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Soll das Essen Dir gedeih'n, musst Du heiter dabei sein – Gedeihstörung beim Kind

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© 2013 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Therapeutische Umschau 2013; 70 (11): DOI 10.1024/0040-5930/a000464 Übersichtsarbeit 681 Eine Gedeihstörung ist ein Zustand der Unterernährung beim Kind, hervorgeru- fen durch eine quantitativ oder qualitativ ungenügende Nährstoffzufuhr. Diese kann durch eine gestörte Kalorienabsorption oder einem exzessiven Kalorienver- brauch, aber auch durch eine unausgewogene Zusammensetzung der Ernährung hervorgerufen werden. Folge sind Untergewicht und Wachstumsretardierung, aber auch eine mögliche Schwächung des Immunsystems und Beeinträchtigung der psychomotorischen und kognitiven Entwicklung des wachsenden Kindes. Ziel dieses Artikels ist es, dem praktizierenden Arzt die aktuellen Kenntnisse der Definition, Prävalenz, Ätiologie, aber vor allem eine stufengerechte Diagnostik und Therapie der Gedeihstörung beim Kind nahe zu bringen. Definition Eine Gedeihstörung (GS) ist keine ei- gentliche Diagnose sondern eine Be- schreibung eines Zustandes. Dieser Zustand geht einher mit Untergewicht, einer (meist ungewollten) Gewichtsab- nahme und/oder eines ungenügenden Gewichts- und Längenwachstums beim Kind. Ursache dafür kann ein Mangel an Nährstoffen sein, in entwi- ckelten Ländern häufig einhergehend als Begleitsymptom zum Beispiel bei gastrointestinalen und neurologischen Erkrankungen [1 – 4]. Es gibt keinen Konsens, welche anthro- pometrische Kriterien genutzt werden sollten um eine GS zu definieren [5, 6]. Im Praxisalltag wird eine Gedeihstö- rung am einfachsten mittels Erfassung anthropometrischer Daten des Kindes auf standartisierten Perzentilenkurven bei mehreren Konsultationen diagnos- tiziert [7 – 10]. Ein Abknicken von der vom Kind etablierten Gewichtsperzen- tile wird so als GS bezeichnet. In der Folge bleibt häufig das Längenwachs- tum, seltener bei jungen Säuglingen auch das Kopfumfangswachstum zu- rück. Eine GS kann also bereits erfasst werden, wenn ein Untergewicht noch nicht erreicht ist [11]. Wird zur Diagnose einer GS nur ein einzelnes Kriterium verwendet, konnte gezeigt werden, dass nur ein tiefer po- sitiver prädiktiver Wert für eine wahre Unterernährung erreicht wurde. Olsen et al. zeigten, dass 27 % der von ihnen untersuchten Kinder während ihres ersten Lebensjahres mindestens ein Kriterium für die Diagnose einer GS aufwiesen [5]. Deshalb müssen mehre- re anthropometrische Kriterien erfasst werden, um Kinder mit erhöhtem Risi- ko für eine GS zu diagnostizieren [5, 6, 12]. Gewicht für Länge ist ein sehr guter Indikator für eine akute Unterernäh- rung und kann sehr hilfreich sein zur Identifikation dieser Kinder, welche eine rasche Ernährungstherapie benö- tigen [13]. Ein Gewicht das< 70 % der 50er Perzen- tile auf der Gewicht für Längen Kurve liegt ist ein Indikator für eine schwere Malnutrition und erfordert meist eine Hospitalisation [14 – 16]. Prävalenz Die Prävalenz der GS variiert je nach den angewandten diagnostischen Kri- terien, aber auch der Bevölkerungs- struktur. In amerikanischen Studien traten höhere Prävalenzen bei ökono- misch schwächeren Bevölkerungs- schichten auf dem Land wie auch in den Städten auf [5, 17]. Die GS ist auch in entwickelten Ländern häufig. In den USA wird eine GS bei 5 – 10 % der Kinder beim Primärversor- ger (Hausarzt, Kinderarzt) und in 3 – 5 % der Kinder im Spital diagnosti- ziert [18, 19]. Andere Studien finden gar bei 2 – 24 % der hospitalisierten Patien- ten eine GS [20, 21]. Ätiologie Als Ursachen für eine GS wurden lange Zeit organische und nicht-organische (soziale oder Umweltfaktoren) Fakto- ren unterschieden. Heute gehen wir davon aus, dass die Ursachen multifak- torieller Natur sind. Dies beinhaltet biologische, psychosoziale und Um- weltfaktoren [22]. Leider wird laut Un- tersuchungen in 80 % der Fälle von GS nie eine Ursache gefunden [23, 24]. Eine inadäquate Einnahme von Kalori- en ist die häufigste Ätiologie bei Patien- ten mit GS beim Primärversorger. Bei Säuglingen unter acht Lebenswochen mit GS sind die Ursachen häufig Ernäh- rungsprobleme (z. B. Schluckstörun- gen, Saugschwäche, Stillschwierigkei- ten) [25]. Später treten andere Ursachen für eine GS in den Vordergrund, wie z. B. ungenügende Muttermilchbil- dung, Schwierigkeiten bei der Beikost- zufuhr, exzessive Einnahme von Fruchtsäften, oder das Meiden hoch- kalorischer Nahrungsmittel durch die Eltern. Auch eine Interaktionsproble- matik Eltern-Kind kann zu einer GS in jedem Kindesalter führen. Finanzielle Armut ist ein sehr starker Risikofaktor für eine GS in Entwicklungs-, wie auch in entwickelten Ländern. Auch eine Kindesmisshandlung (neglect und/ oder abuse) kann ursächlich für eine GS sein. Kinder mit GS haben ein vier- fach erhöhtes Risiko misshandelt zu werden, verglichen mit Kindern ohne GS [26]. Eine verminderte Kalorienabsorption findet sich bei Erkrankungen, welche mit Erbrechen (z. B. Stoffwechselerkran- kungen, Nahrunsgmittelallergien und/ oder -intoleranzen) oder mit Malab- 1 Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung, Universitäts Kinderspital beider Basel UKBB, Basel 2 Klinik für Kinder und Jugendliche, Kantonsspital Aarau Raoul I. Furlano 1 , Marc A. Sidler 1 , Henrik Köhler 2 Soll das Essen Dir gedeih'n, musst Du heiter dabei sein – Gedeihstörung beim Kind
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© 2013 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Therapeutische Umschau 2013; 70 (11): DOI 10.1024/0040-5930/a000464

Übersichtsarbeit 681

Eine Gedeihstörung ist ein Zustand der Unterernährung beim Kind, hervorgeru-

fen durch eine quantitativ oder qualitativ ungenügende Nährstoffzufuhr. Diese

kann durch eine gestörte Kalorienabsorption oder einem exzessiven Kalorienver-

brauch, aber auch durch eine unausgewogene Zusammensetzung der Ernährung

hervorgerufen werden. Folge sind Untergewicht und Wachstumsretardierung,

aber auch eine mögliche Schwächung des Immunsystems und Beeinträchtigung

der psychomotorischen und kognitiven Entwicklung des wachsenden Kindes.

Ziel dieses Artikels ist es, dem praktizierenden Arzt die aktuellen Kenntnisse der

Definition, Prävalenz, Ätiologie, aber vor allem eine stufengerechte Diagnostik

und Therapie der Gedeihstörung beim Kind nahe zu bringen.

Definition

Eine Gedeihstörung (GS) ist keine ei-gentliche Diagnose sondern eine Be-schreibung eines Zustandes. Dieser Zustand geht einher mit Untergewicht, einer (meist ungewollten) Gewichtsab-nahme und/oder eines ungenügenden Gewichts- und Längenwachstums beim Kind. Ursache dafür kann ein Mangel an Nährstoffen sein, in entwi-ckelten Ländern häufig einhergehend als Begleitsymptom zum Beispiel bei gastrointestinalen und neurologischen Erkrankungen [1 – 4].Es gibt keinen Konsens, welche anthro-pometrische Kriterien genutzt werden sollten um eine GS zu definieren [5, 6]. Im Praxisalltag wird eine Gedeihstö-rung am einfachsten mittels Erfassung anthropometrischer Daten des Kindes auf standartisierten Perzentilenkurven bei mehreren Konsultationen diagnos-tiziert [7 – 10]. Ein Abknicken von der vom Kind etablierten Gewichtsperzen-tile wird so als GS bezeichnet. In der Folge bleibt häufig das Längenwachs-tum, seltener bei jungen Säuglingen auch das Kopfumfangswachstum zu-rück. Eine GS kann also bereits erfasst werden, wenn ein Untergewicht noch nicht erreicht ist [11].Wird zur Diagnose einer GS nur ein einzelnes Kriterium verwendet, konnte gezeigt werden, dass nur ein tiefer po-sitiver prädiktiver Wert für eine wahre

Unterernährung erreicht wurde. Olsen et al. zeigten, dass 27 % der von ihnen untersuchten Kinder während ihres ersten Lebensjahres mindestens ein Kriterium für die Diagnose einer GS aufwiesen [5]. Deshalb müssen mehre-re anthropometrische Kriterien erfasst werden, um Kinder mit erhöhtem Risi-ko für eine GS zu diagnostizieren [5, 6, 12].Gewicht für Länge ist ein sehr guter Indikator für eine akute Unterernäh-rung und kann sehr hilfreich sein zur Identifikation dieser Kinder, welche eine rasche Ernährungstherapie benö-tigen [13].Ein Gewicht das< 70 % der 50er Perzen-tile auf der Gewicht für Längen Kurve liegt ist ein Indikator für eine schwere Malnutrition und erfordert meist eine Hospitalisation [14 – 16].

Prävalenz

Die Prävalenz der GS variiert je nach den angewandten diagnostischen Kri-terien, aber auch der Bevölkerungs-struktur. In amerikanischen Studien traten höhere Prävalenzen bei ökono-misch schwächeren Bevölkerungs-schichten auf dem Land wie auch in den Städten auf [5, 17].Die GS ist auch in entwickelten Ländern häufig. In den USA wird eine GS bei 5 – 10 % der Kinder beim Primärversor-

ger (Hausarzt, Kinderarzt) und in 3 – 5 % der Kinder im Spital diagnosti-ziert [18, 19]. Andere Studien finden gar bei 2 – 24 % der hospitalisierten Patien-ten eine GS [20, 21].

Ätiologie

Als Ursachen für eine GS wurden lange Zeit organische und nicht-organische (soziale oder Umweltfaktoren) Fakto-ren unterschieden. Heute gehen wir davon aus, dass die Ursachen multifak-torieller Natur sind. Dies beinhaltet biologische, psychosoziale und Um-weltfaktoren [22]. Leider wird laut Un-tersuchungen in 80 % der Fälle von GS nie eine Ursache gefunden [23, 24].Eine inadäquate Einnahme von Kalori-en ist die häufigste Ätiologie bei Patien-ten mit GS beim Primärversorger. Bei Säuglingen unter acht Lebenswochen mit GS sind die Ursachen häufig Ernäh-rungsprobleme (z. B. Schluckstörun-gen, Saugschwäche, Stillschwierigkei-ten) [25]. Später treten andere Ursachen für eine GS in den Vordergrund, wie z. B. ungenügende Muttermilchbil-dung, Schwierigkeiten bei der Beikost-zufuhr, exzessive Einnahme von Fruchtsäften, oder das Meiden hoch-kalorischer Nahrungsmittel durch die Eltern. Auch eine Interaktionsproble-matik Eltern-Kind kann zu einer GS in jedem Kindesalter führen. Finanzielle Armut ist ein sehr starker Risikofaktor für eine GS in Entwicklungs-, wie auch in entwickelten Ländern. Auch eine Kindesmisshandlung (neglect und/oder abuse) kann ursächlich für eine GS sein. Kinder mit GS haben ein vier-fach erhöhtes Risiko misshandelt zu werden, verglichen mit Kindern ohne GS [26].Eine verminderte Kalorienabsorption findet sich bei Erkrankungen, welche mit Erbrechen (z. B. Stoffwechselerkran-kungen, Nahrunsgmittelallergien und/oder -intoleranzen) oder mit Malab-

1 Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung, Universitäts Kinderspital beider Basel UKBB, Basel2 Klinik für Kinder und Jugendliche, Kantonsspital Aarau

Raoul I. Furlano1, Marc A. Sidler1, Henrik Köhler2

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Raoul I. Furlano, Marc A. Sidler, Henrik Köhler Soll das Essen Dir gedeih’n, musst Du heiter dabei sein – Gedeihstörung beim Kind

Übersichtsarbeit682

sorption einhergehen (z. B. Zöliakie, chronische Durchfälle). Auch ein erhöh-ter Kalorienverbrauch kann zu einer GS führen, wie z. B. bei kongenitalen Herz-erkrankungen, chronischen Lungen-krankheiten oder Hyperthyreose. Meist tritt die GS in diesen Fällen bei Neuge-borenen oder Säuglingen unter 8 Le-benswochen auf [14].

Diagnostik

Wesentlich in der Beurteilung des Kin-des mit Gedeihstörung ist, wie bei nahe-zu allen Erkrankungen, die Anamnese.Zentrale Punkte sind hier: • Beginn der Problematik (Säugling-

salter, Einführung von Beikost, Ge-treide etc.)

• Wie viele Mahlzeiten werden einge-nommen?

• Wie lange dauert eine Mahlzeit? • Bestehen Probleme beim Kauen und

Schlucken? • Ist altersinadäquate Hilfe bei der

Nahrungsaufnahme erforderlich oder wird von den Eltern nur so wahrgenommen (Löffel wird herein-gezwungen)?

• Besteht Erbrechen (blutig, gallig) oder zieht sich der (meist) jugendliche Pa-tient nach dem Essen zurück, um ge-gebenenfalls heimlich zu erbrechen?

• Wie ist das Stuhlverhalten: Frequenz, Konsistenz, Blut und Schleim? (Vor allem nächtlicher Stuhlgang ist ge-zielt zu erfragen.)

Weiter sind als Hinweise auf körperli-che Probleme, vermehrtes Schwitzen, Ermüdbarkeit oder Fieber ohne er-kennbare Ursache zu erfragen.Bei der Befragung nach Nahrungs-menge und der Zusammensetzung ist

bei Verdacht auf geringe oder inad-äquate Kalorien- und Substratzufuhr ein Nahrungsprotokoll erforderlich. Erfahrungsgemäß sind Nahrungspro-tokolle über drei Tage wenig aussage-kräftig, da in den ersten Tagen noch häufig eine Protokoll-orientierte Er-nährung durchgeführt wird. In der Regel wird erst nach einigen Tagen auf die übliche Ernährung zurückgegan-gen, so dass 7 Tage Ernährungsproto-kolle meist eine bessere Aussage lie-fern.Es sollte auch die körperliche Entwick-lung natürlich der Geschwister aber auch der Eltern eruiert werden. Diese ist im Kontext der Bewertung der an-thropometrischen Daten des Patien-ten zu setzen. Das Wachstum im Säug-lingsalter ist nahezu ausschließlich von der Kalorienzufuhr bestimmt. Im Kleinkindesalter beginnt (bei gesun-

Abbildung 1 Längensollgewicht: Berechnung und Bewertung adaptiert nach Koletzko et al. [29]

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den Individuen) zunehmend die Justie-rung auf das genetisch determinierte Wachstumspotential.

Körperliche UntersuchungIm Mittelpunkt steht die akkurate Be-stimmung von Körpergewicht und Körperlänge zur Gewichts-Längen-Relation als objektive Parameter und vor allem um anhand der Perzentilen-kurve den Longitudinalverlauf beur-teilen zu können und überhaupt die Gedeihstörung einzuschätzen. Das Kopfwachstum wird in der Regel durch die Ernährung wenig beeinflusst. Bei Mikrozephalus muss z. B. auf geneti-sche oder infektiöse Ursachen gezielt eingegangen werden. Beim Übertragen der Körperdaten auf die Perzentilen-kurve ist der ethnische Hintergrund, gegebenenfalls eine bekannte Grund-erkrankung zu berücksichtigen, da z. B. bei Trisomie 21 spezielle Perzenti-len vorliegen.Neben dem Bodymass-Index bietet das Längensollgewicht nach wie vor einen einfachen Parameter zur Bestimmung des Verhältnisses von Körperlänge zu Gewicht. Es entspricht dem Gewicht derjenigen Perzentile, die mit der er-mittelten Längenperzentile für die Al-tersstufe korrespondiert. Ausgedrückt wird es in Prozent (Abb. 1).Auch wenn eine universale Definition schwierig ist, lassen folgende Befunde an eine Gedeihstörung denken:Ein Längen-Soll-Gewicht < 80 %.Ein Body-Mass-Index < der 3. altersge-rechten Perzentile.Ein Gewicht unter der 3. Perzentile ins-besondere bei einem Abfall.Ein Abfall der Gewichtsveränderung mit Kreuzung zweier Hauptperzentilen (z. B. von der 50. bis zur 3. Perzentile) (Abb. 2).In der körperlichen Untersuchung wird zum einen nach generellen Zeichen von Unterernährung gesucht. Ein Mangel an Unterhautfettgewebe zeigt sich gerade bei Kleinkindern mit Tabaksbeutel-Ge-

säß. Zudem sollte die Geschlechtsent-wicklung anhand der Tanner-Stadien bestimmt werden Zum Teil geben aber auch einzelne Befunde Hinweise auf spezifische Defizite. Eine therapieresis-tente Windeldermatitis kann Zeichen eines Zinkmangels sein (Tab. 1).Vor allem soll die körperliche Untersu-chung helfen zugrundeliegende somati-sche Ursachen für die Gedeihstörung zu finden. Ein auffälliger Auskultationsbe-fund des Herzens und der Lunge muss ebenso wie eine Lymphadenopathie oder rekurrierende bzw. persistierende Infektionen (generalisiert oder an den Schleimhäuten) weitergehende gezielte Diagnostik nach sich ziehen. Nicht sel-ten zeigen sich auch an den Zähnen Hinweise, so können Schmelzdefekte sowohl bei der Zöliakie als auch bei der gastroösophagealen Refluxerkrankung auftreten.

Labor-DiagnostikDie Laboruntersuchung orientiert sich an häufigen Erkrankungen und an spe-

zifischen Hinweisen durch die körper-lichen und anamnestischen Befunde. In Anbetracht der Häufigkeit ist immer eine Zöliakie abzuklären, aufgrund der guten Therapiemöglichkeit und der vermeidbaren Folgen bei Verzögerung ist eine Hypothyreose aber auch Stö-rung der Elektrolyte oder des Säureba-senhaushaltes (renale-tubuläre Azido-se) zu erfassen. Als Basisuntersuchung verwenden wir, oft individuell modifi-ziert, die in Tabelle 2 gelisteten Labor-untersuchungen.Bei den Stuhluntersuchungen sollte nach chronischen Infektionen gesucht werden, wobei vor allem die Lamblien-infektion (Giardia) auch in unseren Breiten Gedeihstörungen verursachen kann. Neben der Pankreasinsuffizienz (zum Beispiel bei zystischer Fibrose) sollte gezielt nach chronisch-entzündli-chen Darmerkrankungen gefahndet werden. Das Calprotectin im Stuhl lie-fert hier wichtige Hinweise. Eine verzö-gerte körperliche Entwicklung sollte differentialdiagnostisch an einen Mor-

Abbildung 2 Im Beispiel kommt es, nach anfänglicher guter Längen- und Ge-wichtsentwicklung auf der 50. Perzentile, ab dem 12. Lebensmonat zu einem Ab-weichen in der Gewichtsentwicklung mit Kreuzen von 2 Hauptperzentilen auf die 3. Perzentile. Das Längenwachstum fällt etwas verzögert ab. Solch ein Verlauf ist öfters zum Beispiel bei der Zöliakie zu beobachten

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Übersichtsarbeit684

bus Crohn denken lassen, wenn keine primäre Durchfallsymptomatik vorhan-den ist.

Weitergehende UntersuchungenDie Messung der Hautfaltendicke bzw. des Unterhautfettgewebes wird pri-mär für wissenschaftliche Untersu-chungen genutzt. Sie ist im klinischen Alltag schwierig reproduzierbar. Noch mehr gilt dies für die bioelektrische Impedanzuntersuchung zur Bestim-mung des Anteils von Fett zu Protein und Wasser.Ein Röntgen der linken Hand zur Be-stimmung des Skelettalters kann hilf-reich sein bei der Einordnung von Kleinwuchs. Das Skelettalter ist bei-spielsweise bei einer konstitutionellen Entwicklungsverzögerung im Vergleich zum chronologischen Alter verzögert. Bei somatischen Ursachen ist es meist altersentsprechend.Die Abdomen-Sonographie ist als Screening-Methode ungeeignet. Sie hat ihren Stellenwert vor allem bei der se-kundären Abklärung auffälliger Befun-de, wie zum Beispiel der Lymphadeno-pathie oder Organomegalie.Eine diagnostische Endoskopie ist eben-falls nachgeschaltet einzusetzen. Sie ist besonders bei gezielten Fragestellungen wie chronisch entzündliche Darmer-krankungen oder Zöliakie hilfreich. Aber sie kann in Verbindung mit der konsekutiven histopathologischen Un-

tersuchung auch als einziges Verfahren eosinophile Enteropathien, insbeson-dere die häufige eosinophile Ösophagi-tis, diagnostizieren. Diese präsentiert sich nicht selten als Essstörung bei Kleinkindern und als Dysphagie bei Kindern und Jugendlichen [27].

Therapie

Die Therapie der Gedeihstörung orien-tiert sich an der Grunderkrankung. Soll-te keine zugrundeliegende somatische Erkrankung identifiziert werden, gilt es im Wesentlichen den Kalorien- und Substratbedarf des Kindes alters gerecht zu decken. Hier ist eine Un terstützung durch eine erfahrene Diätassistentin un-verzichtbar. Davon ab zugrenzen sind aber auch die zu grundeliegenden psy-chologischen und psychiatrischen Er-krankungen. Fütterungs- und Essstö-rungen des Kleinkindes bedürfen einer besonderen Exper tise. Da hier frühzeitig pathologische Verhaltensmuster unter-brochen werden müssen. Insbesondere gilt dies natürlich auch für Kinder bzw. Jugend liche mit Anorexia nervosa.Bei Säuglingen verzichten wir darauf, die Nahrungspulvermenge pro Volu-men zu erhöhen. Dies führt zu einer inadäquaten Konsistenz der Ernäh-rung. Besser geeignet sind Anreiche-rung mit Maltodextrin oder z. B. Raps-öl. Generell zu bevorzugen sind aber

bei Säuglingen aufgrund der Ausge-wogenheit der Ernährung industriell gefertigte Produkte mit einer erhöhten Kilokalorienzahl z. B. 1 kcal/ml, da hier sowohl Konsistenz als auch Nahrungs-zusammensetzung ausgeglichener ge-staltet sind.Die spezifischeren Therapien wie Son-denernährung und parenterale Ernäh-rung würden den Rahmen dieses Bei-trages sprengen.Eine oft unterschätzte Gefahr stellt das Realimentationssyndrom dar. Durch zu schnelle, zu hohe Kalorienzufuhr (insbe-sondere Kohlenhydrate) kann es zu einer

Tabelle 1 Körperliche Hinweise auf Ernährungsdefizite

Defizit Klinisches Zeichen

Eisen Anämie

Selen Myositis

Zink Dermatitis

Vitamin B Komplex Cheilitis/Vigilanzstörung

Vitamin K Gerinnungsstörung

Vitamin D/Calcium Osteopenie

Vitamin C Wundheilung/Petechien/Gingivahyperplasie

Tabelle 2 Labordiagnostik bei Gedeih-störung

Labor-Basis

Blutbild mit Differenzierung,BSG, CRP

Albumin, Ferritin, Eisen,Triglyceride, Cholesterin

Natrium, Kalium, Chlorid, Calcium, Magnesium, Phosphat

Kreatinin, Alkalische Phosphatase, GPT (ALAT), CK, gGT

Blutgasanalyse

Urinstatus

Zöliakie-Serologie

TSH, fT4

Erweitertes Labor

Vitamin B12, Folsäure

Vitamin D, Vitamin E, INR (Quick)

Immunglobuline A, G, E, M,

Spurenelemente (Zink, Selen)

IGF-1, IGFBP3

Schweißtest

Ammoniak, Laktat, Acylcarnitine ggf. Spezialanalytik

Stuhluntersuchungen

Lamblien (Giardiasis)

Pankreaselastase

Okkultes Blut im Stuhl

Calprotectin

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schweren Elektrolyt entgleisung (vor al-lem Hypophosphatämie und Hypomag-nesiämie) kommen. Nahrungsaufbau bei schwerer Unterernährung sollte in den ersten Tagen langsam geschehen [28].

Prognose und Outcome

Längerdauernde Unterernährung kann das Wachstum des Kindes und dessen kognitive Entwicklung beeinträchtigen [30, 31]. Im Alter von acht Jahren zeigten ehemalige untergewichtige Frühgebore-ne, welche eine Gedeihstörung entwi-ckelten, verminderte kognitive Leistun-gen. Zudem waren sie kleiner verglichen mit entsprechenden Frühgeborenen, die keine Gedeihstörung hatten [32].Ob normalgewichtige termingeborene Kinder, welche eine passagere Gedeih-störung erlitten ähnliche Langzeitfol-gen offenbaren, geht aus der jüngeren Literatur nicht eindeutig hervor. Eine Übersichtsarbeit beschreibt, dass bei Kindern mit einer Gedeihstörung in den ersten zwei Lebensjahren im Alter von acht Jahren vermehrt Kleinwuchs, ver-minderte mathematische Leistungen und schwache Arbeitstechniken auftre-ten können, jedoch konnte kein signifi-kanter Unterschied im IQ gegenüber gleichaltrigen Kindern ohne frühkindli-che Gedeihstörung gefunden werden. Möglicherweise werden gewisse negati-ve Entwicklungen einer Gedeihstörung durch eine frühzeitige Intervention mit Hausbesuchen bei Risikokindern güns-tig beeinflusst [33].Studien, die den Einfluss einer früh-kindlichen Gedeihstörung auf das Wachstum und die kognitive Entwick-lung in der späteren Kindheit und Ado-leszenz untersuchen, fehlen.

Prävention

Die wichtigste Prävention einer Ge-deihstörung besteht in der frühzeiti-

gen Erkennung einer sich entwickeln-den Gedeihproblematik mit Hilfe der Perzentilenkurven. Die anthropomet-rischen Daten (Gewicht, Länge) wer-den im Rahmen der Vorsorgeuntersu-chungen (vom Säuglingsalter bis zum Abschluss des Wachstums in der Ado-leszenz) beim Kinder- und Hausarzt regelmäßig erhoben und beurteilt [34]. Das Erfassen von Gewicht und Länge ist eine kostengünstige, nicht-invasive Untersuchung, die auch an-läßlich anderer Konsultationen (z. B. Impfungen) ohne großen Zeitauf-wand durchgeführt werden kann. Ne-ben der Beurteilung des Gedeihens anläßlich der Vorsorgeuntersuchungen sollen die Eltern eine dem Alter des Kindes entsprechende Ernährungsbe-ratung erhalten. Hilfreich ist dabei eine enge Zusammenarbeit des Arztes mit weiteren Fachstellen, (z. B. Müt-ter-Väterberatung, Kinderspitex). Der Kinder- und Hausarzt übernimmt so-mit eine zentrale Funktion in der Früherkennung von Gedeihstörungen und schafft wichtige Grundlagen für die weitere Diagnostik in Zusammen-arbeit mit den Spezialisten.

Failure to thrive in childhood

Failure to thrive is a state of malnu-

trition in a child due to inadequate

caloric intake, inadequate caloric ab-

sorption, or excessive caloric expendi-

ture. This all can lead to underweight

and retarded growing, but also to a

possible impairment of the immune

system, as well as an impairment of

the psychomotoric and cognitive de-

velopment of a child. The aim of this

article is to offer sound knowledge to

the practising physician about defini-

tion, prevalence, etiology, diagnostic

evaluation and therapy of failure to

thrive.

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Übersichtsarbeit686

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