Reflexion des Sozialarbeiters anhand der Machttheorien von Luhmann und Foucault
Otmar Iser
veröffentlicht unter den socialnet MaterialienPublikationsdatum: 15.08.2016URL: http://www.socialnet.de/materialien/27637.php
Reflexion des Sozialarbeiters anhand der Machttheorien von Luhmann und Foucault
Bachelorarbeit
Vorgelegt am: 05.08.2015
Studiengang: Soziale Arbeit
Studienrichtung: Rehabilitation
Kurs: RH 12
Von: Otmar IserHermann-Löns-Str. 10107745 Jena
Matrikelnummer: G120031RH
Ausbildungsstätte: Bodelschwingh-Hof Mechterstädt e.V.Gleicher Weg 1-1099880 Mechterstädt
Gutachter der Arbeit: Prof. Dr. Thomas KurtzStaatliche Studienakademie ThüringenBerufsakademie Gera
Inhalt
1 Hinführung.........................................................................................................................1
2 Klärung des Standpunktes und der Standortverbundenheit...............................................5
2.1 Standortanalyse I: Was weiß ich?...............................................................................6
2.1.1 Reflexion von Unterscheidungen........................................................................7
2.1.2 'Unmarked Space' oder Einheit der Weltsicht.....................................................8
2.2 Standortanalyse II: Wie entscheide ich mich?............................................................9
2.3 Standortanalyse III: Wie führe ich mich?.................................................................11
3 Das Spiel der Macht.........................................................................................................13
3.1 Luhmann und die systemische Sicht........................................................................16
3.1.1 Komplexitätsreduzierung durch Selektion und Generalisierung......................16
3.1.2 Institutionalisierung..........................................................................................18
3.1.3 Die Grenzen der Macht.....................................................................................20
3.1.4 Die Unmöglichkeit der Inklusion......................................................................20
3.2 Foucault und die Genealogie der Macht...................................................................23
3.2.1 Erkenntnis und Wahrheit...................................................................................24
3.2.2 Subjektivierung.................................................................................................25
3.2.3 Exkurs: Bewertung von Macht.........................................................................28
3.2.4 Die Realität der Exklusion................................................................................31
3.2.5 Widerstand........................................................................................................32
3.3 Zwischenresümee.....................................................................................................34
3.4 Praxisrelevanz der Reflexionen zur Macht...............................................................36
3.4.1 Selbst-Ermächtigung - Empowerment..............................................................38
3.4.2 Selbsthilfegruppe..............................................................................................40
3.4.3 Partizipative Prozesse.......................................................................................42
3.4.4 Biografiearbeit..................................................................................................43
3.4.5 Die SIVUS- Methode........................................................................................44
4 Reflexion in der Praxis.....................................................................................................45
4.1 Haltung des Sozialarbeiters......................................................................................46
4.2 Haltung des Nichtwissens und Verstehen-Wollens...................................................48
4.3 Wissen und Können..................................................................................................51
4.4 Exkurs: Reflexion des 'Intellektuellen' nach Mannheim..........................................53
4.5 Methodengeleitete Reflexion....................................................................................54
4.5.1 Praxisbeispiel: Diagnostik................................................................................55
4.5.2 Multiperspektivische Fallarbeit........................................................................56
4.5.3 Fallrekonstruktion.............................................................................................58
4.5.4 Transformatorischer Dreischritt........................................................................60
4.5.5 Supervision.......................................................................................................61
4.5.6 Selbstevaluation................................................................................................63
4.5.7 Kollegiale Beratung bzw. Intervision...............................................................64
4.5.8 Dialogische Introspektion in der Gruppe..........................................................65
4.5.9 Das Tetralemma................................................................................................66
4.5.10 Problem-Lösungs-Zirkel.................................................................................67
5 Resümee...........................................................................................................................69
6 Literatur............................................................................................................................73
Ehrenwörtliche Erklärung
II
Summary
Reflexion bedeutet Beobachten. Beobachten kann man die Umwelt oder sich selbst.
Beobachten bedeutet Wahrnehmen und Konstruieren von subjektiv wahrgenommener
Wirklichkeit. Dabei wird dem Beobachteten Sinn zugeschrieben. Dieser Prozess ist stets
selbstreferenziell, das heißt ohne Einfluss der Umwelt.
Sozialarbeiter haben die Aufgabe zu beobachten. Da die Wahrnehmung eine Konstruktion
ist, die nicht mit der Wirklichkeit und deren Komplexität übereinstimmt, ist die
Beobachtung der eigenen Beobachtung, die Reflexion der Reflexion ein Zeichen
professioneller Tätigkeit. Für die Bewertung der Selbstreflexion sind ethische Maßstäbe
nötig. Methoden der Reflexion werden in dieser Studie untersucht.
Die Verarbeitung von Komplexität und die Zuschreibung von Sinn ermöglichen Macht. Da
dies die Aufgaben des Sozialarbeiters sind, ist die Reflexion der Machtstrukturen sehr
wichtig. Ziel des Sozialarbeiters sollte die Ermächtigung der Klienten sein. Dafür ist nicht
nur die Reflexion nötig, sondern die Hinwendung zur Komplexität der sozialen Situation
und die Ermöglichung von Sinnzuschreibung durch die Klienten.
Der Prozess der Entstehung von Macht und die Konsequenzen für professionelle
Sozialarbeiter, als Beispiel für theoriegeleitete Reflexion, sind Teil des vorliegenden
Beitrags.
III
„Was braucht der Mensch“ (Feuser 2012)?
„Wenn ferner der Sehende wahrnimmt, daß er sieht, der Hörende, daß er hört, der Gehende, daß ergeht, und so im übrigen immer etwas ist, womit wir unsere Tätigkeit wahrnehmen, so daß wir also
wahrnehmen dürften, daß wir wahrnehmen, und denken, daß wir denken, was wieder so viel ist alsWahrnehmen oder Denken, daß wir sind“ (Aristoteles 1911, 1170a).
1 Hinführung
Reflektieren heißt für Sozialarbeiter1 zu fragen, warum handle ich so und nicht
anders, welche Werte leiten mich bei Entscheidungen, in welchen
Machtbeziehungen stehe ich, was prägt meine Beziehung zu anderen Menschen?
Reflektieren heißt aber auch, den Anderen verstehen zu wollen, seine Perspektive
auf die Welt und den Sinn seines Handelns erkennen zu wollen.
Ebert (2008, S. 10) postuliert die „Reflexion als Schlüsselkategorie für das
professionelle Handeln sowie für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit“.
Spiegel (2004, S. 85) fordert von angehenden Fachkräften der Sozialen Arbeit „die
Reflexion der vorberuflichen Einstellungen und Wertestandards und ihre
Weiterqualifizierung zu einer wertgeleiteten, durch Profession definierten
'Beruflichen Haltung'“. Reflexion ist ein Merkmal für Professionalität und die
Entwicklung eines sozialarbeiterischen Habitus. Reflexion könnte auch helfen zu
erklären, warum professionelle Intervention „in nicht seltenen Fällen fehlschlägt“
(Kleve 2003, S. 44).
Wissenschaftliche Theorien bieten Erklärungsansätze für individuelle
Beobachtungen, sollten aber selbst reflexiv hinterfragt werden.
„Erkenntnistheoretische Reflexionen, zumal wenn sie konstruktivistischen
Zuschnitts sind, haben das Potential, PraktikerInnen auf viele bisher kaum bewusste
Grundannahmen hinzuweisen, welche die unmittelbare Arbeit keineswegs nur am
Rande tangieren“ (ebd., S. 19). Handlungssituationen können durch theoriegeleitete
Reflexion ganzheitlich erfasst werden, die Interaktion kann angemessen erfolgen.
Insofern bietet die Reflexion eine Verbindung zwischen Wissen und Können.
Reflexion ermöglicht den Schritt von intuitiver zu reflexiver Kommunikation und
Interaktion. Ebert (2008, S. 51) nennt vier Bezugspunkte reflexiver
Auseinandersetzung:
1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Form verwendet, selbstverständlich gelten die Personenbezeichnungen immer für beiderlei Geschlecht.
1
1. Der Einfluss von persönlichen Faktoren in der professionellen Beziehung2. Das Einnehmen einer multiperspektivischen Sicht und vernetzendes Denken und
Handeln3. Die Verortung in den Ethischen Standards der Sozialen Arbeit4. Die Auseinandersetzung mit Machtfaktoren
Die im vierten Punkt erwähnten Machtfaktoren durchdringen auch die anderen drei
Perspektiven. Dies gilt sowohl für den persönlichen Standpunkt, geprägt durch
kulturelle und biografische Einflüsse, wie auch für gesellschaftliche und ethische
Standards und ihre sozialpsychologischen Auswirkungen. Wie in gesellschaftlichen,
so auch in den persönlichen Systemen ist deshalb die Reflexion der
Machtstrukturen und das Bewusstsein für eigene Konstruktionen Voraussetzung für
ein verantwortliches professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit (vgl. Hanses
2007, S. 315ff.; Preis 2015).
Hier wird bereits deutlich, dass theoriegeleitete Reflexion stets
professionsübergreifend erfolgen sollte. Wichtige wissenschaftliche Anstöße
kommen unter anderen aus der Ethik, der Soziologie, der Sozialpsychologie, der
Entwicklungspsychologie und der Sozialpädagogik. Das Thema Macht ist in allen
Professionen relevant.
In der praktischen Tätigkeit der Sozialarbeiter fehlt aber oft das Bewusstsein für die
Notwendigkeit des Reflektierens, insbesondere für die Reflexion der
handlungsleitenden Maximen und der eigenen Verstrickung in Machtstrukturen. Es
mangelt oft an der Bereitschaft oder dem Vermögen zur Reflexion sowohl unter den
professionellen Helfern in der Sozialen Arbeit, wie auch in der Profession und den
Institutionen der Sozialen Arbeit. Mehrere aktuelle Untersuchungen
(Scholz/Schneider & Iser 2014; Müller/ Gerber & Markwalder 2014; Iser 2015b;
Lindner 2013; Knorre 2013) unterlegen diese Hypothesen und regten mich zu
dieser Thematik an.
Ein weiterer Impuls kommt aus der Praxis: Im Rahmen der Entwicklung der
Einrichtung, in der ich tätig bin, spielt die Haltung und Reflexion des Handelns der
Mitarbeiter eine wichtige Rolle. Wenn diese Arbeit professionellen Helfern einen
Anstoß zur Reflexion der Machtverhältnisse und der eigenen Betroffenheit geben
könnte, wäre ein Ziel dieser Arbeit erreicht.
Deshalb soll in dieser Studie untersucht werden, was Reflektieren für Sozialarbeiter
2
bedeutet. Am Beispiel der theoriegeleiteten Reflexion gesellschaftlicher
Machtbeziehungen soll gezeigt werden, wie ertragreich das Reflektieren für die
Haltung des Sozialarbeiters in seinem Alltag ist.
Nach Foucault (1987) konstituiert sich das Subjekt sowohl über Praktiken der
Machtunterwerfung, als auch Praktiken der Befreiung und Freiheit. Er beschreibt
im Rahmen seiner 'Genealogie'2 drei Richtungen, in denen befreiende
Selbstreflexion möglich ist:
Drei Gebiete von Genealogie sind möglich: Erstens eine historische Ontologie unsererselbst im Verhältnis zur Wahrheit, durch das wir uns als Subjekte des Wissenskonstituieren. Zweitens eine historische Ontologie unserer selbst im Verhältnis zueinem Machtfeld, durch das wir uns als Subjekte konstituieren, die auf andereeinwirken; drittens eine historische Ontologie im Verhältnis zur Ethik, durch das wiruns als moralisch Handelnde konstituieren (Foucault 1987, S. 275).
Um diese Perspektive einzunehmen, ist eine Selbstdistanzierung notwendig, eine
Selbstbetrachtung aus der Metaperspektive – die Reflexion.
Diese Studie ist gewissermaßen eine Reflexion meines eigenen Standpunktes als
Mensch, als Sozialarbeiter in der Behindertenhilfe, freilich auch als Gegenüber
meiner Klienten und als Teil des gesellschaftlichen Systems in Deutschland. Ich
beobachte mein Handeln, meine Einstellung und das System 'Soziale Arbeit'.
Selbstverständlich kann diese Reflexion keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder
Übertragbarkeit auf andere Individuen haben. Aber die Reflexion des eigenen
Standpunktes, die Betrachtung der Strukturen und Bedingungen unter denen ich
selbst und die Soziale Arbeit handeln, helfen mir Entscheidungen zu treffen und
Sinn in meinen Handlungen zu erfahren. Damit will ich Kollegen Mut machen, sich
auch bewusst auf den Weg der Selbstreflexion im Rahmen der eigenen Profession
und Theorie einzulassen (vgl. Kap. 2).
Basierend auf dieser ausführlichen Standortbestimmung im zweiten Kapitel wird
im dritten Kapitel exemplarisch gezeigt, was 'theoriegeleitet' bedeutet: Das Thema
'Macht' wird aus Sicht des Sozialarbeiters erörtert. Dabei werden zwei rote Fäden
die verschiedenen Perspektiven verbinden:
Einerseits die Frage nach den Macht- und Herrschaftsverhältnissen, in denen sich
Sozialarbeiter bewegen. Komplexitätsreduzierung und Komplexitätserweiterung im
2 Die metaphysische Suche nach den Ursprüngen und der Historie der Macht (vgl. Foucault 2009)
3
Rahmen der Beobachtung der sozialen Situation spielen dabei eine wesentliche
Rolle.
Andererseits die Suche nach dem Widerstand, der Gegenmacht und den Kosten der
Resistenz bezüglich einschränkender Macht bei professionellen Helfern und
Klienten. Wo finden sie ihren Entwicklungsraum und welche Rollen spielen dabei
die Sozialarbeiter?
Die Reflexionen gehen überwiegend von der Theorie aus. Philosophie, Soziologie
und Psychologie als wissenschaftliche Professionen bieten den Praktikern Theorien
als Projektionsfläche für ihre täglichen Erfahrungen. Im Rahmen dieser Studie
konzentriere ich mich auf die machttheoretischen Aussagen des Systemtheoretikers
Niklas Luhmann (Kap. 3.1) und des Philosophen Michel Foucault (Kap. 3.2). Nach
einem Zwischenresümee (Kap. 3.3) sollen sozialpädagogische Methoden auf ihre
Eignung hinsichtlich der Übertragung von Macht zu Gunsten marginalisierter
Individuen geprüft werden (Kap. 3.4). Ich setze in meinen Ausführungen die
Kenntnis grundlegender Fachbegriffe der Theorien dieser Autoren voraus. Ihre
Aussagen sind geprägt vom Perspektivismus und Konstruktivismus: Subjekte
weisen in Gegenwart, Geschichte und auch vorausplanend dem Wahrgenommenen
Bedeutung zu. Dabei wird Wirklichkeit erschaffen. 'Objektive' Erkenntnis ist immer
subjektiv, Objektivität existiert nicht. Welche Bedeutung zugewiesen wird, hängt
von den individuellen Erfahrungen, der Kultur, dem Wissen usw. der handelnden
Subjekte ab3.
Theorien erfordern und benötigen ihrerseits die praktische Erprobung. Deshalb
sollen, anschließend an das zweite Kapitel, im vierten Kapitel Möglichkeiten der
Reflexion in Alltagssituationen des Sozialarbeiters beispielhaft erläutert werden.
Neben einer Anzahl von Methoden (Kap. 4.5) wird insbesondere die notwendige
Haltung des Sozialarbeiters untersucht (Kap. 4.1-4.4).
Das Resümee fasst die Erträge dieser Studie zusammen.
3 Zur Kritik des Konstruktivismus bzw. Ansätzen für einen 'Postkonstruktivismus' vgl. Renn/ Ernst & Isenböck (2012)
4
„An die Realisten.- […] ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, sosei sie wirklich beschaffen: […] Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran 'wirklich'? Zieht
einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zutat ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr daskönntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschul vergessen könntet- eure gesamte
Menschheit und Tierheit! Es gibt für uns keine 'Wirklichkeit“ (Nietzsche 1990, S.75).
2 Klärung des Standpunktes und der Standortverbundenheit
Aus der Praxis kommend, bin ich mit dem Handeln der Sozialarbeiter, den
Institutionen und ihren Klienten in der Behindertenhilfe konfrontiert. Der
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist meine Alltagspraxis als
Sozialarbeiter. Von diesem Standpunkt beobachte ich mich selbst, mich als Teil der
gesellschaftlichen Praxis und das System 'Soziale Arbeit'. In diesem Sinne ist diese
Studie ein subjektiver Ausdruck meines Standpunktes. Ich offenbare meine
individuellen Deutungen meiner Beobachtungen (vgl. Kleve 2003, S. 70ff.).
Die Praxis erfordert die Reflexion und die Nutzung theoretischer Konstruktionen.
Die Reflexion der Wahrnehmung, des Handelns und der Hintergründe der
individuellen Werte und Sinnzuschreibung im Licht der Theorie formt die Haltung
und ist zugleich Teil einer professionellen Haltung (vgl. Kap. 4.1). Solche Haltung
ist eng verbunden mit der Berufsethik. Diese Art der Klärung des eigenen
Standpunktes bewahrt vor ideologischer Erstarrung. Im Gegenteil ist das Ziel sogar
die „Irritation […] unbrauchbarer Wirklichkeiten“ (Kleve 2003, S. 142). Mannheim
(1985) fordert eine Haltung, die den eigenen Standort skeptisch immerwährend in
Frage stellt und „Wahrheitsansprüche nur als vorübergehende Mittel im Diskurs
von Wirklichkeitsdeutungen zu handhaben“ (Jung 2007, S. 33). Das Bewusstsein,
dass ein unverrückbarer Standpunkt oder eine zweifelsfreie Gewissheit unvereinbar
mit der nötigen sozialen Distanz zur Wirklichkeit sind, führt zu einer gewissen
Fremdheit in der Welt, zu einer Haltung der „unentwegten Reflexion des Weltsinns“
(ebd., S. 63).
Die Fragestellungen, die sich mir beim Reflektieren des beobachteten Handelns
stellen, führen mich zur Theorie und der Frage nach dem, was dahinter steckt (vgl.
Luhmann 1993). Informationen aus Lehrveranstaltungen und dem
wissenschaftlichen Diskurs verknüpfen sich bei den folgenden Erläuterungen mit
Erfahrungen aus meinem Leben und der praktischen Arbeit in einer, sich auf
christlich-diakonische Werte gründenden, Einrichtung der Behindertenhilfe.
5
2.1 Standortanalyse I: Was weiß ich?
Eine Methode steht bei der Reflexion im Mittelpunkt: Das Hinterfragen des
Wissens. Wissen stellt einen Machtfaktor dar und kann den Blick auf Wesentliches
verstellen (vgl. Luhmann 1993, S. 247). Wissen entsteht überwiegend im Diskurs
und seine Ursprünge sind oft nicht überschaubar. In jedem Fall sind das Wissen und
die dem Wissen vorausgehende Wahrnehmung Konstruktionen, die Wirklichkeit
dagegen ist nicht wahrnehmbar. Für Mannheim ist die Wirklichkeit „prinzipiell
rätselhaft, gar numinös unbegründbar“ (Jung 2007, S. 63). Wissen beruht also nicht
auf der Wirklichkeit, sondern nur auf subjektiven Konstruktionen, die diskursiv
beeinflusst werden. Dabei spielt die Sprache die bedeutende Rolle. Wörter und
Begriffe sind das Medium, mit dem etwas von der Umwelt unterschieden werden
kann. Sprache ist kulturell tradiert, wird aber heute auch sehr durch die
Massenmedien geprägt.
Die Reflexionen dieser Arbeit erfolgen im Bewusstsein, Teil des Systems zu sein, in
dem das Wissen generiert wird, und in der Verantwortung, das Wissen dem System,
in diesem Falle den Kollegen und Lesern, zurück zu geben bzw. in einen Diskurs
darüber einzutreten. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Reflexion ist abhängig
von den Vorerfahrungen. Früher gewonnene Erkenntnisse und Erlebnisse
bestimmen den Rahmen der Möglichkeiten. Luhmann (1997, S. 94) verweist darauf
in seinen Erläuterungen der Konstruktion von Information:
Alle Operationen (Kommunikationen) haben mithin eine Doppelfunktion: Sie legen(1) den historischen Zustand des Systems fest, von dem dieses System bei dennächsten Operationen auszugehen hat. Sie determinieren das System als jeweils sound nicht anders gegeben. Und sie bilden (2) Strukturen als Selektionsschemata, dieein Wiedererkennen und Wiederholen ermöglichen.
Luhmann spricht von Anschlussfähigkeit, Bourdieu spricht von strukturierten
Strukturen, die Sozialpsychologie von 'Scripten', die Hirnforschung von
'Engrammen'... Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass wir Wissen aufgrund
zurückliegender Erfahrungen konstruieren.
Wissen soll im folgenden als Bewusstseinsinhalt und Bedeutungszuweisung
verstanden werden, mit denen Systeme aufgrund von Informationen und in ihren
historischen und sozialen Kontexten und diskursiven Zusammenhängen
Unterscheidungen treffen bzw. Wirklichkeit deuten und gestalten. Das System
6
unterscheidet zunächst zwischen Wissen und Nichtwissen, realisiert dabei aber das
Nichtwissen nicht (vgl. Nörenberg 2007, S. 98ff.).
2.1.1 Reflexion von Unterscheidungen
Unterscheidungen werden immerwährend getroffen: „Information ist also ein
zutiefst ambivalenter Sachverhalt. Sie enthält gewissermaßen ihren eigenen
Gegenbegriff. Sie reproduziert, und dies von Moment zu Moment immer neu,
Wissen und Nichtwissen“ (Luhmann 19997, S. 1092).
Der Vorgang der Unterscheidungen in Systemen kann vom selben System im
Moment der Selektion nicht beobachtet werden. Im Moment der Unterscheidung ist
das Selektierte im Blick, das Ausgeschlossene nicht. Anders gesagt kann „sich eine
Beobachtung im Moment des Vollzug nicht selbst beobachten“ (Nörenberg 2007, S.
85). Dieses Nichtwissen kann aber nachträglich in den Blick genommen bzw.
reflektiert werden. Reflexion bedeutet nach Luhmann die unterschiedenen Seiten
wieder im Ganzen, in der Einheit zu sehen (vgl. Kap. 2.1.2). Das ist im Nachhinein
in Form eines „Wiedereintritts der Unterscheidung in den durch sie unterschiedenen
Bereich“ (Nörenberg 2007, S. 85) möglich. Aber auch dieser Vorgang beruht wieder
auf einer Unterscheidung. Das führt zu einer paradoxen Situation und der
Erkenntnis, dass eine umfängliche Erkenntnis der Situation unmöglich ist.
Die Konstruktion von Wissen bedeutet deshalb auch, falls es wahre Aussagen gibt,
dann immer nur relativ zum eigenen Standort, z.B. historisch, kulturell,
gesellschaftlich – relational. Es gibt keine absolute, vom Standpunkt losgelöste
Wahrheit. Da jedes System anders disponiert ist, werden Informationen different
bewertet. Folglich konstruiert und kommuniziert jedes System eigene Wahrheiten,
seine eigene Wirklichkeit.
Und selbst die Feststellung des eigenen Standpunktes ist bedingt. Mannheim spricht
vom Zustand der 'doppelten Unbekanntheit': Sowohl die Wahrnehmung der Welt,
als auch unsere eigene Wahrnehmung ist ein Konstrukt. „Eine vom Standort des
Erkennenden abgelöste Wahrheit zerstört“ (Gadamer 1990, S. 40). Luhmann (1997,
S. 1061) weist darauf hin, dass „ein Beobachter (und auch ein Selbstbeobachter)
nicht sehen kann, was er nicht sehen kann, und zwar vor allem sich selber nicht.
7
Die Einheit der Gesellschaft wird in der Selbstbeobachtung zur Paradoxie des
Beobachters“.
Der permanente Unterscheidungsprozess zwischen Wahrnehmung und
Nichtwahrnehmung, Information und Nichtinformation erfolgt immer wieder neu:
Unsere Analysen legen die Annahme nahe, daß die moderne Gesellschaft mit dieserTechnik des Beobachtens des Nichtbeobachtenkönnens das Paradox des Beobachtersals des ausgeschlossenen Dritten nachvollzieht. […] Der Beobachter ist dasUnbeobachtbare. Das führt jedoch nicht in die Verzweiflung. Im autopoietischenSystem gibt es keinen Abschluß, weder Anfang noch Ende. Jedes Ende ist ein Anfang.[…] Und wenn dies geschieht und wenn solche Beobachtungsoperationen immerwieder auf ihre eigenen Resultate angewandt werden, könnte es sein, daß das imErgebnis zu stabilen 'Eigenwerten' führt, das heißt zu einer Semantik, die dies aushältund deshalb bevorzugt wird (ebd., S. 1081f.)
So gesehen, geschieht auch in dieser Studie ein Zirkelschluss. Meine Reflexion
über die Reflexion ist geprägt durch meine individuellen Erfahrungen und
Wahrnehmung. Die (unbewusste) Unterscheidung, was für mich wichtig ist, wie
und warum ich mich in dem Moment des Denkens und Schreibens so entschieden
habe, ist mein blinder Fleck. Doch weil die Reflexion im Gegensatz zur
Verschriftlichung in dieser Studie keine einmalige Handlung sondern ein laufender
Prozess ist und damit immer wieder durch neue Unterscheidung auf frühere
Resultate angewendet werden kann, entsteht dadurch eine reflektierte Haltung.
2.1.2 'Unmarked Space' oder Einheit der Weltsicht
Deutlich wird dabei, dass Reflexion in Abhängigkeit von der Zeit geschieht: Sie
kann auf eine zuvor vorgenommene Unterscheidung folgen, aber niemals mit ihr
gleichzeitig vorgenommen werden.
An dieser Stelle weitet sich plötzlich die dualistische Perspektive, die aber der
Reflexion nach wie vor zugrunde liegt. Kraus (2013, S. 28) verweist auf Platon,
Descartes und Kant, wenn er feststellt: „Dualistische Positionen, die das Seiende
auf zwei nicht voneinander ableitende Substanzen oder Prinzipien zurückführen,
sind eine unerlässliche Voraussetzung abendländischen Philosophierens“. Durch
den Faktor Zeit kann aber auf frühere Unterscheidungen aufgebaut bzw. können
diese beschrieben bzw. beobachtet werden. Die Reflexion einer Unterscheidung ist
nur durch eine neue, spätere Unterscheidung möglich. Dabei wird die Perspektive
verändert und die Unterscheidung an sich, also die Trennlinie, der „unmarked
8
space“ (Luhmann 1993, S. 246), samt beiden Seiten des Entschiedenen beobachtet.
Der 'unmarked space', der blinde Fleck ist das Nicht-Gedachte, das Nicht-
Gesehene. Diese 'nicht in den Blick genommene' Seite der Unterscheidung ist
'unendlich' groß. In der Reflexion wird nun die zurückliegende Unterscheidung in
ihrer Einheit untersucht: Was wurde unterschieden, was wurde im Dunkeln
gelassen? Nach Luhmann (ebd.) ist die Suche nach der Einheit einer
Unterscheidung der paradoxe aber notwendige Schritt zur „Einheit der Weltsicht“.
Diese Beobachtung 2. Ordnung beruht auch wieder auf einer Unterscheidung, die
im nächsten Augenblick wieder reflektiert werden kann (vgl. Nörenberg 2007, S.
87ff.). Der Beobachter untersucht, was dahinter steckt, was wurde bei der zuvor
getroffenen Unterscheidung ausgeblendet. Im Laufe der Zeit können so viele
Perspektiven bezüglich einer Entscheidung eingenommen werden und alternative
Sichtweisen mit neuen Anschlussmöglichkeiten können in den Blick genommen
werden.
Resümierend lässt sich sagen, dass unser Wissen offenbar gegenüber dem
Nichtwissen sehr begrenzt ist und auf 'wackligen Füßen' steht. Die
wahrgenommene Welt wird vom Subjekt konstruiert, dass heißt jeder Mensch
konstruiert sich seine eigene Wirklichkeit. Im Diskurs darüber entsteht sogenanntes
Wissen, mit dem Etikett 'Wahrheit' wird es zum Machtfaktor. Dies soll im Kapitel 3
genauer untersucht werden. Zuvor soll untersucht werden, welche Folgen diese
Erkenntnisse auf die Entscheidung und das Handeln hat:
2.2 Standortanalyse II: Wie entscheide ich mich?
Charakteristisch für die Perspektive des Sozialarbeiters ist nicht der distanzierte
Beobachter sondern der handelnde Teilnehmer in der konkreten Situation. Typisch
für die Situationen, in denen Sozialarbeiter sich bewegen ist die
Unvorhersehbarkeit und Komplexität. Jede ethische Entscheidung, die getroffen
wird, fordert die angemessene Anwendung der bestehenden Freiheit. Dafür muss
die konkrete Situation analysiert werden und mit der persönlichen Haltung und den
Erfahrungen abgeglichen werden. Diese handlungsleitende Grundhaltung,
vergleichbar mit Weisheit oder Ethik, entsteht in der Reflexion des Wissens und der
Erfahrung in der Praxis (vgl. 4.3). Sie bewährt sich in den Entscheidungen, die in
9
der Praxis getroffen werden, im Können. „Um die Überlegungen in Handlung zu
überführen, sind Übung und des [sic] Lernen erforderlich, das heißt
Habitualisierung“ (Möhle 2015, S. 12). Diese Habitualisierung ist ein lebenslanger
Prozess, der im Gegensatz zur Entstehung des Habitus nach Bourdieu, aktiv durch
Selbsttechniken gestaltet werden sollte (vgl. Kap 2.3).
In dem Bewusstsein, dass Wahrnehmung eine Konstruktion ist, gilt aber auch „Was
wir sehen, ist das, was wir sehen“ (Kleve 2003, S. 64). Es gibt nur subjektive
Wahrheiten, die individuell Kriterien für Handlungen sind. Wahrnehmung
produziert „keine Information, die entweder wahr oder falsch ist, sondern die ist
immer wahr“ (Förster 1994, S. 68).
Absolute Kriterien für das Handeln gibt es oft nicht, Prinzipien müssen im
Einzelfall in Frage gestellt werden. Es muss das relativ Bessere dem relativ
Schlechteren vorgezogen werden. Dafür ist oft ein Abgleich von
Variationsmöglichkeiten hilfreich. Nörenberg (2007, S. 100) empfiehlt
Sozialarbeitern, „von einer Orientierung an Routinen auf Überraschung und von
Regelhaftigkeit auf Orientierung am singulären Beispiel“ umzuschwenken. Dann
kann es gelingen eine Vielfalt an möglichen Umgangsweisen mit bewährten
Problemlösungsstrategien zu bewältigen. Der Konstruktivismus bezeichnet eine
Erkenntnis, die der Realität nicht widerspricht und für das Handeln ausreicht
'viabel': „Theorien können also nicht absolut 'wahr' sein, sondern bestenfalls a)
funktionieren und b) verschiedene Erfahrungsinhalte erklären. Mehr als dieses ist
nicht möglich, aber auch nicht notwendig“ (Kraus 2013, S. 62).
Verantwortliches Handeln erfordert demnach eine Entscheidung in der eigenen
subjektiven Begrenztheit gegenüber der ganzen unbegrenzten komplexen
Wirklichkeit. Diesem Wissen über die eigene Begrenztheit der Wahrnehmung, dem
persönlichen Spielraum, dem individuellen Standpunkt usw. soll diese Arbeit
dienen. Dahinter steht die Freiheit, sich für das Handeln nicht rechtfertigen zu
müssen, und die Notwendigkeit, dafür Verantwortung zu übernehmen (vgl.
Johannsen 2003, S. 62f.; Foerster 1994; Möhle 2015; Kurtz 2006; Kap. 3.2.3).
10
2.3 Standortanalyse III: Wie führe ich mich?
Nach Foucault (1987 und 1988) kommt es bei individuellen Entscheidungen auf die
Selbstbeziehung an. Eine reflektierte Beziehung zu eigenen Werten, Verhaltens-
und Denkmustern (Habitus), die bewusste Orientierung an einer persönlichen
Lebensethik, ermöglicht ein selbstbestimmtes und selbstachtendes Entscheiden
jenseits der Festlegung durch äußere Normen und Vorschriften. Er versteht unter
der Selbstbeziehung einen dauerhaften Prozess der Selbsteinwirkung, der
Selbstkontrolle durch Selbsttechniken. Es kommt zu einer Ästhetik der Existenz,
einer Ethik des Seins, in der eigene Werte, Bewertungen und Moralvorstellungen
kritisch reflektiert werden. Ergebnis ist eine Art Selbstkontrolle bzw.
Selbstunterwerfung und Herrschaft über sich selbst. Modern könnte man von echter
Selbstbestimmung im Gegensatz zur Fremdbestimmung sprechen. Voraussetzung
ist für Foucault die persönliche Entscheidung. Sie kann die Führung durch
institutionelle Mechanismen oder moralphilosophischen Expertenkulturen ersetzen
(vgl. Kap. 3.2.5)
Reflexion führt zu Souveränität des Subjekts. Das Ergebnis ist die relative Freiheit
von Fremdbestimmung, insbesondere in lebenspraktischen Entscheidungen - die
Ethik. Ethik ist ein Grundmoment des Sozialen (Habermas). Es geht aber nicht um
eine Ethik, die zu Legitimationszwecken für eigenes Handeln benutzt wird, sondern
„um ein Verständnis von Ethik, welches Orientierung für die Praxis bereitstellt,
wohlgemerkt unter der Zumutung von fortgesetzter, kritischer Selbstreflexion“
(Nörenberg 2007, S. 9).
Das Wort 'Selbstreflexion' soll hervorheben, dass Reflexion immer ein auf sich
selbst bezogener Prozess ist. Luhmann spricht von 'Selbstreferenz'. Selbst wenn
Beobachtungen der Umwelt reflektiert werden, werden doch nur die eigenen
Konstruktionen bzw. die eigene Wahrnehmung, die eigenen Unterscheidungen
reflektiert (vgl. ebd., S. 88).
Die Konsequenz dieser Denkweise (auch des Konstruktivismus) ist eine Pluralität
der Ethiken. Aber für das Zusammenleben ist auch ein gewisser Konsens nötig,
Normen, die das Zusammen-Leben sichern. Diese sollten die Freiheit der Subjekte
11
schützen und müssen auf Macht- und Herrschaftsaspekte untersucht werden. Kraus
(2013, S. 162) bezieht sich auf Hejl (1995, S. 55) und fordert die Begründung des
Handelns an den Postulaten: Toleranzgebot, Verantwortungsakzeptanz und
Begründungspflicht.
An dieser Stelle stößt die Theorie Foucaults, die sich auf Kant und Nietzsche
bezieht, wie auch die Aussagen von Kraus und Hejl, die die ethischen Folgen des
Konstruktivismus reflektieren, an die Grenze. Ist der Mensch der letzte Horizont
und Maßstab, ist er nur das Resultat seiner Unterwerfung? Oder ist er eine
Unterwerfung unter seine Seele, die ihm Existenz verschafft? Das Subjekt, das sich
auf sich selbst bezieht, braucht einen Wertmaßstab, der apriori vorhanden sein
muss.
Das unter anderem von Nietzsche (1990) beobachtete aufklärerische 'Gott ist tot!'
führt zu einer Überforderung des Subjekts. Eine, wenn auch abendländisch geprägte
und seit Jahrtausenden tradierte, Perspektive bietet die Orientierung an dem Wort
bzw. der Offenbarung Gottes. Diese Offenbarung kann, trotz aller hermeneutischen
Probleme, einen Ausweg öffnen. Insbesondere die jüdisch-christliche Offenbarung
beschreibt einen machtvollen Gott, der seine Macht aber im Kleinsein, der Hingabe
und dem Opfer entfaltet (vgl. Kap. 3.2.2).
Der Zwang zur Selbstbehauptung weicht der jüdisch-christlichen Freiheit, die den
Zweifel und immerwährende Fragen zulässt. Diese Freiheit, die einem Glauben
entspringt, widersetzt sich auch totalitären Wahrheitsansprüchen und Ideologien.
Autorität erhält der Mensch durch den liebenden freiheitschenkenden Gott, als
dessen Ebenbild er erschaffen wurde. Eine Herrschaft über Menschen ist zur
Sicherung der menschlichen Identität nicht mehr nötig. 'Ungleichwertigkeit' ist
apriori durch den Bezug auf Gott unmöglich. Der Andere, auch der Fremde,
erscheint als gleichwertiger Bruder und hat ein 'individuelles Gesetz' (Simmel). Das
Miteinander in Brüderlichkeit der Menschen wird möglich. Im Bewusstsein seiner
Individualität respektiert der Mensch die höchstpersönliche Individuation des
Gegenübers. Er ist nicht allgemein 'der Mensch' (Kant), sondern individuell 'der
Nächste', mein 'Du' (vgl. Buber 1995).
12
„Macht verbirgt sich in allem, man muß sie nur sehen“ (Popitz 2004, S. 17).
3 Das Spiel der Macht
Das dritte Kapitel soll die Auseinandersetzung des Sozialarbeiters mit
wissenschaftlichen Theorien darstellen. Ein naheliegendes Thema ist, wie
einleitend beschrieben, die Frage nach Machtstrukturen und ihre Auswirkung auf
die Marginalisierung und Ausgrenzung von Individuen. „Für die Soziale Arbeit ist
die Auseinandersetzung mit dem Thema 'Macht' unumgänglich, da sie die
Potentiale und Grenzen ihrer helfenden und kontrollierenden Interaktionsmacht
gegenüber ihren Adressaten reflektieren muss“ (Kraus 2013, S. 119). Darüber
hinaus müssen aber auch alle anderen Akteure, Systeme und das eigene
Selbstverständnis hinsichtlich sozialer und gesellschaftlicher Machtstrukturen in die
Reflexion einbezogen werden.
Theoriegeleitete Reflexion4 ist die Verbindung eigener Beobachtungen, und der sich
daraus ergebenden Fragestellungen, mit professionsübergreifenden
wissenschaftlichen Erklärungsversuchen. Insbesondere die Soziologie könnte man
als Organum der Selbstbesinnung und Selbsterweiterung bezeichnen (vgl. Jung
2007, S. 35).
In diesem Zusammenhang verweise ich nochmals auf den 'Erkenntniszirkel'.
Sowohl die theoretischen Erklärungsversuche, wie auch meine Ausführungen dazu
sind Konstruktionen: Theorien und Wissen sind Konstruktionen, die Verweise in
dieser Arbeit auf den wissenschaftlichen Diskurs und die Theorien sind
Beobachtungen dieser Theorien, also meine Konstruktionen aufgrund konstruiertem
Wissen (vgl. Kap. 2.1.1).
Aus vielen Theorien unterschiedlicher Professionen zur Macht greife ich in dieser
Arbeit zwei heraus:
Im Lebenswerk des Philosophen Foucault (Kap. 3.2) nimmt die
Auseinandersetzung mit den Ursprüngen, Eigenschaften und Wirkungen von Macht
einen zentralen Stellenwert ein. In Luhmanns Beiträgen (Kap. 3.1) hat die Macht
dagegen eine eher nachrangige Bedeutung. Mit seinem abstrakten Denken ergänzt
er aber die Erkenntnisse Foucaults und bietet einen schlüssigen soziologischen
4 Verschiedene praktische Methoden werden im Kapitel 4.5 vorgestellt.
13
Zugang zu dem Phänomen ‚Macht‘. Beide Theorien können als Reflexionsfolie für
den Sozialarbeiter und sein Handeln dienen. In der vorliegenden Studie sollen sie
beispielhaft zeigen, wie notwendig theoriegeleitete Reflexion für professionelles
Handeln des Sozialarbeiters ist.
Dem Sozialarbeiter kann bewusst werden, wie er in Machtstrukturen eingebunden
ist. Diese Erkenntnis kann ihm helfen, mit seiner Macht bzw. Ohnmacht und der
Macht seiner Klienten verantwortungsvoll umzugehen. Ziel der Reflexion sind
praktische Konsequenzen im Handeln des Sozialarbeiters. Im Kapitel 3.4 werden
die Theorien auf ihre Bedeutung in der sozialarbeiterischen Praxis überprüft.
Zunächst soll sich den Begriffen 'Macht' und 'Herrschaft' genähert werden:
Zahlreiche und sehr unterschiedliche Definitionen von 'Macht' werden in der
Literatur veröffentlicht und kritisiert (vgl. Weber 2002; Arendt 2011; Foucault
2001; Popitz 2004). Wesentliche Merkmale sind:
Macht lässt sich schwer verorten, sie wirkt variabel, reziprok und zirkulär. Es ist
kaum möglich, Kausalbeziehungen zu beschreiben, zu komplex und zu vielfältig
sind die Ursachen und Wirkungen. Praktisch hat jeder Mensch 'Macht', die ihm
Möglichkeiten zum Handeln gibt. Aber man kann Macht nicht wie ein Gut besitzen.
Macht ist empirisch schwer messbar (vgl. Luhmann 2013, S. 13ff.).
Herrschaft wird allgemein als institutionalisierte und verfestigte bzw. gesicherte
Macht bezeichnet, die bei den Beherrschten Gehorsam findet. Gehorsam wird als
wechselseitiges Einverständnis über die Legitimität des sozialen Einflusses
beschrieben. Wie diese Legitimation trotz oft ungleicher Meinung zustande kommt,
soll in diesem Kapitel anhand der Theorien untersucht werden (vgl. Weber 2002, S.
38; Kraus 2002, S. 180).
Max Weber nutzt eine relative Definition und bezeichnet Macht positiv als eine
Chance, als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen
auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“
(Weber 2002, S. 28). Es geht um die Möglichkeit etwas Gewolltes durchzusetzen.
Popitz (2004, S. 22) bezeichnet Macht als das „Vermögen, sich gegen fremde
Kräfte durchzusetzen“. Um die gesellschaftlichen Machtzusammenhänge besser als
in diesen Definitionen der Moderne zu verdeutlichen, sollen die Ansätze von
14
Luhmann und Foucault besprochen werden5. Denn auch Luhmann (1975, S. 12)
spricht von der Macht als Chance, „die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens
unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern“.
Doch was bedeutet das Wort 'Chance' oder 'Möglichkeit'?
Kurze Studien der beiden ausgewählten Autoren zum Thema 'Macht' sollen im
Folgenden einen Überblick über das Thema geben. Der Blick geht dabei von der
sehr abstrakten Sicht Luhmanns hin zu den ontologischen Erkenntnissen Foucaults.
5 Lohnend wäre eine Überprüfung der Definitionen und ggf. Neudefinition von Macht und ihrer postmodernen Funktionsweisen, z.B. im Zusammenhang mit der Entsolidarisierung und zunehmenden Verlagerung der Risiken an das Individuum.
15
3.1 Luhmann und die systemische Sicht
Die Systemtheorie nach Luhmann ist für Sozialarbeiter eine interessante
Reflexionsfolie: Durch die Einführung der Unterscheidungen zwischen System und
Umwelt, Beobachten und Erkenntnis und Erkenntnis und Handeln lassen sich alle
Operationen separat hinsichtlich der Unterscheidungen reflektieren. An dieser
Stelle verweise ich auf seine Schriften und die sehr umfangreiche Rezeption seiner
Werke und wende mich seiner Reflexion bezüglich der 'Macht' zu.
Luhmann definiert Macht als Einfluss eines Psychischen oder Sozialen Systems auf
ein Anderes. Hintergrund des Einflusses ist ein Wissensvorsprung bzw. die
Selektion von Informationen. Selektierte bzw. in ihrer Komplexität reduzierte
Information wird weitergegeben bzw. kommuniziert. Macht ist nach Luhmann
(1997) ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Macht motiviert
bzw. dirigiert zur Reproduktion von bestimmten Selektionen bzw.
Unterscheidungen. Luhmann (2013, S. 54) spricht wörtlich auch von
„Generalisierung der Relevanz individueller Entscheidungsleistungen“.
3.1.1 Komplexitätsreduzierung durch Selektion und Generalisierung
Luhmann (2013, S. 50ff.) beschreibt Macht als Fähigkeit zur
Komplexitätsreduzierung. Unter Komplexität versteht Luhmann, dass es für ein
System mehr Möglichkeiten gibt, als es aktualisieren kann. Folglich steht das
System unter Selektionszwang sowohl hinsichtlich der Informationen aus der
Umwelt, als auch systemintern. Beides muss außerdem abgestimmt erfolgen (vgl.
Luhmann 1997, S. 136).
Je mehr Informationen bzw. Wissen ein System aufnehmen und verarbeiten kann,
dass heißt je besser es komplexe Zusammenhänge bewältigen kann, desto mehr
Macht hat es. Die Komplexitätsreduzierung hat das Ziel der Beobachtung oder
Kommunikation 'Sinn' zu zuschreiben. Fuchs (2010, S. 13) spricht deshalb auch
von „Sinnsystemen“, Luhmann von 'Sinnzwang' der Systeme.
Sinn erscheint als Simultanpräsentation von Möglichem und Wirklichem, die alles, was intentional erfasst wird, in einem Horizont anderer und weiterer Möglichkeiten versetzt (Luhmann 1997, S. 81).
16
Dieser Sinn kann von anderen Systemen mit geringerer Kapazität zur
Informationsverarbeitung nicht geprüft werden.
Vereinfacht könnte man es wie folgt beschreiben: Ein System ist, aufgrund
mangelnder Kapazität komplexe Informationen zu verarbeiten, auf die Vorselektion
eines anderen Systems, und damit Reduktion der Komplexität, angewiesen. Die
Kommunikation geschieht im Rahmen eines Selektionsprozesses und das
empfangende System wird Handlungen und Entscheidungen aufgrund der Selektion
des anderen vollziehen. Wenn diese „selektionsbedingte Selektion“ (Luhmann
2013, S. 50) von dem Informationsempfänger erwartet wird bzw. unkritisch
übernommen wird, entsteht in diesem Kommunikationsprozess Macht.
Obwohl beide Seiten handeln, wird dennoch Macht allein dem Machthaber
zugerechnet. Der Machtunterlegene hat die Entscheidung, den Sinn bzw. die
Selektionsofferte anzunehmen oder die Vermeidungsalternative, die unter
Umständen mit Sanktionen verbunden ist. Beide Seiten kennen die angedrohte
Sanktion und wollen sie vermeiden. „Die Form der Macht ist nichts anderes als
diese Differenz, die Differenz zwischen der Ausführung der Weisung und der zu
vermeidenden Alternative“ (Luhmann 1997, S. 356).
Die Macht ermöglicht zunehmend komplexere und differenziertere
Zusammenhänge zu verarbeiten, stabilisiert durch eine zunehmende
Generalisierung der Kommunikation. Generalisierung bedeutet Verallgemeinerung
von Sinnorientierung, um leichter aus allen Möglichkeiten Alternativen bestimmen
zu können. Diese strukturieren die Entscheidungsprozesse und belegen sie mit Sinn,
nicht nur einmalig, sondern auch erwartbar in künftigen Situationen (vgl. Luhmann
2013). „Jede Handlung muß in jedem Augenblick unter als feststehend behandelten
Entscheidungsprämissen operieren und fügt sich dadurch, daß sie reduzierte
Komplexität übernimmt, der Macht derer, die die Prämissen definiert hatten“ (ebd.,
S. 87).
Diese Komplexitätsreduzierung relativiert den Wahrheitsanspruch der Information.
Die soziale Situation in ihrer Komplexität, Mannheim spricht von 'Totalität', ist
nicht erkennbar und nicht kommunizierbar. Nur durch die Reduzierung der
Komplexität wird die Lebenswelt beschreibbar, die begriffliche Wiedergabe verliert
17
aber den Anspruch der 'totalen' Wahrheit (vgl. Jung 2007, S. 97; Kap 2.1).
Genau dieser Vorgang gehört zu den Hauptaufgaben professioneller Hilfe, die in
unserer Gesellschaft stark organisiert und institutionalisiert ist. Große
Hilfsorganisationen haben entsprechende Kapazitäten zur
Komplexitätsverarbeitung und Macht. Eine Reflexion der Institutionalisierung von
Hilfe offenbart aber noch weitere kritische Ansätze:
3.1.2 Institutionalisierung
In der Praxis gilt es Machtverhältnisse auf ihre Institutionalisierung in
Herrschaftsverhältnissen zu untersuchen. Gegebenenfalls ist zu prüfen, wie sie
antiherrschaftlich verändert werden können. Dabei ist die Reflexion von subtilen
Machtverhältnissen, die Autonomie in Fremdbestimmung verkehren, genauso
wichtig, wie die Strukturen, Institutionen und Vergesellschaftungsmomente, die
Herrschaft und Ungleichheit produzieren (vgl. Langemeyer 2008, S. 177ff.). Zu
nennen wären vielfältige gesellschaftliche Systeme und Entwicklungen, die hier
nicht weiter besprochen werden sollen, z.B. Ökonomisierung des Sozialen,
Normalisierungstendenzen, Individualisierung und Übertragung gesellschaftlicher
Risiken an das Individuum usw. (vgl. Hanses 2007, S. 317).
Institutionalisierung ist eine Folge der funktionalen Differenzierung und der hohen
Komplexität in der Moderne (vgl. Lambers 2010, S. 68). In Institutionen geschieht
nach Luhmann (2013, S. 70) „formale Organisation der Macht“:
Um seine Mitgliedschaft zu erhalten, unterwirft der einzelne sich der im Systemorganisierten Weisungsgewalt und wird in den Grenzen festgelegterEntscheidungskompetenzen indifferent dagegen, was im einzelnen von ihm verlangtwird: Er erfüllt dann um seiner Mitgliedschaft willen diejenigenVerhaltenserwartungen, die jeweils nach bestimmten Regeln als verbindlich definiertwerden (ebd. S. 70f.).
Je größer die Institution und die Komplexität, umso mehr muss in individueller
generalisierter Kommunikation Komplexität reduziert werden. Der Sinn der
Kommunikation ist die Reduktion von Komplexität, die Form ist die „generalisierte
Macht“ (ebd. S. 77). Die Regeln des Systems, Luhmann spricht von internen
Kommunikationen, organisieren die Macht einzelner systeminterner Akteure im
Sinn des Systems. Je größer und stärker das System bzw. die Institution ist, desto
18
höhere Komplexität kann verarbeitet werden. Der individuelle Wille des
Machtunterworfenen wird neutralisiert (vgl. insgesamt Luhmann 1975; Luhmann
2013).
Mit Blick auf Organisationen der Sozialen Arbeit problematisiert Kleve (2003, S.
39ff.), dass diese definieren, wer hilfebedürftig ist. Dafür werden Normen
festgelegt, die kollektive Definitionsprozesse auslösen. Inklusionsprobleme werden
als soziale Probleme konstruiert, vom selben System kann dann die Lösung
angegangen werden. So sichert das Bestehen der Probleme auch das Bestehen des
Systems. Diese selbstreferentielle Operation der Problemdefinition durch das
System wirkt für das System stabilisierend bzw. erhaltend (vgl. Baecker 1994, S.
93f.).
Eine Methode dafür ist die Diagnose (vgl. Kap. 4.5.1) und ihre „selbst erfüllende
Prophezeiung“ (Watzlawick 1985, S. 65). Eine Diagnose ist stets reduzierte
Komplexität im Vergleich zur sozialen Situation. Diese durch die Diagnose
konstruierte Wirklichkeit, zum Beispiel eine geistige Behinderung, kann dann zu
einer durch Umgangs- und Verhaltensnormen und festgelegte Therapie- und
Rehabilitationsformen stabilisierten Institution werden. Das Individuum unterwirft
sich der Diagnose, um benötigte Unterstützung zu erhalten. In Iser (2015a) werden
die Ursache und die Folgen dieser gesellschaftlich-institutionalisierten Macht am
Beispiel der Institution 'Geistigbehindertsein' untersucht.
Fuchs (2010b, S. 95) kritisiert die sogenannte „basale Inklusion“ bzw. die
„Vollbetreuung“, insbesondere pflegebedürftiger Menschen, in Sondersystemen.
Die Kommunikation der Klienten wird nur noch „körperhermeneutisch“ (ebd., S.
97) gedeutet. Im Rahmen der Institution, dem System „Körperversorgungswelt“
(ebd.), werden unbewusst alle Äußerungen der Klienten hinsichtlich des Auftrags
der Betreuer gedeutet. Sinn wird zugeschrieben, die Komplexität ist auf basale
Bedürfnisse reduziert. Fuchs (ebd.) fordert an dieser Stelle eine „amicale
Beobachtungskultur“, das heißt eine Zuwendung, ein 'Verstehenwollen' in
freundschaftlicher Zugewandtheit (vgl. Kap 2.3). Fuchs verweist damit auf ein
Äquivalent zur Macht, die fürsorgende Liebe. Sie kann nach Luhmann das
symbolische Kommunikationsmedium 'Macht' begrenzen bzw. ersetzen.
19
3.1.3 Die Grenzen der Macht
Luhmann beschreibt die Grenzen der Macht wie folgt:
Zum ersten sind es die Möglichkeiten der Systeme: „Unmögliches kann nicht
befohlen werden“ (Luhmann 2013, S. 96).
Zum zweiten erfordert ein großer Einfluss, große Freiheit, d.h. große Komplexität,
bei dem Beeinflussten. „Die Steigerung seiner Freiheit steigert daher unvermeidlich
den Einfluss, dem der einzelne unterliegt“ (ebd., S. 97). Zumindest müssen
Machthaber und Beeinflusster Alternativen besitzen und kennen. Wenn schon im
Voraus feststeht, was passiert, oder der Machthaber physischen, wirtschaftlichen
oder sozialen Bindungen unterliegt, wird sein Entscheidungsspielraum
eingeschränkt. Luhmann (ebd., S. 87) betont deshalb auch: „Als Ganzes gesehen ist
Macht ein durch Generalisierung und Organisation entstehendes permanentes
Medium der Kommunikation im System, das in seiner Funktion weitgehend latent
bleibt“.
Darüber hinaus weist Luhmann (1975, S. 9ff.) auch auf die anderen symbolischen
Kommunikationsmedien hin: Liebe, Wahrheit, Geld und Kunst. Sie begrenzen bzw.
ersetzen Macht und erschweren sowohl die Erfassung als auch die Beschreibung
von Macht in der Praxis. Das gleiche gilt für Substitute bzw. funktionale
Äquivalente zur Macht, z.B. Hierarchien, die Systemgeschichte, Verträge. Eine
Erweiterung bzw. Aktualisierung der Liste der symbolischen
Kommunikationsmedien ist denkbar. Die schnelle gesellschaftliche Veränderung
führt zu postmodernen Machtprozessen, die neue Theorien nötig machen6.
Hinsichtlich der Möglichkeit zur Begrenzung von Macht- und
Herrschaftsstrukturen spielt das Phänomen der Inklusion und Exklusion
Psychischer Systeme eine wichtige Rolle.
3.1.4 Die Unmöglichkeit der Inklusion
Die schnelle gesellschaftliche Veränderung der postmodernen Gesellschaft hat eine
immer stärkere Differenzierung in autonome Funktionssysteme zur Folge, die sich
selbst immer weiter in Subsysteme ausdifferenzieren. Für jedes dauerhafte Problem
6 Zum Beispiel führt Maaß (2009) für die Soziale Arbeit das Medium „Ansprüche“ ein.
20
bildet ein System ein Subsystem. Diese Systeme sind operativ geschlossen
(autonom) und operieren autopoietisch (selbsterschaffend bzw.
-weiterentwickelnd). Das heißt auch, sie legen ihre Grenzen zur Umwelt selbst fest.
Jedes dieser Sozialen Systeme funktioniert selbstreferentiell, das heißt
Informationen werden in einem auf die eigenen Strukturen bezogenen Prozess
bewertet. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit des Systems, die Informationen
wahrzunehmen. Das ist ein zirkulärer Prozess: Je differenzierter ein System
strukturiert ist und je stärker die Umwelt bzw. die Gesellschaft differenziert ist,
desto unwahrscheinlicher wird die Kommunikation. Je höher die Komplexität,
desto mehr wird eine übergreifende Interaktion erschwert: „Von der
Kommunikation eines Problems fühlen sich immer einzelne Teilsysteme der
Gesellschaft betroffen, niemals die ganze Gesellschaft“ (Lambers 2010, S. 134).
Durch die große Diversität und Komplexität der modernen Gesellschaft ist kein
Individuum in allen Subsystemen integriert. Luhmann (2005, S. 241) definiert
Inklusion als Beteiligung an der Kommunikation. Die Sozialen Systeme
entscheiden und selektieren selbst, wer für sie (Sinn-)relevant ist bzw. wer
inkludiert wird. Luhmann (ebd., S. 241) beschreibt das Relevanzkriterium:
Inklusion (und entsprechend Exklusion) kann sich nur auf die Art und Weise beziehen,in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden.
Durch ihre Kommunikationsfähigkeit und ihre Relevanz werden Menschen zu einer
Person bzw. Psychische Systeme von den mit ihnen kommunizierenden Sozialen
Systemen wahrgenommen (vgl. Kleve 2003, S. 39). Personen sind adressierbar.
Wenn allerdings das Desinteresse bzw. die Nicht-Relevanz von Funktionssystemen
an Personen Teil ihrer sozialen Adresse wird, kann der Ausschluss quasi Teil der
Identität werden, er wird subjektiviert (vgl. Fuchs 2010a, S. 24; Kap 3.2.2). „Das
sinnhafte Arrangieren des Alltags seitens des Individuums wird zunehmend von
teilgesellschaftlich erzeugten Inklusions- und Exklusionschancen konditioniert“
(Wirth 2014, S. 536).
Problematisch ist, dass die Funktionssysteme Regeln haben, die für die Teilhabe
erfüllt werden müssen. Diese autonom von den Systemen festgelegten Regeln
entstehen durch Beobachtung und werden der Umwelt als eine Art
21
Zugangsvoraussetzung kommuniziert. Durch die von außen nicht beeinflussbaren
Voraussetzungen entsteht Inklusion und Exklusion7 (vgl. Luhmann 2005).
Die Regeln betreffen unter Umständen die Teilhabe an anderen Systemen.
Beispielsweise erhält nur jemand eine Wohnung, der auch Arbeit hat, aber den
Arbeitsplatz erhält die Person nur, wenn sie eine Wohnadresse vorweist8. Es scheint
für die gesellschaftliche Teilhabe besonders wichtige Funktionssysteme zu geben,
beispielsweise das Beschäftigungssystem. Im Fall, dass Individuen aufgrund der
fehlenden Teilhabe an einem Funktionssystem keine Kommunikation mit einem
anderen aufnehmen können, verlieren sie an Freiheitsgraden, an Möglichkeiten der
Teilhabe bzw. Kommunikation in der Gesellschaft. Kleve (2009) spricht von
„Exklusionsdrift“.
Denn Exkommunikation verhindert Inklusion. Exkommunikation kann sowohl
mangels kommunikativer Fähigkeiten auf Seiten der Akteure, als auch seitens der
Institutionen, z.B. aufgrund von Desinteresse oder durch Exklusion in Verbindung
mit Inklusion in Sondersystemen erfolgen (vgl. Kap. 3.2.4). Wirth (2014, S. 537)
fasst zusammen:
Individuell unterschiedliche Inklusionsbereitschaften und personale Fähigkeitenkönnen insitu Kommunikationen verhindern oder anstoßen, die sich - als individuellesScheitern oder Gelingen beschrieben - auch nicht durch formale Interventionen oderwohlfahrtsstaatliche Programm […] beeindrucken lassen.
Der Ausschluss von potentiellen Akteuren wird von der Gesellschaft nicht als
soziale Dysfunktion wahrgenommen. Gleichzeitig wird aber das immer stärker in
der Gesellschaft eingeforderte Inklusionsgebot den betroffenen Individuen
angelastet. Funktionssysteme arbeiten autonom und selbstreferentiell, sie können
keine Verantwortung für Inklusion übernehmen. Entscheidend ist für sie der
Nutzen. Nur wenn es für diese Sozialen Systeme sinnvoll ist, werden die Regeln
bzw. Zugangsvoraussetzungen geändert. Soziale Arbeit stellt sich unter diesem
Umständen als „Adressenarbeit“ (Maaß 2009, S. 73) dar, „die durch geschicktes
Arrangieren der Vorbedingungen für Inklusionsrelevanz Inklusion erhalten oder
ermöglichen soll“ (ebd.).
7 Lambers (2010, S. 195) empfiehlt bei der Verwendung des Begriffes 'Exklusion' im Sinne von Luhmann besser von 'Nicht-Inklusion' zu sprechen, um die Unterscheidung zu verdeutlichen.
8 Wie der Hauptmann von Köpenick, der sich polizeilich nicht melden konnte, weil er keine Arbeit hatte, aber keine Arbeit bekam, weil er polizeilich nicht gemeldet war.
22
3.2 Foucault und die Genealogie der Macht
Foucault spricht von Machtbeziehungen und Machtverhältnissen. Er spricht von
einer
Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; dasSpiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen dieseKräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die dieseKraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten- oder dieVerschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren und schließlich inStrategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien undinstitutionelle Kristallisierungen sich in Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und inden gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern (Foucault 1977, S. 93).
Er sieht die Herkunft der Macht dezentral und die gesamte gesellschaftliche Praxis
als von Machtnetzen durchzogen. Deshalb bezeichnet Foucault (1977, S. 94)
'Macht' auch als „Name, den man einer komplexen strategischen Situation in der
Gesellschaft gibt“.
Auch bei Foucault spielt das Wissen und die Kommunikation bzw. der Diskurs die
zentrale Rolle bei der Entstehung der Macht. Im Gegensatz zur natürlichen
‚Seinserfahrung‘ sieht er die Gesellschaft geprägt durch einen vordergründigen
Willen zur Wahrheit, hintergründig geprägt von Kontrolle und Macht (vgl. Foucault
1973; Kap 3.2.3).
Wissen verleiht einerseits Macht und Freiheit. Foucault sagt: „daß in unserer
Gesellschaft ein Wissen berechtigt ist, Macht auszuüben“ (Foucault 2001, S. 49).
Andererseits muss sich das Individuum auch dem Wissen unterwerfen. Nur dadurch
kann es Zusammenhänge begreifen und das Wissen nutzbar machen. Das
Individuum erliegt dem Paradox: Je vermeintlich sicherer ein Sachverhalt bestimmt
wird, desto mehr wächst die Unbestimmtheit (vgl. Schäfer 2004, S. 150).
Foucault sieht Macht als Beziehung zwischen zwei aufeinander bezogenen
Punkten. Deshalb schließt er, dass keine Macht ohne Widerstand existiert: Die
Machtverhältnisse „können nur kraft einer Vielzahl von Widerstandspunkten
existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben,
Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Diese Widerstandspunkte sind überall im
Machtnetz präsent“ (Foucault 1977, S. 96; Kap. 3.2.5).
Auf der Suche nach einem Widerstandspotential erkennt Foucault in seinen späten
23
Schriften das Potential eines Subjekts zur Selbsterkenntnis, aber auch die begrenzte
Möglichkeit der Reflexion eigener Erfahrungen (vgl. Kap. 2.3; Kap. 3.2.2).
Der Diskurs hat selbst eine „eminente wirklichkeitserzeugende Macht“ (Dederich
2009, S. 36). Gesellschaftlich oder kulturbedingt entstandene Ansichten wirken
später als naturgegeben und werden nicht mehr hinterfragt. Das Wissen kann zur
Machtausübung oder Kontrolle genutzt werden, ohne dass sich Betroffene unwohl
fühlen. Es wird akzeptiert ohne nach den Quellen oder kulturellen Motiven zu
fragen (vgl. Dederich 2007, S. 69: Kap 3.2.2). Wahrheit wird relativiert, wie
Luhmann (2013, S. 83) konstatiert: „Wahr ist nur jenes Wissen, das von jedermann
akzeptiert werden muß, der sich der Gemeinschaft vernünftiger Menschen
zurechnet“.
3.2.1 Erkenntnis und Wahrheit
Wie Luhmann sieht Foucault kein Zentrum der Macht. Erkenntnis, Wissen und
Macht entstehen nicht im Subjekt, sondern kommunikativ im Diskurs. Er fordert
einen Umgang mit Informationen, als kämen sie aus einer fremden Kultur und ihr
Ursprung müsste archäologisch erforscht werden (vgl. Foucault 1973; Kap. 3.4).
Der Mensch ist kein universales Erkenntnissubjekt für Wahrheit, wie Kant es
beschrieb. Die Erkenntnis ist bestimmt durch Erfahrungsstrukturen und einem
konkreten kulturbedingten Erkenntnisraster, von Foucault 'Episteme' genannt. Um
den eigenen Standort reflektieren zu können, ist es hilfreich, historische Brüche und
Strukturen des eigenen Wissens zu erkennen (vgl. Kögler 2004, S. 48).
Gadamer (1990, S. 295) formuliert: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine
Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein
Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig
vermitteln“. Wahrheit gilt relational zu den Seinsbedingungen (Mannheim) bzw. der
Perspektive, insbesondere in Abhängigkeit von der Zeit (vgl. Kap. 2.1).
Aber auch in dieser Weise ist eine universale Wahrheitsfassung nicht möglich, da,
wie Luhmann beschreibt, der Beobachter Teil des Systems ist.
Entsprechend kann auch die Wissenschaft nur bedingt hilfreich sein, da sie als
System auch den Machtstrukturen und der komplexitätsreduzierenden Macht
24
unterliegt. Foucault kritisiert deutlich die unreflektierte Vereinnahmung der
Humanwissenschaften und ihres Wissens durch die Macht. Es kann der
Humanwissenschaft letztlich nicht um Wahrheit gehen. Wenn sie ihr Wissen
reflektiert, wird laut Foucault die Einbindung in Machtpraktiken sichtbar.
Die Wahrheit der Aussagen über den Menschen ist durch spezifischeErfahrungsstrukturen der Wissenschaften und der professionellen Systeme möglichgeworden. Die Erfahrungen des Subjekts selbst haben nicht interessiert (Hanses 2007,S. 315).
Kögler (2004, S. 50) resümiert, dass keine Befreiung „vom schwankenden Boden
der Geschichte“ möglich ist. Der Rückblick, die Genealogie, geschieht immer aus
dem kulturell geprägten Hintergrund, entsprechend des Habitus.
3.2.2 Subjektivierung
Macht entsteht nach Foucault wie erörtert durch Wissen und Diskurs. Ausgehend
davon beschreibt Foucault die Verinnerlichung der Machtstrukturen im Subjekt und
nennt diesen Vorgang Subjektivierung. Die von außen wirkenden Machtstrukturen
und die daraus folgenden Einschränkungen bzw. erwarteten Handlungsformen
werden zum Selbstverständnis und einer eigenen Erfahrung des Individuums.
Ähnlich wie Bourdieu sieht Foucault das Subjekt als Ergebnis eines
Sozialisationsprozesses durch den sozialen Kontext und die gesellschaftlichen
Verhältnisse. Subjektivierung ist ein Prozess des Werdens des Subjekts (vgl.
Lembke 2005). „Durch die Macht werden Individuen zu dem, was sie sind“
(Dederich 2009, S. 36). Macht unterdrückt das Subjekt nicht, sondern stellt es
durch die Objektivierung von Wissen und Diskurs her.
Wissen wird dem konkreten Erfahrungskontext entnommen und in universeller und
absoluter Form ein Machtfaktor, mit dem auf Subjekte eingewirkt werden kann.
Was als ‚Wahrheit‘ der Subjekte in den Humanwissenschaften galt und gilt, erweistsich damit als soziale Konstruktion, als die symbolisch-praktische Projektion vonIdentitätsmustern in die Köpfe und Körper von vergesellschafteten Subjekten (Kögler2004, S. 185).
Foucault sieht das Subjekt aufgrund der sozialen Verankerung der Diskurspraktiken
in Macht eingebettet. Der Einzelne nimmt im Diskurs entstandene Normen und
Kategorien als gegeben hin. Auf dieses Weise können Herrschaftsverhältnisse und
Ungleichheiten legitimiert werden. Je regelmäßiger sie bestehen und je mehr sie
25
strukturell verankert werden, desto mehr werden die Machtverhältnisse akzeptiert
und subjektiviert. Die Legitimation oder Delegitimation der Machtpraktiken wird
nicht mehr in Frage gestellt (vgl. Schneider & Kraus 2014, S. 14). Bourdieu (1979,
S. 151) beschreibt die Situation als „Willkürcharakter des Selbstverständlichen
[Hervorhebung im Original]“. Folge ist eine Art Selbstkontrolle des Subjekts, eine
Ausrichtung an der Norm, die nicht hinterfragt wird bzw. werden kann (vgl.
Foucault 1978). Das Individuum diszipliniert sich selbst, strukturiert sich
entsprechend der externen Machtstrukturen (vgl. Kap 3.4.1).
Der Kontrollgedanke Foucaults korrespondiert mit dem Beobachter der Beobachter
Luhmanns. Unter dem Druck vermeintlicher dauernden Beobachtung, passt sich
das Subjekt den vermeintlichen Erwartungen an. Deleuze (1993) prägte in
Anschluss an Foucault dafür den Begriff 'Kontrollgesellschaft': Macht wird durch
Kontrolle ausgeübt. Die Ausübung von Kontrolle erfordert Kommunikation. Je
mehr die Adressen genormt sind, d.h. je mehr sich die Adressen anpassen, ihre
Informationen preisgeben, sich wie erwartet bzw. berechnet verhalten, desto
leichter ist ihre Kontrolle. Je mehr Informationen des Subjektes bekannt sind, desto
mehr wird es kategorisiert und adressierbar. Störungen und Konflikte durch
Subjekte werden als Impulsgeber neuen Wissens bzw. für Anpassungen (Reformen)
genutzt, in die Kontrollmechanismen eingebunden und mittels Kommunikation
kontrolliert, solange die Adresse ansprechbar ist. Das Subjekt fühlt sich als
Teilhaber, und tut alles, um den Status zu sichern, es kontrolliert sich selbst aus
Angst vor dem Ausschluss (vgl. Kap. 4.5.8). Widerstand wird durch
Nichtanpassung und unerwartetes Verhalten möglich. Wenn Adressen dadurch nicht
mehr erreichbar sind, reagieren Systeme darauf mit Exklusion (vgl. Kap. 3.2.4).
Foucault geht auf der Suche nach dem Widerstandspotential noch einen Schritt
weiter und fragt, inwieweit sich das Subjekt auch selbst (autopoietisch) erkennen
und konstituieren kann. Er arbeitet in seinem Spätwerk eine zweite Form der
Subjektivierung heraus, gewissermaßen eine reflexive Form der Subjektivierung,
eine bewusste Rückbesinnung und Reflexion eigener Werte hinsichtlich der
enthaltenen Machtanteile. Er beschreibt den Vorgang allerdings nicht nur als eine
spekulative Einsicht, sondern als ein Einüben bzw. als eine allgemeine Fertigkeit
der Selbstführung. Ziel ist das Erwerben einer spezifischen Handlungsmacht (vgl.
26
Kap. 3.2.5; Kap. 3.4).
Fraglich ist nun, wie die beiden Formen der Subjektivierung, die heteronome und
die autopoietische, zueinander im Verhältnis stehen. Beide wirken dynamisch
konstituierend auf das Werden des Individuums ein.
Vermutlich sind für die Selbstführung Ressourcen notwendig, die nicht allen
Individuen gleichmäßig zur Verfügung stehen. Die Entwicklung einer Haltung und
einer bewussten Lebensführung und die Orientierung an einem individuellen
Lebensziel oder -sinn könnten der foucaultschen (reflexiven) Subjektivierung nahe
kommen (vgl. Kap. 2.2). Es geht nicht um eine von außen erzwungene
Selbstoptimierung im Sinne der Anpassung an gesellschaftliche Erfordernisse. Im
Gegenteil zielt Selbstführung auf die Entwicklung einer individuellen reflexiven
Lebenshaltung (vgl. Kap. 4.1ff.). Ein Sinnbild des freien und der Wahrheit
moralisch verpflichteten Menschen ist für Foucault (2010, S. 13) die altgriechische
„Parrhesia“9, das über sich selbst die Wahrheit sagende Individuum. Dem nahe liegt
laut Foucault auch die Sorge bzw. das Kümmern um sich selbst und das sokratische
Prinzip 'Erkenne dich selbst!' (vgl. ebd., S. 17f.; Kap. 4).
Kritisch ist Foucault entgegenzuhalten, dass eine rein autopoietische reflexive
Erkenntnis nicht möglich ist. Im Sinne Bubers erkennt der Mensch sich im 'Du'.
Systemtheoretisch ausgedrückt benötigt das operational geschlossene System die
Kommunikation mit der Umwelt, um sich selbst zu 'erkennen'.
Lembke (2005) sieht im foucaultschen Modell der „Ontogenese des Subjekts“ einen
wenig hoffnungsvollen immerwährenden Kampf des Individuums gegen die
Einflüsse von außen, gegen die Anderen und sich selbst. Eine Orientierung an einer
Offenbarung Gottes, speziell die biblischen Überlieferungen, akzeptiert auch
Foucault als hellen Pol, während der finstere Pol die menschenfeindliche
Umsetzung der Offenbarungen durch die Menschen ist (vgl. Foucault 2010; Kap
2.2). Eine ontologische Begründung, weshalb Menschen anderen Menschen zu
mehr Macht verhelfen sollen, ist laut Foucault nicht möglich. Hier bedarf es der
theistischen Erklärung, die Gott als einen Bezugspunkt außerhalb des Subjekts
beschreibt (vgl. Kap. 2.3).
9 Parrhesia ist eine altgriechische Form, bei der Bürger freimütig und wahrhaftig öffentlich die eigene Meinung (auch im Widerspruch zu populären Ansichten) äußerten (vgl. Foucault 2010)
27
3.2.3 Exkurs: Bewertung von Macht
Für Foucault, wie auch für Luhmann, ist Macht eine Relation zwischen Subjekten.
Das führt zu der Frage, wozu es den Begriff ‚Macht‘ überhaupt braucht? Im
Unterschied zu Bourdieu und Luhmann zielt Foucaults Denken auf einen
möglichen Widerstand gegen die Macht, die dafür bezeichnet und bewertet werden
muss. Damit befindet er sich in der Tradition der Kritischen Theorie von Adorno
und Habermas, in die auch Popitz (2004, S. 20) einstimmt, mit dem Postulat: „Alle
Macht ist fragwürdig“.
Luhmann entwirft seine Theorie der Kommunikation ohne Wertungen. Er
beobachtet die Gesellschaft und beschreibt die Abläufe. Ethische Reflexion und
'Sollens-Sätze' lehnt er im Rahmen der Beschreibung aus der
Forschungsperspektive ab. Das ist nachvollziehbar, würde doch eine Wertung
diesen Forschungsgegenstand verändern (vgl. Lambers 2010, S. 141).
Die Komplexität der beobachteten sozialen Situationen ist für den Beobachter nicht
überschaubar. Auch die Differenzierung und Rationalisierung (Weber) des Denkens
führt dazu, dass Situationen in der Praxis oft nur noch innerhalb von
Systemgrenzen erfasst werden. Im Grunde ist ein autopoietisches System aufgrund
der eigenen strukturellen Determinierung nicht in der Lage, Situationen außerhalb
seiner Systemgrenzen in ihrer Komplexität zu erfassen. Durch Systematisierung,
Strukturierung und Rationalisierung soll die Situation beherrscht werden,
gleichzeitig wird der Kontext der Situation aufgrund der nötigen
Komplexitätsreduzierung aber immer weniger erfasst. Deshalb sollte der Soziologe
im Gegensatz zum Politiker oder Juristen keine Wertung kommunizieren, aber
versuchen, die Situation in hoher Komplexität zu beobachten und zu beschreiben.
Dies tritt insbesondere in Luhmanns Dialog mit Habermas hervor. Darüber hinaus
ist die Soziologie aufgefordert implizite Wertungen und Moralvorstellungen zu
reflektieren und zu begründen. Zum Beispiel können Sprache und Bezeichnungen
der Wissenschaft auf dahinter liegende moralische Einstellungen hinweisen.
Aber ist eine bewertungsneutrale Diskussion von Macht möglich? Foucault
verneint: Da unser Vorwissen bereits Bewertungen enthält, werden wir bewusst
28
oder unbewusst wertend in den Diskurs eintreten. Wenn es gelingt einen relativ
selbstdistanzierten Blickwinkel auf das eigene Wissen einzunehmen, könnten die
Bewertungen kontrastierend herausgearbeitet werden (vgl. Foucault 1973, S.
200ff.).
Man muß sich vom konstituierenden Subjekt, vom Subjekt selbst befreien, d.h. zueiner Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts imgeschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag. Und genau das würde ichGenealogie nennen, d.h. eine Form der Geschichte, die von der Konstitution vonWissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf einSubjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mitseiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt (Foucault 1978, S. 32).
Bourdieu erklärt diesen geschichtlichen Zusammenhang der Konstituierung des
Subjekts in seiner Theorie des Habitus. Er setzt, im Gegensatz zu Foucault, die
Kultur und den Habitus zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion in
Verbindung. Wie Foucault sieht er die Wechselwirkung von Herrschafts- und
Selbsttechniken der Macht, setzt die Akteure aber zu jedem Zeitpunkt in den
Kontext der Struktur der Felder und ihrer hierarchischen Anordnung. Nur so ist eine
Unterscheidung von Momenten der Fremdbestimmung und Potenzen der
Selbstbehauptung möglich. Bourdieu sieht eine Dialektik zwischen objektiven und
im Habitus der Subjekte verinnerlichten Strukturen (vgl. Langemeyer 2008, S.
177f.).
Der Habitus ist geprägt von der sozialhistorischen Eingebundenheit bzw. der
Sozialisation im Lebenslauf. Er ist eine aus dem sozialen Umfeld übernommene
Haltung zur Welt. Mannheim (1985) nennt diese unbewusste Haltung
'Weltanschauung'. Der Habitus drückt sich durch unbewusste Strukturen aus, die
verinnerlicht, verkörperlicht wurden und das Handeln prägen. Bourdieu spricht von
strukturierten und strukturierenden Strukturen, die das Wahrnehmungs- und
Bewertungsschema prägten. Das Ergebnis ist ein Lebensstil mit Handlungsweisen,
die klassifizierbar sind. Er wirkt distinktiv, er markiert öffentlich Unterschiede, er
legt soziale Hierarchien fest.
Der Habitus fungiert als 'gesellschaftlicher Orientierungssinn' und könnte auch als
Seins- und Standortverbundenheit bezeichnet werden (vgl. Jung 2007). Mannheim
spricht von der sozialen Gebundenheit des Wissens, einem sozialgeschichtlichen
Entstehungsprozess. Nur über eine Schritt-für-Schritt-Rekonstruktion kann der
29
Zusammenhang von Wissen und seinem sozialen Standort in seiner historischen
Entwicklung nachvollzogen werden (vgl. Kap. 4.5.3).
Obwohl Bourdieu seine Studien ohne Wertung der sozialen Situation erstellte,
spricht aus seinen Worten Sympathie für die marginalisierten und ausgegrenzten
Subjekte. Offenbar sind die in der Praxis beobachteten Strukturen und ihre
distinktiven Funktionen Ausgangspunkte für Inklusion und Exklusion. Dort wo sich
in der Gesellschaft institutionelle Herrschaftsverhältnisse bilden, die Menschen den
legitimen Weg zu Funktionssystemen der Gesellschaft verwehren, ist der
Widerstand zu unterstützen10. Das gilt besonders dort, wo durch die Subjektivierung
eine Unterscheidung zwischen Fremdbestimmung und eigenen Überzeugungen und
praktischem Verhalten nicht mehr möglich ist. Die Macht agiert unbeobachtet,
subjektiviert. Oder sie tritt offen zutage, indem Ungleichheiten in der Gesellschaft
als individuelles Schicksal aufgrund persönlich zu verantwortender Versäumnisse
gedeutet werden (vgl. Schneider & Kraus 2014, S. 13f.).
Eine ethische Wertung der beobachteten Machtstrukturen ist deshalb fallabhängig
und wird mit verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen kontextuellen
Wissen unterschiedlich ausfallen. Auf objektive Kriterien muss verzichtet werden.
Kritisch betrachten sollte der Sozialarbeiter darüber hinaus seine Funktionalisierung
und Institutionalisierung im Machtsystem der Sozialen Arbeit.
Diesen Prozess hat Luhmann (1993) beschrieben. Er weist auf die Risiken der
individuellen Reflexion durch hochgradig funktional differenzierte Teilsysteme in
der Gesellschaft hin: Organisationen, die relativ autonom, d.h. ohne übergeordnete
Steuerungsinstanz und ausgestattet mit relativ viel Macht im System 'Soziale
Arbeit' bzw. 'Soziale Hilfe'11 agieren, orientieren sich an ihren eigenen Zielen. Das
ist nicht die Integration der Klienten, die letztlich die Organisation überflüssig
machen würde. Eher sichern hilfebedürftige Klienten die Existenz (vgl. Kleve
2003, S. 37). Kraus (2002, S. 202) fragt: „Wer entscheidet darüber, was Probleme
sind“? Im Rahmen des autopoietisch operierenden System 'Soziale Arbeit' trifft
10 Die Frage der Legitimität ist schwer zu entscheiden. Hier sollen die angeführten ontologischen Begründungen des Kapitels ausreichen (vgl. Lambers 2010, S. 115ff.)
11 Es wird angenommen, dass das System 'Soziale Arbeit' ein Funktionssystem der Gesellschaft ist (vgl. Baecker 1994; Kurtz 2004; Maaß 2009). Es gibt Kritik an dieser Annahme, z.B. bei Lambers (2010, S. 119ff.).
30
diese Unterscheidung das System selbst(erhaltend). Anders gesagt: „Es gibt keine
prinzipielle Grenze der Expansionsmöglichkeiten Sozialer Arbeit“ (Lambers 2010,
S. 140).
Hinzu kommt, dass soziale Organisationen und ihre Mitarbeiter sich zunehmend für
ihre Fallzahlen und den wirtschaftlichen Umgang mit öffentlichen Gelder
rechtfertigen müssen, statt Verantwortung für die Lösung komplexer Probleme ihrer
Klienten zu übernehmen. Deshalb ist Wirth (2014, S. 539) zuzustimmen, der
konstatiert:
Deshalb benötigt jede sozialwissenschaftliche Theorie der Lebensführung einennormativen Kompass, der die Navigation leistet hinsichtlich dessen, welcheAbweichung warum nicht toleriert werden soll. Für die praktische Soziale Arbeit giltdies in besonderer Weise.
3.2.4 Die Realität der Exklusion
Foucault beschreibt, wie die frühere Exklusion von Menschen und
Menschengruppen sich in der funktional differenzierten Gesellschaft zur
Einsperrung und Disziplinierung gewandelt hat. In speziellen Organisationen oder
Lebensbereichen, zum Beispiel in Haftanstalten, stationären Einrichtungen aber
auch prekären Wohnquartieren, werden Menschen inkludiert und gleichzeitig von
gesellschaftlichen Funktionssystemen exkludiert. Das Extrembeispiel beschreibt
Goffman (1973, S. 11) unter dem Begriff „totale Institution“. Die Welt wird in
Innen- und Außenwelt unterschieden, die Grenze ist für die Insassen schwer
überwindbar. Goffman beschreibt, wie die Herrschaft über den Menschen in einer
totalen Institution sein Selbst verändert. Diese Subjektivierung führt nach Goffman
(ebd., S. 367) zu einer „selbstentfremdenden moralischen Knechtschaft“, die die
Diagnosen, Ausgrenzung und Sonderbehandlung wiederum rechtfertigen.
Ganz praktisch und anschaulich ist Exklusion in der Kommunikation über eine
Person in deren Abwesenheit, also über sie hinweg (vgl. Fuchs 2010a, S. 19).
Dies ähnelt der systemischen Sicht Luhmanns, der von Exklusionsindividualität,
von Vollinklusion in Teilbereichen der Gesellschaft spricht, beispielsweise der
Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Behindertenhilfe (vgl. Kap
3.1.4). Schon Simmel (1890, S. 199ff.) hat in seiner Theorie der Kreuzung sozialer
31
Kreise ähnliche Vorstellungen geäußert. Die Zahl der Kreise bzw. der Systeme wird
zum Beispiel durch die institutionelle Versorgung in Heimen, Tagesgruppen,
Werkstätten etc. vergleichsweise klein gehalten (vgl. Kap. 3.1.2).
Eine Funktion der Macht ist es Grenzen zu ziehen, zwischen dem was normal ist
und zur Gesellschaft gehört und dem anderen Fremdartigen, welches nicht der
gesellschaftlichen Norm entspricht. Durch Konstruktion und Zuschreibung von
Identitäten entsteht das Fremde, das Stigma, das selbst zur Institution werden kann.
Beispiele sind 'behindert', 'psychisch krank', 'kriminell', 'drogenabhängig', usw.
Aufgrund der Stereotypen entstehen Kategorien, die ermöglichen, „Menschen in
Blöcken“ (Goffman, 1973, S. 18) und unter Überwachung bzw. Kontrolle zu
managen.
Die Soziale Arbeit erhält die gesellschaftliche Aufgabe die Exklusion zu verwalten,
falls sie sie nicht vermeiden und Inklusion vermitteln kann (vgl. Lambers 2010, S.
116ff.).
Der Kampf um Inklusion bzw. Exklusion entsteht durch die Konkurrenz um
Ressourcen. Trotz deren ungleicher Verteilung scheint es aber 'Spielräume' zu
geben. Widerstand in Spielräumen entsteht durch Aktionen, durch aktives Handeln,
oft in überraschender und nicht kalkulierbarer Weise12. Allerdings gilt auch, im
Sinne Hegels, Freiheit muss ein Dasein haben. Soziale Arbeit kann beispielsweise
in Form des Empowerment dabei helfen (vgl. Kap. 3.4).
3.2.5 Widerstand
Foucault sieht die Möglichkeit des Widerstandes in der Dimension des
Selbstverhältnisses des Subjekts, in der Reflexion des Standpunktes.13 Auslöser des
Widerstandes kann die Bereitstellung von Wissen sein. Das Wissen der Betroffenen
kann auch von außen bereitgestellt werden. Nicht in Form von Bevormundung,
aber durch Spiegelung der eigenen Wahrnehmung und Beobachtung. Dabei gilt es
zu versuchen, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen. Auch partizipative
Prozesse führen zur ‚Selbst-Ermächtigung‘ (vgl. Kap. 3.4.3).
12 Vgl. 'dissipative Strukturen' und die 'Chaostheorie', z.B. bei Gloy (2014)13 Foucault beschreibt viele Formen des 'Ungehorsams', z.B. das 'Nein'-Sagen, die Verweigerung
und die Desertion und gibt durch sein politisches Engagement selbst ein Beispiel.
32
Gerade über diese aus der Tiefe wieder auftauchenden Wissensarten, diese nichtqualifizierten, ja geradezu disqualifizierten Wissensarten (das Wissen derPsychiatrisierten, des Kranken, des Krankenwärters, das des Arztes […] das Wissender Delinquenten usw.), die ich als Wissen der Leute bezeichnen würde und die nichtzu verwechseln sind mit Allgemeinwissen oder gesundem Menschenverstand, sondernim Gegenteil ein besonderes, lokales, regionales Wissen […] darstellen, das seineStärke nur aus der Härte bezieht, mit dem es sich allem widersetzt, was es umgibt;über das Wiederauftauchen dieses Wissens also, dieser lokalen Wissen der Leute,dieser disqualifizierten Wissensarten, erfolgte die Kritik (Foucault 1978, S.60f.).
Die Wahrnehmung der konkreten Lebenssituation, des konkreten Wissens der Leute
ist der gegenteilige Prozess zu den verallgemeinernden, komplexitätsreduzierenden
Prozessen, die Luhmann beschreibt. Foucault und Luhmann sind sich an dieser
Stelle sehr nahe. Die Verallgemeinerung, die Verwissenschaftlichung, bringt das
Kontextwissen, Foucault spricht von Realkonstitution der Erfahrung, zum
Verschwinden. Wahrheit im Diskurs ist in der Wahrheit der Erfahrung begründet,
die die Subjekte in ihrem komplexen und individuellen Kontext machen.
Mannheim spricht von der sozialen Situation: Er betont die Bedeutung des
Rückbezugs von Wissen und Denken auf die soziale Situation, auf die
existenziellen Bedingungen, unter denen das Wissen Sinn und Funktion erhält (vgl.
Jung 2007, S. 131ff.).
Foucault gibt für den Vorgang folgendes Beispiel. Er bezieht sich dabei auf eine
historische Situation, bei der ein Betriebsarzt gezwungen war, die strukturell giftige
(bleihaltige) Arbeitsumgebung zu ignorieren und stattdessen einzelne
Organerkrankungen zu diagnostizieren:
Die Funktion des Arztes war es, die wirkliche Kausalität zu verleugnen, indem ersagte: ‚es liegt an diesem Organ, an jener Verletzung, hieran und daran‘. Man gestandden Ärzten das Recht zu, die zu reparierenden Objekte zu benennen, oder eher nochdie Stellen der Dysfunktion der Objekte, niemals aber, die Bedingungen bekannt zumachen und zu denunzieren, unter denen man diese Objekte zerbrach, zerriß,fertigmachte, beschädigte. Vor allem durften sie niemals sagen: ‚Sie wissen genausogut wie ich, daß es ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen sind, die sie allmählichumbringen‘ (Foucault 1976, S. 97).
Wissen wird reduziert, die Bedingungen der Entstehung, die soziale Situation, wird
ignoriert und es entstehen Wahrheiten durch komplexitätsreduzierende Macht.
33
3.3 Zwischenresümee
Macht entsteht in der Komplexitätsreduktion. Beispielsweise werden durch
Massenmedien oder die Wissenschaft alltägliche komplexe Situationen
beschrieben. In diesen Beschreibungen verliert der Sinn, den die Handelnden ihrem
Handeln zuschreiben an Bedeutung. Unter Umständen wird er von den Beobachtern
durch Kategorien oder Typisierungen ersetzt. Der Sinnzusammenhang geht verloren
und wird neu konstruiert.
Eine Rückbindung des Wissens an die soziale Situation seiner Entstehung, eine
Suche nach dem Kontext der Soziogenese bzw. den koexistenziellen
Erfahrungswelten des Subjekts könnte Machtstrukturen in der Gesellschaft sichtbar
machen. Die nicht überschaubare Komplexität würde wahrgenommen, im
Bewusstsein der eigenen Konstruktion hinsichtlich der Beobachtung. Gleichzeitig
würde es dem Individuum in seinem Werden und seinem Handeln größere
Bedeutung und mehr Macht zuweisen. Dafür müsste über das Subjekt hinaus nach
seinem sozialen Ursprung gesucht werden (vgl. Jung 2007, S. 36ff.).
Wahrheit liegt in der komplexen sozialen Situation und in den Aussagen der
Subjekte, sie ist relativ und subjektiv. Im Gegensatz zur Konstruktion sozialen
Hilfebedarfs durch Institutionen müsste die Problemdefinition wieder bei den
Betroffenen in der sozialen Situation gesucht werden (vgl. Kleve 2003, S. 43).
Die Reflexion dieser Systematik relativiert in erster Linie den Wahrheitsanspruch
von Wissen bzw. Informationen. Wahrheit gilt nur relational zu den
Seinbedingungen bzw. der Perspektive. Anders gesagt, es gibt nicht schwarz und
weiß, wahr und unwahr, richtig und falsch. Eine Beschreibung der Gesellschaft mit
absolutem Wahrheitsanspruch ist unmöglich, da die soziale Situation in ihrer
Komplexität nicht wahrnehmbar ist und nicht wiedergegeben werden kann (vgl.
Mannheim 1985).
Foucault, und gewissermaßen auch Luhmann, sehen in autopoetischen Selbst-
Technologien eine Widerständigkeit zu den heteronomen Subjektivierungen von
außen:
34
Das Systemische und das Eigene, das Heteronome und das Autonome müssen in derhistorischen Dimension ihrer widersprüchlichen Symbiose befragt werden. Das Eineist ohne das Andere nicht zu denken. Es existiert keine Autonomie ohne systemischeZwänge. Es existiert aber auch kein soziales System ohne Verarbeitung der autonomenAnsprüche. Hierin liegt die Gefahr der Überwältigung, aber eben auch dasMöglichkeitsmoment neuer Subjektivitäten, die quer zu den systemischenErfordernissen liegen (Brieler 2008, S. 33).
Dieses Widerstandspotential, diese Möglichkeit der Emanzipation, diese Macht ist
nach Foucault immer präsent. Dieses Potential könnte Ansatzpunkt für die Soziale
Arbeit jenseits von Kategorien und Stereotypen sein. Die Aufgabe des
Sozialarbeiters wäre die Ermutigung, die Ermöglichung eines Widerstandes aus den
marginalisierten Individuen heraus. Er sollte Raum schaffen für die
Selbstentwicklung und Emanzipation des Klienten. Ausgangspunkt wäre der Klient
selbst, seine Sicht auf die Situation und seine Potentiale.
Im folgenden Kapitel soll nach Möglichkeiten der Selbstentwicklung, der
Selbstermächtigung, gesucht werden. Welche Rolle spielt in dieser Perspektive die
Soziale Arbeit, die beispielsweise mit dem Schlagwort 'Empowerment' den
Klienten gegenübertritt?
35
3.4 Praxisrelevanz der Reflexionen zur Macht
Theorie ohne Praxis bleibt leer, Praxis ohne Theorie ist gefährlich. Erst durch
Reflexion besteht die Möglichkeit, das beobachtete Verhalten, vermeintliche
Erkenntnisse und Wissen gegenüber der Welt zu hinterfragen. Theorien fordern
dabei zu Reflexionen heraus und helfen, praktisches Handeln zu begründen.
Die Einheit der Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis und die Wirkung auf
das Handeln von Sozialarbeitern wird in der neuen Fassung der Definition 'Sozialer
Arbeit' der IFSW (2014) hervorgehoben:
Soziale Arbeit ist eine praxisorientierte Profession und eine wissenschaftlicheDisziplin, dessen bzw. deren Ziel die Förderung des sozialen Wandels, der sozialenEntwicklung und des sozialen Zusammenhalts sowie die Stärkung und Befreiung derMenschen ist. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte,gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlagen derSozialen Arbeit. Gestützt auf Theorien zur Sozialen Arbeit, auf Sozialwissenschaften,Geisteswissenschaften und indigenem Wissen, werden bei der Sozialen ArbeitMenschen und Strukturen eingebunden, um existenzielle Herausforderungen zubewältigen und das Wohlergehen zu verbessern.
Die 'theoretische Stütze' wird in dieser Definition ausdrücklich auch auf tradierte,
kulturelle Diskurse ausgeweitet. Nicht nur indigenes Wissen, sondern auch das
Wissen westlicher Theorien hat kulturellen Hintergrund. Im Sinne der Genealogie
Foucaults (1973) sollte der Sozialarbeiter die Erkenntnisse und das Wissen
hinterfragen, als ob es Informationen einer fremden Kultur wären. Es gilt der
Tendenz des etablierten Diskurses vorzubauen, der „die Erfahrung von ihren
eigentlichen Entstehungskontexten“ (Kögler 2004, S.124) abschneidet. Erst die
Perspektive, der Kontext, die Situation der Subjekte begründet die Wahrheit eines
Wissens.
So werden auch die Machtzusammenhänge bewusst, die durch kontextfreie
Aussagen und Behauptungen verschleiert werden. Popitz (2004, S. 15) ist
überzeugt, dass „Macht 'gemacht' ist und anders, als sie ist, gemacht werden kann“.
Hinsichtlich des Klienten ist das Ziel die Wiedereinsetzung des konkreten
Erfahrungssubjekts in den Diskurs. Dafür ist die Selbst-Ermächtigung der
individuellen Subjekte nötig (vgl. Foucault 1976).
Dieses Kapitel soll beispielhaft Möglichkeiten des professionellen Sozialarbeiters
36
skizzieren, marginalisierte Menschen mit symbolischem Kapital auszustatten.
Insofern geht es um die Früchte der Reflexion. Sie sollten in der Selbstreflexion
und einer entsprechend gefestigten Haltung des begleitenden Sozialarbeiters
fundieren (vgl. Kap. 4.1). Eine verstehen-wollende Haltung und aufmerksame
Wahrnehmung des Klienten ist der Ausgangspunkt. Denn Sozialarbeiter in der
helfenden Beziehung tragen viel Verantwortung:
Der Sozialarbeiter hat einerseits die Aufgabe Komplexität zu reduzieren, um sich
und dem Klienten einen Überblick über die soziale Situation zu verschaffen. Die
Komplexitätsreduzierung ist auch nötig, um anhand von Theorien die Situation zu
reflektieren.
Andererseits hat der Sozialarbeiter die Pflicht, die Komplexität zu erweitern und die
soziale Situation multiperspektivisch, bestenfalls multiprofessionell zu erfassen und
dem Klienten die Reflexion der Situation zu ermöglichen. Der Klient beurteilt die
Situation von seinem Standpunkt (inkl. seiner Kultur, seinen Werten, seiner
biografischen Erfahrungen). Unterstützung erfährt der Klient durch die
Ermöglichung seines Reflexionsvorgangs durch Zuschreibung von Macht bzw.
symbolischen Kapitals (Bourdieu).
Ein Einsatz von Methoden ohne eine reflektierte Haltung reduziert deren
Effektivität erheblich. Die dialogische Beziehung, die persönliche Integrität des
Sozialarbeiters und seine Selbst- und Fremdachtung, und nicht zuletzt seine eigene
psychische Gesundheit könnten gefährdet werden (vgl. Kap. 4.1). Paradoxien,
vielfältige widersprüchliche Aufträge des Sozialarbeiters (doppeltes Mandat) und
Übertragungen und Projektionen verbunden mit entsprechender emotionaler
Belastung können in berufliche Krisen oder zum Burn-Out führen (vgl. Ebert 2008,
S. 24; Iser 2015a).
Der reflektierte Sozialarbeiter ist dagegen machtvoll. Er kann seine Macht zur
Ermächtigung der Klienten einsetzen. Die Ermächtigung der Subjekte verbunden
mit der Ermöglichung von Selbstreflexion im Sinne Foucaults eröffnet ihnen einen
Möglichkeitsraum des Wachstums und der Entwicklung. Das gilt sowohl für den
Klienten, als auch dem Sozialarbeiter.
37
3.4.1 Selbst-Ermächtigung - Empowerment
Foucault beschreibt einerseits das Subjekt als Produkt der Machttechniken, sieht
aber andererseits die Möglichkeit der Selbst-Ermächtigung durch Selbstsorge und
Selbstbildung. Das Subjekt kann sich gegenüber der Umwelt und den Einflüssen
distanzieren bzw. selbstbestimmt verhalten. Es kann seine Lebenspraxis ändern.
Dafür ist das Subjekt aber auf eine bestimmte strukturelle Umgebung und
Unterstützung angewiesen - ein Aufgabenfeld des Sozialarbeiters im Kampf gegen
Benachteiligung und strukturelle Gewalt.
Der Begriff 'Empowerment' hat im Deutschen keine direkte Wortentsprechung. Er
wird in der Sozialen Arbeit sinngemäß als Stärkung der Eigenmacht oder
Selbstbefähigung verwendet. Ziel des Empowerment ist es „den Handlungs- und
Möglichkeitsspielraum der Menschen (wieder) zu erweitern, indem Wege
beleuchtet und erarbeitet werden“ (Lenz 2012, S. 81). Ziel ist es, Individuen
Verwirklichungsmöglichkeiten zu eröffnen, eine Chance bzw. die Möglichkeit zur
Erreichung ihrer Ziele zu eröffnen. Kraus (2002, S. 197) fasst das in folgender
moralischen Maxime für Sozialarbeiter zusammen: „Sei um die Erweiterung der
Möglichkeiten deines Klienten bemüht! [Hervorhebung im Original]“. Das Ziel
des Empowerment ist nicht die Erreichung des Ziels der Betroffenen (vgl. Wirth
2014, S. 540f.).
Empowerment ist als Befähigung zur Sinngenerierung im Gegensatz zur
zwangsweisen Sinnübernahme zu verstehen. Der Sozialarbeiter verzichtet auf den
Einsatz von Macht bzw. setzt sie zielgerichtet ein, um dem Klienten zu
ermöglichen, 'seinen' eigenen Sinn zu erkennen. Erst durch Anschlusshandlungen
wird der Sinn erkennbar, der sich aber auch permanent verändern kann (vgl. Fuchs
2010a, S. 13ff.).
Empowerment geht von den Ressourcen der Menschen und seinem individuellen
Kontext aus. „Handlungsleitend für den Therapeuten/Berater ist eine Abkehr von
paternalistischen Handeln hin zu einem professionellen Verständnis, das von
Kooperation und Partnerschaftlichkeit geprägt ist“ (Lenz 2012, S. 82).
Foucault (1988) beschreibt ein Beispiel, wie aus der andauernden,
individualisierenden Zuneigung Kontrolle und individualisierende Macht wird: Er
38
untersuchte das urchristliche Bild des Hirten in alten hebräischen und griechischen
Schriften und die 'pastorale Geschichte'. Aus dem Bild des dienenden Hirten wird
durch die folgenden vier beschriebenen Schritte der Verallgemeinerung machtvolle
Führung und Bevormundung:
Extreme Ausweitung der Verantwortlichkeit des Hirten (Seelenverwalter,
Moralrichter, Prüfer)
Verpflichtung der ‚Schafe‘ zu absoluten Gehorsam (Unterordnung, totale
Abhängigkeit, Unterwerfung)
Besonderes Wissensverhältnis (Zustand jedes einzelnen ‚Schafes‘ muss
genau bekannt sein, Kontrolle, Selbstprüfung)
Praktiken der Selbstzüchtigung
Das vordergründige Ziel dieses modernen Hirtenmodells ist die Fürsorge um das
individuelle Wohlbefinden, die Reinigung der Seele. Im Hintergrund steht nach
Foucault der Unterwerfungsritus unter eine pastorale Autorität, und zwar nicht nur
des einzelnen Individuums, sondern der ganzen Herde (vgl. Foucault 1988).
Das Individuum hat folglich zwei Möglichkeiten. Entweder es lässt sich führen
oder es führt sich selbst. Eine Selbstführung ist allerdings nur möglich im
Bewusstsein seines Selbst, der eigenen Fähigkeiten und Stärken (vgl. Kap. 4.1.2).
Hier knüpft der Gedanke des Empowerment an. Empowerment ist eine
professionelle Haltung, in der sich der Sozialarbeiter Macht nehmen lässt bzw. sie
dafür nutzt, den Klienten in seine Macht zu führen. Voraussetzung ist die Reflexion
der Machtsituation. Herwig-Lempp (2007) fordert vom Sozialarbeiter eine
„Machtbewusstseinserweiterung“. Dem partnerschaftlichen Verhältnis muss der
fürsorglich-behütende Paternalismus weichen (vgl. Herriger 2014). Der
Sozialarbeiter tritt dem Klienten in einer Haltung der Gleichwertigkeit gegenüber.
Er sucht mit dem Klienten nach dessen Ressourcen zur individuellen Entwicklung
und Problemlösung in seinem sozialen Kontext. Rogers (2007) und die Vertreter der
humanistischen Psychologie sprechen von der 'Selbstaktualisierungstendenz' des
Menschen, dass heißt, jeder hat zu jeder Zeit alle Lösungen für seine Probleme in
sich. Im Dialog kann der Klient die Krise als persönliche Chance erkennen.
39
Empowerment hat das 'sokratische Ziel' im Klienten einen Erinnerungsprozess in
Gang zu setzen, um latent vorhandenes Wissen um die Lösung seiner Probleme
zutage zu fördern (vgl. Kap. 4.1). Moralische Wertungen und Problemzuweisungen
an die Klienten sind dabei tabu. Vielmehr müssen die eigenen Erwartungen des
Sozialarbeiters gegenüber dem Klienten überprüft werden und gegebenenfalls ein
Prozess der Selbstveränderung in Gang gesetzt werden. Ziel ist die Selbstachtung
genauso wie die Fremdachtung. Wenn Klient und Sozialarbeiter tatsächlich
gleichwertig und gemeinsam den Weg gehen, werden sie beide vom Empowerment
profitieren.
Herwig-Lempp (2009) fasst diesen Ermächtigungsprozess wie folgt zusammen:
SozialarbeiterInnen sind dann am mächtigsten, wenn sie ihren KlientInnen Machtunterstellen [Hervorhebung im Original], wenn sie von vorneherein davon ausgehenund einfach voraussetzen, dass ihre KlientInnen über das Vermögen verfügen,Mögliches wirklich werden zu lassen. Ihre Aufgabe ist es, den Machtspielraum derKlientInnen auszuweiten–mit den KlientInnen auszuloten, was (noch) möglich ist.
Es sollte tatsächlich um die Verbesserung der Teilhabe und die Ermächtigung des
Klienten gehen. Eine Beteiligung pro forma, um ihn zur Ruhe zu stellen oder zu
kontrollieren, wäre ein Spiel mit der Angst des Klienten, noch weiter
ausgeschlossen bzw. marginalisiert zu werden (vgl. Kap. 3.2.2).
Dass echtes Empowerment in der Praxis selten eingesetzt wird, lässt sich
vermutlich auf den Umgang mit der Macht zurückführen: Empowerment bedeutet
für den Sozialarbeiter, sich Macht nehmen zu lassen. Die Achtung und Stärkung der
Verantwortung des Klienten scheinen die Macht und den vermeintlichen 'Einfluss'
auf den Klienten zu reduzieren. Das erschwert die Rechtfertigung der Tätigkeit des
Sozialarbeiters (und des Systems 'Soziale Arbeit'). Er muss sich in Frage stellen
lassen und sich immer wieder selbst in Frage stellen bzw. vom Klienten irritieren
lassen (vgl. Müller 2012, S.183). Letztlich geht es darum das Hilfeverhältnis, das
System aufzulösen. Es geht nicht um die Rechtfertigung, sondern um die
Übernahme von Verantwortung auf beiden Seiten (vgl. Kap 2.2).
Eine typische Form des Empowerment ist die Selbsthilfegruppe.
3.4.2 Selbsthilfegruppe
Als demokratische und moderne Bewegung ist die Selbsthilfegruppe die
40
Umsetzung des Leitbildes des Empowerment: „Selbstbestimmung in eigenen
Belangen, Mitbestimmung bei Angelegenheiten, die die eigene Person im Verbund
mit anderen betreffen, sowie Mitwirkung bei persönlichen und gemeinschaftlichen
Angelegenheiten“ (Engelhardt 2011, S.9). Selbsthilfeinitiativen stehen dabei den
traditionellen (mächtigen) Institutionen des Systems 'Soziale Arbeit' gegenüber. Oft
haben sich lokale Gruppen zu losen Verbänden zusammengeschlossen. Im
Gegenüber zu den 'professionellen' Organisationen fordern sie diese heraus,
insbesondere in der Umsetzung des Empowerment.
Aufgaben der Selbsthilfegruppen sind unter anderem, Betroffene einer ähnlichen
Problemlage im Wissen zusammen zu bringen, dass sie selbst die Möglichkeiten
zur Verbesserung ihrer Lebenssituation in sich tragen. Darüber hinaus spielen der
Erfahrungsaustausch und die Entwicklung von Handlungsansätzen auch über die
Selbsthilfegruppe hinaus eine wichtige Rolle. Die Selbsthilfegruppe vereint die
personenzentrierte, wie auch die sozialpolitische Komponente des Empowerment.
In der Selbsthilfegruppe können gesellschaftliche Ausgrenzung, institutionelle
Versorgungsmängel, eingeschränktes Verständnis von Fachkräften und Problemen
im eigenen Selbstverständnis überwunden werden (vgl. ebd., S. 42).
In ihrer Tätigkeit sind Selbsthilfegruppen sehr erfolgreich, meist ohne die
Mitwirkung von sogenannten Fachkräften. Dies könnte an der Nähe zur komplexen
sozialen Situation liegen, aber auch in der starken Differenzierung der
Selbsthilfelandschaft in Deutschland.
Selbsthilfegruppen handeln in der sozialen Situation. Sie suchen und nutzen
Möglichkeiten der Macht, um sich selbst und gegenseitig aus marginalisierten
Umständen zu befreien. Selbsthilfegruppen brauchen symbolisches Kapital, in
Form von Anerkennung, Ermutigung und Vertrauen. Nur sehr langsam wächst in
der deutschen Gesellschaft und im System 'Soziale Arbeit' das Bewusstsein dafür,
und damit auch die Unterstützung der Arbeit von Selbsthilfegruppen.
Aufgabe des Sozialarbeiters ist die Ermöglichung der Bildung von
Selbsthilfegruppen und die Ermutigung der Betroffenen zur Nutzung bzw. zum
Zusammenschluss (vgl. Engelhardt 2011; Herriger 2014, S. 130ff.).
Ein Schritt in diese Richtung sind partizipative Prozesse:
41
3.4.3 Partizipative Prozesse
Darunter versteht man die direkte Beteiligung bzw. Einbindung der Betroffenen in
institutionelle Prozesse. Neben formalen Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten
in Einrichtungen sind beispielsweise partizipative Forschungsprozesse wichtig. Die
Partizipation bei der Generierung von Wissen ermöglicht eine direkte Teilhabe an
den daraus entstehenden Machtprozessen. Die Betroffenen sind nicht mehr nur
Objekte der Forschung, sondern bestimmen den Forschungsgegenstand, die
Methoden usw. mit.
Zahlreiche Entscheidungsprozesse in sozialen Einrichtungen, zum Beispiel in der
Organisations- und Qualitätsentwicklung, lassen sich partizipativ durchführen.
Durch die Einbindung der Betroffenen in den gesamten Prozess können sie ihr
Wissen bezüglich der komplexen sozialen Situation einbringen. Ihre Bedürfnisse
und ihre Perspektiven werden dadurch 'systemrelevant'. Die Qualität der
institutionellen Prozesse steigt, gleichzeitig aber auch die Emanzipation der
Betroffenen, die deshalb wiederum höhere Qualitätsansprüche stellen können
In partizipativen Prozessen können Sozialarbeiter ihre Macht nutzen, um
marginalisierte Personen durch Beteiligung zu ermächtigen. Die Betroffenen
erhalten sowohl Anerkennung als Experten ihrer Situation, wie auch Mitsprache-
und Mitwirkungsrechte hinsichtlich der Verbesserung ihrer Situation. Dadurch
erfahren sie Selbstwirksamkeit. Ein Ergebnis dieser Prozesse ist neben der
Verbesserung ihrer Lebensbedingungen die persönliche Weiterentwicklung der
Betroffenen. Partizipative Prozesse können in einen für alle Beteiligten hilfreichen
Kreislauf münden: Emanzipiertere Klienten fordern mehr Qualität und Mitsprache,
die sich wiederum positiv auf die persönliche Entwicklung und Emanzipation
auswirken. Im Prozessverlauf kann die Selbstreflexion des Sozialarbeiters zu einem
besseren Verständnis seiner Macht und Ohnmacht führen. Dieses Bewusstsein
erleichtert ihm seine Arbeit. Zum Beispiel kann er Verantwortung bei dem Klienten
belassen und ihm aktiv Assistenz bei der Problemlösung anbieten.
Das Ziel der persönlichen Entwicklung hat auch die Biografiearbeit.
42
3.4.4 Biografiearbeit
Biografiearbeit ist eine personenzentrierte Forschungsmethode. In einem
professionellen Setting reflektiert eine Person ihr Leben (vgl. Hölzle 2011). Der
Begriff zielt durchaus auch auf die professionelle Auseinandersetzung des
Sozialarbeiters mit der eigenen Lebensgeschichte (vgl. ebd., S. 31). Allerdings wird
der Begriff häufiger im Kontext der begleiteten und strukturierten Reflexion und
Interpretation der Lebensgeschichte durch den Klienten genutzt. Anlass ist oft ein
Bruch in der Biografie oder der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Der Klient
blickt zurück, um die Vergangenheit zu bewältigen, das Erleben der Gegenwart zu
verstehen oder Ressourcen für die Zukunft zu identifizieren. Die Biografiearbeit
bemüht sich dabei um Reframing. Erinnerungen sollen in einen neuen Rahmen
gestellt und dadurch besser versteh- und akzeptierbar werden. Oft besteht der
Wunsch die biographischen Gedächtnisinhalte zu dokumentieren (ebd., S. 34).
Wirklichkeitskonstruktionen werden in Verbindung mit ihrer Entstehungsgeschichte
und der Komplexität des sozialen Kontextes in Verbindung gebracht. Diese
Rekontextualisierung ist eine Komplexitätserweiterung, die dem Klienten nicht nur
Verständnis für seine Biografie und seine aktuelle Situation verschafft, sondern
auch Selbstwirksamkeit und Handlungsmacht in der historischen Situation
erkennen lässt und in der aktuellen Situation verschaffen kann (vgl. Kap. 3.4).
Durch die Biografiearbeit kann die Identitätsentwicklung unterstützt werden,
insbesondere das Selbstwertgefühl. Das Leben wird rückblickend als sinnvoll
erlebt. Bedrohliche Situationen können neu bewertet werden. Erfahrungen und
Strategien werden als Kompetenzen und Ressourcen erkannt. Alte Lebensziele,
persönliche Beziehungen und vieles mehr können zur Bewältigung zukünftiger
Situationen oder einer Neuausrichtung genutzt werden (vgl. Ruhe 2014).
Nimmt die betroffene Person die Anregung zur Reflexion und gegebenenfalls zu
einem Perspektivwechsel an, kann sie dadurch ihr Selbstbewusstsein steigern.
Eigenes Handeln wird als bedeutsam erkannt und kann positiv bewertet werden.
Das Bewusstsein der eigenen machtvollen Handlungsmöglichkeiten wächst. Dies
geschieht vor allem dann, wenn der Klient seinen Erkenntnisweg in der
Biografiearbeit weitestgehend selbst bestimmt. Nicht nur das Ergebnis der Arbeit,
43
sondern der Prozess ist wichtig: Der Sozialarbeiter reflektiert achtsam die Aussagen
des Klienten, im Wissen um sein Nichtwissen hinsichtlich dem Erleben und der
Komplexität des geschilderten Lebens.
3.4.5 Die SIVUS- Methode
Die SIVUS-Methode ist eine systematische Beschreibung von Grundlagen und
Methoden in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. Sie wird weltweit
in über 50 Ländern erfolgreich angewendet (Walujo & Malmström 1996, S. 10f.).
Die in diesem Konzept beschriebene Haltung und das Menschenbild kann
beispielhaft für Sozialpädagogen in der Arbeit mit Klienten sein. Jakob (2015, S. 8)
spricht vom „sozialen Reifen“ in zwei Dimensionen: einerseits dem Weg der
Menschen zueinander, andererseits dem Weg zu einem reiferen Selbst. Beteiligt
sind sowohl die sogenannten Begleiter, die professionellen Helfer, wie auch die
Menschen, die auf dem Weg zu mehr Selbständigkeit, Selbstvertrauen und
Zusammengehörigkeit begleitet werden. Die Zusammengehörigkeit, das
'Miteinander Leben und Lernen' in der Gruppe spielt in diesem Konzept eine
wichtige Rolle. In allen Lebenszusammenhängen werden Fähigkeiten, Bedürfnisse
und Handlungen der Menschen ernst genommen. „Nur im Tun und Reflektieren
erfährt man, was die Ideen bedeuten. Deshalb können wir sie erst in Verbindung mit
Aktivitäten erkennen und entwickeln“ (Walujo & Malmström 1996, S. 30). Im
Gegenüber erfolgt reflexiv der Abgleich von Fremd- und Selbstbild und es
entwickelt sich Selbstvertrauen und Verantwortungsbewusstsein füreinander (vgl.
Jakob 2015; Walujo & Malmström 1996).
Der Verzicht auf pädagogische Übermacht, die Akzeptanz des Gegenübers als
gleichwertig, die Begegnung im 'Du' ist eine wirksame Form der Aufwertung des
Anderen bzw. der Übergabe bzw. Anreicherung von symbolischen Kapital. Geleitet
wird diese Art der Ermächtigung einerseits vom Bedürfnis dem Anderen zu helfen,
sich zu entfalten und zu entwickeln. Anderseits leitet die Erkenntnis der eigenen
Bedürftigkeit, des eigenen Unwissens, der eigenen Ohnmacht im Wissen um die
Komplexität der Situation. Diese Haltung entsteht durch Reflexion und der
Erkenntnis der inneren Verbundenheit und Angewiesenheit der Menschen
untereinander (vgl. Kap. 2.3).
44
„Handle stets so, daß Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst“ (Foerster 1988, S. 33)!
4 Reflexion in der Praxis
Reflektierte Sozialarbeiter können Klienten ermutigen, einen Weg der persönlichen
Reflexion mit dem Ziel der Stärkung des Selbstbewusstseins und dem Erwerb
benötigter individueller Ressourcen zu gehen. Spiegel (2004, S. 85) weist nach,
dass es sich dabei eher um eine 'Kunst' handelt, als um Können: „In einem
Handlungsfeld, in dem berufliche Handlungen als einmalige, nicht
standardisierbare bzw. reproduzierbare Schöpfungsakte erscheinen, ist es schwierig,
Regeln und Maßstäbe für professionelles Handeln zu formulieren“.
So vielfältig wie der Kreis der Adressaten Sozialer Arbeit sind auch ihre
differenzierten Einstellungen und Werte und die daraus folgenden Ansprüche an
den Sozialarbeiter. Die Pluralisierung und Differenzierung erhöht die Komplexität
des Arbeitsfeldes und erschwert die Orientierung des Sozialarbeiters (vgl. Kleve
2003, S. 33f.).
Das Handlungsfeld ist, wie bisher schon angedeutet wurde, geprägt von
Paradoxien. Die Anwendung einer Theorie auf den Einzelfall ist an sich ein
Paradoxon, außerdem die notwendige Abstraktion des Einzelfalls, um die
Erkenntnisse wieder auf eine gleiche oder ähnliche Situation zu beziehen (vgl.
Spiegel 2004, S. 86f.). Luhmann (1993, S. 346) unterscheidet die Fragen „'Was ist
der Fall? und 'Was steckt dahinter?'“ und fordert die "Einheit der Weltsicht" (ebd.).
Kleve (2009, S. 103f.) resümiert im Hinblick auf die große Differenzierung und
Komplexität des sozialen Arbeitsfeldes, dass die Reflexion der zahlreichen
Ambivalenzen nur zu einer sozialarbeiterischen Haltung des 'Sowohl-als-auch'
führen kann.
In diesem vierten Kapitel der Studie soll deshalb untersucht werden, wie der
Sozialarbeiter unter den genannten Bedingungen reflektieren kann. Was gehört zu
der ‚Kunst‘, was bedeutet ‚Einheit der Weltsicht‘?
Die folgenden Ausführungen gehen deshalb von der konkreten ‚Machtreflexion‘
weg. Es geht um den allgemeinen Kontext, der Sozialarbeitern die Reflexion
ermöglicht bzw. vereinfacht. Das vierte Kapitel schließt damit an das Zweite an.
45
Eine wesentliche Voraussetzung für Reflexion ist die Haltung bzw. der Habitus
(Kap. 4.1- 4.4). Ein letzter Schwerpunkt soll anschließend auf die Kurzdarstellung
unterschiedlicher Methoden der Reflexion gelegt werden (Kap. 4.5).
4.1 Haltung des Sozialarbeiters
In erster Linie geht es um die Herausbildung und permanente Weiterentwicklung
eines professionellen sozialarbeiterischen Habitus. Wesentlich ist dafür die Haltung
(vgl. Kap. 2):
Lohnend scheint ein Blick auf die von Platon überlieferte antike Person Sokrates:
Sokrates stellte seinen Gesprächspartnern Fragen, umkreiste mit diesen Fragen die
Problemstellung des Gesprächs und führte den Partner im Dialog zu seinem Wissen
um die Sache. Betrachtet man die Haltung des Sokrates in seinen mäeutischen
Dialogen (vgl. Kap 4.2), fällt auf, dass er sich nicht in die Rolle des Experten gibt,
sondern einerseits das Gespräch moderiert und gleichzeitig als Lernender mit
seinen Gesprächspartnern gemeinsam auf der Suche nach dem Ergebnis der
Untersuchung ist. Es formt sich ein gleichberechtigter Dialog. Nörenberg (2007, S.
102) nennt ihn „dialogischen Aushandlungsprozess zwischen beiden
Gesprächspartnern“. Kern dieses themenzentrierten Dialogs ist die
Beobachterposition, und zwar die Beobachtung 2. Ordnung. Das Gespräch, die
Kommunikation wird beobachtet und hinsichtlich von Vorannahmen und dem
sozialen Entstehungskontext der Aussagen reflektiert. Wesentlich in seiner
beobachtenden Haltung ist, dass Sokrates sich aller Bewertungen der Äußerungen
des Dialogpartners enthält.
Mit Blick auf den Sozialarbeiter wird einerseits der bewusste Umgang mit seiner
Macht durch die nicht wertende und gleichberechtigte Haltung deutlich,
andererseits das Bewusstsein der relationalen Haltung zu Wissen und Erkenntnis.
Gemeinsam mit dem Klienten werden Einsichten gewonnen. Der Sozialarbeiter
kann durch Fragen aus der Beobachterposition vermeintliche Gewissheiten des
Dialogpartners verunsichern, um neue Perspektiven zu eröffnen. Gleichzeitig ist es,
wie oben schon dargestellt, Aufgabe des Sozialarbeiters, die Aushandlungsfähigkeit
des Klienten durch Ermächtigung herzustellen (vgl. Kap. 3.4; Kraus 2002, S.
184f.).
46
Zur Haltung des Sozialarbeiters gehört auch die Akzeptanz, das ein Mensch einen
anderen, zum Beispiel der Sozialarbeiter den Klienten, nicht direkt beeinflussen
kann (vgl. Kap. 3.1.4). Veränderungen des Klienten beruhen auf selbstreferentiellen
Prozessen. Das relativiert die Wirkung, die Sozialarbeiter oft ihren Interventionen
zuschreiben. Sozialarbeiter können getrost auf allgemeinverbindliche
Problemlösungen verzichten, gibt es doch immer verschiedene Lösungswege.
Klienten gehen den Weg, der ihnen am sinnvollsten erscheint. Sozialarbeiter haben
die Aufgabe, Räume und Möglichkeiten für Entwicklungen zu arrangieren und
dadurch irritierende Impulse (Perturbationen) zu selbstreferentiellen
Problemlösungen der Klienten zu geben. Menschen, als autopoietische Systeme,
können lernen, sich selbst zu aktualisieren (vgl. Kleve 2003, S. 70ff.; Kurtz 2006).
Viele weitere Faktoren der professionellen Haltung könnten aufgezählt werden,
beispielsweise Authentizität und Offenheit (Rogers, Cohn), Achtsamkeit (Perls),
Akzeptanz des Anderen und Fremden (Simmel) usw. Im Rahmen der vorliegenden
Arbeit soll aber im Folgenden das für die Haltung wichtige Thema 'Wissen und
Nichtwissen' aus dem Kapitel 2.1 weiter vertieft werden.
47
4.2 Haltung des Nichtwissens und Verstehen-Wollens
Vom Sozialarbeiter wird gefordert, sein Handeln zu begründen. Aber wie ist das
möglich, wenn man nicht weiß, was am Ende herauskommt (vgl. Kurtz 2006)?
Diese typische Situation des Sozialarbeiters wird als Technologiedefizit bezeichnet:
Lineare Interventionen mit gesicherten Auswirkungen sind im Umgang mit
Menschen unmöglich. Gaiwinkler & Roessler (2012, S. 290) postulieren: „Die
Expertise, die notwendig ist, um professionelle Hilfe nützlich zu gestalten, lässt
sich unterteilen in die Expertise des Wissens und die Expertise des Nichtwissens“
(vgl. Kap 2.1).
Nörenberg (2007, S. 33ff.) vergleicht diese Situation mit der Art des fragenden
Dialoges von Sokrates. Sokrates behauptete von sich, nicht zu wissen14. Seine
entscheidende Frage ist: 'Was ist das?' Die dialogische Gesprächstechnik, die
Mäeutik, war sein Wissen. Sokrates selbst nannte diese Methode 'Philosophische
Hebammenkunst'. Seine Erkenntnisse endeten aber meist in der Feststellung, dass
die Dinge nicht zweifelsfrei und absolut erkennbar und erklärbar sind. Sokrates
erkannte die „Beschränktheit der eigenen Wahrnehmung und seiner Abhängigkeit
vom Standpunkt“ (ebd., S. 46). Er findet unter seinen Gesprächspartnern
niemanden, der weiser ist als er, der von sich selbst sagt, dass er nicht weiß. Die
Dialogpartner glauben über bestimmte Sachverhalte genau Bescheid zu wissen und
verabsolutieren und verallgemeinern ihr spezifisches Wissen. Sokrates führt durch
sein Fragen das Wissen auf das Konkrete zurück und weist nach, dass es anderen
Perspektiven nicht mehr standhält. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es unmöglich
ist zu wissen, was man weiß und was man nicht weiß. Beide Seiten der
Unterscheidung, was gut und schlecht ist, sind nicht gleichzeitig erkennbar.
Sokrates hatte die „grundsätzliche und nicht zu hintergehende Begrenztheit
menschlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit“ (ebd., S. 58) erkannt.
In der Antike wurden Selbstsorge und Selbsterkenntnis hoch geschätzt und waren
gesellschaftliche Lebensziele. Die Selbsterkenntnis war der Weg bzw. ein
Hilfsmittel für die Selbstsorge. Die Selbsterkenntnis ist folglich eine Praxis des
Seins nicht der Erkenntnis (vgl. Foucault 2010). Das ist sehr wichtig für die
14 Betont sei, dass 'nicht wissen' etwas anderes meint als 'nichts wissen'.
48
professionelle Haltung: Die Praxis des Seins äußert sich zum Beispiel in
Achtsamkeit, gewaltfreier Kommunikation und in der Haltung des „Nichtwissens“
(Kleve 2014).
In der sozialen Situation wissen wir nicht, welche Folgen unser Handeln hat, oft
kommt es anders als gedacht. Das Verhalten der Klienten ist oft unverständlich und
kann provokant wirken. Sozialarbeiter reagieren eventuell mit Ablehnung und
bestätigen damit vielleicht alte Erfahrungen der Klienten. Dabei müssten sie
wissen, dass die Klienten subjektive gute Gründe für ihr Verhalten haben (vgl.
Gaiswinkler & Roessler 2012, S. 291).
Es ist besser, sich auf diese Unvorhersehbarkeit einzulassen, als die verbreitete
Haltung des allmächtigen Profis einzunehmen (vgl. Kap 3.4). Der Sozialarbeiter
kann den Klienten nicht gänzlich verstehen, er kann sich nur selbst eine Vorstellung
konstruieren. Seine Idee oder Diagnose, geprägt durch Einstellungen und
Erfahrungen, ist „unterkomplex“ (Nassehi 2015, S. 98). Systemisches Verstehen ist
eine Art Hypothesenbildung im Bewusstsein des Nichtwissens, der
Abgeschlossenheit und Eigenreferenz der Systeme 'Sozialarbeiter' und 'Klient' und
der autopietischen Funktion dieser Systeme. Erst die Reaktion des Klienten auf das
Handeln des Sozialarbeiters gibt einen Hinweis darauf, was er verstanden hat. Die
Wahrscheinlichkeit des Nichtverstehens, dass heißt des 'Nichtwissens' bzw.
'Falschwissens' ist hoch. Deshalb ist das „Wissen über den Umgang mit
Unsicherheit und Ungewissheit [Hervorhebung im Original]“ (Kurtz 2006, S. 550)
bedeutsam.
Kleve (2014, S. 220f.) fordert Sozialarbeiter zur therapeutischen Enthaltsamkeit
auf: Es stellt das „abendländische Kasualmodell“ (ebd., S. 221) in Frage: Die
Lösung des Problems setzt nicht unbedingt dessen Analyse voraus. Das „Phänomen
des Nichtwissens“ (ebd., S. 216) hilft Sozialarbeitern auf endgültige Diagnosen zu
verzichten und Interpretationen und Hypothesen immer wieder in Frage zu stellen
bzw. sie in der sozialen Situation zu überprüfen (vgl. Kap. 4.5.1). Hypothesen
messen sich nicht am Diktat des 'falsch oder richtig': Die Frage ist, inwieweit sie
dem Klienten bzw. dem Prozess hilfreich sind. Mit dem „gekonnten Einsatz des
Nichtwissens“ (Kleve 2014, S. 216) kann der Sozialarbeiter mit entsprechenden
49
Methoden eine „Ökologie der Transformation“ (ebd., S. 220) schaffen, eine
Umwelt, die Veränderungsprozesse und Entwicklung des Klienten aus eigener Kraft
ermöglicht.
Die Haltung des Nichtwissens und Verstehen-Wollens ist eine strategische und
induktive Methode im Rahmen des Arbeitsbündnisses. Wichtigster Faktor ist
sicherlich das bedingungslose und akzeptierende Zuhören, wie Freud es
propagierte. Der Klient kennt den Weg zur Lösung seiner Probleme und ist mit
Ressourcen und Selbstheilungskräften ausgestattet. Durch Zuhören und im Dialog
versucht der Sozialarbeiter den Klienten zu verstehen. Er ist gewissermaßen
neugierig, was für den Klienten wichtig ist und kann die Stärken und Potentiale des
Klienten entdecken. Der Sozialarbeiter exploriert die Ziele des Klienten und kann
ihm helfen, seinen Bezugsrahmen und seine Selbstwahrnehmung zu verändern. Der
Klient generiert selbst Wissen und erkennt seinen Weg (vgl. Gaiswinkler &
Roessler 2012, S. 292f.).
Offensichtlich ist bei dieser Haltung auch die Machtzuschreibung an den Klienten.
Die Haltung des Nichtwissens ist gleichzeitig ein Wissen um die Komplexität der
Situation. Nur mit fortgeführter Infragestellung der eigenen Diagnosen und
Hypothesen bzw. der Befragung und Erkenntnissuche mit dem Klienten wird der
Sozialarbeiter der Komplexität gerecht.
Betrachtet man die Bedeutung der Haltung, könnte man zum Schluss kommen, dass
Übung und Erfahrung ausreichen, um als Sozialarbeiter professionell zu handeln. In
welchem Verhältnis stehen Können und Wissen?
50
4.3 Wissen und Können
Theorie15 und Praxis, Wissen und Können sind jeweils die beiden Seiten einer
Unterscheidung. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Hinweise auf diese
Verbindung bringt die Frage nach der Einheit der Unterscheidung (vgl. Luhmann
1993).
Der Geschlossenheit der Systeme 'Wissenschaft' und 'Praxis' folgt
systemtheoretisch die Unmöglichkeit des Transfers von Wissen. Geht man von der
Unterscheidung Wissen/ Nichtwissen aus, kann man zum Schluss kommen, dass es
sowohl in der Theorie als auch in der Praxis Wissen gibt, dass jeweils in dem
anderen System als Nichtwissen unsichtbar ist (vgl. Nörenberg 2007, S. 107ff.).
Handlungsvollzüge können dann vom eigenen Nichtwissen her reflektiert werden.
Als sich selbst beobachtender Beobachter kann der Sozialarbeiter je nach
Unterscheidung die Einheit von „systematischen Wissenschaftswissen und
praktischen Handlungswissen“ (ebd., S. 108) sichtbar werden lassen.
Reflexiv theoretisches Wissen ist dann die Grundlage für (reflexives) Können.
Maßstäbe für die Beurteilung der Praxis entstehen in theoriegeleiteter Reflexion.
Der Prozess hat aber nicht die Form eines Kausalschemas: Voraussetzung sind die
Einnahme der Beobachterposition und die wiederholte und geübte Reflexion.
Für den Praktiker ist daraufhin eine Haltung des professionellen Nichtwissens
denkbar, die sich in der inneren Haltung bzw. seiner Berufsethik äußert (vgl. 2.3).
Müller (2012, S. 100) beschreibt diese Haltung mit „Aufmerksamer Umgang mit
Nichtwissen“.
Die Entwicklung der Haltung beginnt nicht erst mit der Ausbildung sondern ist ein
lebenslang anhaltender reflexiver Prozess. Dieser Prozess hat den Charakter der
Übung, das heißt er muss bewusst und regelmäßig geübt werden. Das betrifft die
Perspektive des Beobachters und die Hinwendung zum Kontext, angefangen bei
einem Tagesrückblick, über die Reflexion des eigenen Handelns, der eigenen
Rollen, der persönlichen Werte und Maßstäbe, der eigenen Haltung, Reflexion der
Institutionen, gesellschaftlichen Werte und Normen, bis hin zu den in dieser Arbeit
15 Das Wort 'Theorie' stammt vom griechischen 'theoros' ab, dass Zuschauer oder Betrachter bedeutet.
51
beschriebenen Machtfaktoren. Situation für Situation, in ihrer Vielfalt an
Möglichkeiten, kann das am Beispiel gelernt werden. Es ist für den Sozialarbeiter
ein permanenter Prozess des „Werdens und der Transformation“ (Nörenberg 2007,
S. 121).
Die Praxis ist geprägt von Überraschungen und dem Entscheidungs- und
Handlungszwang. Sozialarbeiter, die im Reflektieren geübt sind und
multiperspektivisch Situationen erwägen können, gelingt es leichter adäquat zu
handeln (vgl. Herwig-Lempp 2014). Die Gefahr liegt dabei vor allem in der
traditionell machtvollen Professionalität der Sozialarbeiter. Können bedeutet vor
allem auch Machtbewusstsein bzw. -verzicht, Experte im Beobachten, nicht im
Wissen (vgl. Kap 4.2). Das könnte das Entstehen stark asymmetrischer Helfer-
Klienten-Beziehungen und Abhängigkeiten verhindern. Nicht nur der Klient und
seine Kommunikation sollten beobachtet werden, sondern auch das System 'Soziale
Arbeit' und der Beobachter selbst. Erst so können beispielsweise institutionelle
Zwänge und Abhängigkeiten reflektiert werden (vgl. Kap. 3.1.2). Nörenberg (2007,
S. 121) schlägt mit reflexiven Blick auf den Auftrag zur Auflösung der Hilfe den
Begriff 'selbstdekonstruktive Handlungslogik' vor.
Im Bezug auf den Klienten erinnert die umfassende Bedeutung der Reflexion an die
Lebenswelt und das Rahmenkonzept der Lebensweltorientierung nach Thiersch.
Tatsächlich erfordert eine konsequente Orientierung an der Lebenswelt diese
reflexive Haltung. Eine vermeintliche Lebensweltorientierung ohne
Perspektivenwechsel und der Haltung des Nichtwissens erscheint inhaltsleer und
nicht zielführend (vgl. Kraus 2002, S. 146ff.; Nörenberg 2007, S. 113).
Kraus (2013, S. 150) ergänzt den subjektiv orientierten Begriff 'Lebenswelt' mit
dem Begriff „Lebenslage“. Mit ihm werden die äußeren Umstände beschrieben, die
einem Individuum die Verfolgung seines Lebenssinns ermöglichen oder
einschränken:
Auf Grund der strukturellen Kopplung des Menschen an seine Systemwelt sind diegegebenen Rahmenbedingungen bedeutsam für das Konstruieren seiner subjektivenLebenswirklichkeit. So ist der Mensch zwar für die Wahl zwischen den zur Verfügungstehenden Alternativen verantwortlich, aber eben nur für die Alternativen, die ihmauch tatsächlich zur Verfügung stehen, d.h. die unter den gegebenenRahmenbedingungen viabel sind (Kraus 2013, S. 140).
52
4.4 Exkurs: Reflexion des 'Intellektuellen' nach Mannheim
Mannheim (1985) und Weber (2002) beschreiben einen Menschentypus, einen
Habitus, der bewusst und reflektiert die Welt und die Gesellschaft beobachtet. Sie
nennen diesen Denk-Habitus 'der Intellektuelle'. Weber (2002, S. 307ff.) beschreibt
ihn folgendermaßen:
Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seinerLebensführung einen durchgehenden Sinn zu verleihen, also Einheit mit sich selbst,mit den Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der Welt als einesSinn-Problems vollzieht. Je mehr der Intellektuelle den Glauben und die Magiezurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt entzaubert werden, ihren magischenSinngehalt verlieren, nur noch 'sind' und 'geschehen', aber nichts mehr bedeuten, destodringlicher erwächst die Forderung an die Welt und 'Lebensführung' je als Ganzes,daß sie bedeutungshaft sind und 'sinnvoll' geordnet seien.
Der Intellektuelle hat eine 'seinskritische' Haltung. Durch Vergegenwärtigung seiner
Standortverbundenheit, seiner Sozialisation und des individuellen Habitus, der
Weltanschauungsmuster und den Machtstrukturen gewinnt er eine gewisse Freiheit
bzw. eine Standortlosigkeit (vgl. Jung 2007, S. 256ff.). Typisch für diese Haltung
sind eine allgemeine Skepsis, eine zeitkritische Haltung, ein relatives Entfernen aus
den alltäglichen Konflikten, ein Besinnen auf die eigenen Wurzeln, Freiheit und
Unabhängigkeit. Diese „konkrete Bewusstmachung der eigenen sozialen Position“
(Mannheim 1985, S. 139) hat eine spirituelle Dimension, wie auch das obige Zitat
von Weber zeigt. Es öffnet sich ein Blick für Gesamtzusammenhänge. Es entsteht
eine Befähigung, „die für den Gesamtprozess“ notwendige „Gesamtorientierung“,
also „das Gesamtwerden der politischen Wollungen und Weltanschauungen aus
dem soziologisch erfaßbaren Totalprozeß zu verstehen“ (ebd., S. 141).
Diese Haltung ermöglicht es, aus eigenem Interesse, als Anwalt der Menschen zu
agieren. Des Menschen Mission ist, „das Sich-Besinnen auf die eigenen Wurzeln,
das Suchen der eigenen Mission, prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des
Ganzen zu sein“ (ebd., S. 138).
War Sokrates (vgl. Kap. 4.2) ein solcher Intellektueller? Er provozierte mit seiner
Unabhängigkeit und Standortlosigkeit im Sinne Mannheims so stark, dass er
hingerichtet wurde. Zentral ist seine Art des Dialoges. Durch den Dialog wird ein
permanenter Abgleich von Selbst- und Fremdbezug ermöglicht (vgl. Nörenberg
53
2007, S. 47ff.). Sokrates ging es in seinen Dialogen nicht um das Finden einer
Antwort auf seine Fragen. Er wollte die Selbsterkenntnis und die
Selbstbeobachtung seiner Gesprächspartner fördern. Ziel war die ethische
Reflexion.
4.5 Methodengeleitete Reflexion
Einige in der Literatur (vgl. Ebert 2008, S. 128ff.; Reich 2005; Spiegel 2004; Kleve
2003) beschriebene Methoden sollen hier kurz dargestellt werden. In den
ausgewählten Methoden werden die besprochenen Theorien des Konstruktivismus,
Relativismus, der Systeme etc. angewendet. In Verbindung mit der besprochenen
Haltung, also im Bewusstsein der eigenen Konstruktionen, der Bedeutung der
Komplexität, des Nichtwissens etc., können die Methoden sehr hilfreich sein, in die
Komplexität der sozialen Situation einzudringen. Das ist das Ziel.
In den vorgestellten Methoden kann sowohl der konkrete Fall, im Beisein oder
Abwesenheit des Klienten, wie auch die generelle Haltung und das
Selbstverständnis des Sozialarbeiters oder des Systems reflektiert werden. Lambers
(2010, S. 16ff.) unterscheidet, die Ebene von Fall und Person und die Ebene von
Struktur und Organisation. Als dritte und wichtigste Reflexionsebene muss noch die
Selbst- bzw. Standortreflexion zugefügt werden. Denn „Soziale Arbeit […] muss
sich stets die Frage nach ihren Handlungsoptionen in Selbst- und Fremdreferenz
stellen. Sie befindet sich sozusagen in einer Dauerreflexion mit ihren
Möglichkeiten“ (ebd., S. 135).
Die Auswahl der Methoden orientiert sich an ihrem Nutzen für die Reflexion in der
Sozialen Arbeit. Sie zeigt die große Vielfalt und soll ganz verschiedene Wege zum
gleichen Ziel veranschaulichen. Einige der beschriebenen Methoden eignen sich
auch zur reflexiven Reflexion über die Methoden und ihren sinnvollen Einsatz. Die
Nutzung von Visualisierung und Symbolen kann dabei helfen.
Bevor ich auf die einzelnen Reflexionsmethoden eingehe, soll an dem Beispiel der
sozialarbeiterischen Diagnostik die Notwendigkeit der Reflexion in der Praxis
dargelegt werden.
54
4.5.1 Praxisbeispiel: Diagnostik
Diagnostik, beispielsweise im Rahmen der Beobachtung sogenannten auffälligen
Verhaltens des Klienten, spielt für den Sozialarbeiter in der Praxis eine bedeutende
Rolle, ist sie doch die Grundlage für die folgende Intervention. Und sie ist ein sehr
wirksamer Machtfaktor, da notwendige Hilfe und Unterstützung, aber auch
Kontrolle und Sanktionen von ihr abhängen.
Aus konstruktivistisch- systemischer Sicht lassen sich das Erkennen bzw. die
Kognition und die Intervention bzw. das Handeln nicht trennen. „Jedes Tun ist
Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“ (Maturana & Varela 1987, S. 32). In einem
autopoietischen System können Erkennen, Verhalten und Beobachten als Einheit
betrachtet werden. Die Wahrnehmung ist ein selbstreferentieller Prozess: Die
Beobachtung führt zur Interpretation der Beobachtung und entsprechendem
Verhalten. Je nach Standort können unendlich viele unterschiedliche Erkenntnisse
bzw. 'Diagnosen' erstellt werden, die jeweils relativ wahr sind, sich aber
widersprechen können. Das Wissen bzw. die Diagnose entsteht im Kopf, wird dann
der Situation zugeschrieben und dort als objektiv wahrgenommen. Allein schon
durch die kategorisierende Sprachschöpfung, vor allem in der Psychiatrie, wird
Komplexität reduziert (vgl. Kap. 2.1). Wenn beispielsweise bei einem Klienten statt
einer Depression, Trauer wahrgenommen wird, führt das unter Umständen zu ganz
anderen Interventionen (vgl. Kleve 2003, S. 65ff.).
Der Beobachter, der Sozialarbeiter, stellt eine Diagnose aufgrund seiner
Unterscheidung und nach seinem Sinn. Ohne Reflexion dieser Unterscheidung bzw.
Beobachtung 2. Ordnung können weitere Unterscheidungen aufgrund
vorhergehender Unterscheidungen in dieselbe Richtung zur sogenannten
selbsterfüllenden Prophezeiung führen. Eine Diagnostik hinsichtlich der
Ressourcen des Klienten kann nachfolgend die Ressourcen bestätigen, eine
defizitorientierte Diagnostik kann durch Defizite bestätigt werden. Die konstruierte
Wirklichkeit, erzeugt durch die Diagnose, bestimmt dann das reale Leben des
Betroffenen.
Die Überzeugung, objektiv zu erkennen, kann zu Intoleranz, Besserwisserei oder
Ideologie führen. Häufig sagt eine Diagnose mehr über den Sozialarbeiter bzw. die
55
Logik des beobachtenden System aus als über die beobachtete Wirklichkeit (vgl.
ebd., S. 141ff.). Die „Prozessuale Diagnostik“ (Keil & Stumm 2014, S. 340), die
Diagnosen immer wieder reflektiert und kritisch hinterfragt, wird im Rahmen der
personenzentrierten Psychotherapie eingesetzt und könnte für die Soziale Arbeit
adaptiert werden (vgl. ebd.).
4.5.2 Multiperspektivische Fallarbeit
Müller (2012) fordert im gesamten Prozess der sozialpädagogischen
Fallbearbeitung Multiperspektivität und Offenheit. In allen Schritten, angefangen
bei der Anamnese, über die Diagnose, die Intervention und nicht zuletzt bei der
Evaluation erwartet er, dass der Sozialarbeiter ausgehend von seinem „praktischen
Standpunkt“ (Müller 2012, S. 32) Fälle in „Fälle zweiter Ordnung verwandelt“,
dass heißt in einem „kasuistischen Raum“ (ebd., S. 37) reflektiert. Fallverstehen
bedeutet für Müller (2012, S. 189ff.) bezugnehmend auf Mollenhauer & Uhlendorf
„Blickwechsel“ zwischen den „zwei Erkenntniswegen“ 'wissenschaftlich-
professioneller Diagnostik' und 'pädagogischer Praxis'. Der erste Weg ordnet den
Fall und erklärt ihn. Das theoretische Wissen gibt dabei keine Entscheidungen in
der Praxis vor, sondern soll neue Perspektiven anregen. Der zweite Weg entledigt
sich wieder der Einordnung und wendet sich „tiefenhermeneutisch“ dem
„Dschungel der Komplexitäten“ (ebd., S. 192) der Praxis zu.
Multiperspektivische Reflexion braucht Zeit und Raum und muss eingeübt werden
(vgl. Kap. 2.1). Praktische Erfahrung reicht allein nicht aus, sondern muss durch die
Beobachtung des eigenen Handelns aus der Distanz ergänzt werden. 'Zeitinseln',
auch wenn es nur kurze Redepausen sind, helfen, in Distanz und in die Reflexion zu
kommen (vgl. Müller 2012, S. 9).
Eine spezielle Version der multiperspektivischen Fallarbeit ist die Methode des
'Reflecting Teams'. In dieser unter anderem von Reich (2005) vorgestellten
Methode wird die Beobachtung der Beobachter umgesetzt. Ein Team von
Sozialarbeitern beobachtet und reflektiert einen Berater im Gespräch bzw. der
Intervention mit dem Klienten. Die Zuhörer sitzen abseits oder im Nachbarraum.
Da die Beobachter nicht direkt im Gesprächsverlauf beteiligt sind, können sie quasi
in einem inneren Dialog die Aspekte bedenken und in Ruhe Ideen generieren.
56
In einem 'Metalog', einem Gespräch über das Gespräch teilt das beobachtende Team
dem Berater und Klienten anschließend seine Beobachtungen wertschätzend mit.
Dabei nimmt das Beobachtersystem aber keinen direkten Kontakt zu dem Klienten-
Berater-System auf. Aus Sicht der Klienten wird die kollegiale Beratung in ihrer
Gegenwart vollzogen.
Nach dem Dialog der Beobachter untereinander über das beobachtete Gespräch
nimmt der Berater das Gespräch mit den Klienten wieder auf. Die gehörten
Perspektiven und Deutungen ermöglichen eventuell neue Lösungswege für den
Klienten. Auch der Berater kann durch die gehörten Gedanken neue Perspektiven
gewinnen und seine Deutungen und Konstruktionen korrigieren.
Von dieser Grundstruktur gibt es zahlreiche, dem Kontext angepasste, Varianten.
Beispielsweise beschreibt Reich (2005, S. 250ff.) für pädagogische Prozesse einen
kollegialen Austausch des Beobachterteams in Abwesenheit der Klienten, um
danach die Ergebnisse mit allen Beteiligten zu diskutieren.
Die unterschiedlichen Perspektiven helfen der Komplexität des Falls besser gerecht
zu werden. Die Reflexion im Team, der Austausch über die Reflexion, eventuell im
Gespräch mit dem Klienten soll helfen Konstruktionen in Frage zu stellen und
anzupassen. Immer wieder sollte die Dekonstruktion von Hypothesen und
Annahmen anhand der realen Situation erfolgen. Die Theorie hat nicht die Aufgabe
Abstraktionen und Kategorien zu bilden, sondern andere Perspektiven auf die
komplexe soziale Situation zu ermöglichen.
57
4.5.3 Fallrekonstruktion
Die 'Fallrekonstruktion' geht in der Reflexion des Falls noch einen Schritt weiter als
die 'Multiperspektivische Fallarbeit'. Sie wird von verschiedenen Autoren mit
unterschiedlichen Blickwinkeln und Intentionen beschrieben (vgl. Kraimer 2000, S.
28ff.). Im Rahmen der vorliegenden Studie kann nur ein kurzer Überblick gegeben
werden und auf die angegebene Literatur verwiesen werden.
Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Ausführungen von Oevermann und
Kraimer, die als Ziel der Methode „die Gewinnung von Professionalität durch die
Verbindung von Theorie, Empirie und Praxis“ (Kraimer & Wyssen-Kaufmann
2012, S. 219) postulieren. Ziel dieses hermeneutischen Verfahrens ist es,
Strukturen, innere Gesetzlichkeiten, Krisen, Rituale und letztlich Sinn im Handeln
der Akteure des Falls nachzuvollziehen und zu verstehen. Durch Rekonstruktion
einzelner Sequenzen des sozialen Handelns kann tief in die Komplexität
eingedrungen werden. Sequenzen entstehen durch Entscheidungen des Akteurs,
denen Sinn, Bedeutung und Regeln zugrunde liegen (vgl. Oevermann 2000, S.
64ff.).
Hilfreich für die Fallrekonstruktion ist ein Zusammenwirken von Vertretern der
professionellen Praxis mit Akademikern bzw. Studierenden der Sozialen Arbeit.
Gegenseitig können Erfahrungen und Wissen zu einer konkreten Falldarstellung zur
Verfügung gestellt werden. Kraimer & Wyssen-Kaufmann (ebd.) sprechen von
einer “fallrekonstruktiven Forschungswerkstatt“ (ebd.), bei der Strukturmuster
identifiziert werden, „die sich aus den Relationen zwischen dem Allgemeinen (z.B.
soziales Umfeld) und dem Besonderen (z.B. Berufsbiografie) ergeben“ (ebd.).
Für das Fallverstehen sind sowohl die Fokussierung auf den Fall, als auch auf die
Methodologie, z.B. hinsichtlich Auftragsklärung, Diagnostik, Gestaltung der
Arbeitsbeziehung, bedeutsam. Das vorliegende Material zum Fall wird sequentiell
interpretiert. Beispielsweise kann die Differenz zwischen dem Spielraum von
Möglichkeiten und der faktisch getroffenen Entscheidung des handelnden Akteurs
untersucht werden. Für jede Sequenz wird eine „Fallstrukturhypothese“ (Kraimer
2000, S. 37) gebildet, die durch eine folgende Materialrekonstruktion und an einem
58
„maximal kontrastierenden Fall [Hervorhebung im Original]“ überprüft wird (vgl.
Oevermann 2000; Kraimer 2000). Bei diesem Vorgehen wird die gegensätzliche
Bewegung offensichtlich, einerseits in die Komplexität des Falls und andererseits
die Komplexitätsreduzierung für die Hypothesenbildung.
Verschiedene Strukturelemente dienen der Fallrekonstruktion:
Die 'Stellvertretende Krisenbewältigung' zeigt, wo im Fall eine professionelle
Intervention erzwungen wird. Dadurch können u. a. Organisationszwänge erkannt
werden (vgl. Kraimer & Wyssen-Kaufmann 2012, S. 221).
Das Aufspüren von Paradoxien in komplexen Zusammenhängen, das im
Zusammenhang mit einem professionellen „Sich-Bescheiden“ (ebd., S. 222) steht,
kann als Strukturelement helfen, schnelle Lösungen zu irritieren und sich der
Komplexität des Falls bewusst zu werden.
Biografische Prozessstrukturen im Lebenslauf aufzuspüren hilft, den Sinn im
Verhalten der Klienten zu verstehen. Dabei soll u.a. auf institutionelle
Ablaufmuster, biografische Handlungsschemata und die Verlaufskurfe geachtet
werden (vgl. ebd., S. 222f.).
Die Fallrekonstruktion ist ein sehr komplexes Verfahren, dass vorwiegend im
Forschungskontext Verwendung findet. Aber in schwierigen Fällen empfiehlt
Kraimer (2000, S. 151ff.) die Methode auch der Praxis.
Diese Methode des Fallverstehens beinhaltet viele Erkenntnisse, die in dieser
Studie zusammengetragen wurden. Besonders hervorheben möchte ich die
Verbindung von Theorie und Praxis, von wissenschaftlichen Wissen und
Handlungswissen. Die Sequenzierung des Falls und die damit verbundene
Sinnsuche helfen, der Komplexität gerecht zu werden und den Klienten zu
verstehen. Dem Handeln des Klienten wird im Voraus Sinn zugeschrieben. Es wird
untersucht, warum sich der Klient in einer Sequenz so verhalten und nicht eine
andere Entscheidung getroffen hat. Damit wird die Lebenspraxis sichtbar gemacht
mit ihren Mustern, Strukturen, Routinen, Krisen und Paradoxien.
59
4.5.4 Transformatorischer Dreischritt
Zur „Überwindung der Dichotomie von wissenschaftlicher Disziplin und
praktischer Profession“ empfiehlt Staub-Bernasconi (2012) den
'Transformatorischen Dreischritt'. In der praktischen Handlungssituation, die von
Unsicherheit und „Finanz-, Zeit-, und Entscheidungsdruck“ (ebd., S. 163) geprägt
ist, soll durch diese professionelle Methode eine wissenschaftliche
Handlungsleitlinie bereitgestellt werden. Nach Staub-Bernasconi stehen sich in der
Praxis das praktische Handlungswissen und das systematische Wissenschaftswissen
gegenüber. Der 'Transformatorische Dreischritt' hat die Aufgabe der
„Relationierung von bezugswissenschaftlichem mit wissenschafts- und ethisch
basiertem, professionellem Problemlösungswissen [Hervorhebung im Original]“
(ebd., S. 169). So haben Sozialarbeiter selbst den Schlüssel in der Hand, das
Theorie-Praxis-Problem zu lösen, anstatt die Interpretation an andere Professionen
abzugeben. Staub-Bernasconi fordert von den Sozialarbeitern, neben dem
Doppelmandat, ein drittes Mandat: Sie sollen eine eigene theoriebasierte und
reflektierte Ethik in ihr Handeln einbringen, statt sich unbewusst auf tradierte Werte
oder standardisierte Methoden zu verlassen. Dafür muss zwischen beschreiben,
erklären und bewerten unterschieden werden.
Eine professionelle Perspektive verbindet die möglichst wertungsfreie
Beschreibung der Situation (lokales kontextspezifisches Wissen) mit der Erklärung
anhand wissenschaftlicher Theorien (Forschungswissen) und der abschließenden
Bewertung der Interventionsmöglichkeiten (Evaluationswissen). Bezüglich des
Problems werden 'W-Fragen' gestellt. Folgende Aspekte beinhalten die drei
Schritte:
1. Der Forschungsstand wird zur Kenntnis genommen.
Ausgehend von der mehrdimensionalen Beschreibung der Ausgangssituation und
des Kontextes des Problems wird der entsprechende (transdisziplinäre)
Forschungsstand ermittelt. Die Fragen sind 'Was?', 'Warum?' und 'Was folgt?'.
Erklärungen des Adressaten und des Sozialarbeiters und trans- und interdisziplinäre
wissenschaftliche Ansätze sollen Gesetzmäßigkeiten des Ausgangsproblems
60
aufdecken. Das Problem wird damit zur erklärenden Größe. Die Frage nach der
Legitimität eines Eingriffs bzw. zur Ethik führt zum nächsten Schritt:
2. Handlungstheoretische Hypothesen werden formuliert.
Mit diesem Schritt werden die Fragen 'Was?' und 'Warum?' mit der 'Wer?' Frage
relationiert: Wer kann die Ausgangssituation beeinflussen? Wer entscheidet wie,
welche Systeme sind betroffen? Mit welchen Ressourcen soll das Ziel erreicht
werden?
3. Professionelle Handlungsleitlinien werden formuliert.
Zuletzt kommen noch die Fragen 'Wie?' und 'Womit?' dazu, um über
Handlungsalternativen zu entscheiden. Die Mandats-/Wert-/Zielfragen und die
Wahl der einzusetzenden Methoden sind abzuwägen. In diesem Schritt sollen
wissenschaftlich fundierte Handlungsleitlinien und -regeln erstellt werden. Die
eingesetzten Verfahren und ggf. Evaluationsmethoden werden festgelegt (vgl.
Staub-Bernasconi 2012).
Zusammenfassend überzeugt diese strukturierte Vorgehensweise für die Erstellung
von Handlungsplänen, sofern diese nicht absolut gesetzt werden, sondern immer
wieder neu reflektiert und gegebenenfalls angepasst werden. Die Überprüfung der
theoretischen Annahmen und Reflexionen in der realen sozialen Situation, die
durchaus die Annahmen falsifizieren kann, ist der entscheidende Schritt. Allerdings
bleibt auch hier die Frage nach einer ethisch legitimen Handlung bzw. Intervention
des Sozialarbeiters offen.
4.5.5 Supervision
Supervision bzw. Coaching oder Teamentwicklung ist eine traditionelle Methode16
in der Sozialen Arbeit. Häufig wird sie in Form von Fallsupervision genutzt,
zunehmend häufiger aber auch zur Metareflexion der Arbeitsbedingungen und
systemischer Zusammenhänge, als Einzel- oder Gruppensupervision.
Der Supervisor, häufig ein speziell ausgebildeter und externer Auftragnehmer,
schließt mit der Institution und/oder den Supervisanden einen Kontrakt. Ziele und
Methoden für die Supervision werden darin festgelegt. Ergebnisse der Supervision
16 Supervision wurde im 19. Jahrhundert in den USA entwickelt (vgl. Krönchen 2012)
61
werden nur im Einverständnis der Supervisanden an die Institution weitergegeben.
Der Supervisor hat eine neutrale, allparteiliche Haltung.
Er nutzt ein großer Repertoire an Methoden, beispielsweise aus der
Gruppendynamik, Gesprächsführung, Gestaltpsychologie, Aufstellungsarbeit,
psychoanalytische und personenzentrierte Ansätze usw.
Die Supervision ist häufig durch einen sozialkonstruktivistischen Ansatz geprägt.
Die Akzeptanz der Vielfalt von Wahrnehmung und Perspektiven und der daraus
entstehenden Wechselwirkung zwischen Psychischen und Sozialen Systemen
stehen im Vordergrund. Der Supervisor macht ein „Beobachtungsangebot“ (Reich
2005, S. 254). Er hilft den Supervisanden zur Beobachtung der Beobachtenden, der
Metakommunikation über die Kommunikation und zum multiperspektivischen
Dialog über das 'Wie' der Kommunikations- und Austauschprozesse. Ziel ist die
Perturbation der, aus der Sicht des Supervisors, fragwürdigen
Wirklichkeitskonstrukte und die gemeinsame Beobachtung der bisher unsichtbar
gebliebenen 'blinden Flecken'. Gute Supervision provoziert, irritiert und fordert
heraus17. Die hohe Komplexität der sozialen Situation wird deutlich, neue
Deutungen und bestenfalls Handlungsansätze werden sichtbar. Supervision
erfordert von den Supervisanden eine Haltung, sich 'aus der Reserve locken zu
lassen' und gewohnte Perspektiven zu verlassen. Entstehender Wut, die in der
Alltagspraxis zum Abbruch der Beziehung führen kann, wird in der professionellen
Supervision-Situation Achtung, Wertschätzung, Empathie und liebevolle
Anerkennung entgegen gebracht (vgl. Krönchen 2012; Reich 2005, S. 254; Kleve
2003, S. 141ff.).
Ähnlich wie in den vorigen Beispielen ermöglicht die Anwesenheit des Supervisors
und seiner Anregungen eine multiperspektivische Sicht. Kategorienbildung und
Stereotypen kann damit vorgebeugt werden oder sie werden transparent gemacht.
Immer wieder kann das Problem in seiner Komplexität ins Blickfeld geholt werden.
Die wechselnde Bewegung zwischen Komplexitätserweiterung und -reduzierung ist
klar erkennbar. Dadurch können Machtstrukturen individueller und institutioneller
Art bewusst werden. Eine professionelle Supervision stellt hohe Ansprüche an den
Supervisor.
17 Eine Ähnlichkeit zur 'Hebammenfunktion' des Sokrates wird deutlich (vgl. Kap 4.2)!
62
Supervision sollte in den meisten sozialarbeiterischen Kontexten die
Arbeitsgrundlage für Reflexion sein. Die Initiative zur Nutzung der Supervision
erfordert aber ihrerseits bereits eine reflektierte Haltung zur Tätigkeit und zu sich
selbst. Vermutlich wird diese effektive Unterstützung der Reflexion deshalb noch
zu selten genutzt.
4.5.6 Selbstevaluation
Die Selbstevaluation oder auch Selbstsupervision ist der Prozess selbstreferentieller
Beobachtung 2. Ordnung. Das heißt die Untersuchung der eigenen Befindlichkeit,
des eigenen Standpunktes, der subjektiven Wahrnehmung. Für ein professionelles
Handeln als Sozialarbeiter ist es wichtig, die eigenen emotionalen und kognitiven
Deutungs- und Verhaltensmuster zu erforschen. Nur bekannte Muster können in der
Alltagspraxis identifiziert und kommuniziert werden oder durch Alternativen ersetzt
werden. Darüber hinaus steht die eigene Selbstwirksamkeit, die 'Wirtschaftlichkeit'
und 'Verträglichkeit' des eigenen Einsatzes unter Selbstbeobachtung.
Kleve (2003, S. 160ff.) stellt einen Fragenkatalog von Pfeiffer-Schaupp vor, der
durch zirkuläre Fragen eine Außenperspektive ermöglichen soll. Er ist darauf
ausgerichtet, „neue oder bisher ungewohnte sowie verlorengegangene Sichtweisen
und Perspektiven zu verdeutlichen“ (ebd., S. 163). Dieser Bogen soll auch eine
Vorbereitung für Supervision oder Fallberatungen ermöglichen (vgl. ebd., S. 159ff.;
Spiegel 2004, S. 132ff.).
Fraglich ist, inwieweit die Selbstevaluation über die, in dieser Studie postulierte
Selbstreflexion des Sozialarbeiters hinaus geht. Ebenso bleibt unklar, wie
tiefgehend die individuelle Selbstbetrachtung ohne professionellen Begleiter
möglich ist und woher die Maßstäbe der Evaluation hinsichtlich des eigenen
Verhaltens, der Verantwortung, der eigenen Einstellungen etc. kommen. Bedeutung
hat diese Methode eher als vorbereitende oder begleitende Übung im Rahmen einer
angeleiteten Reflexionsform.
63
4.5.7 Kollegiale Beratung bzw. Intervision18
Spiegel (2004, S. 162) erläutert in einem ersten Schritt eine Arbeitshilfe
„Situationsanalyse“, um multiperspektivische Ansatzpunkte für eine
Problemlösung zu finden. Wichtig ist ihr „die Komplexität und damit die
Deutungsvielfalt zu erhöhen, um dann eine begründete Komplexitätsreduktion
vornehmen zu können“ (ebd.). Die Wahrnehmung, Motive und Deutungen aller
Beteiligten, die subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen, werden ausgetauscht und
schematisch in einer Matrix festgehalten. Die Deutung jeder einzelnen Sichtweise
anhand wissenschaftlicher Theorien und Alltagstheorien durch Fachkräfte führt in
diesem Schema zur Hypothesenbildung. Der ganze Prozess soll im Dialog ggf. mit
den Betroffenen stattfinden (vgl. Ebert 2008, S. 140ff.).
Diese Hypothesen können Ausgangspunkt für eine kollegiale Beratung sein (vgl.
Tietze 2010).
Eine kollegiale Beratung ist ein strukturierter Austausch unter zumindest im
Beratungsprozess hierarchisch gleichrangigen Sozialarbeitern. Sie ist kostengünstig
und zeitökonomisch, da die selbstangeleiteten Gruppen bei Bedarf vor Ort
zusammen kommen können. Die Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten wird
gestärkt und damit einer schleichenden Entprofessionalisierung entgegen gewirkt.
Im Gegenteil werden insbesondere kommunikative Fähigkeiten und der
Perspektivenwechsel geübt.
Üblich ist eine Rollenverteilung: Es gibt einen Falleingeber, der den Fall aus seiner
Sicht schildert und einen konkreten Auftrag oder eine Frage an das Beraterteam
gibt. Der Moderator achtet auf den strukturierten Ablauf, die Zeiteingrenzung und
einen respektvollen, lösungsorientierten Umgang. Bei Bedarf wird ein Protokoll
geführt. Die anderen Teilnehmer folgen dem Schema, das unbedingt eingehalten
werden sollte:
1. Zuhören, während der Falleingeber den Fall ggf. auch mit Methoden, z.B.: einem
Genogramm, Soziogramm, Zeitstrahl etc. vorstellt.
2. Nachfragen, ohne Hypothesen aufzustellen, der Falleingeber beantwortet alle
18 Der Begriff 'Intervision' ist in der Betriebswirtschaft verbreitet (vgl. Lippmann 2013).
64
Verständnis- und Informationsfragen und formuliert am Ende seine Schlüsselfrage.
3. Ursachen analysieren und Hypothesen bilden, während der Falleingeber zuhört,
dafür können Methoden, wie z.B. Skulpturen, Metaphern etc., genutzt werden.
4. Lösungsvorschläge machen, auf die der Falleingeber anschließend in einem
Statement eingeht und mitteilt, was für ihn hilfreich war.
Die Kollegiale Beratung eignet sich besonders gut für Fallbesprechungen, da sie
situativ einsetzbar ist und kein hoher Aufwand an Zeit oder Kosten nötig ist. Sie
bietet durch die multiperspektivische Problemanalyse eine effektive Möglichkeit,
um zu neuen Sichtweisen zu kommen. Bei der Hypothesenbildung, insbesondere
unter Einsatz zusätzlicher Methoden, können vielfältige Beziehungen bewusst
werden. Auch Machtstrukturen im Kontext des Falls können aufgezeigt werden. Oft
ist es wichtig auch die Beziehung des Falleingebers zum Klienten und seinem
System zu hinterfragen.
Diese Methode ist weit verbreitet und wird inzwischen sogar von vielen
Unternehmen im Rahmen der lernenden Organisation und organisationalen Lernens
zur Personalentwicklung eingesetzt (vgl. Lippmann 2013).
4.5.8 Dialogische Introspektion in der Gruppe
Introspektion, gemeint als Selbsterforschung und Selbstbeobachtung, war ein
frühes Verfahren der Psychologie des beginnenden 19. Jahrhunderts. Erst in den
letzten 15 Jahren beginnen die Sozialwissenschaften dieser ursprünglichen Form
der Selbsterforschung wieder Beachtung zu schenken. Das Verfahren, das primär
für Forschungszwecke eingesetzt wird, hat die Wahrnehmung des individuellen
Erlebens zum Ziel. Das innere Erleben in einem bestimmten Kontext oder Ereignis
wird in einer Gruppe gegenseitig zur Verfügung gestellt, ohne gegenseitige
Wertung. Nach einer ersten Runde des Austauschs erfolgt eine zweite Runde, in der
angeregt durch die erste Runde ein innerer Dialog neue Erkenntnisse bringt. Die
vielseitigen Perspektiven durch die Gruppenteilnehmer erschließen das beobachtete
Ereignis in verschiedenen Dimensionen (vgl. Kleining 2010).
Die bisher dargestellten Methoden sind weitgehend sachlich orientiert. Dieses
Verfahren schenkt dagegen dem (emotionalen) Erleben mehr Aufmerksamkeit. Im
65
Rahmen der vorliegenden Studie kann dieses Thema leider nicht weiter bearbeitet
werden. Es soll der Hinweis genügen, dass zum Beispiel das Thema 'Angst'
weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen hat und auch einen besonderen
Machtfaktor darstellt. Wer Angst äußert, besitzt allein aufgrund der Äußerung
Macht. Gruppen aus Ängstlichen können ein machtvolles System bilden.
Andererseits kann Angst auch ohnmächtig machen (vgl. Selk & Malowitz 2015).
Indem die Erlebnisse im Rahmen der Dialogischen Introspektion zur Verfügung
gestellt werden, kann sich der Komplexität der sozialen Situation genähert werden.
Es bildet sich quasi ein Zusammenschnitt der individuellen Konstruktionen der
wahrgenommenen Wirklichkeit. Vermutlich spielen aber beim inneren Erleben
individuelle Erfahrungen und Kategorien eine große Bedeutung. Dieses müssten
durch Reflexion möglichst auch offengelegt werden.
4.5.9 Das Tetralemma
Kleve (2009, S. 105ff.) beschreibt eine Methode, die in den verschiedenen bisher
besprochenen Reflexionsformen angewendet werden kann. Ziel ist die
Komplexitätserweiterung. Oft muss der Sozialarbeiter zwischen zwei
verschiedenen Handlungsmöglichkeiten entscheiden, z.B. intervenieren oder nicht
intervenieren. Das Tetralemma besagt dagegen, es gibt mehr Möglichkeiten als nur
die duale Unterscheidung, nämlich vier Optionen:
1. Das Eine
2. Das Andere
3. Beides (z.B. verborgene Gemeinsamkeiten und Verbindungen)
4. Keines (ausgeblendete Kontexte der Ambivalenz)
Das Tetralemma veranschaulicht ein Ziel der Reflexion: Es gibt oft mehr
Möglichkeiten, als uns durch unser dualgeprägtes Denken bewusst ist. Systematisch
wird das Tetralemma eingesetzt, indem eine nach der anderen Option reflektiert
wird. Welche Folgen hätte eine Entscheidung, welche Gefühle weckt die
Entscheidung? Die dritte Option lässt Fragen nach möglichen Scheingegensätzen
und paradoxen Verbindungen, nach Gemeinsamkeiten auf anderen
Betrachtungsebenen zu. Die vierte Option führt zu den Fragen nach übersehenen
66
Kontexten und bezieht die zeitliche und örtliche Dimension mit ein (vgl. Kap. 2.1):
In welchen Situationen taucht der Gegensatz auf, wann würde er keine Rolle mehr
spielen? Was ist außerhalb des Gegensatzes wichtig?
Theoretisch gibt es nach eine fünfte Option:
5. Die Negation aller Positionen und auch die Negation der Position, dass es diese
Position gibt (etwas ganz Anderes außerhalb dieser Ambivalenz)
Hierbei werden alle bisherigen Positionen verneint: 'All dies nicht- und selbst das
nicht!' Wurden bisher Aspekte, Möglichkeiten, Alternativen ausgeblendet, gibt es
noch eine ganz andere Lösung?
Das 'Durchwandern' der Tetralemma- Positionen führt zu einer Erhöhung der
Komplexität der Situation. Gewissheiten werden dekonstruiert, Vorselektionen und
Verallgemeinerungen werden durch die Reflexion der 'erweiterten' Situation wieder
aufgehoben. Das Tetralemma sprengt unsere Gewohnheit des dualen Denkens und
ist dadurch eine gute Übungsmethode für Sozialarbeiter. Diese Denkweise könnte
zu einer Haltung 'Es gibt mehr Lösungen als gedacht' führen. Jede Position des
Tetralemmas lädt ein, anhand von Theorien die Situation zu beleuchten und erstellte
Hypothesen an der Praxis zu prüfen.
4.5.10 Problem-Lösungs-Zirkel
Eine dem Tetralemma verwandte Methode beschreibt Kannicht (2012) mit dem
Problem-Lösungs-Zirkel. Er ist besonders geeignet, wenn der Sozialarbeiter, durch
die großen Probleme des Klienten oder dessen Hilflosigkeit beeindruckt, selbst in
das Gefühl der Ausweglosigkeit kommt. Es setzt bei der möglichen Ambivalenz des
Klienten (und Beraters) an, dass es auch gute Gründe gibt, die an der Lösung des
Problems hindern. Wiederum geht es um Komplexitätssteigerung und
Perspektivenwechsel.
In Form eines Diagramms mit zwei sich schneidenden Koordinaten können vier
Quadranten dargestellt werden. Die x-Achse beschreibt die Dimension
Vorteil/Nachteil, die y-Achse die Dimension Problem/Lösung. Es ergeben sich vier
Felder. Beachtung finden regelmäßig die Felder Nachteile des Problems und
Vorteile der Lösung.
67
Einen Perspektivenwechsel ermöglichen die Felder Nachteile der Lösung und
Vorteile des Problems:
Die erste Perspektive untersucht Risiken und Nebenwirkungen der Problemlösung.
Welche Anstrengungen sind dafür nötig, welche Herausforderungen sprechen für
das Zögern des Klienten. „Dem Zögern des Klienten, sich in einen
Veränderungsprozess zu begeben, wird somit eine weise innere Stimme unterstellt,
die ihn bereits leitete, auf die er bislang allerdings nur wenig gehört hatte“ (ebd., S.
316).
Blickt man auf die Vorteile des Problems, könnte man gute Gründe für die bisherige
Nichtveränderung finden. Gibt es Dinge, von denen sich der Klient in der
Veränderung verabschieden muss, entstehen Folgeprobleme?
Die Anwendung des Problem-Löse-Zirkels könnte eine neue Zielsetzung, eine neue
Zeitplanung oder auch den Verzicht auf die Problemlösung zur Folge haben. Es
könnten sich auch weitere bedeutendere, bisher nicht thematisierte Probleme zeigen
(vgl. ebd.).
Ähnlich wie bei der Methode 'Tetralemma' werden ungewohnte Perspektiven
eingenommen. Im Zusammenhang mit einer theoriegeleiteten Reflexion der
Positionen können bislang unbewusste Strukturen in der sozialen Situation erkannt
werden. Einmal mehr ist zu betonen, dass eventuelle Lösungsideen in der sozialen
Situation gemeinsam mit dem Klienten geprüft werden müssen.
Beide Methoden, das Tetralemma und der Problem-Lösungs-Zirkel, illustrieren die
Haltung des Sozialarbeiters hinsichtlich der Skepsis bezüglich vermeintlich
schneller oder einfacher Lösungen. Die Komplexität der sozialen Situation und
deren 'Nichterkennbarkeit' erfordert das Hinterfragen bzw. Reflektieren von
Hypothesen und Lösungsmöglichkeiten.
68
„Eine Praxis Sozialer Arbeit, die sich nach wie vor- und nicht zuletzt durch den neuenÖkonomisierungsdruck innerhalb der sozialen Organisationen - unter ständigem
Begründungszwang und somit mit der Forderung nach mehr Transparenz nach außen konfrontiertsieht, wäre mittels systemtheoretisch angelegter Theorien und Konzepte in der Lage, ihr Könnenunter Beobachtung zu stellen und diesen Forderungen wissenschaftlich fundiert und adäquat zu
begegnen, indem sie ihrem eigenen, professionellen Anspruch auch nach außen hin Rechnung trägt“(Nörenberg 2007, S. 114).
5 Resümee
Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch über das Reflektieren des
Sozialarbeiters zu reflektieren. Sie ist insofern eine Reflexion der Reflexion, ein
Beobachten des Beobachtens. Zudem wird im dritten Kapitel der Reflexion
beispielhaft das Thema Macht und Machtbeziehungen zum Reflexionsobjekt
erhoben. Es wird deutlich, dass reflexives Denken eine Grundhaltung des
Sozialarbeiters ist. Die Betrachtungen zu Wahrheit, Wissen und Macht tangieren
vielfältige Aspekte der Philosophie, insbesondere der Ethik. Reflexion scheint eine
Grundform des menschlichen Seins zu sein, eine philosophische Einstellung zur
Welt im Ganzen. Wie bereits in der Hinführung angedeutet, ist dieses
Schreibprojekt deshalb eher als ein Anstoß oder eine Anregung gedacht, denn eine
Abhandlung, die den Anspruch auf Vollständigkeit hat.
Dennoch ergeben sich aus der Reflexion einige Erträge, die kurz
zusammengetragen werden sollen.
Reflexion wird im Rahmen der vorliegenden Studie als Selbstbeobachtung und
Fremdbeobachtung anhand wissenschaftlicher Theorien definiert. Ausgangspunkt
ist die Beobachtung, die zur Konstruktion eines subjektiven Wissens führt. Diese
Beobachtung und die mit ihr verbundene Interpretation reduzieren Komplexität im
Vergleich zur tatsächlichen sozialen Situation. Die subjektive Wahrnehmung ist
geprägt von den Vorerfahrungen, der Kultur, dem eigenen Sprachvermögen usw.
Die Anwendung der theoretischen Kenntnisse auf die soziale Situation ist der
zweite Schritt der Reflexion und erfordert die Erhöhung der Komplexität, nämlich
die sogenannte systemische bzw. multiperspektivische Sicht. „Nur wenn wir […]
die Komplexitätssteigerung vielfältig betreiben, werden wir beziehungsorientiert
und inhaltlich weitsichtig genug pädagogisch arbeiten können“ (Reich 2005, S.
195). Praktisch äußert sich das in einem Umdenken von „Gewissheit auf
69
Unsicherheit, von Eindeutigkeit auf Ambivalenzen und von Wissen auf
Nichtwissen“ (Nörenberg 2007, S. 121).
Ein Ertrag aus der Systemtheorie Luhmanns ist für den reflektierenden Praktiker
das Beobachten und Handeln im Bewusstsein, Unterscheidungen zu treffen und die
Erkenntnis von der Handlung unterscheiden zu können. Dieses Wissen ermöglicht
ihm, angemessen zu handeln: In dem Moment, in dem der Sozialarbeiter die Welt
als seine Konstruktion erkennt, muss er dies auch seinem Gegenüber zubilligen.
Seine Aussagen sind nicht wahrer, als die des Klienten. Er ist
(eigen-)verantwortlich für sein Handeln, genauso wie der Klient, dem dies auch
zugestanden wird. Die Haltung des Nichtwissens führt zu Toleranz und bestenfalls
zu echtem Interesse an der Wirklichkeit des Anderen.
Theoriegeleitete Reflexion ermöglicht den kritischen Blick auf die Strukturen der
Macht, denen der Sozialarbeiter unterliegt und an denen er Anteil hat. Der
systemtheoretische Ansatz bietet gute Erklärungen für das Entstehen von Macht:
Ein wesentlicher Machtfaktor ist die Fähigkeit zur Komplexitätsreduzierung und
-verarbeitung seitens des Machthabers. Mangels der Fähigkeit, den Sinn dieser
vorselektierten Informationen prüfen zu können, muss der Machtunterlegene die
Informationen übernehmen. In der Rolle des ‚mächtigen‘ Professionellen sollte der
Sozialarbeiter kritisch mit seinem Wissen umgehen und seine Annahmen und
Hypothesen an der komplexen sozialen Situation überprüfen. Außerdem ermöglicht
ihm diese Erkenntnis, seinen Standort in der Gesellschaft und im System 'Sozialer
Arbeit' mit seinen Institutionen zu reflektieren.
Eine typische Frucht der Reflexion könnte 'Empowerment' sein, im Sinne des
Arrangierens eines „Ermöglichungsverhältnisses“ und von
„Zurechnungsprozessen“ (Wirth 2014, S. 533). Indem die Perspektive und der Sinn
des Klienten Bedeutung erlangt, können sich für den Klienten, aber auch den
Sozialarbeiter, Räume für die persönliche Entwicklung öffnen. Die Haltung des
Empowerment erfordert in besonderer Weise die Reflexion der Macht.
Die Haltung ist bedeutsamer als die Anwendung der Methoden. Die in der
vorliegenden Arbeit dargestellten Methoden spiegeln die Haltung wieder. Im
Arbeitsalltag wird es oft nicht möglich sein, die teilweise komplexen Methoden
70
durchzuführen. Dennoch ist die dargestellte reflexive Haltung erforderlich. Die
Trennung von Theorie und Praxis führt leider oft dazu, Empowerment nur als
Methode statt als reflektierte Haltung anzuwenden. Der erfahrene Praktiker meint
zu wissen, was moralisch gut ist und was der Mensch braucht. Aber nur die
Gesamtsicht auf die Unterscheidung von Theorie und Praxis, von Wissen und
Können lässt Rückschlüsse auf die komplexe soziale Situation zu. Die immer
wieder durchgeführte Standortreflexion ist deshalb Voraussetzung für
professionelles Handeln.
Diese Studie fokussiert auf die systemisch-konstruktivistische Theorie und die
theoretischen Ansätze von Luhmann und Foucault. Insbesondere die Systemtheorie
betont die Multiperspektivität. Deshalb sind für den reflektierenden Beobachter die
Einbeziehung verschiedener theoretischer Ansätze und die Abwägung bzw.
Verknüpfung verschiedener Theorien, die unterschiedliche Aspekte und Merkmale
betonen, wichtig. Kleve (2003, S. 84) betont, dass der Konstruktivismus auch
„einen mystisch-magischen Erkenntnisweg neben vielen weiteren Formen der
Erkenntnisgewinnung“ ermöglicht. Das Bildungssystem hat in diesem
Zusammenhang die Verantwortung, Studenten mit der Vielfalt der Theorieansätze
vertraut zu machen. Die Systemtheorie und ihre aktualisierten Anschlüsse sollten
dabei als funktionales Werkzeug und „Reflexionsrahmen“ eine
„reflexionstheoretische Grundlage“ (Lambers 2010, S. 19) sein. Wünschenswert
wäre ein genuines Interesse an der Theorie selbst, nicht nur an den Problemen, die
sie lösen kann.
Welche Fragen bleiben unbeantwortet?
Die obigen Ausführungen sind stark kognitiv ausgerichtet. Der Sozialarbeiter nutzt
darüber hinaus immer auch seine Emotionen und ist den Emotionen der Klienten
ausgesetzt. Beispielsweise spielt 'Angst' im Zusammenhang mit Zuschreibung von
Macht, Komplexität und Orientierungsverlust eine bedeutende Rolle (vgl. Kraus
2002, S. 188; Selk & Malowitz 2015). „Angstkommunikation“ (Selk & Malowitz
2015, S. 93) ist ein starkes Machtmittel. Deshalb ist auch eine emotionale
Standortreflexion notwendig (vgl. Kap. 4.5.8).
In komplexen Situationen wird oft nicht reflexiv sondern aufgrund des sogenannten
71
‚Bauchgefühls‘ entschieden und gehandelt (vgl. Gloy 2014, S. 25ff.). Offenbar
gelingt mit diesem physiologisch-emotionalen Faktor eine holistische Erfassung der
Komplexität. Es scheint lohnend dieses Phänomen der Intuition bzw. des Instinktes
in Verbindung mit Reflexion zu untersuchen.
Offen bleibt in dieser Studie die Frage der Legitimität von Widerstand gegen
Macht. Die Legitimation von Ungleichheitskonstellationen scheint ein bedeutendes
Machtinstrument zu sein (vgl. Schneider & Kraus 2014). Wann die Ausübung von
Macht gerechtfertigt ist, ist eine ethische Frage, für die keine einfach zu
begründenden Maßstäbe zur Verfügung stehen. Fall für Fall ist eine persönliche
Entscheidung zu treffen und zu verantworten.
Verantwortung resultiert aus einer Haltung, die Haltung entsteht in der Reflexion,
die in dieser Weise die Persönlichkeit des Sozialarbeiters prägt. Sozialarbeiter
sollten, wie Foucault, Grenzen abgesteckter Felder überschreiten, nicht dem
'Mainstream' folgen, sondern eher autonom und souverän den eigenen
Vorstellungen und Werten folgen. Abschließend möchte ich mich mit reflexivem
Blick auf mich, aber auch auf meine Kollegen in der Sozialen Arbeit, den Worten
von Heiko Kleve (2013) anschließen:
Wer anfängt, sich mit dem Konstruktivismus zu befassen, der verliert den Boden unterden Füßen, gewinnt aber zugleich etwas, das ihn ethisch und moralisch reflektiert durch die Welt trägt: die uneingeschränkte Verantwortung für das eigene Tun.
72
6 Literatur
Arendt, H.: Macht und Gewalt. Piper, München, 2011 (20. Auflage)
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Zweite Auflage, der neuen Übersetzung ersteAuflage. Übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungenversehen von Dr. theol. E. Rolfes. Verlag von Felix Meiner, Leipzig, 1911,verfügbar unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/ nikomachische-ethik-2361/1 (Abruf 7.4.2015)
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Ehrenwörtliche Erklärung
Ich erkläre hiermit ehrenwörtlich, dass ich
1. die vorliegende Bachelorarbeit mit dem Thema:
Reflexion des Sozialarbeiters anhand der Machttheorien von Luhmann und Foucault
ohne fremde Hilfe angefertigt habe.
2. die Übernahme wörtlicher Zitate aus der Literatur sowie die Verwendung der
Gedanken anderer Autoren an den entsprechenden Stellen innerhalb der Arbeit
gekennzeichnet habe und
3. meine Bachelorarbeit bei keiner anderen Prüfung vorgelegt haben.
Mir ist bewusst, dass eine falsche Erklärung rechtliche Folgen haben wird.
Gera, 05.08.2015
Ort, Datum Unterschrift
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