Kapitel 8
Funktionenfolgen und Funktionenreihen
8.1 Potenzreihen
Wie in Abschnitt 6.9 ausführlich erörtert wurde, kann eine Funktion f ∈Abb (R,R) unter bestimmten Voraussetzungen in Punkten x0 ∈ Df in eineTaylor–Reihe entwickelt werden:
f(x) =
∞∑k=0
1
k!f (k)(x0) (x − x0)
k.
Diese Reihe ist ein Spezialfall von allgemeineren Reihen der Form
P (x) :=
∞∑k=0
ak (x− x0)k, ak ∈ K gegeben. (8.1)
Hier bezeichnt K wieder den Körper der reellen (K := R) bzw. der komplexen(K := C) Zahlen.
Definition 8.1 Eine Reihe der Form (8.1) heißt eine Potenzreihe mitEntwicklungspunkt oder Mittelpunkt x0 und den Koeffizienten ak. Insbe-sondere hat eine Potenzreihe mit Entwicklungspunkt x0 = 0 die Form
P (x) :=∞∑k=0
ak xk = a0 + a1x+ a2x
2 + · · · (8.2)
Bemerkung 8.2 Die Substitution ξ := x− x0 führt die letztgenannten Po-tenzreihen in Reihen der Form (8.1) über. Es genügt daher, sich ausschließlichmit Potenzreihen vom Typ (8.2) zu befassen.
667W. Merz, P. Knabner, Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-642-29980-3_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
668 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
Setzen wir in (8.2) neue Koeffizienten
Ak := akxk
an, so entscheidet das Wurzelkriterium aus Satz 3.47 darüber, ob die Reihe∞∑k=0
Ak absolut konvergent oder divergiert, je nach Größe des Grenzwertes
q := lim supk→∞
k√|Ak| = lim sup
k→∞k
√|ak||x|k = |x| lim sup
k→∞k√|ak|.
Wir führen die von x unabhängige Größe
ρ :=1
lim supk→∞
k√|ak| (8.3)
ein. Dann folgen aus der Konvergenzaussage des Satzes 3.47 die Beziehungen:
q < 1 ⇐⇒ |x| < ρ : Reihe (8.1) ist absolut konvergent,
q > 1 ⇐⇒ |x| > ρ : Reihe (8.1) ist divergent.
Der Fall q = 1 bleibt nach wie vor mit dem Wurzelkriterium unentscheidbar.Offensichtlich ist es völlig ohne Belang, ob die Variable x reell oder komplexist. Die Zahl ρ legt im Reellen wie im Komplexen in gleicher Weise denKonvergenz– und Divergenzbereich der Reihe (8.2) fest.
Definition 8.3 Die der Potenzreihe (8.2) durch die Vorschrift (8.3) zu-geordnete Größe ρ ≥ 0 heißt der Konvergenzradius der Reihe (8.2).Dabei seien die Fälle 1
0 := +∞ und 1∞ := 0 mit einbezogen. Im Fall
ρ = +∞ heißt die Potenzreihe (8.2) beständig konvergent.
Es ergeben sich die folgenden Aussagen:
Satz 8.4 Es sei ρ der Konvergenzradius der Potenzreihe (8.2). Dannkonvergiert die Potenzreihe in jedem Punkt x innerhalb des Konver-genzkreisesKρ(0) := {x ∈ C : |x| < ρ}, und sie divergiert für |x| > ρ,also außerhalb Kρ(0). Im Fall ρ = 0 konvergiert die Reihe nur im Punktx = 0 zum Summenwert a0. Auf der Kreislinie |x| = ρ ist keine allge-meine Konvergenzaussage möglich.
Existieren die Grenzwerte
8.1 Potenzreihen 669
ρ1 :=1
limk→∞
k√|ak| und/oder ρ2 := lim
k→∞
∣∣∣ akak+1
∣∣∣,so gilt ρ1 = ρ = ρ2.
Dieser Satz reflektiert lediglich die Konvergenz– und Divergenzaussagen derbeiden Sätze 3.47 und 3.50.
Re
ImDivergenz-bereich
keine allg.Konvergenz-aussage
Bereich absoluterKonvergenz
Konvergenzkreis einer Potenzreihe
Beispiel 8.5 Wir betrachten die Potenzreihe P (x) :=∞∑k=1
xk
kα . Es gilt hier
ρ := limk→∞
kα/k = limk→∞
e(α lnk)/k = e0 = 1 ∀ α ∈ R.
Deshalb resultiert für jedes α ∈ R:
P (x) :=
∞∑k=1
xk
kα
⎧⎨⎩ |x| < 1 : absolut konvergent,
|x| > 1 : divergent.
Für x ∈ R lassen sich in den Randpunkten x = ±1 auch noch Konvergenzaus-sagen treffen:
P (1) :=
∞∑k=1
1
kαkonvergiert ∀ α > 1 (Integralvergleichskriterium),
P (−1) :=∞∑k=1
(−1)kkα
konvergiert ∀ α > 0 (Leibniz–Kriterium).
670 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
Beispiel 8.6 Wir betrachten die Potenzreihe P (x) :=∞∑k=0
ak2
xk für a ∈ R.Es gilt hier
ρ := limk→∞
|a|−k = limk→∞
e−k ln |a| =
⎧⎪⎪⎨⎪⎪⎩0 : |a| > 1,
1 : |a| = 1,
+∞ : |a| < 1.
Dementsprechend ist der Konvergenzkreis Kρ(0) leer für |a| > 1, der Ein-heitskreis für |a| = 1 oder die ganze komplexe Ebene für |a| < 1.
Beispiel 8.7 Wir betrachten die Potenzreihe P (x) :=∞∑k=0
akxk mit ak :=
coshk. Es gilt hier
ρ := limk→∞
∣∣∣ akak+1
∣∣∣ = limk→∞
ek + e−k
ek+1 + e−(k+1)= lim
k→∞1 + e−2k
e+ e−(2k+1)=
1
e.
Bemerkung 8.8
1. Über das Verhalten der Potenzreihe auf dem Rand |x| = ρ des Konver-genzkreises Kρ(0) wird in Satz 8.4 keine Aussage getroffen. Eine Analysedes Konvergenzverhaltens auf diesem Rand ist Sache der Funktionentheo-rie, und wird hier nicht weiter behandelt. Die reellen Randpunkte x = ±ρmüssen – sofern dies möglich ist – einer gesonderten Betrachtung unter-zogen werden.
2. Die Funktionen fk(x) := akxk, k ∈ N0, sind besonders gutartig hin-
sichtlich der Differenzierbarkeitseigenschaft fk ∈ C∞(R). Wir werden imnächsten Abschnitt die Frage diskutieren, wie sich diese Eigenschaften
von fk auf die Reihe∞∑k=0
fk(x) übertragen.
Aufgaben
Aufgabe 8.1. Bestimmen Sie die Konvergenzradien nachstehender Potenz-reihen und damit die offenen Intervalle (a, b), in denen die Reihen konvergie-ren.
a) s1(x) =
∞∑k=1
(−1)k+1 (x− 1)k
k.
b) s2(x) =
∞∑k=1
xk
k2 · 2k .
c) s3(x) =∞∑k=1
k! (x+ 2)k.
8.1 Potenzreihen 671
Zusätzliche Information. Zu Aufgabe 8.1 ist bei der Online-Version diesesKapitels (doi:10.1007/978-3-642-29980-3_8) ein Video enthalten.
Aufgabe 8.2. Sei an =n+ 1
nund bn = an
2
n .
a) Bestimmen Sie den Konvergenzradius von f(x) =
∞∑n=1
bnxn.
b) Summieren Sie g(x) =
∞∑n=1
anxn für |x| < 1.
Aufgabe 8.3. Bestimmen Sie die Konvergenzradien nachstehender Potenz-reihen und damit die offenen Bereiche, in denen die Reihen konvergieren.
a) S(x) =
∞∑n=1
xn
lnnn.
b) K(z) =
∞∑n=1
zn
(n+ 1)3(1 + i)n, z ∈ C und i bezeichne die komplexe Ein-
heit.
Aufgabe 8.4. Bestimmen Sie die Potenzreihe um x0 = 0 für die Funktion
f(x) = 22x2
.
Wie groß ist der Konvergenzradius?
Aufgabe 8.5. Bestimmen Sie die Potenzreihen um den Entwicklungspunktx = 0 für
a) f(x) =1
1− xln(1− x),
b) g(x) =[ln(1− x)
]2.
Aufgabe 8.6. Entwickeln Sie die Potenzreihen für sinhx und coshx. Wielautet der Konvergenzradius?
Aufgabe 8.7. Bestimmen Sie die Potenzreihe um den Entwicklungspunktx = 0 für
h(x) =x
(1 − x) ln(1− x).
672 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
8.2 Gleichmäßige Konvergenz
Wir betrachten in diesem Abschnitt Funktionenfolgen (fk)k∈N0unter der
Voraussetzung, dass die Funktionenfamilie fk : Dfk → K einen nichtleerengemeinsamen Definitionsbereich
∅ �= D :=⋂
k∈N0
Dfk ⊂ R
hat.
Definition 8.9 Wir legen die Konvergenzbereiche folgendermaßen fest:
1. Die Menge K := {x ∈ D : limk→∞
fk existiert } heißt der Konver-
genzbereich der Funktionenfolge (fk)k∈N0.
2. Wir definieren die Folge der Partialsummen
sn(x) :=
n∑k=0
fk(x), n ∈ N, x ∈ D.
Die Menge K := {x ∈ D : limn→∞ sn existiert } heißt der Konver-
genzbereich der Funktionenreihe∞∑k=0
fk(x).
Beispiel 8.10 Es sei fk(x) := xk ∀ x ∈ D := R, k ∈ N0. Wir habenoffenbar
limk→∞
fk(x) =
⎧⎪⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎪⎩1 : x = 1,
0 : |x| < 1,
divergent : x /∈ (−1,+1].
Der Konvergenzbereich der Funktionenfolge (fk)k∈N0ist das Intervall K :=
(−1,+1].
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 673
f1
f0
f2
f3
x1
1
-1
y
Konvergenzbereich der Folge (xk)k≥0
Beispiel 8.11 Es sei fk(x) :=sin kx
k2∀ x ∈ D := R, k ∈ N. Wegen∣∣∣∣∣
∞∑k=1
sin kx
k2
∣∣∣∣∣ ≤∞∑k=1
1
k2< +∞
konvergiert die Funktionenreihe∞∑k=1
fk(x) für alle x ∈ R sogar absolut. Der
Konvergenzbereich der Funktionenreihe ist K := R.
Auf dem Konvergenzbereich K wird durch die Zuordnungen
F (x) := limk→∞
fk(x) bzw. F (x) :=
∞∑k=0
fk(x), x ∈ K,
eine Funktion F : K → K erklärt. Wir fragen nach den Stetigkeits- undDifferenzierbarkeitseigenschaften, die von den Funktionen fk auf die Grenz-funktion F vererbt werden.
Das obige Beispiel 8.10 zeigt schon die Problematik auf. Obwohl jede Funk-tion fk(x) = xk zur Klasse C∞(R) gehört, ist die Grenzfunktion F unstetig.Ähnliche Beispiele lassen sich auch für Funktionenreihen angeben. Wir wol-len nun den Konvergenzbegriff so abändern, dass eine konvergente Folge oderReihe stetiger Funktionen auch eine stetige Grenzfunktion besitzt.
Definition 8.12 Die Funktionenfolge (fk)k∈N0nennen wir auf der Men-
ge K ⊂ R gleichmäßig konvergent gegen die Grenzfunktion F , wenn
∀ ε > 0 ∃ N = N(ε) : supx∈K
|F (x)− fk(x)| ≤ ε ∀ k ≥ N. (8.4)
674 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
Die Funktionenreihe∞∑k=0
fk heißt auf der Menge K gleichmäßig kon-
vergent gegen die Grenzfunktion F , wenn die Folge der Partialsummen
sn(x) :=n∑
k=0
fk(x) dies tut.
Bemerkung 8.13 Im Unterschied zur gewöhnlichen oder punktweisen Kon-vergenz fk(x)→ F (x) hängt die Zahl N(ε) in der Bedingung (8.4) nicht vonder Stelle x ∈ K ab. N(ε) kann eben gleichmäßig bezüglich x ∈ K gewähltwerden. Geometrisch bedeutet diese Bedingung, dass alle FunktionsgraphenG(fk) ab dem Index k = N(ε) in einem ε–Schlauch um den Funktionsgra-phen G(F ) verlaufen.
fk F(x)
xba K:=[a,b]
y
F+
F-
ε–Schlauch der gleichmäßigenKonvergenz
fk
1
1
x
y
F
F+x= 1/k
F+
F-
F-
F
Nicht gleichmäßige Konvergenzder Folge fk(x) := xk
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 675
Beispiel 8.14 Wir behaupten, dass die Folge
fk(x) := x1+ 1k auf K := [0, 1]
gleichmäßig gegen die Grenzfunktion F (x) := x konvergiert. Denn mit Hilfeder Differentialrechnung bestimmt man das Maximum der Funktion g(x) :=x− x1+1/k. Daraus folgt
supx∈K
|fk(x) − F (x)| = g(x̄) =
(k
k + 1
)k (1− k
k + 1
)
≤(1− k
k + 1
)=
1
k + 1≤ ε ∀ k ≥ N(ε) :=
1
ε.
Beispiel 8.15 Wir hatten gezeigt, dass die Funktionenfolge fk(x) := xk aufdem Teilintervall K := [0, 1] punktweise gegen die Grenzfunktion
F (x) :=
⎧⎨⎩0 : x ∈ [0, 1),
1 : x = 1
konvergiert.
Die Konvergenz ist jedoch nicht gleichmäßig. Die obige Skizze zeigt, dassjede Funktion fk den ε–Schlauch um die Grenzfunktion F an der Stelle x :=ε1/k ∈ K verlässt, sofern 0 < ε < 1 gilt.
Für Funktionenreihen existiert ein einfaches Kriterium, mit dessen Hilfe diegleichmäßige Konvergenz nachgeprüft werden kann:
Satz 8.16 (Weierstrass–Kriterium) Die Reihe∑∞
k=0 fk konver-giert gleichmäßig auf der Menge K gegen die Grenzfunktion F , wennes eine Zahlenfolge (ak)k∈N0 gibt mit den Eigenschaften
1. |fk(x)| ≤ ak ∀ x ∈ K ∀ k ∈ N0,
2.∞∑k=0
ak konvergiert.
Beweis. Wegen 2. existiert zu jedem ε > 0 eine Zahl N(ε) mit∞∑
k=N+1
ak ≤ ε.
Hieraus folgt für alle n ≥ N(ε):
676 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
supx∈K
|F (x)−sn(x)| = supx∈K
∣∣∣ ∞∑k=n+1
fk(x)∣∣∣ ≤ ∞∑
k=n+1
supx∈K
|fk(x)| ≤∞∑
k=N+1
ak ≤ ε.
Dies ist aber gerade die Bedingung der gleichmäßigen Konvergenz. qed
Beispiel 8.17 Wir setzen
fk(x) :=cos(2k + 1)πx
(2k + 1)2, x ∈ R, k ≥ 0.
Dann gilt |fk(x)| ≤ (2k+1)−2 =: ak ∀ x ∈ R. Die Reihe∞∑k=0
ak ist konvergent.
Also sind die Bedingungen des Weierstrass–Kriteriums erfüllt, welches diegleichmäßige Konvergenz der Funktionenreihe
F (x) :=1
2− 4
π2
∞∑k=0
cos(2k + 1)πx
(2k + 1)2, x ∈ R,
garantiert.
Mit Hilfe der sog. Theorie der Fourier–Reihen kann gezeigt werden, dassdie Grenzfunktion F folgende stetige, periodische Funktion ist:
F (x) = |x| ∀ x ∈ [−1,+1], F (x+ 2) = F (x) ∀ x ∈ R,
F(x)
-1-2 0 1 2
Funktion F(x) := |x|, x ∈ [−1,+1],mit periodischer Fortsetzung
F(x+ 2) = F(x) ∀ x ∈ R.
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 677
r
Kr
Zur gleichmäßigen Konvergenzvon Potenzreihen
Mit dieser Kenntnis kann F insbesondere an der Stelle x = 1 ausgewertetwerden. Es gilt F (1) = 1. Mit cos(2k + 1)π = −1 resultiert
∞∑k=0
1
(2k + 1)2=
π2
8.
Nun sind Potenzreihen natürlich spezielle Funktionenreihen. Mit Hilfe desWeierstrass-Kriteriums lässt sich folgende Aussage über die gleichmäßigeKonvergenz zeigen:
Satz 8.18 Eine Potenzreihe P (x) :=∞∑k=0
akxk konvergiert gleichmäßig
auf jeder abgeschlossenen Kreisscheibe Kr(0) := {x ∈ C : |x| ≤ r} vomRadius r < ρ, wobei ρ den Konvergenzradius der Potenzreihe P angibt.
Beweis. Wir haben im letzten Abschnitt gezeigt, dass die Potenzreihe P für
|x| = r < ρ absolut konvergiert. Also ist die Reihe∞∑k=0
|ak|rk konvergent,
und wegen |akxk| ≤ |ak|rk ∀ x ∈ Kr(0), k ∈ N0, sind die VoraussetzungenSatzes 8.16 erfüllt. qed
Wir zeigen, dass bei gleichmäßiger Konvergenz Stetigkeitseigenschaften derFunktionen fk auf die Grenzfunktion F vererbt werden. In diesem Sachverhaltliegt die besondere Bedeutung der gleichmäßigen Konvergenz.
678 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
Satz 8.19 Es gelten folgende Aussagen:
1. Konvergiert die Folge stetiger Funktionen fk : K → K auf dem In-tervall K := [a, b] gleichmäßig gegen eine Grenzfunktion F , so istF : K → K stetig.
2. Für eine Folge stetiger Funktionen fk : K → K konvergiere die Funk-
tionenreihe∞∑k=0
fk auf dem Intervall K := [a, b] gleichmäßig gegen
eine Grenzfunktion F . Dann ist F : K → K stetig.
3. Die Grenzfunktion P (x) :=∞∑k=0
akxk einer Potenzreihe ist auf dem
gesamten Konvergenzkreis Kρ(0) = {x ∈ C : |x| < ρ} stetig.
Beweis.
1. Wir fixieren x0 ∈ K und beachten, dass auf Grund der Stetigkeit von fkdie Relation lim
x→x0
|fk(x) − fk(x0)| = 0 ∀ k ∈ N0 gilt. Wir wählen nun zu
ε > 0 eine Zahl N(ε), dann gilt für alle k ≥ N(ε):
|F (x) − F (x0)| ≤ |F (x)− fk(x)|︸ ︷︷ ︸≤ε
+|fk(x)− fk(x0)|+ |fk(x0)− F (x0)|︸ ︷︷ ︸≤ε
.
Hieraus erhält man 0 ≤ lim supx→x0
|F (x) − F (x0)| ≤ 2ε ∀ ε > 0. Dies ist
bereits die behauptete Stetigkeit der Funktion F .
2. Da die n–te Partialsumme sn(x) :=n∑
k=0
fk(x) auf dem Intervall K ste-
tig ist, folgt aus der gleichmäßigen Konvergenz sn → F gemäß 1.) dieStetigkeit der Grenzfunktion F .
3. Es sei x0 ∈ Kρ(0) fest gewählt. Setzt man r := (|x0|+ρ)/2 < ρ, so konver-giert die Potenzreihe P gleichmäßig auf der abgeschlossenen KreisscheibeKr(0). Wegen 2.) ist die Grenzfunktion P dort stetig, also insbesonderestetig im Punkt x0 ∈ Kr(0).
qed
Beispiel 8.20 Die gleichmäßige Konvergenz verbessert sogar die Qualität.Dazu betrachten wir die an keinem Punkt stetige Funktionenfolge
fn(x) :=
⎧⎨⎩1n : x ∈ Q,
0 : x ∈ R \Q.
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 679
Diese Folge konvergiert sogar gleichmäßig gegen die stetige GrenzfunktionF (x) ≡ 0.
Bei gleichmäßiger Konvergenz übertragen sich auch die Eigenschaften derR–Integrierbarkeit und der Differenzierbarkeit von fk auf die GrenzfunktionF .
Satz 8.21 Die Funktionen fk : K → K seien auf dem Intervall K :=
[a, b] R-integrierbar, und die Funktionenreihe∞∑k=0
fk konvergiere auf K
gleichmäßig gegen die Grenzfunktion F . Dann ist auch F auf K R-integrierbar, und es gilt
b∫a
F (x) dx =
b∫a
( ∞∑k=0
fk(x))dx =
∞∑k=0
b∫a
fk(x) dx. (8.5)
Das heißt, eine gleichmäßig konvergente Funktionenreihe darf glied-weise bestimmt integriert werden.
Beweis. Da die Folge der Partialsummen sn(x) :=n∑
k=0
fk(x) nach Voraus-
setzung auf K gleichmäßig gegen die Grenzfunktion F konvergiert, existiert∀ ε > 0 ein N = N(ε) mit der Eigenschaft
supx∈K
|sn(x)−sm(x)| ≤ supx∈K
|sn(x)−F (x)|+supx∈K
|F (x)−sm(x)| ≤ 2ε ∀ n,m ≥ N.
(8.6)
Wir setzen:
Sn :=
b∫a
sn(x) dx =
n∑k=0
b∫a
fk(x) dx, n ∈ N.
Dann folgt aus (8.6) für n,m ≥ N(ε):
|Sn − Sm| ≤b∫
a
supt∈K
|sn(t)− sm(t)| dx ≤ 2ε(b− a).
Das heißt, die Zahlenfolge (Sn)n∈N⊂ K ist eine Cauchy–Folge und ihr
Grenzwert
S :=
∞∑k=0
b∫a
fk(x) dx ∈ K
680 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
existiert.
Darüber hinaus gilt wegen (8.6) noch |S − Sm| ≤ 2ε(b− a) ∀ m ≥ N(ε). Wir
zeigen hiermit S =b∫a
F (x) dx. In der Tat gilt für m ≥ N(ε):
∣∣∣ b∫a
F (x) dx − S∣∣∣ ≤ ∣∣∣∣∣ b∫
a
F (x) dx − Sm
∣∣∣∣∣+ |Sm − S|
≤b∫a
supt∈K |F (t)− sm(t)| dx+ 2ε(b− a) ≤ 3ε(b− a).
Im Limes ε→ 0+ folgt hieraus, dass
S =
b∫a
F (x) dx =
b∫a
( ∞∑k=0
fk(x))dx =
∞∑k=0
b∫a
fk(x) dx.
qed
Bemerkung 8.22 Da sich die Funktionenfolge (fk)k∈N0als Folge der Par-
tialsummen sn(x) :=∑n
k=0
(fk(x) − fk−1(x)
)mit f−1 = 0 schreiben lässt,
gilt der obige Satz auch für Funktionenfolgen:
Falls unter den Voraussetzungen des letzten Satzes die Konvergenz fk →F auf dem Intervall K gleichmäßig erfolgt, so ist die Grenzfunktion F R–integrierbar, und es gilt
limk→∞
b∫a
fk(x) dx =
b∫a
F (x) dx.
Beispiel 8.23 Die Funktionenreihe∑∞
k=11k2 sin x
k4 konvergiert gemäß demWeierstrass–Kriterium gleichmäßig für alle x ∈ R. Wir können Satz 8.21anwenden und erhalten
x∫0
( ∞∑k=1
1
k2sin
t
k4
)dt =
∞∑k=1
k2(1− cos
x
k4
).
Die Konvergenz dieser Reihe erschließt man aus dem asymptotischen Ver-halten
k2(1− cos
x
k4
)∼ x2
2k6, k , 1.
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 681
Hätte man hingegen die Funktionenreihe unbestimmt integriert unter Ver-wendung der Stammfunktion −k4 cos x
k4 =∫sin x
k4 dx, so wäre die resultie-rende Reihe −∑∞
k=1 k2 cos x
k4 für kein x ∈ R konvergent.In diesem Sinne merken wir uns:
Satz 8.21 gilt i. Allg. nicht mehr bei unbestimmter Integration.
Satz 8.24 Die Funktionen fk : K → K seien auf dem Intervall K :=[a, b] differenzierbar, und die Ableitungen f ′
k seien auf K R–integrierbar.
Falls die Funktionenreihe∞∑k=0
f ′k auf K gleichmäßig konvergiert und
falls die Reihe∞∑k=0
fk(x0) wenigstens für ein x0 ∈ K konvergent ist, so
ist die Grenzfunktion F (x) :=∞∑k=0
fk(x) auf K differenzierbar, und es
gilt
F ′(x) =( ∞∑
k=0
fk(x))′
=
∞∑k=0
f ′k(x) ∀ x ∈ K. (8.7)
Das heißt, die Funktionenreihe darf gliedweise differenziert werden.
Eine entsprechende Aussage gilt auch für die Grenzfunktion F der Funk-tionenfolge (fk)k∈N0
. Falls die Ableitungen f ′k auf K R–integrierbar
sind und eine gleichmäßig konvergente Folge bilden, falls fernerlimk→∞
fk(x0) = F (x0) für wenigstens ein x0 ∈ K gilt, so existiert die
differenzierbare Grenzfunktion F (x) = limk→∞
fk(x), und es gilt
F ′(x) = limk→∞
f ′k(x) ∀ x ∈ K.
Beweis. Die Funktionenreihe∞∑k=0
f ′k darf wegen Satz 8.21 gliedweise integriert
werdenx∫
x0
( ∞∑k=0
f ′k(t)
)dt =
∞∑k=0
(fk(x)− fk(x0)
), x ∈ K.
Die Funktionenreihe∞∑k=0
fk ist konvergent, da dies nach Voraussetzung auf
die obige Reihe und die Reihe∞∑k=0
fk(x0) zutrifft. Darüber hinaus gilt
682 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
F (x) :=
∞∑k=0
fk(x) =
∞∑k=0
fk(x0) +
x∫x0
( ∞∑k=0
f ′k(t)
)dt, x ∈ K,
und durch Differentiation erhält man daraus die Relation (8.7). qed
Beispiel 8.25 Es seien fk und F die Funktionen aus Beispiel 8.17. Durchgliedweise Differentiation erhalten wir
− 4
π2
∞∑k=0
f ′k(x) =
4
π
∞∑k=0
sin(2k + 1)πx
2k + 1.
Für diese Reihe kann die gleichmäßige Konvergenz auf K := [−1,+1]nicht nachgewiesen werden. Deshalb darf die Funktion F (x) := |x| = 1
2 −4π2
∞∑k=0
fk(x) auf K nicht differenziert werden. In der Tat, im Punkt x = 0
existiert keine Ableitung F ′, während − 4π2
∞∑k=0
f ′k(0) = 0 liefert. Betrachten
wir hingegen die Funktionenreihe
F (x) =
∞∑k=1
fk(x) :=
∞∑k=1
(−1)k√k
e−x/k, x ∈ K := [0,+∞),
so konvergiert nach dem Leibniz–Kriterium die Reihe∞∑k=1
fk(0) =
∞∑k=1
(−1)k√k
.
Wegen∞∑k=1
|f ′k(x)| ≤
∞∑k=1
1k3/2 < +∞ erhalten wir überdies auf K die gleich-
mäßige Konvergenz der Funktionenreihe∞∑k=1
f ′k. Aus Satz 8.24 folgt deshalb
F ′(x) =∞∑k=1
f ′k(x) = −
∞∑k=1
(−1)kk√ke−x/k, x ∈ K.
Liegt speziell eine Potenzreihe P (x) :=∞∑k=0
akxk vor, so sind die Funktio-
nen fk(x) := akxk von jeder Ordnung stetig differenzierbar. Die gliedweise
differenzierte Potenzreihe∞∑k=1
akkxk−1 =
∞∑k=0
ak+1(k + 1)xk
ist wiederum eine Potenzreihe, und deren Konvergenzradius
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 683(lim supk→∞
k√|ak+1|(k + 1)
)−1
=(lim supk→∞
k√|ak+1|
)−1
= ρ
ist derselbe wie der Konvergenzradius der Ausgangsreihe P .
Wegen Satz 8.18 konvergiert nun die gliedweise differenzierte Potenzreihegleichmäßig auf jeder abgeschlossenen Kreisscheibe Kr(0) vom Radius r < ρ.Somit ist Satz 8.24 anwendbar:
P ′(x) =( ∞∑
k=0
akxk)′
=
∞∑k=0
akkxk−1.
Wenden wir diese Überlegungen nochmals auf P ′(x) an, danach auf weitereAbleitungen, so erhalten wir die folgende Aussage:
Satz 8.26 Die Grenzfunktion P einer Potenzreihe∞∑k=0
akxk ist inner-
halb des Konvergenzkreises Kρ(0) beliebig oft stetig differenzierbar. IhreAbleitungen P (n) lassen sich durch gliedweise Differentiation bestimmen.Zusammenfassend gilt:
P ′(x) =
∞∑k=1
akkxk−1,
P ′′(x) =∞∑k=2
akk(k − 1)xk−2,
...
P (n)(x) =
∞∑k=n
ak
(k
n
)n!xk−n, n ∈ N.
(8.8)
Jede dieser Reihen hat denselben Konvergenzkreis Kρ(0).
Aus der Beziehung (8.8) ergibt sich speziell P (n)(0) = n!an, und somit an =1n! P
(n)(0) ∀ n ∈ N0. Es gilt also
P (x) =∞∑k=0
1
k!P (k)(0)xk ∀ x ∈ Kρ(0)
und folglich:
684 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
Satz 8.27 Jede Potenzreihe ist auf dem Konvergenzkreis die Taylor–Reihe ihrer Grenzfunktion.
In Erweiterung des Integrationssatzes 8.21 für allgemeine Funktionenreihendürfen Potenzreihen auch unbestimmt integriert werden.
Satz 8.28 Die Grenzfunktion P der Potenzreihe∞∑k=0
akxk hat auf dem
Konvergenzkreis Kρ(0) eine Stammfunktion F (x) :=∫P (x) dx. Diese
kann durch gliedweise Integration aus der Ausgangsreihe gewonnen wer-den:
F (x) :=
∫P (x) dx =
∞∑k=0
ak
∫xk dx =
∞∑k=0
akk + 1
xk+1. (8.9)
Der Konvergenzkreis der Potenzreihe (8.9) ist wiederum Kρ(0).
Beweis. Die Potenzreihe (8.9) hat den Konvergenzradius
(lim supk→∞
k
√|ak|k + 1
)−1
=(
limk→∞
k
√1
k + 1︸ ︷︷ ︸=1
lim supk→∞
k√|ak|
)−1
= ρ.
Wir können Satz 8.26 auf diese Potenzreihe anwenden. Durch gliedweisesDifferenzieren erhält man F ′(x) = P (x) ∀ x ∈ Kρ(0). qed
Der Satz 8.19 trifft eine Aussage über die Stetigkeit der Grenzfunktion
P (x) :=∞∑k=0
akxk nur im Inneren der Kreisscheibe Kρ(0). Hinsichtlich der
Stetigkeit in den Randpunkten x = ±ρ formulieren wir ohne Beweis denfolgenden
Satz 8.29 (Abelscher Grenzwertsatz) Ist die Potenzreihe P (x) :=∞∑k=0
akxk auch noch für x = +ρ oder x = −ρ konvergent, so ist die
Grenzfunktion P in dem betreffenden Punkt x = ±ρ stetig:
P (±ρ) = limx→±ρ
∞∑k=0
akxk.
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 685
Mit den hier angegebenen Sätzen können in einfacher Weise die Taylor–Reihen zahlreicher Elementarfunktionen berechnet werden. Wir werden diesin einer Reihe von Beispielen aufzeigen und sehen, dass dies bei allen nach-folgenden Beispiel vollkommen nach „Schema F abläuft“.
Beispiel 8.30 Wir bestimmen die Taylor–Reihe der Funktion F (x) :=ln(1 + x) im Entwicklungspunkt x0 = 0. Es gilt F (0) = 0 sowie
(ln(1 + x))′=
1
1 + x=
∞∑k=0
(−1)kxk ∀ |x| < 1.
Unter Verwendung von Satz 8.28 erhält man daraus
ln(1 + x) = F (x) − F (0) =∞∑k=0
(−1)kx∫
0
tk dt =∞∑k=0
(−1)kk + 1
xk+1 ∀ |x| < 1.
Nach dem Leibniz–Kriterium ist auch die Reihe∞∑k=0
(−1)k
k+1 konvergent, so
dass wir aus dem Abelschen Grenzwertsatz die Stetigkeit der GrenzfunktionF (x) im Punkt x = 1 erschließen. Wir folgern
F (1) = ln 2 =
∞∑k=0
(−1)kk + 1
.
Beispiel 8.31 Wir bestimmen die Taylor–Reihe der Funktion F (x) :=arc tanH x im Entwicklungspunkt x0 = 0. Es gilt F (0) = 0 sowie
(arc tanH x
)′=
1
1 + x2=
∞∑k=0
(−1)kx2k ∀ |x| < 1.
Unter Verwendung von Satz 8.28 erhält man daraus
arc tanH x = F (x) − F (0) =∑∞
k=0(−1)kx∫0
t2k dt
=∞∑k=0
(−1)k2k + 1
x2k+1 ∀ |x| < 1.
In den Punkten x = ±1 ist wiederum der Abelsche Grenzwertsatz anwend-bar:
686 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
F (1) = arc tanH 1 =π
4=
∞∑k=0
(−1)k2k + 1
= −arc tanH(−1).
Beispiel 8.32 Wir bestimmen die Taylor–Reihe der Gauss–Fehlerfunktion
F (x) := erf x = 2√π
x∫0
e−t2 dt im Entwicklungspunkt x0 = 0. Es gilt F (0) = 0
sowie (erf x
)′=
2√πe−x2
=2√π
∞∑k=0
(−1)kk!
x2k ∀ x ∈ R.
Unter Verwendung von Satz 8.28 erhält man daraus
erf x = F (x)− F (0) =2√π
∞∑k=0
(−1)kk!
x∫0
t2k dt
=2√π
∞∑k=0
(−1)kk!(2k + 1)
x2k+1 ∀ x ∈ R.
Beispiel 8.33 Wir bestimmen die Taylor–Reihe des Integralsinus F (x) :=
Si(x) :=x∫0
sin tt dt im Entwicklungspunkt x0 = 0. Es gilt F (0) = 0 sowie
(Si(x)
)′=
sinx
x=
∞∑k=0
(−1)k(2k + 1)!
x2k ∀ x ∈ R.
Unter Verwendung von Satz 8.28 erhält man daraus
Si(x) = F (x) − F (0) =
∞∑k=0
(−1)k(2k + 1)!
x∫0
t2k dt
=∞∑k=0
(−1)k(2k + 1)!(2k + 1)
x2k+1 ∀ x ∈ R.
Die Frage, ob verschiedene Potenzreihen auf demselben Konvergenzkreis die-selbe Grenzfunktion haben können, beantworten wir in dem folgenden
Satz 8.34 (Identitätssatz für Potenzreihen) Die beiden Potenzrei-hen P (x) :=
∑∞k=0 akx
k und Q(x) :=∑∞
k=0 bkxk seien konvergent in
Kρ(0), ρ > 0. Genau dann haben wir Gleichheit P (x) = Q(x) ∀ x ∈Kρ(0), wenn ak = bk ∀ k ≥ 0 gilt.
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 687
Beweis. Gilt ak = bk ∀ k ≥ 0, so ist trivialerweise P = Q. Gilt umgekehrtP (x) = Q(x) ∀ x ∈ Kρ(0), so nehmen wir an, es sei N ∈ N0 der kleinsteIndex, für den aN �= bN erfüllt ist. Dann folgt
P (x) −Q(x) = 0 =
∞∑k=N
(ak − bk)xk ∀ x ∈ Kρ(0).
Wird diese Identität durch xN dividiert, so folgt danach im Limes x→ 0 dieBedingung aN = bN , entgegen der Annahme aN �= bN . qed
Auf dem Identitätssatz beruht die Methode des Koeffizientenvergleichs:Gelten für dieselbe Funktion P zwei Potenzreihenentwicklungen
∞∑k=0
akxk = P (x) =
∞∑k=0
bkxk,
so folgt stets ak = bk ∀ k ≥ 0.
Beispiel 8.35 Wir bestimmen die Taylor–Reihe der Funktion F (x) :=tanx im Entwicklungspunkt x0 = 0 mit der Methode der unbestimmtenKoeffizienten. Da F eine ungerade Funktion ist, setzt man eine Potenzreihemit unbestimmten Koeffizienten in der folgenden Form an:
P (x) := tanx =
∞∑k=0
akx2k+1 =
sinx
cosx.
Unter Verwendung der bekannten Potenzreihenentwicklungen von sin und coserhält man mit Hilfe des Cauchy–Produktes zweier Reihen:
sinx =
∞∑k=0
(−1)k(2k + 1)!
x2k+1 = cosx ·∞∑k=0
akx2k+1
=( ∞∑
k=0
(−1)k(2k)!
x2k)·( ∞∑
k=0
akx2k+1
)
=
∞∑k=0
k∑n=0
(−1)nx2nx2k−2n+1
(2n)!ak−n =
∞∑k=0
x2k+1k∑
n=0
(−1)n(2n)!
ak−n.
Durch Koeffizientenvergleich resultiert nun die folgende Rekursionsformel:
(−1)k(2k + 1)!
=
k∑n=0
(−1)n(2n)!
ak−n ∀ k ∈ N0.
688 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
Aus dieser Formel können die unbestimmten Koeffizienten ak sukzessive be-rechnet werden. Man verifiziert mit einigem elementaren Rechenaufwand diefolgenden Zahlen:
a0 = 1, a1 =1
3, a2 =
2
3 · 5 , a3 =17
32 · 5 · 7 ,
Hieraus folgt
tanx = x+x3
3+
2x5
15+
17x7
315+ · · ·+ (−1)n22n(22n − 1)B2n
(2n)!x2n−1 + · · ·
Die hier verwendeten Zahlen B2n sind die Bernoulli–Zahlen:
Definition 8.36 Gegeben seien Zahlen t ∈ R und z ∈ C mit |z| < 2π.Die in der Potenzreihenentwicklung
zetz
ez − 1=
+∞∑j=0
Bj(t)zj
j!(8.10)
auftretenden Polynome Bj(t) mit GradBj = j heißen Bernoulli–Polynome. Die Zahlen
Bj := Bj(0) ∀ j = 0, 1, . . . , (8.11)
heißen Bernoulli–Zahlen.
Bemerkung 8.37 Die ersten Bernoulli–Zahlen lauten:
B0 = 1, B1 = − 12 , B2 = 1
6 , B3 = 0, B4 = − 130 , B5 = 0,
B6 = 142 , B7 = 0, B8 = − 1
30 , B9 = 0, B10 = 566 , B11 = 0.
Stets gilt B2n+1 = 0 ∀ n ∈ N.
Der Konvergenzradius der nach der Methode der unbestimmten Koeffizientenberechneten Potenzreihe ist i. Allg. schwierig zu bestimmen. Sicher wird derKonvergenzradius ρ im Fall der Reihe
∞∑k=0
akxk =
P (x)
Q(x), Q(0) �= 0,
höchstens bis zur betragskleinsten Nullstelle der Funktion Q(x) reichen. ImBeispiel der Tangens–Reihe gilt also sicher ρ ≤ π/2.
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 689
Aus Satz 8.26 folgt unmittelbar, dass die Grenzfunktion P einer Potenzreiheauf dem Konvergenzkreis Kρ(0) eine C∞–Funktion ist. Es wäre umgekehrtfalsch zu glauben, dass jede C∞–Funktion f(x) auch eine Potenzreihenent-wicklung zulässt. Formal darf man in jedem C∞–Punkt x0 die Taylor–Reihe
∞∑k=0
1
k!f (k)(x0) (x− x0)
k
der Funktion f hinschreiben, jedoch braucht diese Reihe für keinen Wertx �= x0 die Funktion f darzustellen. Wir hatten diese Tatsache bereits imAbschnitt über Taylor–Reihen diskutiert.
Dort wurde die Funktion
f(x) :=
⎧⎪⎨⎪⎩0 : x = 0,
exp(− 1
x2
): x �= 0
genannt mit den Eigenschaften f ∈ C∞(R) sowie f (k)(0) = 0 ∀k ∈ N0. Die
formale Taylor–Reihe∞∑k=0
1k! f
(k)(0)xk = 0 stellt die gegebene Funktion f
nur im Punkt x0 = 0 dar.
Wir erinnern an Satz 6.86. Dieser besagt, dass die C∞–Funktion f genaudann an der Stelle x0 in eine Taylor–Reihe entwickelbar ist, wenn für allex in einer Umgebung des Punktes x0 folgende Eigenschaft gilt:
limn→∞Rn(x;x0) := lim
n→∞(x− x0)
n+1
(n+ 1)!f (n+1)(ξ) = 0. (8.12)
Im obigen Beispiel ist diese Bedingung nur im Punkt x0 = 0 erfüllt. Es giltnun ganz allgemein:
Satz 8.38 Zu gegebener Funktion f ∈ C∞([a, b]) existiere eine ZahlM > 0 mit der Eigenschaft |f (k)(x)| ≤ M < +∞ ∀ x ∈ [a, b] ∀ k ∈ N0.Dann gilt an jeder Stelle x0 ∈ (a, b) die Taylor–Entwicklung
f(x) =
∞∑k=0
1
k!f (k)(x0) (x− x0)
k ∀ x ∈ [a, b].
Beweis. Wir zeigen, dass das Lagrange–Restglied die Bedingung (8.12) er-füllt. Es gilt
690 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
0 ≤ limn→∞ |Rn(x;x0)| = lim
n→∞|x− x0|n+1
(n+ 1)!|f (n+1)(ξ)| ≤M lim
n→∞|x− x0|n+1
(n+ 1)!= 0.
qed
Wir treffen in diesem Zusammenhang folgende
Definition 8.39 Eine Funktion f heißt im Intervall [a, b] analytisch,wenn f in jedem Punkt x0 ∈ (a, b) in eine Potenzreihe entwickelbar ist.Die Klasse der über dem Intervall [a, b] analytischen Funktionen bezeich-nen wir mit Cω(a, b).
Beispiel 8.40 Die Funktion f(x) := sinx gehört zur Klasse Cω(R). Dennwegen
|f (k)(x)| =
⎧⎪⎨⎪⎩| cosx| ≤ 1 : k gerade,
| sinx| ≤ 1 : k ungerade,
sind die Voraussetzungen von Satz 8.38 mit M = 1 erfüllt.
Aufgaben
Aufgabe 8.8. Berechnen Sie zu den angegebenen Funktionenfolgen (fn)n∈N
den punktweisen Limes und entscheiden Sie jeweils, ob die Folge auf demangegebenen Intervall I gleichmäßig konvergiert.
a) fn(x) =1
1 + |x|n , I = R.
b) fn(x) = sin(xn
), I = [−1, 1].
c) fn(x) =1
(1 + x)n, I = R.
Aufgabe 8.9. Die Funktionenfolge {fn}n∈N sei definiert durch
fn(x) :=x
1 + nx2, x ∈ R, n ∈ N.
Zeigen Sie, dass {fn}n∈N gleichmäßig gegen eine stetige Funktion f konver-giert.
8.2 Gleichmäßige Konvergenz 691
Aufgabe 8.10. Die Funktionenfolge {fn}n∈N sei auf R definiert durch
fn(x) :=
⎧⎪⎪⎪⎨⎪⎪⎪⎩0 : x < 1
n+1 ,
sin2 πn : 1
n+1 ≤ x ≤ 1n ,
0 : 1n < x.
Zeigen Sie, dass {fn}n∈N punktweise und nicht gleichmäßig gegen eine stetigeFunktion konvergiert.
Aufgabe 8.11. Untersuchen Sie die Funktionenreihe
∞∑k=0
x2 1
(1 + x2)k, x ∈ R,
auf punktweise und gleichmäßige Konvergenz. Falls eine Grenzfunktion exis-tiert, untersuchen Sie diese auf Stetigkeit.
Aufgabe 8.12. Untersuchen Sie die Funktionenreihen
a)∞∑
n=0x(1 − x2)n, |x| < √2,
b)∞∑
n=1
1
2n−1√1 + nx
, x ≥ 0
auf punktweise und gleichmäßige Konvergenz. Falls Grenzfunktionen existie-ren, untersuchen Sie diese auf Stetigkeit.
Aufgabe 8.13. Sei F (x) =
∞∑n=1
an2n
sin(xn
). Warum gilt
F ′(x) =∞∑n=1
an2nn
cos(xn
)?
Aufgabe 8.14. Gegeben sei die Potenzreihe
P (x) :=
∞∑k=1
1√k
(x2
)k
, x ∈ R.
Bestimmen Sie alle Punkte x ∈ R der Konvergenz und der Divergenz derReihe.
Aufgabe 8.15. Nun sei
692 8 Funktionenfolgen und Funktionenreihen
F (x) :=∞∑k=1
fk(x) :=∞∑k=1
1√ktanh
( x
2k
).
a) Zeigen Sie, dass die Reihe∞∑k=1
f ′k(x) auf ganz R gleichmäßig konvergiert.
b) Zeigen Sie, dass F auf ganz R definiert und dort stetig ist.
c) Begründen Sie den Zusammenhang P (1) = F ′(0).
Aufgabe 8.16. Gegeben sei
ak :=
√k
(2k + 1)(2k + 3), k ∈ N.
a) Zeigen Sie mit dem Majorantenkriterium die Konvergenz der Reihe∞∑k=1
ak.
b) Zeigen Sie, dass die Funktion y = f(x) :=∞∑k=1
ak arctan(
x√k
)für alle
x ∈ R stetig und stetig differenzierbar ist. (Weierstraß-Kriterium!)
c) Zeigen Sie die Existenz der Umkehrfunktion x = f−1(y).
d) Berechnen Sie die Ableitung von f−1 und zeigen Sie f−1(y0) = 6 imPunkt y0 := f(0).
Hinweis: Teleskop-Reihe.
Aufgabe 8.17. || : Mathematik : ||1
1 Lösung: Die Musiker unter Ihnen erkennen hier sofort die Wiederholungszeichen, undwissen, dass jede Wiederholung beser und besser und bessser macht!