegen sie richte.“

16 Das wahre Gesicht der Wiener Schreckenstage: Wo sind die Schuldigen? Eine Darstellung der Wiener Juli-Revolte auf Grund der amtlichen Be-richte, Wien 1927, 35 ff.

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einige neue Akzente setzte. Anders als bei der Demokratie, die der Sache wie dem Namen nach eliminiert wurde, und beim Bundes-staat, der nominell aufgewertet und substanziell ausgehöhlt wurde,17 blieben die großen Brüche aus. Wir können eine homogene Ent-wicklung beobachten, die sich nach 1945 fortsetzt.

Zunächst fällt auf, dass – für eine autoritäre Verfassung unge-wöhnlich18 – am Legalitätsprinzip festgehalten wird: Nach Art.  9 Abs. 1 darf die Verwaltung weiterhin nur aufgrund der Gesetze tätig werden. Die demokratische Funktion des Gesetzesvorbehalts blieb dabei allerdings auf der Strecke: Der Gesetzesvorbehalt diente nicht mehr dazu, dem Parlament die wesentlichen Entscheidungen zu si-chern; seine Funktion erschöpfte sich darin, dass das staatliche Han-deln für die Bürgerin vorhersehbar bleibt.

Über die Einhaltung der rechtlichen Bindungen zu wachen, bilde-te weiterhin die Aufgabe der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts. Organisatorisch brachte die neue Verfassung eine wesentliche Ver-änderung, der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichts-hof waren im Bundesgerichtshof zusammengelegt.19 Sämtliche ihrer bisherigen Funktionen blieben jedoch erhalten, von der Bescheid-kontrolle bis hin zur Gesetzesprüfung,20 die Änderungen hielten sich in Grenzen. Bei der Wahlgerichtsbarkeit bedeutete es einen Rück-

17 „Bundesstaat Österreich“ löste als Bezeichnung die „Republik Öster-reich“ ab: vgl. Art. 98 Abs. 2 und § 4 Verfassungsübergangsgesetz, BGBl. II 1934/75.

18 Zum Kontrast vgl. § 1 der Zweiten Verordnung zum Gesetz über die Wie-dervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 18. März 1938, RGBl. 1938 I 262: „Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren kann die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung notwendigen Maßnahmen auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen treffen.“

19 Vgl. das 12., mit „Der Bundesgerichtshof“ überschriebene Hauptstück.20 Vgl. Art. 164 (Bescheidbeschwerde), 165 (Kausalgerichtsbarkeit), 168 (Zu-

ständigkeitsstreite), 169 (Verordnungsprüfung), 170 (Gesetzesprüfung), 171 (Kompetenzfeststellung), 172 (Wahlgerichtsbarkeit), 173 und 174 (Staatsge-richtsbarkeit), 175 (Völkerrechtsgerichtsbarkeit).

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schritt, dass ihre Ausgestaltung zur Disposition der Gesetzgebung gestellt war.21 Diese Einbuße wurde jedoch durch Kompetenzer-weiterungen an anderer Stelle kompensiert: Zum einen erhielt der Bundesgerichtshof die Befugnis zugewiesen, über die Auslegung von Verwaltungsvorschriften von grundlegender Bedeutung auf Antrag der exekutiven Spitze ein Gutachten zu erstatten, das die Verwal-tung band.22 Zum anderen konnte man sich vor ihm auch gegen die pflichtwidrige Untätigkeit der Verwaltung beschweren.23 Diese Vor-kehrung gegen Rechtsverweigerung, von den Zeitgenossen einhellig begrüßt,24 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg alsbald in modifizier-ter Form ins B-VG übernommen.25

In den Bestimmungen über die Notrechte der Verwaltung ist die Verfassung 1934 sogar um Vergangenheitsbewältigung bemüht: Die Verfassungsbrüche des Jahres 1933 waren implizit dadurch zugestan-den, dass die Normenkontrollkompetenzen des Bundesgerichtshofes notverordnungsfest konzipiert wurden.26 Dass diese Kautel im Ernst-

21 Vgl. Art. 172: „nach Maßgabe der Gesetze“. 22 Vgl. Art. 166.23 Art. 164 Abs. 3. 24 „Eine weittragende Verbesserung des Rechtsschutzes“ sieht Alois Körner,

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der neuen Verfassung, in: Österreichi-sches Verwaltungsblatt 1934, 108 (110), der zuvor eine effektive Rechts-schutzmöglichkeit eingemahnt hatte: vgl. denselben, Entscheidungs-pflicht, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1932, 252 (256  f.). Nach Felix Lanzer, Die Anrufung des Bundesgerichtshofes bei Untätigkeit der Behörde, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1936, 83 (92), bedeutet die neue Beschwerde „sicherlich einen sehr erfreulichen Ausbau des Gebäudes des Rechtsstaates.“

25 Vgl. die Neufassung des Art. 132 B-VG durch die Verfassungs- und Ver-waltungsgerichtsbarkeits-Novelle 1946, BGBl. 1946/211.

26 Art.  148 Abs. 2 Satz 2: „Weiters dürfen diese Verordnungen weder die Staatsform betreffen noch Bestimmungen enthalten, die den Bestand des Bundesgerichtshofes und dessen Zuständigkeit zur Prüfung von Gesetzen und Verordnungen berühren oder ihn in dieser Prüfung behindern, noch Verfügungen treffen, die die Abänderung gerichtlicher Erkenntnisse zum Gegenstande haben.“

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fall vielleicht nicht hätte halten können, was sie zu sichern versprach, steht auf einem anderen Blatt.27

Die nächste Überraschung besteht darin, dass die Verfassung ei-nen umfassenden Grundrechtskatalog enthält. Er bewahrt die Rech-te, die schon das B-VG 1920 gewährleistet hatte, und fügt einige neue dazu, wie etwa den Schutz vor Auslieferung ins Ausland, den Schutz vor rückwirkender Bestrafung sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis.28 Symbolisch ist dieser Katalog dadurch aufgewertet, dass er, den zeitgenössischen Gepflogenheiten zuwider,29 nicht an das Ende der Verfassung gestellt ist, sondern nach vorne gerückt ist, wo er auf die grundsätzlichen Bestimmungen folgt. Diese Umreihung war mit Bedacht erfolgt, sollte sie doch sinnfällig ma-chen, dass die Grundrechte dem Staat vorausliegen und darum bei jeglichem staatlichen Handeln zu beachten sind.30

27 Kafka, Richterspruch (FN 4) 18 f; Zavadil, Ausschaltung (FN 3), 245 ff. Absolute Nichtigkeit eines Verstoßes gegen diese Klausel erwägt hinge-gen Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß, Wien 1935, 110.

28 Art. 20, 21 und 23.29 Vgl. die Weimarer Reichsverfassung 1919, die Schweizerische Bundes-

verfassung 1874 sowie sämtliche Entwürfe zum B-VG, die einen Grund-rechtskatalog enthielten.

30 Dazu Adolf Merkl, Die individuelle Freiheit im autoritären und ständi-schen Staat, in: Juristische Blätter 1936, 265 (271): „Der Universalismus der katholischen Kirche begegnet sich immer wieder mit dem profanen po-litischen Individualismus in einem antitotalitären politischen Programm, das das Sonderleben des Individuums und der Gesellschaft gegen einen den ganzen Menschen und alle Menschen usurpierenden Staat verteidigen und sicherstellen will. Der Kern jener Verfassungseinrichtungen, die der individuellen Freiheit dienen, ist im 2. Hauptstück der Verf. 1934 ent-halten. An dieser Regelung fällt vor allem auf, daß die Verfassung der Regelung der Staatsorganisation das Recht der individuellen Freiheit vo-ranstellt, daß also das Verfassungssystem eine Reihung der Probleme vor-nimmt, wie sie der Bewertung des Rechtsinhaltes von Seite eines radikalen Individualismus entspricht.“

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1934: Rückschritte

Man muss jedoch nicht um die Praxis wissen, es genügt, den Text zu lesen, um zu sehen, dass es inhaltlich enorme Rückschritte gibt.

Es beginnt beim Gleichheitssatz: Religion und Geschlecht sind keine verpönten Differenzierungsmerkmale mehr,31 im Gegenteil, dass für Frauen andere Rechte und Pflichten vorgesehen werden dürfen als für Männer, wird offen gesagt.32 Ebenfalls explizit wird zum Ausdruck gebracht, dass ungleiche gesetzliche Behandlungen insoweit zulässig sind, „als es sachliche Gründe rechtfertigen“.33 Das Sachlichkeitsgebot, das heute die Judikatur zum Gleichheitssatz do-miniert, hat hier seine Wurzel.

Es setzt sich bei der Religionsfreiheit fort, bei der die katholische Kirche nunmehr offen privilegiert wird,34 und beim öffentlichen Dienst, zu dem nur die Vaterlandstreuen Zugang haben und der als neutrale Sphäre konzipiert ist, in dem politische Betätigung tabu-isiert ist.35 Und es zeigt sich bei allen Grundrechten, die auch nur entfernt politischen Charakter haben: Wahlrecht gibt es keines mehr, und die Möglichkeiten, auf öffentliche Entscheidungen indirekten Einfluss zu nehmen, sind durch die Bank beschnitten. Vereins- und Versammlungsfreiheit können wieder beschränkt werden,36 Vorzen-sur ist wieder möglich und das Konzessionserfordernis für die Presse wieder erlaubt. 37 Auch sonst bleibt vom Artikel über die Meinungs-freiheit nur die umfassende Liste weiterer Gründe im Gedächtnis,

31 Art. 16. Abs. 1 Satz 2.32 Art. 16 Abs. 2.33 Art. 16 Abs. 1 Satz 1. Merkl, Verfassung (FN 27), 38, sieht darin eine Ab-

kehr vom strikten Gleichheitssatz des Art. 7 B-VG 1920.34 Art. 30 mit Abs. 3 und 4.35 Art.  16 Abs.  3, 4 und 5. Positive Bewertung bei Gustav Canaval, Der

Schutz der persönlichen Freiheitsrechte in der neuen österreichischen Verfassung, in: Der christliche Ständestaat Juni 1934, 9 (10).

36 Art.24. 37 Art. 26 Abs. 2 lit. a.

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die Beschränkungen tragen.38 Bei verfassungsimmanenter Betrach-tung sind diese Verschiebungen aber nachvollziehbar, um nicht zu sagen folgerichtig. Zum einen ist nicht verwunderlich, wenn eine Verfassung, die für Demokratie keinen Raum mehr lässt, sich auch von den Grundrechten mit demokratischem Gehalt verabschiedet. Zum anderen haben die Zeitgenossen mit Nachdruck betont, dass es falsch wäre, die Grundrechte der neuen Verfassung als liberale Rechte zu verstehen.39 Selbst dort, wo die Textierung gleich geblieben ist, hat sich Wesentliches geändert, weil Geltungsgrund und Zweckaus-richtung der Grundrechte sich gewandelt haben. Nicht mehr Selbst-bestimmung und Autonomie stehen im Zentrum, es geht im Kern nicht mehr um Freiheit, weder um politische Gestaltungsfreiheit noch um individuelle Freiheit. 40 Die Grundrechte werden gewähr-leistet, weil Gott sie in die Natur des Menschen gelegt hat,41 weil sie

38 Art. 26 Abs. 2 lit. b (Bekämpfung der Unsittlichkeit und grober Verstöße gegen den öffentlichen Anstand), lit.  c (Jugendschutz), lit. d (sonstige Interessen des Volkes und des Staates).

39 Vgl. Erich Hula, Die autoritären Elemente in der neuen österreichischen Verfassung, in: Mitteilungen des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers 1934, 123 (123): „Die Freiheit konstitutiert nichts.“

40 Vgl. Hans Nawiaksy, Österreichische Verfassungsprobleme, in: Schweize-rische Rundschau 1934, 710 (711): „Endlich entspricht die Anerkennung gewisser Grundrechte der Staatsbürger dem katholischen Naturrecht, das sich in dieser Beziehung, was nicht immer genügend beachtet wird, im Effekt mit der liberalen Staatstheorie trifft und mit dieser der Leugnung jedes Eigenrechts der Einzelperson durch den totalitären Staat entgegen-tritt.“ Ebenso Merkl, Freiheit (FN 30), 267  ff., 273: „Die Verfassungs-geschichte rechtfertigt unseren Freiheitsschutz als bescheidenes Erbe des mittelalterlich christlich-deutschen Staates.“

41 Vgl. Otto Ender, Die neue Österreichische Verfassung mit dem Text des Konkordates, 3. Aufl. Wien/Leipzig 1934, 3; Hula, Elemente (FN 39), 125: „Der autoritäre Staat erkennt wie der liberale Staat individuelle, vorstaat-liche Grundrechte an und begreift – was dem liberalen Staat nicht ganz so leicht gefallen ist – auch die Selbstverwaltung der Berufsstände als ein vorstaatliches Naturrecht“.

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Ausfluss der Menschenwürde sind;42 und diese Würde speist sich dar-aus, dass Gott den Menschen geschaffen hat nach seinem Ebenbild.43 Durch die Grundrechte geschützt ist deshalb nicht, was der Mensch will nach seinem eigenen Plan; gewährleistet ist das, was er ist, was ihn ausmacht nach dem Plan Gottes.44 Und dieser Schöpferplan sieht verschiedene Sphären vor, die nach dem Subsidiaritätsprinzip wohl-geordnet sind: Sphären wie Religion, Ehe und Familie, in die der Staat sich nicht einmischen darf, ebenso wie Sphären des Staates, die ständisch geordnet sind, die autoritär geführt werden – von Männern natürlich – und zu denen die Bürger keinen Zugang haben.45

1934: Neuorientierungen

Die Frage, ob es sich bei der Verfassung 1934 um eine rechtsstaatliche Verfassung handelte, hat naturgemäß schon die Zeitgenossen be-schäftigt. Allesamt haben sie diese Frage bejaht. In der „sorgfältige[n] Aufrechterhaltung des Rechtsstaatsgedankens“ erblickte Nawiasky eine „Lichtseite der neuen Verfassung, die nicht übersehen werden

42 Kurt Schuschnigg, Die Verfassung des Bundesstaates Österreich, Leipzig u. a. 1934, 32 f.

43 Enzyklika „Rerum Novarum“ Seiner Heiligkeit Papst Leo XIII. (1891), Z 32.

44 Enzyklika „Quadragesimo Anno“ Seiner Heiligkeit Papst Pius XI. (1931), Z 118.

45 Vgl. Otto Ender, Staatsautorität und ständische Selbstverwaltung, in: Der christliche Ständestaat November 1934, 3 (5): „Auf dem Gebiete der staat-lichen Verwaltung gibt es kein Hineinreden außenstehender Kreise. Die Staatsverwaltung wird autoritativ geführt, wie es in einem starken Staate sein muß. Die Selbstverwaltung bei den wirtschaftlichen Berufsständen wird autonom geführt und der Staat beschränkt sich hier auf die notwen-dige Oberaufsicht. Hier ist das Gebiet, wo die Freiheit des Bürgers sich in erster Linie entfalten kann.“ Resümierend Hula, Elemente (FN 39), 143: „In der Tat, es wäre höchst seltsam, wenn ein katholischer Verfas-sungsgesetzgeber eine reine Demokratie hätte schaffen wollen. Denn das katholische Verfassungsideal ist seit jeher eine gemischte Verfassung.“

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darf“;46 Körner erklärte „die Besorgnis, es könnte […] zu einem Ab-bau von wertvollem Erbgut gekommen sein, […]“ als unbegründet;47 Schlesinger hielt fest, „[d]ie Bestimmungen über den Bundesgerichts-hof, die Gerichtsbarkeit und die ‚allgemeinen Rechte der Staatsbür-ger‘ gewährleist[et]en nach wie vor den rechtsstaatlichen Charakter Oesterreichs“; 48 und selbst Fleischer schloss seine mitunter sehr kri-tischen Ausführungen mit dem Ausruf: „Die Idee des Rechtsstaates ist nicht tot: es lebe der Rechtsstaat!“49

So wenig diese einhellige Antwort angesichts der Kontinuität, in der die Verfassung 1934 steht, zu überraschen vermag, so leicht ist zu übersehen, dass das eigentlich Bemerkenswerte in der Neuheit der Fragestellung lag. Die österreichische Verfassungsrechtslehre hatte sich bis dato weder über den Rechtsstaat viele Gedanken ge-macht, noch hatte sie den rechtsstaatlichen Charakter der seit 1848 erlassenen Verfassungen erörtert. In der Monarchie waren intensive Beschäftigungen mit dem Reichsgericht, mit dem Verwaltungsge-richtshof und mit dem Verfahren der Administrativbehörden an der Tagesordnung, aber keine Einlassungen zum rechtsstaatlichen Gehalt der Dezemberverfassung. „Rechtsstaat“ kommt in den Stichwortver-zeichnissen der Verfassungsrechtslehrbücher nicht vor und wird als Begriff in rechtswissenschaftlichem Kontext regelmäßig vermieden. In der jungen Republik verschob sich das Interesse auf die neu ein-gerichtete Verfassungsgerichtsbarkeit und die 1925 verabschiedeten Verwaltungsverfahrensgesetze. Beiläufige Bezugnahmen auf den Rechtsstaat gibt es mitunter,50 auch bei Autoren, die Staat und Recht

46 Nawiasky, Verfassungsprobleme (FN 40), 718.47 Körner, Verwaltungsgerichtsbarkeit (FN 24), 108.48 Johann Schlesinger, Der rechtliche Gehalt der Verfassung 1934, in: Ge-

richtshalle 1934, 89, 116, 137, 153 (157).49 G. F. [Georg Fleischer], Verfassung 1934, in: Wiener Politische Blätter 2

(1934), 48 (107).50 Etwa bei Rudolf Herrmann Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrech-

tes, Tübingen 1921, 48, wenn er eine „rechtsstaatliche Epoche“ der polizei-staatlichen gegenüber stellt.

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Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 87

miteinander zur Deckung bringen.51 Ebenso wenig wie zuvor wurde jedoch ein Begriff des Rechtsstaats zu entwickeln, geschweige denn die Bundesverfassung oder auch nur die Gesetze daran zu messen versucht. Von einem „rechtsstaatlichen Prinzip“ des B-VG 1920 ist, sofern ich keine frühere Stelle übersehen habe, erstmals zu einem Zeitpunkt die Rede, als der Untergang dieser Verfassung längst be-schlossene Sache war.52 Was verhilft dem Begriff des Rechtsstaats wie-der zu Konjunktur? Nur der Verdacht, dass Rechtsstaatlichkeit unter der neuen Verfassung wieder prekär geworden sein könnte, oder gibt es andere Erklärungen?

Mit anderen Zentralbegriffen des Verfassungs- und Verwaltungs-rechts, die gegenstandsprägenden Begriffe „Verfassung“ und „Ver-waltung“ miteingeschlossen, hat das Wort „Rechtsstaat“ gemeinsam, dass es im 18. Jahrhundert noch nicht geläufig ist. Es taucht erstmals um 1800 auf, wird um 1830 von Robert von Mohl aufgegriffen und entwickelt sich nach 1848 zu einem Leitbild, wenn nicht zu einem politischen Kampfbegriff.53

51 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, 91.52 Adolf Merkl, Ursprung und Schicksal der Leitgedanken der Bundesver-

fassung, in: Juristische Blätter 1934, 157 (159): „Was jene Rechtsgedanken betrifft, die von der Verfassung der Republik nicht neu geprägt, sondern aus der Verfassung der Monarchie übernommen worden waren, so sind sie schlechterdings alle mit dem ständischen Gedanken vereinbar und liegen gerade für eine Staatspolitik nahe, die an die politischen Traditio-nen der österreichischen Monarchie anknüpfen will. Es handelt sich um das rechtsstaatliche Prinzip mit allen seinen rechtsinstitutionellen Folge-rungen. Namentlich: Herrschaft der Gesetze in dem Sinne, daß alle Ver-waltungshandlungen wie Justizakte einer allgemeinen, schon im voraus aufgestellten Maxime (und nicht, wie im Polizeistaat, einer Eingebung des Augenblicks) folgen; Trennung der Verwaltung von der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit von der Verwaltung in der Rechtsform der rich-terlichen Unabhängigkeit; Verfassungsgerichtsbarkeit, Verwaltungsge-richtsbarkeit und unabhängige Rechnungskontrolle.“

53 Zur Begriffsentwicklung vgl. Richard Thoma, Rechtsstaatsidee und Ver-waltungsrechtswissenschaft, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Ge-genwart 1910, 196 (197–199).

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Nochmals wesentlich jünger ist seine heutige demokratisch-frei-heitliche Bedeutung. Diese geht auf Hermann Heller zurück, der sie 1930 durch die Prägung des Schlagworts „demokratischer Rechts-staat“ andeutete, wenn auch nicht entwickelte.54 Zu diesem Zeit-punkt stand die Demokratie bereits massiv unter Druck. Ähnlich ist es um die 1931 erschienene Abhandlung von Kurt Strele zu „Rechts-staat und Demokratie im neuen Österreich“ bestellt: Die Schrift zeigt auf, dass das B-VG 1920 auch nach der Reform von 1929 eine demokratische Verfassung geblieben ist, und sie ist um den Nachweis bemüht, dass Demokratie mit Rechtsstaatlichkeit kompatibel ist.55 Das eine wie das andere erscheint mir vielsagend.

So trivial uns heute erscheint, dass Rechtsstaat und Demokratie zusammengehören, so wenig selbstverständlich erschien dies den Zeitgenossen. Die Protagonisten des Rechtsstaats, die den Begriff im 19. Jahrhundert geprägt und popularisiert haben, verbanden mit ihm dermaßen unterschiedliche politische Programme, dass sich ihre Forderungen schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Einig waren sie sich jedoch in der Ablehnung hier der absoluten Mo-narchie, dort der Demokratie. Während Robert von Mohl vor der Revolution 1848 den Rechtsstaat noch einigermaßen offen konzipiert hatte,56 stellten ihn seine Nachfolger in den Dienst bald der Monar-chie, bald der Justizstaatlichkeit, bald der Selbstverwaltung.

54 Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? Tübingen 1930, 15, wiederab-gedruckt in: Christoph Müller u. a. (Hg.), Hermann Heller. Gesammelte Schriften. 2. Bd.: Recht, Staat, Macht, 2. Aufl. Tübingen 1992, 443 (454).

55 Kurt Strele, Rechtsstaat und Demokratie im neuen Österreich. Eine staatsrechtliche Studie über Entwicklungsprinzipien der österreichischen Bundesverfassung, Innsbruck 1931, insb. 119–126. Selbst Strele qualifiziert jedoch die Reform 1929 als Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, weil sie die Herrschaft des Parlaments durch Einführung eines zweiten Machtzent-rums in Form des Bundespräsidenten gebrochen hat (122 f., 126), und stimmt in die zeitgenössische Parlamentarismuskritik mit ein, die in den politischen Parteien die Wurzel allen Übels sieht (123–125).

56 Robert von Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 3 Bd, 1. Aufl. Freiburg i.Br. 1832–34, 3. Aufl. 1865–66.

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Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 89

Bei Stahl, auf den die bekannteste Definition zurückgeht,57 ist Rechtsstaatlichkeit eine Legitimationsreserve, die er der Monarchie zu erschließen versucht. Die Staatsgewalt liegt unteilbar beim Sou-verän, mit der Ausübung sind jedoch verschiedene Subjekte betraut, und über dem Staat steht „als eine höhere Macht die sittliche und natürliche, tiefer aufgefaßt die göttliche Ordnung der Dinge“, der-zufolge „sowohl der Mensch in seiner Persönlichkeit (angeborenem Rechte) und in seinen erworbenen Rechten, als die anderen Ge-meinschaften und vor Allem die Kirche berechtigte Subjekte [sind], in deren Sphäre der Staat ohne Unrecht nicht eingreifen kann. Der Staat ist darum, wenn auch die souveräne, so doch nicht die absolute Macht auf Erden.“58 Denn auch er bleibt an die „Gesetze (Rechts-grundsätze) als das Ethos des Staates“59 gebunden. Das bedeutet aber weder, dass die Administration nicht auch außerhalb gesetzlicher Er-mächtigungen schalten und walten durfte, noch, dass dem Bürger gegen sie der Zugang zu Gericht offen stand.60

In diesem Punkt wurde Stahl von Otto Bähr scharf bekämpft: Auch die Verwaltung müsse sich dem Urteil des (ordentlichen) Richters unterwerfen.61 So für Mäßigung der Staatsmacht plädie-rend, wollte Bähr jedoch vom monarchischen Prinzip ebenfalls nicht lassen.62 Gneist wiederum trat für eine Verbindung zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Selbstverwaltung ein, durch deren Einführung der Staat wieder zur res publica werden könne.63 Diese

57 Friedrich Julius Stahl, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christli-cher Weltanschauung, 2. Abtheilung, 3. Aufl. Heidelberg 1856, 137 f.

58 Stahl, Rechts- und Staatslehre (FN 57) 155.59 Stahl, Rechts- und Staatslehre (FN 57) 192.60 Stahl, Rechts- und Staatslehre (FN 57) 256 ff. Eingehend Katharina So-

bota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, Tübingen 1997, 334 ff., mwN.

61 Otto Bähr, Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze, Kassel/Göttingen 1864, 57 ff.

62 Sobota, Rechtsstaat (FN 60) 346 ff. mwN.63 Rudolf Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutsch-

land, 2. Aufl. Berlin 1879.

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Frontstellung gegen das Berufsbeamtentum bedeutete jedoch kein Plädoyer für Demokratisierung, und mit der Forderung nach Ver-waltungsgerichtsbarkeit war nur die verwaltungsinterne Austragung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten gemeint.64

Einer Zeit, die sich von der Demokratie abwandte, erschienen diese Konzepte einer Nomokratie wieder attraktiv. Zum einen waren sie mit der wieder autoritär konzipierten Staatsgewalt ohne weite-res kompatibel, zum anderen boten sie die Chance, diese autoritäre Gewalt als rechtlich verfasste und begrenzte Macht zu präsentieren. Wohl deshalb ist von Rechtsstaatlichkeit in Österreich zwischen 1934 und 1938 öfter die Rede als in den fünfzehn Jahren davor,65 und wohl deshalb haben selbst nationalsozialistische Autoren versucht, den NS-Staat als völkischen Rechtsstaat zu charakterisieren und zu propagieren.66 So skurril uns heute die Debatte um die Rechts-staatlichkeit eines Regimes erscheint, das uns als Schulbeispiel ei-nes Unrechtsstaats gilt, eines ist nicht zu übersehen: Die Beiträge zu nationalsozialistischer Rechtsstaatlichkeit gehen in die Dutzende,67

64 Gneist, Rechtsstaat (FN 63) 253, 352  f. Eingehend Sobota, Rechtsstaat (FN 60) 363 ff., 369 ff. mwN.

65 Vgl. etwa Adolf Merkl, Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1937, 174–182. An dieser Abhandlung ist vielsagend, dass sie nach begrifflichen Klarstellungen den Rechtsstaat der Antike (2), der klassischen deutschen Philosophie (3), der konstitutio-nellen (4) sowie der autoritären und totalitären Staatsdoktrin (5) erörtert, einen demokratischen Rechtsstaat hingegen nicht kennt.

66 Übersicht bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd. 3, München 1999, 330 ff.

67 Unter den wichtigeren vgl. etwa Otto Koellreutter, Der nationale Rechtsstaat, in: Deutsche Juristenzeitung 1933, Sp. 517–524; Bodo Dennewitz, Das neue Deutschland ein Rechtsstaat. Die Rechtsgrundlagen des neuen deutschen Staates, Berlin 1933; G. A. Walz, Autoritärer Staat, nationaler Rechtsstaat oder völkischer Führerstaat? in: Deutsche Juristen-Zeitung 1933, Sp. 1334–1340; Hans Helfritz, Rechtsstaat und nationalsozialistischer Staat, in: Deutsche Juristen-Zeitung 1934, Sp. 426–433; Carl Schmitt, Was bedeutet der Streit um den Rechtsstaat? in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1935, 189–201; Werner Best, Rechtsstaat? in: Deutsches Recht 1938, 413–416.

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Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 91

während zum Abzählen der Schriften zum demokratischen Rechts-staat die Finger einer Hand genügen.68

Die Diskussionen um die Rechtsstaatlichkeit sind insofern sym-ptomatisch, als sie von einem Wandel des Verfassungsverständnisses im „Ständestaat“ zeugen. Der juristische Diskurs wurde prinzipien-orientierter und abstrakter. Verwaltungsrechtliche Abhandlungen eröffneten mitunter damit, die rechtsphilosophischen Voraussetzun-gen des Themas vorzutragen.69 Die Verfassungsrechtslehre begann, die Baugesetze der neuen Verfassung zu analysieren,70 ihre Prinzipien herauszuarbeiten,71 ihre Leitideen nachzuzeichnen72 und sie mit den Prinzipien der alten Verfassung zu vergleichen.73 Das kontrastiert mit dem nüchternen Ton, in dem das B-VG analysiert worden war, und es ist auch deshalb bemerkenswert, weil es dafür im neuen Text der neuen Verfassung, die auf ein Sonderverfahren für Gesamtänderungen der Verfassung verzichtete,74 keine normative Anknüpfung mehr gab.

68 Neben Hermann Heller und Kurt Strele ist noch Richard Thoma zu nen-nen, der in seiner Antrittsvorlesung 1909 das Thema wieder aufgegriffen hatte: vgl. denselben, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1910, 196. – Die Verbindung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wurde erst nach 1945 vollzogen: vgl. Peter Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht. Lehr- und Handbuch, Wien 2004, 555 f., mit Beto-nung der rule of law.

69 Rudolf Donath, Grundfragen des Tierschutzrechtes, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1937, 189 (189 ff.), der dieses Vorgehen mit folgender Be-merkung rechtfertigt (203): „Recht ist zuerst Weltanschauung und dann erst Satzung. Aber – spiritus fluat ubi vult – beherrschen läßt sich nur diese und nicht jene.“

70 Ludwig Adamovich, Die Baugesetze der österreichischen Verfassung: Das föderalistische Prinzip (Vortragsbericht), in: Juristische Blätter 1935, 55.

71 Hans v. Frisch, Die Grundsätze der österreichischen Verfassung von 1934, in: Reichsverwaltungsblatt 1938, 499.

72 Merkl, Verfassung (FN 27), 9 ff.73 Merkl, Leitgedanken (FN 52).74 Der Begriff „Gesamtänderung“ wird in Art. 148 Abs. 2 zwar weiterhin

verwendet. Er bedeutet jedoch nur mehr eine Schranke für Notverord-nungen des Bundespräsidenten, und er hat seinen Inhalt geändert: Aus

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Nach 1945: Nachwirkungen

Nach 1945 wurde diese Leitbilddiskussion unter dem wieder in Kraft gesetzten B-VG 1920 in der Fassung von 1929 nahtlos weitergeführt – was nicht weiter verwundert, hatte sich der Kreis der Diskutanten doch kaum geändert. Deshalb gehen wir heute einhellig davon aus, dass unsere Bundesverfassung ein rechtsstaatliches Prinzip enthält, von dem man vor 1933 noch nichts wusste.75 Wie stark die Konti-nuitäten sind, können wir ersehen, wenn wir in den gängigen Lehr-büchern lesen, dass der Rechtsstaat des B-VG ein Gesetzesstaat, ein Verfassungsstaat und ein Rechtsschutzstaat ist.76 Dieses Leitbild, das die verfassungsgerichtliche Judikatur der Nachkriegszeit geprägt hat wie kein zweites, ist sichtlich dem Art. 163 der Verfassung 1934 ent-nommen, nach dem zur Sicherung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Bundes-gerichtshof berufen ist.

Das führt zu einer letzten Beobachtung, die der äußeren Form und dem Stil der Verfassung 1934 gilt. Sie ist anders als das B-VG kein Torso, sondern eine Vollverfassung, die das gesamte Verfassungs-recht mit Ausnahme der Finanzverfassung und einiger Staatsvertrags-

der alternativen Aufzählung bestimmter notverordnungsfester Inhalte wird klar, dass „Gesamtänderung“ die Erlassung einer völlig neuen, die Verfassung 1934 ablösenden Konstitution meint: vgl. Kurt Strele, Der Be-griff der Gesamtänderung der Verfassung, in: Juristische Blätter 1935, 465 (467 f.).

75 In die rechtswissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde es von Lud-wig Adamovich, Grundriß des österreichischen Verfassungsrechts, 4. Aufl. Wien 1947, 70 ff.

76 Robert Walter/Heinz Mayer/Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 10. Aufl. Wien 2007, RZ 165; Walter Berka, Verfassungsrecht. Grundzüge des österreichischen Verfas-sungsrechts für das juristische Studium, 4. Aufl. Wien/New York 2012, RZ 178, 179, 182; Theo Öhlinger/Harald Eberhard, Verfassungsrecht, 9. Aufl. Wien 2012, RZ 74.

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Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 93

bestimmungen enthält.77 Ein Inkorporationsgebot, wie wir es im Bonner Grundgesetz finden, gibt es zwar noch nicht, der Kodifikati-onscharakter ist aber schon dadurch verfassungsrechtlich abgesichert, dass gemäß Art. 60 Abs. 2 neben der Stammurkunde nur noch Bun-desverfassungsgesetze möglich sind, aber keine Verfassungsbestim-mungen in einfachen Gesetzen mehr.78 Schließlich und endlich ist die Verfassung 1934 legistisch ausgezeichnet gemacht:79 Sie ist nüch-tern im Ton, prägnant im Ausdruck und in der Systematik besser durchdacht als das B-VG. Damit hat sie unsere Idealvorstellung von einer Verfassung unterschwellig stärker geprägt, als uns bewusst ist. Wer diesen Gedanken für überzogen hält, dem schlage ich vor, in einer ruhigen Minute doch einmal den Verfassungsentwurf aus dem Österreich-Konvent80 zur Hand zu nehmen und zu prüfen, welche Verfassung ihm im Aufbau, in der Sprache und im Duktus der De-tailverliebtheit am nächsten kommt. Ich vermute, es wird sich weit und breit kein Text finden, der ihm näher verwandt wäre als die Ver-fassung 1934, die wir für überwunden halten, ohne sie zu kennen.

Literatur:

Adamovich, Ludwig, Die Baugesetze der österreichischen Verfassung: Das föderalistische Prinzip (Vortragsbericht), in: Juristische Blätter 1935, 55–57.

77 Auf sie wird in Art. 30 Abs. 4, 38 und 181 verwiesen. Im Österreich-Kon-vent hat man dieses Konzept als „relatives Inkorporationsgebot“ bezeich-net und vorrangig verfolgt.

78 Art. 60 Abs.  2. Die Tragweite dieser Bestimmung wurde in der Lehre übersehen: vgl. Hans Spanner, Die Abänderung von Bundesverfassungs-gesetzen durch einfache Bundesgesetze und Verordnungen, in: Österrei-chisches Verwaltungsblatt 1937, 273 (282 ff.).

79 Merkl, Verfassung (FN 27), 12: „Gesetzgebungstechnisch ist die Verfas-sungsurkunde eine respektgebietende Leistung.“

80 Österreich-Konvent (Hg.), Bericht des Österreich-Konvents Bd. 3, Teil 4B: Entwurf des Vorsitzenden für eine Bundesverfassung, Wien 2005.

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Ewald Wiederin94

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Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 97

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Page 24: Staats- und Verfassungskrise 1933 () || Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 Zugleich Mutmaßungen über die Gründe einer Begriffsrenaissance

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