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Spielzeit 2017/2018 - Theater Nordhausen · Romeo hat die Nachricht, dass Julia ein Scheingift...

Date post: 23-Oct-2019
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Ballett
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Ballett

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Ballett TN LOS!

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Spielzeit 2017/2018

Ballett in drei Akten von Ivan Alboresi Musik von Sergej Prokofjew, op. 64Bearbeitung: Tobias Leppert (reduzierte Fassung)

„Selten war ein Musiker so wie er fähig,sich mit der größten Selbstverständlichkeit zu erneuern,

dabei unwandelbar er selber zu bleiben und so persönlich,dass zwei Takte genügen, ihn wiederzuerkennen. (…)

Man kann es von allen Werken Prokofjews sagen,sie quellen über vor musikalischer Leidenschaft.“

René Dumesnil 1953 (französischer Mediziner, Literaturkritiker und Musikwissenschaftler)

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„ROMEO UND JULIA“ – DIE HANDLUNG

1. AktIn einem Prolog begegnen einander junge Menschen ganz ohne soziale Statussymbole. Wer mag da einen Unterschied zwischen Capulets und Montagues erkennen?

Auf der Straße treffen sich Freunde: Romeo, Benvolio und Mercutio aus der Clique der Montagues und ihre Mädchen. Als auch die Capulets auf dieser Straße erscheinen, gibt es unvermittelt Streit. Bevor die Gewalt eskalieren kann, trennt der Prinz von Verona die Kontrahenten und stellt Gewalt auf der Straße unter Strafe.Julia Capulet erhält von ihrer Mutter ein Ballkleid. Zum ersten Mal wird Julia mit den Er-wachsenen, zu denen auch Cousin Tybalt gehört, mitfeiern dürfen.Mercutio mischt seine Freunde auf, den Ball der Capulets ebenfalls zu besuchen. Romeo tut sich zunächst schwer, denn dort wird er Rosalinde treffen. Ihre Abfuhr macht dem in sie Verliebten zu schaffen. Die Capulets feiern einen prächtigen Ball, unter den sich maskiert die drei Montague-Jungs mischen. Der Mittelpunkt des Balls ist Julia. Ihre Mutter und Tybalt stellen ihr Graf Paris vor, den sie heiraten soll. An Heirat hat Julia noch nicht gedacht, und dann ist da auch noch dieser Unbekannte … Für den Unbekannten, Romeo, wird der Ball erst durch Julia interes- sant. Auf den ersten Blick sind die beiden voneinander elektrisiert. Mercutio wird zum Entertainer und lenkt die Gesellschaft ab, damit Romeo und Julia unbeobachtet bleiben. Als Tybalt zu ihnen tritt, entfernt sich Julia. Bevor Romeo sich ernsthaft an Tybalt vergreifen kann, trennt Julias Mutter die Gegner, und Romeo wird von seinen Freunden weggeholt.Heimlich treffen sich Romeo und Julia an ihrem Balkon und schwören einander ewige Liebe.

– Pause –

2. AktAuf einer Piazza bei den Montagues. Romeo, der schwer verliebt ist, erscheint als Außen-seiter in der ausgelassenen Gruppe, doch seine Freunde beziehen ihn „großzügig“ wieder mit ein. Rosalinde bringt einen Brief. Während die anderen Jungs die Capulet necken, bleiben Romeo und Rosalinde sehr ernst: Ausgerechnet sie überbringt ihm den Brief, der ihm sagt, dass Julia beim Mönch Lorenzo auf ihn wartet. Dort heiraten Romeo und Julia heimlich, obwohl er ein Montague ist und sie eine Capulet.Rosalinde, die der Liebesbote war, wird auf der Piazza von den Jungs der Montagues gehänselt und belästigt. Tybalt versucht einzugreifen, wird aber selbst zum Spielball. Sein Wutausbruch gegen Mercutio endet für diesen tödlich. Rosalinde will Hilfe holen, doch als sie mit Lady Capulet zurückkehrt, hat sich Romeo bereits auf den Mörder seines Freundes gestürzt und Tybalt umgebracht. Romeo gesteht seiner Julia nach der Liebesnacht, dass er ihren Cousin getötet hat. Ihre Liebe zu Romeo ist größer als der Hass auf den Mörder des Verwandten. Als ihre Mutter und Graf Paris erscheinen, mit dem sie der ebenfalls anwesende Pater Lorenzo vermählen soll, verweigert sich Julia. Lady Capulet und Paris lassen sie in der Obhut des Paters. Der gibt der bereits mit Romeo Verheirateten ein Scheingift, das sie in todesähnlichen Schlaf versetzen soll, um der Hochzeit mit Paris zu entgehen.

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Konstantina Chatzistavrou, Joseph Caldo

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3. AktLady Capulet trauert um ihre tote Tochter. Romeo hat die Nachricht, dass Julia ein Scheingift genommen hat, nicht erreicht. So nimmt er an, in der Krypta auf die Tote zu treffen. Als er da-vor den ebenfalls trauernden Nebenbuhler Paris trifft, tötet er ihn. Im Angesicht der leblosen Julia nimmt Romeo ein Gift, um im Tod mit ihr vereint zu sein. Endlich erwacht Julia glücklich aus dem tiefen Schlaf. Sie ahnt nicht, dass Romeo in wenigen Momenten sterben wird. Ihrem toten Romeo folgt sie in den Tod. Die Tragödie wurde von den Montagues und den Capulets erlebt. Hat der Tod der Liebenden einen Sinn gehabt?

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EIN MEILENSTEINvon E. N. Rogova

Die größten Leistungen Prokofjews im Ballettschaffen sind mit seiner Tätigkeit während der Rückkehr in die Heimat ver-bunden. Das Ballett „Romeo und Julia“ auf das Sujet der Tragödie von W. Shakespeare wurde für die Entwicklung der musika-lischen und choreographischen Genres ein Ereignis von Weltbedeutung (1936, Szenarium von A. I. Piotrovskij, S. E. Rad-lov und Prokofjew; 1938, Brno, Choreo-graph I. Psota). In vielem von den damals herrschenden Prinzipien des Handlungs-balletts ausgehend, stand dieses Werk den von den Verfechtern des sozialistischen Realismus verkündeten ideell-ästhetischen Ausrichtungen entgegen: Anstelle einer geradlinigen, eindeutigen Konfrontation der positiven Helden mit boshaften Fein-den werden in „Romeo und Julia“ tiefe, psychologisch glaubhafte, mitunter in sich widersprüchliche Charakterisierungen der Personen entwickelt. Die Rechtfertigung der Liebe, die mehr bedeutet als der Streit und die Gewalt, der leidenschaftliche Auf-ruf zur Versöhnung konnten in jener Zeit, als in der Gesellschaft sich zielgerichtet Grausamkeit und Hass gegenüber freiem Denken aufheizten, das Erscheinen der Werke Prokofjews im Repertoire der füh-renden Theater des Landes nur erschwe-ren (das Ballett wurde erst 5 Jahre nach seiner Fertigstellung aufgeführt). Dessen ungeachtet wurde die Inszenierung, die 1940 von L. M. Lavrovskij auf die Bühne des Kirow-Theaters gebracht wurde, zu einem Klassiker und zum Ur-Fixpunkt für die folgenden Interpretationen des Werks von Prokofjew.

Prokofjew:

Es gibt immer noch so viel Schönes, das man in C-Dur ausdrücken kann.

In meinen Augen ist ein Komponist, ebenso wie ein Dichter, Bildhauer oder Maler, in die feste Pflicht genommen, dem Men-schen, dem Volk zu dienen. Er muss das Leben schmücken und verteidigen. Er muss in erster Linie ein Staatsbürger sein, so dass seine künstlerische Kraft das mensch-liche Leben bewusst lobt und den Men-schen zu einer strahlenden Zukunft führt.

Mein Hauptvorzug (oder, wenn Sie wollen, mein Hauptfehler) war die unermüdliche, lebenslange Suche nach einer originären, individuellen Musiksprache. Ich hasse Imi- tation, ich hasse abgenutzte Kunstgriffe.

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Ich habe niemals die Bedeutung der Melodie angezweifelt. Ich liebe die Melodie sehr, und ich betrachte sie als das bedeutendste Element in der Musik, und ich arbeite viele Jahre an der Vervollkommnung ihrer Qualität in meinen Kompositionen.

Natürlich habe ich in meiner Zeit auch Dis-sonanzen verwendet, aber jetzt gibt es zu viele Dissonanzen. Bach hat Dissonanzen als gutes Salz für seine Musik verwendet. Andere verwendeten Pfeffer, würzten die Gerichte immer stärker, bis aller gesunde Appetit dem Überdruss wich und bis die Musik nichts mehr als Pfeffer war.

Formalismus ist Musik, die die Leute nicht beim ersten Hören verstehen.

Als Sergej Prokofjew nach Jahren im Westen in die UdSSR zurückkehrte, ver-sprach er sich ein neues Publikum, das ihn in der Arbeit beflügeln sollte. Er fand es. Im Januar 1936 schrieb er: „Das Interesse unseres Arbeiterpublikums an sowjetischer Musik hat in letzter Zeit außerordentlich zugenommen. (…) Ich muss geradezu sagen, dass die Arbeiter in Tscheljabinsk eine viel größere Aufgeschlossenheit dem Programm gegenüber zeigten als manches gebildete Pub-likum westeuropäischer oder amerikanischer Kulturzentren.“ 1937 schrieb er in einem damals unveröffentlichten Manuskript: „Die Zeiten, in denen Musik für einen kleinen Kreis von Ästheten geschrieben wurde, sind vorbei. Jetzt stehen große Massen des Volkes ernster Musik von Angesicht zu Angesicht fragend und wartend gegenüber. Kompo-nisten, verhaltet euch dieses Augenblicks würdig! (…) Die Massen verlangen nach großer Musik, nach großem Geschehen, nach großer Liebe, nach lustigen Tänzen. Sie verstehen erheblich mehr, als manche Kom-ponisten meinen, und möchten sich weiterhin vervollkommnen.“ In einem Prawda-Artikel „Das Aufblühen der Kunst“ (ebenfalls 1937) schrieb er darüber, wie seiner Meinung nach, die zeitgenössische Musik zu ent-wickeln sei: „ … sehe ich jedes Bestreben des Komponisten nach Simplifizierung als falsch an. Ein jeder Versuch, sich dem Hörer ‚anzupassen‘, birgt in sich nicht nur die Un-terschätzung der kulturellen Reife des Hörers und seines sich immer mehr entwickelnden Geschmacks, ein solcher Versuch enthält auch ein Element der Unaufrichtigkeit. Und unaufrichtig geschriebene Musik entbehrt der Lebensfähigkeit. (…) Darin eben besteht die Schwierigkeit, in einer klaren Sprache zu komponieren und dass diese Klarheit nicht die alte, sondern eine neue sein muss.“

MUSIK IN DER UDSSR

Joseph Caldo, Leo Vendelli

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Mit dem Komponisten Sergej Prokofjew fand die Liebesgeschichte einen Mentor, der die Diskussionen, die vor allem im 20. Jahr-hundert um das Drama aufkamen, beiseite-schob und auf seine Art überflüssig machte.

Prokofjew, der 1891 auf einem ukrainischen Gut geboren wurde, in St. Petersburg stu-dierte und Pianist sowie Komponist war, verließ ein Jahr nach der Oktoberrevolution das Land, um vor allem in Frankreich und den USA zu arbeiten. Er war außerordentlich erfolgreich im Ausland, doch eine tiefe Ver-bundenheit (Liebe?) zu seiner Heimat ließ ihn 1935 endgültig dorthin wieder zurückkehren. Auf der im Oktober 2016 vom russischen Kulturministerium in Tscheljabinsk abge-haltenen Konferenz „Prokofjew-Lesarten“ stellte die Kulturwissenschaftlerin N. W.

Rastvorova eine besondere Nähe Prokofjews zu Tschaikowsky her. Die literarischen Sujets, die aussagekräftige Gestaltung, die Genres und die tiefen Strukturen der Werke beider Komponisten weisen Parallelen auf, die Ras- tvorova mit der Zeit des Umherwanderns der Komponisten erklärt. Der Auslandsaufenthalt der beiden, die jeweils auf einem ländlichen Gut im Süden des russischen Reiches ihre glücklichsten Stunden verlebten, verstärkte den Bezug zur Heimat. Prokofjew sagte einem französischen Journalisten, im Ausland „mangelt es mir an den Liedern von Menschen meines Fleischs und Blutes, an meinen Liedern“, „hier büße ich meine Kräfte ein“. Es fiel ihm schwer, sein Schicksal mit dem des Bolsche-wismus zu verbinden, und doch, wie Tschai-kowsky strebte er nach Selbstverwirklichung

PROKOFJEW – DAS WESENTLICHE ERKENNENvon Anja Eisner

Keiko Okawa, Ruan Martins, Saori Ando, Johanna Schnetz

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William Shakespeares „Romeo und Julia“ wurde 1597 gedruckt, nachdem das Stück viele erfolgreiche Aufführungen erlebt hatte. Vermutlich ist es daher ein oder zwei Jahre zuvor geschrieben worden. Wie üblich griff der Theatermann auf eine überlieferte Geschichte zurück. Masuccio von Salerno hatte 1474 ein „Novellino“, ein Novellenbüchlein, her-ausgegeben, in dem man der Handlung in groben Zügen wohl zum ersten Mal begegnet. Luigi da Porto führte mit einem Ball, einer Balkonszene und dem zweifachen Selbstmord um 1535 weitere Szenen ein, die wir heute kennen. Mehrfach wurde der Stoff weiter bearbeitet. Matteo Bandellos Fassung von 1554 soll sehr gut gewesen sein. Sie wurde in der französi-schen Übertragung von Pierre Boaistuau (1559) in England bekannt. Shakespeare mag sie gelesen haben, ebenso wie das darauf fußende, 3000 Verse lange Gedicht Arthur Brookes, „The Tragical History of Romeus and Juliet“ (1562), und eine No-velle von William Painter (1567). Frühere Bühnenfassungen sind nicht erhalten, so dass die zeitliche Verknappung der Handlung auf wenige Tage, das fast kind-liche Alter Julias und die lyrische Sprache auf Shakespeare zurückzuführen sind.Werner von Koppenfels weist vor allem auf Shakespeares Leistung als inhaltlicher Bearbeiter hin: „Shakespeare verwandelt die Motive von eigener Schuld und Schicksals-verhängnis in seinem Konzept der Tragödie: In ihrer Unbedingtheit zerstört sich die Liebe selbst im unvermeidlichen Konflikt mit der Umwelt (…), und der Unstern über den Lie-benden (…) ist zugleich Verhängnis und eigene Wahl eines weltverachtenden Gefühls.“

SHAKESPEARES QUELLENvon Anja Eisner

in der Kunst. „Ich wünschte mit allen Kräften der Seele, dass meine Musik, jemandem etwas gelte …“, schrieb Prokofjew, und Tschai-kowsky notierte: „In diesem Sinne liebe ich den Ruhm nicht nur, sondern er stellt das Ziel der ernsthaften Seite meiner Tätigkeit dar.“

Als Prokofjew ein Jahr vor seiner Rückkehr vom Marijnskij-Theater um ein Ballett gebeten wurde, suchte er nach einem lyrischen Stoff. Ob „Romeo und Julia“ eine Schicksalstragödie oder eine Charakter-tragödie sei, war zweitrangig. Prokofjew beherrschte die Kunst, den Zuschauern die dargestellten Menschen nahe zu bringen. Obwohl das Auftragswerk nicht wie geplant uraufgeführt werden konnte und erst am 30. Dezember 1938 im tschechischen Brno auf die Bühne kam, musste es sich durch-setzen. Die Leningrader Erstaufführung mit Galina Ulanowa und Konstantin Sergejew 1940 geriet zu so einem Erfolg, dass man sie fälschlich oft für die Uraufführung hielt.

Konstantina Chatzistavrou, Gabriela Finardi (verdeckt), Joshua Lowe, Samuël Dorn

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DRAMA UND BALLETTvon Anja Eisner

25 637 Wörter hat Shakespeare für seinen Text, nein, seine Dichtung „Romeo und Julia“ vom Prolog bis zum Ende gebraucht, um eines der größten Werke der Welt- literatur zu schaffen. Wie kann man es dann eigentlich wagen, sich auf ihn zu be- rufen und die Geschichte ganz ohne ein Wort nachzuerzählen??

Das Geheimnis für die Antwort liegt im Genre des Balletts begründet. Der Tanz, der sich bei Hof über die großen Haupt- und Staatsaktionen zum Ballett entwickelte, brauchte bald ausgebildete Spezialisten, die auch mit ihrer Kunst etwas Besonderes zeigen wollten. Das extrovertierte klas-sische Ballett, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht, strebte an, was Schauspiel und Oper nicht leisten können: Leiden-schaften, die sprachlos machen (Jean No-verre). In der Antike fand man Sagenstoffe, bei deren Nacherzählung (wie zum Beispiel in Glucks „Orpheus und Eurydike“) das Ballett in ungekannter Weise emotional bereichern konnte. Nach der französi-schen Revolution waren neben der Oper und dem Vaudeville, das Rührstück und besonders das Melodrama populär. Darin wurden Irrationales, Horrorgeschichten, phantastische Welten, auch Groteskes the-matisiert, und der Zuschauer konnte sich auf einen versöhnlichen Schluss freuen. Das Melodrama verpflichtete sich einer Überhöhung jenseits einer realistischen Wirklichkeitsdarstellung. So ist es nicht ver-wunderlich, dass im Ballett „La Sylphide“, mit dem im 19. Jahrhundert die Zeit der großen, romantischen Handlungsballette begann, eine Fee im Mittelpunkt stand. Der Schriftsteller Théophil Gautier, der auch als Kunstkritiker tätig war, meinte, dass „für ein Ballett, das einige Wahrschein-lichkeit haben soll, alles unwahrscheinlich sein muss … die ganze Phantasie jenseits

aller Glaubwürdigkeit ist die wahre Sphäre des Balletts.“ Nachdem zunächst Märchen ver-tanzt wurden, fand der Choreograph Marius Petipa seine Stoffe bei den nicht weniger phantasievollen Romantikern wie Gautier. Als um die Wende zum 20. Jahrhundert die tradierten Kunstformen in Frage gestellt wurden, ging es nicht mehr um die Kunst schlechthin, sondern: „Wir wollten nur aus-drücken, was in uns war.“ (Picasso). Knapp 30 Jahre später wählte Prokofjew den großen Shakespeare-Text für sein Ballett. Intuitiv stellte er sich in die Balletttradition und entwickelte sie weiter: Das wichtigste der Story sind nicht Verflechtungen, sondern Menschen; was passiert, ist unglaublich, obwohl rational logisch; und Prokofjew fügte seinem Ballett eine Musik hinzu, die nicht nur Tanzen im Rhythmus ermöglichte, sondern dem ganzen Geschehen eine zu-sätzliche, tiefere, emotionale Ebene verlieh.

Somit bedarf es heute auf der Nordhäuser Bühne zum Verständnis des Werkes nicht unbedingt der 24 239 Wörter, die August Wilhelm von Schlegel für die Nachdichtung verwandte. Der Tanz erschließt „Romeo und Julia“ vor allem auf der emotionalen Ebene.

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Für deine dritte große Choreographie am Theater Nordhausen greifst du schon zum zweiten Mal auf ein klassisches Ballett, auf ein klassisches Thema, zurück. Findest du in der Gegenwart nicht genug Stoffe?

(lacht): Doch! Aber ich finde, die Konflikte sind in den klassischen Stoffen und in der Gegenwart die gleichen. Sie haben sich nicht verändert, nur ihre Umgebung. Die Konflikte, die Gründe, etwas zu tun, sie bleiben gleich. Sie wirken heute nur aktuali-siert, weil sie in einer anderen politischen Realität stattfinden, in jener, in der wir ge-rade leben. Aber: Zwischen den Menschen passiert genau das Gleiche wie früher. Was die Menschen fühlen, das gleicht sich, das ist geblieben. Auch die „West Side Story“ ist diese Geschichte, es gibt nur immer wieder eine neue Lesart.Und: Für dieses Sujet habe ich mich ent-schieden, weil es um mein Lieblingsthema geht, die Suche nach der wahren Liebe. Das ist ein Thema, das uns alle beschäftigt – ein Leben lang.

Fühlst du dich bei der Arbeit in einem histo-rischen Spannungsfeld, spürst du Verantwor-

WIE HAT SICH DAS DAMALS ANGEFÜHLT?Interview mit dem Choreographen Ivan Alboresi

tung für Jahrhunderte, wenn du ein Drama aus dem 16. Jahrhundert zu Musik aus dem 20. im 21. Jahrhundert auf die Bühne bringst?

So habe ich nicht gedacht, das ist für mich sekundär. Es geht vielmehr darum: Was erzählen wir? Ich glaube, ich spüre nicht die Verantwortung, ich möchte eher das Drama spüren, das in der Zeit stattgefun-den hat. Ich versuche meine Konzentration darauf zu lenken, wie sich das für die Men- schen damals angefühlt haben mag, nicht darauf, ob etwas richtig oder falsch in seiner Zeit gewesen ist.Mit meiner Arbeit habe ich versucht, das, was damals die Leute berührt hat, so zu interpretieren, dass wir auf der Bühne etwas sehen, das uns heute berührt und beschäftigt. So wird auf zwei unterschiedli-che Arten – durch das klassische Stück und durch seine Interpretation – hervorgeho-ben, was die Leute beschäftigt.

Wenn ich inszeniere, dann muss ich mich fragen: Wie hat sich das damals angefühlt, was sie getan haben? Wenn man damals je-mandem ans Handgelenk gefasst hat, dann ist das, wenn du es heute tust, nicht mehr das Gleiche. Um das Gefühl hervorzurufen, musst du etwas anderes machen. Wenn Männer damals eine Frau nur berührt ha-ben, dann war das schon ein Drama, heute ist das anders; wir reagieren auf gleiche Handlungen mit einem anderen Gefühl. Ich muss also neue Handlungen erfinden, um die Brücke zur Vergangenheit zu schlagen.

Ist dir als einem, der in Norditalien aufge-wachsen ist, der Stoff aus Verona besonders nahe?

Ich komme aus einer Stadt, die nur 54 km von Verona weg ist, und ich war tatsächlich oft dort. Vielleicht habe ich deshalb auch eine besondere Beziehung zu Verona … (schmunzelt nachdenklich). Wenn man in

Joshua Lowe, Gabriela Finardi

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Verona ist, kann man die Liebesgeschichte nicht übersehen. Sie geht nicht nur von der Grabstätte aus oder von dem Balkon; man verbindet die ganze Stadt vor allem mit Romeo und Julia und dann erst mit der Arena und ihren kolossalen Operninszenie-rungen. Ich habe einfach das Glück gehabt, die größte Liebesgeschichte aller Zeiten dort kennenzulernen, und ich fand das so faszinierend! Diese große, alles sprengen-de, junge Liebe ist bereit, für die Liebe zu sterben! Romeo und Julia scheitern nicht an ihrer Liebe, sondern am Umfeld. Aber ihre Liebe hat dieses Umfeld auch gebraucht, um überhaupt so groß zu werden und zu bestehen. Es ist bei Romeo und Julia wie bei allen jungen Leuten: Je weniger man etwas kriegen kann, desto mehr will man es! Dass sie nicht zusammen sein durften, haben sie als eine Provokation der Umwelt empfunden, die sie noch näher zueinander geführt hat.

Worauf legst du in deiner Nacherzählung der Geschichte von Romeo und Julia den besonde-ren Fokus?

Man kann keinen besonderen Fokus darauf legen. Es ist ein Drama mit Tragödie, Komödie, Leidenschaft, Liebe und Tod. Das alles kann man nicht erzählen, wenn man nicht gleichzeitig auch die Gegenpole dazu mit erzählt. Ich ziehe den Fokus nicht nur auf das Lie-bespaar, auf seine „amour fou“ vom ersten Blick bis zum Tod. Ich interessiere mich auch für die anderen Personen, für ihre Suche nach der wahren Liebe. Ich versu-che, mich zu befragen: Warum handeln die anderen so, wie sie handeln? Was ist mit ihnen geschehen, was ist ihre Vorgeschich-te? Die Mutter zum Beispiel, Lady Capulet, warum ist sie so geworden? Oder Rosalinde. Sie war nicht bereit für eine Liebesbeziehung mit Romeo, aber als sie auf

Martina Pedrini, Joshua Lowe, Ruan Martins, Joseph Caldo, Leo Vendelli

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dem Ball seine Reaktion auf Julia sieht, da ist sie dennoch enttäuscht. Es ist immer eine Enttäuschung, wenn ein anderer einem vorgezogen wird – selbst wenn man sich gegen ihn entschieden hat. Trotzdem überbringt sie Romeo aus Liebe zu Julia deren Brief und würde ihm, wenn sie dann vor ihm steht, gerne sagen: „Es tut mir leid, dass es mit uns nicht geklappt hat …“

Du kannst die Konzeption für ein Ballett nicht allein auf die Bühne bringen. Wie war deine Zusammenarbeit mit den Ausstattern, mit Ronald Winter und Anja Schulz-Hentrich?

Es war wie bei „Schwanensee“ im vorigen Jahr wieder mal sehr angenehm mit ihnen zu arbeiten. Die beiden lassen sich sehr auf meine Gedanken ein. Die Bühne ist sehr zurückgenommen, so dass man umso mehr die Gefühle wahrnimmt, die dargestellt werden. Man muss im Spiel nicht über-treiben, um etwas fühlen zu lassen. Die Gefühle, sie sind pur dargestellt, werden nicht überlagert von einem ganzen „Drum-herum“. Dem fügen sich auch die Kostüme, die uns zusätzliche Informationen über die Personen geben.

Wie beschäftigst du dich beim Erarbeiten eines Balletts mit der Musik?

Erstmal muss ich für mich die Gedanken klären, was ich mit der Geschichte erzäh-len möchte. Dann beschäftige ich mich mit dem konkreten Libretto, und dann versu-che ich mit der Musik, also mit dem, was ich zur Verfügung habe, eine atmosphäri-sche, richtige Stimmung für die Handlung wiederzugeben. Ich wähle aus, was sich für mich zu den Szenen richtig anfühlt. Ich muss bei der Musik etwas fühlen und dann versuchen, das wiederzugeben, das Gefühl weiterzugeben. Dann höre ich die Musik fast ununterbrochen, solange, bis ich überzeugt bin, dass es meine Geschichte ist, solange, bis ich nicht mehr denke, das ist eine Geschichte, wie sie bei anderen stattfinden könnte.

Sieht man die Tänzer in „Romeo und Julia“, meint man bisweilen, die Rollen seien ihnen auf den Leib geschrieben. Wie bist du vorge-gangen: Hast du deine Lesart entwickelt und dann besetzt? Oder hast du besetzt und den Figuren Züge verliehen, die von den Tänzern und Tänzerinnen besonders gut verkörpert werden können?Also, als ich wusste, was ich erzählen will, habe ich überlegt, wer passt als Typ zu meinem Konzept, zu meinen Gedan-ken. Nachdem ich diese Entscheidung für die Besetzung getroffen habe, habe ich angefangen, meine Choreographie zu machen. Erst dabei habe ich angefangen, die Rolle für den Menschen, für den bestimmten Tänzer, zuzuschneiden. Des-wegen sind jetzt die Rolle und der Tänzer eins. Ich möchte den Tänzern, wenn sie tanzen, das Gefühl geben, dass sie die Rolle sind, dass sie wirklich fühlen, dass sie nicht jemanden spielen.

Hugo Mercier, Konstantina Chatzistavrou

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Ruan Martins, Joseph Caldo, Konstantina Chatzistavrou, Leo Vendelli

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Quellen:

S. 3: Text erschienen in Le Monde, 10. März 1953, zit. nach Schipperges, Thomas, Sergej Prokofjew, rowohlts monographien, Reinbek b. Hamburg 2005. S. 4: Die Handlung wurde für dieses Heft von Anja Eisner nacherzählt. S. 6: E. N. Rogova unter neu-er Überschrift in Übers. von A. Eisner zit. nach Russkij balet, Entsiklopedija, Moskva 1997. S. 6/7: Prokofjew-Zitate nach www.azquotes.com/author/21059-Sergei_Prokofiev, aus dem Engl. übersetzt von A. Eisner. S. 7: Prokofjew-Zitate im Artikel „Musik in der UdSSR“ aus: Streller, Friedbert, Prokofjew und seine Zeit, Laaber 2003. S. 8/9: Originalartikel für dieses Programmheft unter Verwendung von http://chgik.ru/sites/default/files/supportfile/mat_konf_prokofiev_08.10.2016.pdf (russ.). S. 9: Artikel unter Verwendung von Schabert, Ina, Shakespeare-Handbuch, Stuttgart 1992. S. 10: Originalartikel für dieses Programmheft. S. 11–13: Originalinterview für dieses Programmheft. S. 16: übers. und zit. nach http://chgik.ru/sites/default/files/supportfile/mat_konf_prokofiev_08.10.2016.pdf.

Die Bilder entstanden zur ersten Probe in Kostüm und Maske. Urheber ist András Dobi.

DIE STADTBIBLIOTHEK „Rudolf Hagelstange“, Nikolaiplatz 1, Tel. (0 36 31) 69 62 67, hält zum Ballett „Romeo und Julia“ u. a. folgende Medien bereit:

Bücher Günther, Frank: Unser Shakespeare: Einblicke in Shakespeares fremd-ver-wandte Zeiten. – Originalausgabe, 4. Auflage – München: Deutscher Taschen-buch Verlag, 2015. – 335 Seiten: Illustrationen – (dtv-Premium; 26001)

Schipperges, Thomas: Sergej Prokofjew. – 2. Auflage – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verl., 2005. – 158 Seiten: Illustrationen – (rororo Mono-graphie; 50516)

Scheu, Thilo: Gardasee mit Verona und Brescia. – 1. Auflage – Bielefeld: Reise Know-How Verlag Peter Rump GmbH, 2017. – 408 Seiten: Ill., Karten

Shakespeare, William: Romeo und Julia: ein Trauerspiel in fünf Akten. In der Übers. von August Wilhelm von Schlegel. – Husum: Hamburger Lesehefte Verl., 2013. – 95 Seiten – (Hamburger Lesehefte; 128)

CDs Prokofjew, Sergej: Romeo and Juliet: Ballett in vier Akten und neun Bildern. – Hamburg: Polydor International GmbH, P 1987. – 2 CDs: DDD – (Deutsche Grammophon)

Romeo und Julia: das Ballett von Sergej Prokofjew zur Geschichte von William Shakespeare/erzählt von Rudolf Herfurtner; mit Bildern von Anette Bley. – München: Betz, 2008. – 30 Seiten: zahlreiche Illustrationen + 1 CD – (Das musikalische Bilderbuch)

Shakespeares Geschichten: Tragödien Teil I; Elke Heidenreich liest die großen Tragödien Shakespeares in der Nacherzählung von Walter E. Richartz. – Kein & Aber Records, 2003. – 3 CDs. Enth. u. a.: Romeo und Julia

DVD Romeo und Julia/nach dem Drama von William Shakespeare; Regie: Baz Luhr-mann; Darsteller: Leonardo DiCaprio; Claire Danes; Brian Dennehy. Musik: Nellee Hooper. – FOX, 2013. – 1 DVD (115 Minuten)

West Side Story/Musik: Leonard Bernstein. Text: Stephen Sondheim. – 2005. – 1 DVD (145 Minuten)

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Impressum:Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbHIntendant: Daniel Klajner, Käthe-Kollwitz-Str. 15, 99734 Nordhausen, Tel.: (0 36 31) 62 60-0Programmheft Nr. 4 der Spielzeit 2017/2018Premiere: 20. Oktober 2017Redaktion und Gestaltung: Dr. A. Eisner, Layout: Landsiedel | Müller | Flagmeyer, Nordhausen

„Im Ballett ‚Romeo und Julia‘ unterwirft sich der thematische Komplex,der die unsterbliche Idee der Liebe verkörpert, der emotionalen Kraft und Schönheit des sich verströmenden romanti-schen Gefühls.“N. W. Rastvorova


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