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SONDERDRUCK - WordPress.com · 2017. 6. 23. · Gars abseits von Suppé und Falco. Was...

Date post: 02-Feb-2021
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SONDERDRUCK
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  • SONDERDRUCK

  • Mit einem Gastbeitrag von Andreas Weigel

    praesent2016

    das österreichische literaturjahrbuch

    Michael Ritter & Joanna Łukaszuk-Ritter

    Praesens Verlag

  • ISBN: 978-3-7069-2016-2

    Bibliografische Informationder Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeich-net diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliogra-fische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Wien 2016© Praesens VerlagInternet: http://www.praesens.at

    Alle Rechte vorbehalten. Rechtsinha-ber, die nicht ermittelt werden konnten, werden gebeten, sich an den Verlag zu wenden.

    Gedruckt mit Förderung von

  • Inhalt

    Die Chronikder Monate Juli 2014 bis Juni 2015Von Joanna Łukaszuk-Ritter

    ArtikelVon Michael Ritter

    Johann Nepomuk Ritter von Kalchberg – zwischen Politik und Schriftstellerei. Zum 250. Geburtstag

    Medizin, Militär und Muse. Heinrich von Schullern zum 150. Geburtstag

    Gastbeitrag von Andreas Weigel

    Gars abseits von Suppé und Falco. Was weltberühmte Filmregisseure, Komponisten, Literaten und bildende Künstler mit der Kamptal-Sommerfri-sche verbindet

    Daten & FaktenLiterarische Neuerscheinungen öster-reichischer Autorinnen und Autoren: Herbstprogramm 2014 bis Frühjahrs-programm 2015Österreichische LiteraturpreiseInternationale Literaturpreise an ös-terreichische Autorinnen und AutorenJubiläen: Geburts- und Todestage österreichischer Autorinnen und AutorenVon Joanna Łukaszuk-Ritter und Michael Ritter

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    Vernachlässigte Aspekte der Garser Kunst- und Kulturge-schichte

    Der Operettenkomponist Franz Suppé (1819-1895), der ab 1876 die Sommermonate in seinem Zweitwohnsitz Gars am Kamp verbracht hat, blieb lange Zeit

    der berühmteste Gast dieser be-kannten Sommerfrische, da ihn Gars Jahrzehnte lang als kultu-relles Aushängeschild bemüht hat. Abgesehen von Suppé ist der Popweltstar Falco (1957-

    Gars abseits von Suppé und Falco. Was weltberühmte Filmregisseure, Komponisten, Literaten und bildende Künstler mit der Kamptal-Sommerfrische verbindet

    Von Andreas Weigel

    Für Barbara Bauer in dankbarer Erin-nerung an die unbeschwerten Sommer-frischen-Monate im Hotel Kamptalhof (1972) sowie im Hotel und Terrassenca-fé Blauensteiner (1973 und 1974)

    1998) der einzige international beachtete Künstler, den die breite Öffentlichkeit mit Gars assoziiert. Allerdings bedarf die Sonderstellung, die diese bei-den Garser Villenbesitzer in der lokalen Kunst- und Kulturge-schichte einnehmen, der Ergän-zung, dass auch das Leben und

    Werk einiger anderer weltbe-rühmter Künstler mit dieser be-liebten Sommerfrische verbun-den ist. So waren beispielsweise der Komponist Hanns Eisler, der Filmregisseur Fritz Lang,

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    die Schriftsteller Heimito Do-derer und Karl Kraus sowie die bildenden Künstler Friedens-reich Hundertwasser, Dagobert Peche und Susi Weigel in Gars am Kamp zu Gast.

    Adam Müller-Guttenbrunns Reportage aus der aufstreben-den Sommerfrische

    Nahezu ein Jahrhundert lang in Vergessenheit geraten ist der Gars-Ausflug des Schriftstel-lers Adam Müller-Guttenbrunn (1852-1923), der seinen Rund-gang durch »den freundlichen, historisch-interessanten Markt« am 5. August 1905 selbst unter dem Titel »Im Kamptale« im »Neuen Wiener Tagblatt« be-schrieben hat. Im Mittelpunkt steht ein Besuch beim Garser Bürgermeister, Julius Kiennast, mit dem Guttenbrunn Fragen des Fremdenverkehrs, der ört-lichen Infrastruktur sowie die angedachte Vereinigung von Gars, Thunau und Manigfall diskutiert:

    Man sonnt sich am Kamp in Zu-friedenheit und Behagen, fast wunschlos fließt das Leben hin, ein Tag so schön wie der ande-re. Das tut auch dem Touristen wohl, die allgemeine Stimmung überträgt sich auch auf ihn. […]

    Es verbringen heute in Gars und Umgebung nicht weniger als zweitausend Personen, fast aus-schließlich Wiener, den Sommer. […] Das gibt Leben und Bewe-gung, Handel und Wandel blü-hen. Das Bedürfnis nach einem Touristenhotel regt sich auch hier.

    Hanns Eislers Wiederkehr mit Variation

    Unter den Garser Sommergäs-ten befanden sich auch einige Personen, die damals bekannt waren bzw. später berühmt wurden. Ein Beispiel für beides bietet die in Wien lebende Fa-milie Eisler: Der Vater, Rudolf Eisler, war angesehener Kant-Forscher und Philosophiehisto-riker, während seine Kinder ab der Zwischenkriegszeit welt-berühmt werden sollten. Seine 1895 geborene Tochter, Ruth, wurde zuerst in Österreich, dann in Deutschland führende kommunistische Politikerin, die sich Mitte der 1920er Jahre von der Kommunistischen Par-tei abwandte und diese später von den USA aus vehement be-kämpfte. Auch ihr 1897 gebore-ner Bruder Gerhart engagierte sich früh für die Kommunisti-sche Partei und nahm bis zu sei-nem Tod im März 1968 mehrere

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    politische Spitzenpositionen in der DDR ein.Das dritte Eisler-Kind, der 1898 geborene Hanns (1898-1962) ist neben Alban Berg, Anton Webern und Allan Gray (alias Josef Zmigrod) der berühmtes-te Arnold-Schönberg-Schüler, nicht zuletzt weil er seit den 1930er Jahren intensiv mit Ber-tolt Brecht zusammengearbeitet hat. Einem breiteren Publikum bekannt sind Eislers Bühnen- und Filmmusiken für Bert Brecht (»Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?«), Fritz Lang (»Hangmen Also Die«), Clifford Odets (»None But the Lonely Heart«), Douglas Sirk (»A Scandal in Paris«), Louis

    Daquin (»Bel Ami«) und Alain Resnais (»Nuit et brouillard«), aber vor allem die von Eisler komponierte Nationalhymne der einstigen DDR »Auferstan-den aus Ruinen«.Wann genau die Familie Eisler in Gars auf Sommerfrische war, ist trotz der erhaltenen Garser Gästebücher noch nicht klar, aber Gerhart Eislers Witwe ver-danken wir zumindest einen entsprechenden Hinweis:

    Zu Gerharts schönsten Kind-heitserinnerungen gehörten die Sommerferien der Familie in Gars-Thunau, einem kleinen Ort in Niederösterreich. Dort konnte er sich seinen sportlichen

    Der Operettenkomponist Franz Suppé (1819-1895), der ab 1876 die Sommermo-nate in seinem Zweitwohnsitz Gars am Kamp verbracht hat, blieb lange Zeit der berühmteste Gast dieser bekannten Sommerfrische, da ihn Gars Jahrzehnte lang als kulturelles Aushängeschild bemüht hat.

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    Leidenschaften hingeben: dem Schwimmen, Rudern und Wan-dern.

    Zweifelsfrei datierbar sind da-gegen die beiden späteren Gars-Aufenthalte des Komponisten Hanns Eisler, der erstmals im Juni 1925 gemeinsam mit seiner damaligen Frau Charlotte nach Gars-Thunau zurückkehrt. Von ihrem gemeinsamen Aufenthalt zeugen eine Fotografie, die ihn gemeinsam mit seiner Frau in Badekleidung vor der Garser Badeanstalt zeigt, zwei weite-re Fotografien, auf denen er in Wanderkleidung zu sehen ist, sowie ein Brief, den er am 22. Juni 1925 an seinen Musikerkol-legen Erwin Ratz geschrieben hat und dessen Absenderan-gabe »Hanns Eisler bei Burian Thunau-Gars No 150 Hirsch-graben« lautet.Im August 1957 kehrt Hanns Eisler mit seiner zukünftigen Frau Stephanie Zucker-Schil-ling erneut nach Gars zurück, wo sie zwischen 24. und 27. August bei Kraft wohnen. Von seinem Besuch sind sieben Fo-tografien erhalten, wovon ihn zwei am Garser Hauptplatz, vier vor dem Hotel Kamptalhof sowie eine vor Stift Altenburg zeigen.

    Stefan Zweigs liebevolle Gars-Verbindung

    Im Sommer 1912 verbringt die angehende Schriftstellerin Fri-derike Winternitz (1882-1971) wegen des heiklen Gesund-heitszustandes ihrer knapp zwei Jahre alten Tochter Su-sanna, die »an einer schweren Dysenterie« erkrankt war, »die sich in ein chronisches Leiden verwandelte«, vier Monate in Gars: »Heute leicht zu heilen, war dies damals eine lebensbe-drohliche Krankheit, die bei ihr erst nach drei Jahren, trotz He-ranziehung berühmter Kinder-ärzte, zum Stillstand kam.«Gemeinsam mit ihren bei-den 1907 und 1910 geborenen Töchtern lebt die knapp Drei-ßigjährige in Gars laut ihren Angaben in der Manigfallmüh-le. Von dort aus umwirbt sie den Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942) brieflich so ge-konnt, dass sie bald seine Ge-liebte und nach der gesetzlich ermöglichten Dispens-Ehe zwi-schen 1920 und Ende 1938 seine erste Ehefrau wird.Obwohl Zweig zu seinen Leb-zeiten Bestsellerautor war, wurde seine biografische Ver-bindung mit Gars erst so spät nachgespürt, dass Senta Baum-gartner und Othmar Pruckner in ihrem Niederösterreich-

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    Kulturreiseführer »Die Gegend hier herum ist herrlich« 1996 nur noch vermuten konnten, wo die erwähnte Manigfall-mühle stand: »Von der ›Ma-nigfallmühle‹ fehlt heute jede Spur. An der Stelle des älteren Bewohnern als ›Listmühle‹ be-kannten Gebäudes befindet sich heute dort die Spiegelfabrik Lachmair. Es ist anzunehmen, dass die ehemalige ›Listmühle‹ der frühere Sommerwohnsitz von Friderike Winternitz war.«Streng genommen das Wohn-haus, nicht die Mühle selbst, die schon am 4. Dezember 1905 einem Großbrand zum Opfer fällt. Während die Mühle und alle dazugehörenden Maschi-nen ein Raub der Flammen wer-den, gelingt es der Feuerwehr das Wohnhaus zu retten. In der Folge wird das Mühlengelände als Bierdepot genutzt, nach dem Ersten Weltkrieg verkauft und darauf ein Sägewerk errichtet, das 1934 einem Elektrizitäts-werk weicht, welches anschlie-ßend zur Produktionsstätte der traditionsreichen Spiegelfab-rik Lachmair umgebaut wird. Mitte der 1990er Jahre schlit-tert dieses namhafte Unterneh-men in die Pleite. Im Jahr 2006 folgt für den Nachfolgebetrieb nach gescheitertem Ausgleich, fehlgeschlagenem Zwangsaus-gleichsversuch und Anschluss-

    Konkurs das endgültige Aus. Zuletzt wurde die Absicht, auf dem Areal eine kunsthand-werkliche Begegnungsstätte mit Architektur- und Künstlerateli-ers sowie gehobener Gastrono-mie und Vinothek zu schaffen, verworfen, das Wohngebäude als Asylquartier an das Innen-ministerium vermietet und die Revitalisierung des Areals als Schaukraftwerk begonnen.Laut ihrer Erinnerung verließ Winternitz Gars während ihres Aufenthalts nur ein einziges Mal, um am 24. Juli 1912 ihren Mann in Wien zu treffen. Als sie dort abends ein Gasthaus besucht, nimmt sie an einem Nebentisch den von ihr verehr-ten Schriftsteller Stefan Zweig wahr, der wiederum mit Ge-nugtuung beobachtet, wie ihr von ihrem Begleiter Zweigs jüngst erschienene Nachdich-tungen von Émile Verhaerens »Hymnen an das Leben« über-reicht werden.Die knapp dreißigjährige, ver-heiratete Frau sieht in diesem zufälligen Zusammentreffen einen Wink des Schicksals, weshalb sie am nächsten Tag, sofort nach ihrer Rückkehr nach Manigfall, dem ein Jahr älteren Schriftsteller einen halb anonymen Brief mit der Einla-dung schreibt, ihn an »Maria von W. postl. Rosenburg am

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    Kamp« zu beantworten: »viel-leicht bedürfte es nicht der Er-klärung, weshalb es mir leicht fällt, das zu tun, was die Leute ›unschicklich‹ nennen. Wes-halb es mir sonst nicht unge-heuerlich erscheint, das gehört nicht hierher. Ich war gestern auf einen halben Tag und eine Nacht in Wien, kam aus meiner sanften Landschaft, aus einer Mühle, wo Wald und Wasser um mich ist und keine Stadt-kultur. – Und da geschah solch ein lieber Zufall. – Ich habe Sie vor ein paar Jahren [1908] an einem Sommerabend beim Stelzer, wo Girardi Abschied nahm, gesehen. Jemand sagte:

    das ist der Stefan Zweig. Ich hatte eben eine Novelle von Ihnen gelesen, und Sonette las ich (ob ich sie damals schon kannte, weiß ich nicht), deren Klang mir nachlief. Es war ein hübscher Abend damals. Sie sa-ßen, glaube ich, mit Freunden, und es war oder schien eine Be-geisterung unter ihnen. Es war damals so eine Art Wendezeit in meinem Leben. Spät abends fuhren wir dann in einem schö-nen, raschen Wagen nach Wien. Und gestern saßen Sie im Ried-hof neben mir, und ein Bekann-ter brachte mir die »Hymnen an das Leben«. Ich las sie heute zum Räderrollen, als ich früh

    Wechselhaft verläuft die Geschichte des Grand Hotels Kamptalhof, das zu Pfings-ten 1914 feierlich eröffnet wird und allerbeste Aussichten auf wirtschaftlichen Erfolg hat, der durch den Ersten Weltkrieg vereitelt wird.

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    morgens wieder in meine Som-merheimat fuhr. Draußen lagen die Felder in der freudigsten Sonne. Und da erschien es mir nicht unnatürlich, Ihnen einen Gruß zu senden. […].«Wie ungeduldig Friderike Win-ternitz auf Zweigs Antwort gewartet hat, zeigt ihr Artikel »Der Sommerbrief«, der am 4. August 1912 im Wiener »Frem-den-Blatt« erschienen ist. Ihr Beitrag dreht sich (für Außen-stehende nicht wahrnehmbar) vor allem um das ungewisse Schicksal ihrer Flirt-Fanpost an Zweig, dessen Nachdichtung der »Hymnen an das Leben« sie durch die aus dem Gedicht »Zum Meere hin« übernomme-ne Formulierung »in der Ewig-keit reglosem goldenen Blick« versteckt zitiert.Anders als im Artikel »Der Sommerbrief« beschrieben, wartet sie nicht auf den Brief-träger, sondern auf die Hinter-legung des erhofften Briefes am Postamt der Nachbargemeinde Rosenburg, wohin sie sich als verheiratete Frau aus besserer Gesellschaft Zweigs Antwort postlagernd schicken lässt.Tatsächlich antwortet Zweig am 29. Juli mit einem Brief, der gemeinsam mit all seinen Brie-fen aus der Anfangszeit dieser Beziehung verschollen ist, wes-halb sein Inhalt bis auf weiteres

    nur aus Friderike Winternitz‘ weiterer Korrespondenz er-schlossen werden kann.Der Garser Sommerbriefwech-sel verläuft so erfolgreich, dass Friderike Winternitz bald nach ihrer Rückkehr nach Wien Zweigs Geliebte wird. Aber die von ihr angestrebte Heirat kann erst nach dem weltkriegsbe-dingten Zusammenbruch der Monarchie und der dadurch ge-setzlich ermöglichten Dispens-Ehe eingegangen werden. Dem-gemäß lebt Friderike Winternitz nach ihrer am 28. Mai 1914 er-folgten Scheidung bis 28. Janu-ar 1920 mit Zweig »in wilder Ehe (die aber sehr sanft ist)«, wie Zweig am 27. Februar 1919 seinem Verleger Anton Kippen-berg versichert. Mit großzügi-ger Bescheidenheit hält seine Geliebte am 3. November 1916 in ihrem Tagebuch fest, dass sie selbst seine Liebschaften tole-riere:

    Stefan hat mich heute zu seinem dauerndem ›Oberhaserl‹ er-nannt. Mehr will ich nicht, möge er sich ab und zu eines Unterha-serls erfreuen. Ich gönne ihm an-dere und ihn anderen. Wenn ich nur immer sein Oberhaserl bin.

    Zweig hat Gars 1912 nicht be-sucht, aber in seinem Werk dem Kamptal eine klitzekleine pri-

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    vate Reverenz erwiesen, indem sein posthum veröffentlichter Roman »Rausch der Verwand-lung« diese Sommerfrischere-gion erwähnt: »Dann war man heimgetrabt, rasch, rasch, mit flinken Schritten, denn selbst-verständlich hatte man wieder die Zeit verpasst, und sie soll-te der Mutter doch Einpacken helfen: in zwei Tagen sollten sie hinüber ins Kamptal auf Sommerfrische.« Diese Passa-ge spielt 1914 um die Zeit der österreichischen Generalmobil-machung, was thematisch und zeitlich zum nächsten Gars-Be-sucher führt.

    Wo Karl Kraus war, als der österreichische Thronfolger in Sarajewo erschossen wurde

    Karl Kraus‘ Gars-Aufenthalt ist nicht wegen seiner Dauer, sondern wegen des Zeitpunk-tes interessant, da er die Frage beantwortet, wo der Autor des Weltkriegsdramas »Die letzten Tage der Menschheit« war, als am 28. Juni 1914 in Sarajewo die tödlichen Schüsse auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger und dessen Frau fielen.Am Tag des Attentates pendelt Kraus, der sich nach einem Aufenthalt bei seiner Geliebten

    Sidonie Nádherný vom böhmi-schen Schloss Janowitz direkt nach Wien chauffieren lassen wollte, als barmherziger Sama-riter zwischen Gars und Horn. Dort war er durch einen verletz-ten Buben aufgehalten worden, den er zuerst mit dem Auto nach Hause bringt. Anschließend lässt er sich vom Chauffeur nach Gars fahren, wo er einen Arzt abholt, der den Jungen ins Spital einliefert, worauf Kraus und sein Chauffeur über Gars nach Wien fahren, wo Kraus erst gegen Mitternacht vom At-tentat erfährt, dessen weltpoliti-schen Folgen er in »Die letzten Tage der Menschheit« »für alle Zeiten« festhalten wird.

    Sonntag: erst nachts ½ 12 nach Wien gekommen, die Nachricht erst durch eine Extraausgabe in der Nußdorfer Straße emp-fangen. Die Fahrt zog sich so hinaus, weil in Tabor und Horn lange Aufenthalte, ferner: hin-ter Horn eine Rettungsaktion durchgeführt. Ein Junge, der von einem Kirschbaum gefallen war, lag blutend auf der Erde, von heulenden Leuten umgeben. Wir brachten ihn nachhause, fuhren dann nach Gars (Kampthal), hol-ten einen Arzt, der ihn mit uns ins Spital brachte (Armbruch). Wir fuhren dann durch das schö-ne Kampthal – ein großer Um-

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    weg. Letzter Aufenthalt: 10 Uhr vor Tulln in der großen Ebene ein Pneumatikdefekt (Beschädi-gung durch einen Nagel).

    Die von Kraus in diesem Brief an Sidonie Nádherný erwähnte Reifenpanne bestätigt übrigens die von Herbert Trautsam-wieser überlieferte Erfahrung, dass damals eine Autofahrt ins Kamptal häufig unbeque-mer war als mit dem Zug, da auf dieser Strecke oft »drei bis viermal die Reifen gewechselt werden mussten. Grund der vielen Reifenpannen waren die Hufnägel, die damals auf den Straßen lagen.«

    Vom Weltkrieg überrascht: Peche und Lang

    Als einen Monat später, am 28. Juli 1914, der österreichisch-un-garische Monarch durch seinen Außenminister Serbien mut-willig den Krieg erklären lässt, was durch die bekannten Bei-standsbündnisse zwangsläufig zum Ersten Weltkrieg führt, befindet sich mit Dagobert Pe-che (1887-1923) ein später welt-bekannter Jugendstil-Künstler in Gars:

    Der Kriegsausbruch überraschte ihn in der Sommerfrische in Gars am Kamp; als er nach Wien zu-rückkehrte, wollte sich durch Wochen kein Auftrag einstellen, in seiner Verzweiflung begann

    Gemeinsam mit ihren beiden 1907 und 1910 geborenen Töchtern lebt Friderike Winternitz in Gars laut ihren Angaben in der Manigfallmühle.

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    er seine Wohnung in der Neu-baugasse 29 auszumalen.

    Um die Zeit von Peches Abreise trifft der später gleichfalls welt-berühmte Filmregisseur Fritz Lang (1890-1976) im Ortsteil Manigfall ein, wo seine Eltern, die übrigens in Gars gestorben und begraben sind, ein be-scheidenes Landhaus besitzen. Dorthin kehrt Lang im August 1914 zurück, nachdem er Paris Ende Juli wegen des drohenden Weltkriegs überstürzt verlassen musste. Lang verbringt eini-ge Zeit in Gars, was durch ei-nen ausführlichen Garser Brief belegt wird, in dem er am 29. August 1914 einem Freund de-tailliert die letzten Tage in Paris und die turbulente Rückreise nach Österreich schildert. Für die biografische Fritz-Lang-For-schung war dieses Dokument besonders interessant, weil es erstmals authentischen Einblick in Langs frühes – von diesem streng gehütetes – Privatleben erlaubte und laut dem Filmhis-toriker Georges Sturm die von Lang lancierte Legende »vom armen Künstler Fritz Lang« wi-derlegt, »der ohne einen Sou in Paris lebt und gezwungen ist, Postkarten zu zeichnen, um zu überleben [...]. Tatsächlich hat Lang Geld und lebt gut [...], geht gerne ins Moulin Rouge

    und ins Kabarett – auch das zeigt seine Neigungen und sei-nen Lebensstil.«Langs Garser Schreiben blieb lange Zeit der älteste existieren-de Fritz-Lang-Brief und zählt noch immer zu den zwei, drei frühesten, erhalten gebliebe-nen Lang-Korrespondenzen. Aufgrund des Briefinhalts steht für Sturm außer Zweifel, dass Langs »Beziehungen zu seiner Familie nicht so schlecht waren, wie er später glauben machen wollte, um die ›künstlerische‹ Seite seines Pariser Aufenthal-tes zu betonen.«Ähnlich übertreibt Fritz Lang in seinen Erinnerungen an die Jugendjahre in Wien, dass der zuvor als Gars-Besucher er-wähnte Kraus ihm jenes Porträt übel genommen hätte, das Lang während einer Vorlesung ange-fertigt hat und das 1917 von der Buchhandlung Richard Lányi als Ansichtskarte verlegt wur-de: »In der verlängerten Kärnt-nerstraße, zwei Häuserblöcke über den Ring hinüber, war die Buchhandlung Richard Lányi, bei dem man die Fackel erste-hen konnte, und der von mir ein gezeichnetes Porträt von Karl Kraus erwarb, das er als Ansichtskarte herausgab. Karl Kraus hat mir dieses Porträt nie vergeben, er war ein sehr eitler Mensch«. – Lang, der erklärter

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    Anhänger von Kraus war, des-sen »Fackel« verschlang und dessen Vorlesungen besuchte, wusste gewiss, dass Lányi nie riskiert hätte, wegen Langs Por-trät-Zeichnung Kraus‘ Vertrau-en zu verlieren.Langs Gars-Verbindung war dem Pop-Weltstar Falco ver-mutlich nicht bekannt, als er 1987 die Nachbarsvilla der Fa-milie Lang erworben hat. Die Kenntnis dieser Nachbarschaft hätte Falco aber vermutlich ge-fallen, da er im Video zu seinem Mega-Hit »Jeanny« auf Langs beklemmendes Film-Meister-werk »M« mit markanten Film-zitaten anspielt.

    Isopp, Maux und Okopenko im Kinderlandverschickungs-lager Kamptalhof

    Wechselhaft verläuft die Ge-schichte des Grand Hotels Kamptalhof, das zu Pfingsten 1914 feierlich eröffnet wird und allerbeste Aussichten auf wirtschaftlichen Erfolg hat, der durch den Ersten Weltkrieg ver-eitelt wird. Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges setzen den Hotelbesitzern schon Ende 1914 derart zu, dass sie zur Abwen-dung des Konkurses die Bestel-lung einer Aufsicht über ihre Geschäftsführung beantragen,

    die bewilligt und wieder aufge-hoben wird, als sich abzeichnet, dass das Ausgleichsverfahren mit der Annahme des angebo-tenen 50-Prozent-Ausgleichs abgeschlossen wird. Dennoch hat dieser weltkriegsbedingte Fehlstart die weitere Geschichte des Hauses geprägt, dessen ers-te wirtschaftliche Erfolge in die Zwischenkriegszeit fallen.Während des Zweiten Weltkrie-ges wird das Hotel Kamptalhof von den Nationalsozialisten als Kinderlandverschickungslager genutzt. Unter den zahlreichen Kindern ist die 1927 geborene, spätere Kinderbuchautorin und Radiomoderatorin Rosemarie Isopp, die 1968 nach einer live aus Gars gesendeten »Auto-fahrer unterwegs«-Sendung erwähnt, »dass sie als junges Mädchen in Gars ›Kinderland-verschickt‹ war und die jun-gen Herren von damals per Bindfadenpost mit den jungen Mädchen im Hotel Kamptalhof ›ganz im Geheimen‹ korrespon-dierten.«Im Kinderlandverschickungs-lager Kamptalhof ist im Mai und Juni 1942 auch der spätere Avantgarde-Schriftsteller An-dreas Okopenko (1930-2010) einquartiert, weshalb sein au-tobiografisch gefärbter Roman »Kindernazi« Beschreibungen von Gars und Umgebung ent-

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    hält. Okopenko erwähnt eine Garser Lesung des Lyrikers Jo-sef Weinheber (1892-1945), der die zweite Juni-Hälfte 1942 ver-mutlich wegen seines – von den Nationalsozialisten groß ge-feierten – 50. Geburtstages auf Einladung des nationalsozialis-tischen Kreisleiters in Gars zu Gast ist. Von Weinhebers Gars-Aufenthalt zeugen zudem drei Briefe, welche die Garserin Her-mine Elfriede Mayer sowie der Garser Julius Kiennast 1942 an Weinheber geschrieben haben.Im Zuge der Kinderlandver-schickung findet sich im Mai 1942 auch der heute in Verges-senheit geratene Wiener Gym-nasiallehrer und Komponist Richard Maux in Gars ein. Er wohnt und komponiert in Thu-nau bei Frau Direktor Tingl (St. Leonhardstraße 143), wovon zahlreiche Kompositionen zeu-gen, als deren Entstehungsort Gars-Thunau angegeben wird. Gars hat Maux allem Anschein nach so gut gefallen, dass er auch nach dem Krieg, 1947 und 1948, erneut nach Gars Kompo-nieren kommt.

    Hundertwasser in der Hotel-Pension Schuster

    Nach Ende des Zweiten Welt-krieges dienen Hotel Kamptal-

    hof und Waldpension als so-wjetische Lazarette, während in der Hotel-Pension Schuster am Schlossberg russische Sol-daten einquartiert werden, was für die anderen Hotelgäste oft problematisch ist. Unter ihnen befindet sich ab 27. August 1945 Elsa Stowasser, die Mutter des später als Friedensreich Hun-dertwasser weltbekannten Ma-lers. Während seiner Horner Gymnasial- und Internatszeit verbringt Hundertwasser die Wochenenden bei seiner Mutter in Thunau, wo er ab 18. Septem-ber 1945 gemeldet ist und eifrig die Gegend malt und zeichnet. Die Dorfjugend erschwert ihm laut seinem Tagebuch allerdings die Kunstausübung, indem sie ihn mit Steinen bewirft, seine Malfarben mit Sand mischt und sein Malwasser ausschüttet. Zu-dringlichkeiten machen auch seiner Mutter in der Hotel-Pen-sion Schuster zu schaffen:

    Mutter hatte viel auszustehen. Vorgestern musste sie vor be-trunkenen Russen, die einquar-tiert waren, flüchten. Als sie wieder kam, war eingebrochen, Butter und Zigaretten weg. […] Zu Hause wieder Russenein-quartierung, die zur Bewachung der Wahl eingesetzt worden sind. Wir sperrten uns ein und sie drückten immer die Schnalle.

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    Im Mai des Folgejahres korre-spondiert der Wiener Schrift-steller Eduard Danszky (1884-1971) vom Hotel Höchtl sowie im Juli 1946 vom Hotel Erlinger aus mit seinem Kollegen Oskar Maurus Fontana (1889-1969). Seine zufällige Momentaufnah-me hält fest, dass Kost und Lo-gis in Gars den aktuellen Ver-hältnissen entsprechend sehr primitiv seien, er aber dankbar sei, sich nicht um die täglichen Erbsen sorgen zu müssen.

    Heimito Doderers Gars-Woche

    Den Eindruck, dass die Gar-ser Hotel-Pensionen »primi-tiv« sind, teilt noch zehn Jahre später der Romancier Heimito Doderer (1896-1966) in seinem Notiztagebuch. Dabei logiert er zwischen 18. und 25. August 1956 in der stattlich wirkenden Hotel-Pension Blauensteiner, die seinem aus Gars stam-menden Wiener Lieblingswirt Blauensteiner gehört, den und dessen Wiener Gasthaus »Zur Stadt Paris« er zu Jahresbeginn in der Erzählung »Ein anderer Kratki-Baschik« literarisch ver-ewigt hat.Wie es der Zufall will, bemüht Doderer ausgerechnet in jenem Brief, den er unmittelbar vor

    seiner Abfahrt nach Gars seiner Geliebten, Dorothea Zeemann, schreibt, die Figur »des alten Biach« aus Kraus´ Drama »Die letzten Tagen der Menschheit«, in dem die Oberleutnants Fal-lota und Beinsteller auf einen Doderer zu sprechen kommen:

    FALLOTA: Hast nix vom Do-derer ghört? Der hat dir ein Mordsglück.BEINSTELLER: Ja, der war dir immer ein Feschak.FALLOTA: Ein Feschak is er, das is wahr. A b e r ein Tachinierer, ujeh!(Verwandlung.)

    Mit der rhetorischen Frage »Heimito von Doderer – ein ›Tachinierer‹?« hat der viel zu früh verstorbene Germanist Wendelin Schmidt-Dengler 1977 in den »Kraus-Heften« darauf hingewiesen, dass Doderer wiederholt erklärt hat, dass Kraus Doderers Bruder Immo gemeint habe, »der zu Kriegs-beginn – wie Beinsteller und Fallota – Oberleutnant [war] und zu Kriegsende an der itali-enischen Front diente.«In seiner Erinnerung an Dode-rer beschreibt und differenziert der Schriftsteller Hans Flesch Brunningen das Feschakhafte der Doderer-Brüder:

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    Immo war, was man in der alt-österreichischen Armee einen ›Feschak‹ genannt hat: ein gut aussehender Mann und ein Draufgänger, halb Geck und halb Herzensbrecher. Davon hatte auch Heimito etwas. [...] Er war von einer wunderbaren und entwaffnenden Würde, die ihn der Feschak-Eigenschaft seines Verwandten weit entrückte.

    Wenn Doderer in dem erwähn-ten Zeemann-Brief von »Takt und Rücksicht, im Geiste des alten Biach,« schreibt, spielt er auf folgende Passage seines da-mals im Druck befindlichen Ro-mans »Die Dämonen« an, in der er Kraus‘ Werk erwähnt und

    den Ausdruck »Tam« als Takt, Klugheit und Charme auslegt:

    »Haben Sie einen Sport-Unfall gehabt?« fragte Emma, nicht ohne Takt (lieber hätten wir ge-schrieben: ›nicht ohne Tam‹ – Klugheit und Charme – aber das ist Eigentum von Karl Kraus, der einmal in den ›Letzten Tagen der Menschheit‹ als Regiebemer-kung, bevor eine Person spricht, einfügt: Der alte Biach (nicht ohne Tam):).

    Doderers Anspielung auf den alten Biach bleibt Zeemann un-klar, weshalb sie sich in ihrem Tagebuch fragt, ob ihr Gelieb-ter, der seit einer Woche seine

    Doderer logiert zwischen 18. und 25. August 1956 in der stattlich wirkenden Hotel-Pension Blauensteiner, die seinem aus Gars stammenden Wiener Lieblingswirt Blauensteiner gehört, den und dessen Wiener Gasthaus »Zur Stadt Paris« er zu Jah-resbeginn in der Erzählung »Ein anderer Kratki-Baschik« literarisch verewigt hat. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Hannelore und Gustav König (Moos-burg) sowie der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek

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    Zeit mit seiner zweiten Ehefrau, Maria Emma, vertreibt, die bei ihm zu Besuch ist, und mit der er eine weitere Urlaubswoche in Gars verbringt, damit abso-lute Passivität meine?Tatsächlich beschwört Doderer den Geist des alten Biach, weil er sich wünscht, dass er und seine Geliebte sich gegenüber seiner Ehefrau, die sonst ge-trennt von ihm im bayerischen Landshut lebt, mit »Klugheit und Charme« bzw. »Takt und Rücksicht« benehmen.Doderers Gars-Aufenthalt ist nicht seiner Verehrung für Kraus, sondern dem Garser Gastwirt Franz Blauensteiner zu verdanken, dessen Gasthaus »Zur Stadt Paris« in der Wiener Josefstadt Doderer 1952 erst-mals besucht hat. In Interviews mit Xaver Schaffgotsch und Mi-chael Horowitz hat sich Blau-ensteiner erinnert, dass sich Doderer als »Romanschriftstel-ler« vorgestellt habe. Im Lauf der Zeit wurde Blauensteiner mit Doderer, den er als »sehr angenehmen«, »bescheidenen« und »immer sehr großzügigen« Stammgast beschreibt, freund-schaftlich vertraut:

    Mit dem Du-Wort war Heimito sehr sparsam. Nur mit seinen al-ten Freunden, duzte er sich. Mir

    hat er das Du-Wort erst nach un-gefähr zehn Jahren angeboten. Ich fand mich dafür nicht wür-dig, er aber sagte: »Ich befehle es dir!«

    Doderer wollte mit seiner Gat-tin schon früher nach Gars rei-sen, aber er »musste fast eine Woche noch in Wien warten«, da in der Hotel-Pension Blau-ensteiner kein Zimmer frei war. Doderer spricht laut seinem Notiztagebuch am 14. August 1956 mittags mit Blauensteiner über das Garser Zimmer und isst am 17. August, dem Tag vor der Abreise nach Gars, in des-sen »Stadt Paris« zu Mittag.Für den knapp 60-jährigen Doderer ist der Sommer 1956 durch ein intensives Hochge-fühl gekennzeichnet, das von seinen jüngsten privaten und beruflichen Erfolgen herrührt. Beruflich freut er sich über die Vollendung seines literari-schen Hauptwerkes »Die Dä-monen«, dessen Korrekturen und Schlusskapitel er zwei, drei Wochen vor dem Gars-Aufent-halt abgeschlossen hat und das der interessierten Öffentlichkeit anlässlich Doderers 60. Ge-burtstag am 5. September 1956 im Rahmen eines Festaktes des österreichischen PEN-Clubs vorgestellt wird.Die private Euphorie verdankt

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    er seiner dreizehn Jahre jünge-ren Geliebten, Dorothea Zee-mann, die ihn auffällig oft an seine geschiedene Ehefrau, Au-guste Leopoldine Hasterlik, er-innert, die in Gars immer wie-der seine Gedanken beschäftigt, wie folgende am 25. August 1956 im »Hotel und Terrassen-café Blauensteiner« notierte Ta-gebucheintragung belegt: »Auf der Terrasse unter meinen Fens-tern steht eine jüngere blonde Person in Jackenkleid und Hüt-

    chen, mit einem kleinen Schirm in der Hand: die leibhaftige G[usti]. Jede Bewegung! Signa non desunt [= Die Zeichen trü-gen nicht].«In Gars widmet sich Doderer der redaktionellen Arbeit an seinen verklausuliert formulier-ten Tagebuchaufzeichnungen, deren ersten Band, »Tangen-ten«, er 1964 noch selbst veröf-fentlicht und deren Fortsetzun-gen zehn bzw. zwanzig Jahre nach seinem Tod unter dem Ti-

    Doderers Gars-Aufenthalt ist nicht seiner Ver-ehrung für Kraus, sondern dem Garser Gastwirt Franz Blauenstei-ner zu verdanken, dessen Gasthaus »Zur Stadt Paris« in der Wiener Josefstadt Dode-rer 1952 erstmals besucht hat.

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    tel »Commentarii« erscheinen. Weiters redigiert er für seine Verlegerin Ilse Luckmann einen Text über die Entstehungsge-schichte der im Druck befind-lichen »Dämonen«, deren ös-terreichische Lizenzausgabe im Luckmann-Verlag vorbereitet wird. Zusätzlich liest er den Be-ginn von Dorothea Zeemanns Roman-Manuskript »Concha«, das 1959 unter dem Titel »Das Rapportbuch« erscheint, und erledigt jene umfangreiche Korrespondenz, die wegen der Abschlussarbeiten der »Dä-monen« liegen geblieben ist. Diesen Briefen und Postkarten, die unter anderem an Albert Paris Gütersloh, Armin Mohler, Friedrich Qualtinger und Do-rothea Zeemann gerichtet sind, verdanken wir Doderers Be-schreibung der Garser Gegend:

    Ich hab‘ mich nach allem […] hierher in dies Örtchen im grü-nen Kamptal zurückgezogen, und wohne unterhalb einer Burg ruine, zwischen deren Mau-ern sich die Stille bis zu leisem Ohrengesumm verdichtet.

    Er besucht die Burgruine, das Strandbad, fährt Ruderboot und erkundet gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau den Ort und dessen nähere Umgebung, wie er am 20. August Albert

    Paris Gütersloh mitteilt: »Sie dürften, ebenso wie wir jetzt, die Stadt verlassen haben, Er-holung suchend; wir obliegen solcher in der Nähe freundli-cher Wein-Orte wie Zöbing und Langenlois«.Gleichfalls am 20. August 1956 schickt Doderer seiner Gelieb-ten Zeemann eine »offizielle Ansichtskarte« aus Gars, auf der hinter der Hotel-Pension Blauensteiner die Gertrudskir-che sowie die den Ort dominie-rende Burgruine zu sehen ist. Diese Ansichtskarte hat Dode-rer schon unmittelbar vor seiner Abreise nach Gars am 18. Au-gust in dem erwähnten »alten Biach«-Brief angekündigt. Die »herzlichsten Grüße« »aus die-sem grünen Winkel am Kamp, den ich endlich erreicht habe«, sollten Zeemanns Lebensge-fährten, den Journalisten Wal-ther Schneider, der heute vor allem als Egon Friedells Freund und Nachlassbetreuer bekannt ist, über Doderers Abwesenheit von Wien informieren.Am Mittwoch, den 22. Au-gust, vermerkt Doderer mit ro-ter Tinte den »Postschluss zu Gars«, womit die Erledigung der liegengeblieben Korrespon-denz gemeint ist, was Donners-tag Nachmitttag eigens gefeiert wird. Abends trifft er den Haus-herrn, Franz Blauensteiner, der

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    den donnerstägigen Ruhetag seines Wiener Lokals nützt, um in seinem Garser Hotel nach dem Rechten zu sehen.Doderer beschreibt Gars in den Tagebuchaufzeichnungen eine Spur unfreundlicher als in der Korrespondenz: »Der Ort hier ist grün und feucht, von jener spinatgrünen Erhabenheit und Verblödung umschlossen, die man auch in der gebirgigen Stei-ermark findet: doch ist es hier die Natur eines Weinlandes.« Doch rückblickend hat ihm der Aufenthalt so gut gefallen, dass er sich immer wieder gerne an ihn erinnert. So schreibt er Mit-te Dezember 1956: »Gars war hochintensiv« und Mitte Feb-ruar 1957: »Die Burg Gars. Die Kahnfahrten. Wie schön dies war! Ich hielt aus, so gut ich konnte, und ich tat nicht übel.«In Blauensteiners Gasthaus »Zur Stadt Paris« in der Wiener Josefstadt hängt ein gerahmtes, um 1950 entstandenes Werbe-plakat für das seit 1992 ruhend gemeldete, dem langsamen Verfall überlassene Garser Ho-tel. Das Plakat ist auch im Hin-tergrund einer jener drei Foto-grafien zu sehen, die Doderer gemeinsam mit Elly und Franz Blauensteiner in deren Wiener Gastwirtschaft zeigt. Es stammt vom Garser Walter Minarz, der nach dem Zweiten Weltkrieg

    als akademischer Maler und Grafiker auch Werbeplakate und Prospekte gestaltet hat. Anfang der 1950er Jahre wech-selte Minarz in die Fremden-verkehrsbranche und hat Ende 1951 als Direktor der Gmund-ner Kurverwaltung Doderer zu einer Lesung eingeladen, die dort Anfang Februar 1952 stattgefunden hat. Minarz‘ Va-ter, Richard, war übrigens um die Jahrhundertwende Garser Gemeindearzt, weshalb es äu-ßerst wahrscheinlich ist, dass Richard Minarz jener Doktor war, den Karl Kraus 1914 in Gars aufgesucht hat.

    Literarischer Nebenschauplatz Gars-Thunau

    Als Doderer zu Weihnachten 1966 stirbt, sorgt sein Tod bei einem seiner Schriftstellerkol-legen für besonders heftige Emotionen. Thomas Bernhards Freund Karl Ignaz Hennetmair erinnert sich in seinem Tage-buch über seine Zeit mit Bern-hard, wie dieser 1966 auf die Fernsehnachricht von Doderers Ableben reagiert hat:

    Wir saßen vor Jahren gemeinsam vor dem Apparat, als die Mel-dung kam, dass Doderer gestor-ben sei. Wie elektrisiert sprang

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    Thomas vom Sessel, klatschte in die Hände und rief erfreut: Der Doderer ist gestorben. Auf meine Frage, warum ihn das so freue, sagte er: Doderer war doch in Österreich das Renom-mierpferd, und solange der lebte, konnte kein anderer was werden, es konnte keiner hoch-kommen. Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich.

    Tatsächlich wurde Bernhard 1968 für seinen Roman »Frost« mit dem »Österreichischen För-derungspreis für Literatur« aus-gezeichnet. Die Preisverleihung endete noch während Bern-hards Dankesrede (»es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lä-cherlich, wenn man an den Tod denkt«) mit einem Eklat, der dazu geführt hat, dass Bern-hard den ihm gleichfalls 1968 zuerkannten »Anton-Wildgans-Preis« (»Preis der Industriel-lenvereinigung«) nicht im Rah-men eines feierlichen Festaktes, sondern von seinem Briefträger »in einer schäbigen Drucksa-chenrolle mit der gewöhnlichen Post« überreicht erhalten hat.Trotz Bernhards medialer Prä-senz hat 1969 vermutlich kein Garser wahrgenommen, dass auf den ersten Seiten von Bern-hards Neuerscheinung »Wat-

    ten« die Gemeinden Gars und Thunau erwähnt werden. Die allfällige Hoffnung auf ein de-taillierteres Gars-Porträt durch den 1968 zweifach ausgezeich-neten Literaturpreisträger er-füllt »Watten« nicht. Bernhards Gars-Bezugnahme beschränkt sich auf die folgende Passage: »Am 11. September teilte ich Undt, der sich, ganz seiner Auf-gabe hingegeben, seit Jahren in dem kleinen, unscheinba-ren, seinen Zwecken aber au-ßerordentlich dienlichen Gars am Kamp niedergelassen hat, meinen Entschluss mit, ihm eineinhalb Millionen zur Ver-fügung zu stellen […] Noch am gleichen Tag veranlasste ich die Überweisung des Geldes an Undt. Zwei Tage später bestä-tigte der Empfänger, dass er die eineinhalb Millionen erhalten habe, er schrieb: Sehr geehrter Herr, die Summe, die ich heu-te erhalten habe, verwende ich sofort für die Adaptierung des Schlosses Thunau, das Ihnen bekannt ist und in welchem ich noch vor Winteranfang achtzig aus Suben entlassene Männer unterzubringen gedenke.«Bernhards Freund Hennet-mair berichtet in seinem Tage-buch auch von einem echten Gars-Besucher, der besonders demonstrativ(es) Desinteresse an Bernhard zeigte:

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    Inzwischen erzählt Thomas un-ter anderem, wie er André Heller kennenlernte oder besser gesagt, nicht kennenlernte. Er saß in Wien mit einer Freundin im Kaf-feehaus, als André Heller das Lo-kal betrat. Freudestrahlend sagte die Freundin zu Heller: »Darf ich dich Thomas Bernhard vor-stellen.« »Der Bernhard ist mir wurscht«, sagte André Heller, drehte sich um und verließ das Lokal. Also, so kenne ich André Heller, sagte Thomas.

    Heller wird wiederum wegen eines Briefes, den er am 4. Juli 1972 aus Gars an seine damali-

    ge Ehefrau, die Burgschauspie-lerin Erika Pluhar, geschrieben hat, unter Anspielungen auf Alain Resnais‘ Film »Hiroshi-ma, mon amour« (Drehbuch: Marguerite Duras) in Werner Koflers Prosastück »Traum und Wirklichkeit« angefeindet: »Ich schrieb: Du schreibst, du hät-test alles gesehen in Gars am Kamp, ich habe alles gesehen in Gars am Kamp, schreibst du. Aber du hast nichts gesehen in Gars am Kamp. […] Nichts hast du gehört, nichts hast du gesehen in Gars am Kamp. Es kann nicht sein, ich versichere es dir, schrieb ich. – « In Bern-

    Susi Weigels Briefstem-pel, der das Hotel unter der markanten »Garser Skyline« zeigt.

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    hardscher Manier werden die gegensätzlichen Beteuerungen, in Gars alles bzw. nichts gese-hen zu haben, mehrfach leicht variiert wiederholt. Vermut-lich sind Heller und Pluhar der Anlass, dass Gars beiläufig in mehreren von Werner Kofler und Antonio Fian verfassten Werken genannt wird.

    Weitere teils weltbekannte, teils namhafte Künstler in Gars zu Gast

    Im Sommer 1972 verbringt auch die weltbekannte Kinderbuchil-lustratorin Susi Weigel einige Sommertage in Gars, wo ihre Großnichte, Barbara Weigel, Anfang der 1970er Jahre zuerst im Hotel Kamptalhof gearbeitet sowie 1973 und 1974 das Hotel Blauensteiner geleitet hat, für das Susi Weigel ein Logo ent-worfen hat, welches das Hotel unter der markanten »Garser Skyline« zeigt.Später kurten weltbekannte Künstler, wie Manfred Deix, Plácido Domingo und Friedrich Gulda, in Dungls Biotrainings-hotel. Aber auch die traditionel-le »Waldpension« beherbergte künstlerische Prominenz: So hat sich dort im August 1985 der populäre Lyriker, Schrift-steller und Übersetzer H. C.

    Artmann im Gästebuch ver-ewigt. Darüber hinaus haben zahlreiche namhafte Künstler, wie Anne Bennent, Richard Ed-linger, Karlheinz Hackl, Otto Lechner und Marianne Mendt Gars als zeitweiligen Lebensab-schnittsmittelpunkt entdeckt.

    Danksagung

    Für Hinweise, Informationen und Dokumente danke ich: Barbara Bauer (Gars), Paulus Ebner (Wien), Anton Ehrenberger (Gars), Antonio Fian (Wien), Andrea Glawogger (Wien), Raimund Kiennast (Gars), Bernd Kö-nig (Moosburg), Hannelore und Gu-stav König (Moosburg), Maren Köster (Berlin), Renate Minarz (Herzogen-burg), Susanne Minarz (Wien), Bar-bara Mück (Gars), Erich Rabl (Horn), Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck), Walter Schübler (Wien), Gerald Som-mer (Berlin), Harald Stockhammer (Innsbruck), Dietmar Strauch (Berlin) Christian Wagenknecht (Göttingen), Annie Weich (Wien) und Chris Zint-zen (Wien) herzlich.


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