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Date post: 06-Mar-2018
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Reflexion des Sozialarbeiters anhand der Machttheorien von Luhmann und Foucault Otmar Iser veröffentlicht unter den socialnet Materialien Publikationsdatum: 15.08.2016 URL: http://www.socialnet.de/materialien/27637.php
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Reflexion des Sozialarbeiters anhand der Machttheorien von Luhmann und Foucault

Otmar Iser

veröffentlicht unter den socialnet MaterialienPublikationsdatum: 15.08.2016URL: http://www.socialnet.de/materialien/27637.php

Reflexion des Sozialarbeiters anhand der Machttheorien von Luhmann und Foucault

Bachelorarbeit

Vorgelegt am: 05.08.2015

Studiengang: Soziale Arbeit

Studienrichtung: Rehabilitation

Kurs: RH 12

Von: Otmar IserHermann-Löns-Str. 10107745 Jena

Matrikelnummer: G120031RH

Ausbildungsstätte: Bodelschwingh-Hof Mechterstädt e.V.Gleicher Weg 1-1099880 Mechterstädt

Gutachter der Arbeit: Prof. Dr. Thomas KurtzStaatliche Studienakademie ThüringenBerufsakademie Gera

Inhalt

1 Hinführung.........................................................................................................................1

2 Klärung des Standpunktes und der Standortverbundenheit...............................................5

2.1 Standortanalyse I: Was weiß ich?...............................................................................6

2.1.1 Reflexion von Unterscheidungen........................................................................7

2.1.2 'Unmarked Space' oder Einheit der Weltsicht.....................................................8

2.2 Standortanalyse II: Wie entscheide ich mich?............................................................9

2.3 Standortanalyse III: Wie führe ich mich?.................................................................11

3 Das Spiel der Macht.........................................................................................................13

3.1 Luhmann und die systemische Sicht........................................................................16

3.1.1 Komplexitätsreduzierung durch Selektion und Generalisierung......................16

3.1.2 Institutionalisierung..........................................................................................18

3.1.3 Die Grenzen der Macht.....................................................................................20

3.1.4 Die Unmöglichkeit der Inklusion......................................................................20

3.2 Foucault und die Genealogie der Macht...................................................................23

3.2.1 Erkenntnis und Wahrheit...................................................................................24

3.2.2 Subjektivierung.................................................................................................25

3.2.3 Exkurs: Bewertung von Macht.........................................................................28

3.2.4 Die Realität der Exklusion................................................................................31

3.2.5 Widerstand........................................................................................................32

3.3 Zwischenresümee.....................................................................................................34

3.4 Praxisrelevanz der Reflexionen zur Macht...............................................................36

3.4.1 Selbst-Ermächtigung - Empowerment..............................................................38

3.4.2 Selbsthilfegruppe..............................................................................................40

3.4.3 Partizipative Prozesse.......................................................................................42

3.4.4 Biografiearbeit..................................................................................................43

3.4.5 Die SIVUS- Methode........................................................................................44

4 Reflexion in der Praxis.....................................................................................................45

4.1 Haltung des Sozialarbeiters......................................................................................46

4.2 Haltung des Nichtwissens und Verstehen-Wollens...................................................48

4.3 Wissen und Können..................................................................................................51

4.4 Exkurs: Reflexion des 'Intellektuellen' nach Mannheim..........................................53

4.5 Methodengeleitete Reflexion....................................................................................54

4.5.1 Praxisbeispiel: Diagnostik................................................................................55

4.5.2 Multiperspektivische Fallarbeit........................................................................56

4.5.3 Fallrekonstruktion.............................................................................................58

4.5.4 Transformatorischer Dreischritt........................................................................60

4.5.5 Supervision.......................................................................................................61

4.5.6 Selbstevaluation................................................................................................63

4.5.7 Kollegiale Beratung bzw. Intervision...............................................................64

4.5.8 Dialogische Introspektion in der Gruppe..........................................................65

4.5.9 Das Tetralemma................................................................................................66

4.5.10 Problem-Lösungs-Zirkel.................................................................................67

5 Resümee...........................................................................................................................69

6 Literatur............................................................................................................................73

Ehrenwörtliche Erklärung

II

Summary

Reflexion bedeutet Beobachten. Beobachten kann man die Umwelt oder sich selbst.

Beobachten bedeutet Wahrnehmen und Konstruieren von subjektiv wahrgenommener

Wirklichkeit. Dabei wird dem Beobachteten Sinn zugeschrieben. Dieser Prozess ist stets

selbstreferenziell, das heißt ohne Einfluss der Umwelt.

Sozialarbeiter haben die Aufgabe zu beobachten. Da die Wahrnehmung eine Konstruktion

ist, die nicht mit der Wirklichkeit und deren Komplexität übereinstimmt, ist die

Beobachtung der eigenen Beobachtung, die Reflexion der Reflexion ein Zeichen

professioneller Tätigkeit. Für die Bewertung der Selbstreflexion sind ethische Maßstäbe

nötig. Methoden der Reflexion werden in dieser Studie untersucht.

Die Verarbeitung von Komplexität und die Zuschreibung von Sinn ermöglichen Macht. Da

dies die Aufgaben des Sozialarbeiters sind, ist die Reflexion der Machtstrukturen sehr

wichtig. Ziel des Sozialarbeiters sollte die Ermächtigung der Klienten sein. Dafür ist nicht

nur die Reflexion nötig, sondern die Hinwendung zur Komplexität der sozialen Situation

und die Ermöglichung von Sinnzuschreibung durch die Klienten.

Der Prozess der Entstehung von Macht und die Konsequenzen für professionelle

Sozialarbeiter, als Beispiel für theoriegeleitete Reflexion, sind Teil des vorliegenden

Beitrags.

III

„Was braucht der Mensch“ (Feuser 2012)?

„Wenn ferner der Sehende wahrnimmt, daß er sieht, der Hörende, daß er hört, der Gehende, daß ergeht, und so im übrigen immer etwas ist, womit wir unsere Tätigkeit wahrnehmen, so daß wir also

wahrnehmen dürften, daß wir wahrnehmen, und denken, daß wir denken, was wieder so viel ist alsWahrnehmen oder Denken, daß wir sind“ (Aristoteles 1911, 1170a).

1 Hinführung

Reflektieren heißt für Sozialarbeiter1 zu fragen, warum handle ich so und nicht

anders, welche Werte leiten mich bei Entscheidungen, in welchen

Machtbeziehungen stehe ich, was prägt meine Beziehung zu anderen Menschen?

Reflektieren heißt aber auch, den Anderen verstehen zu wollen, seine Perspektive

auf die Welt und den Sinn seines Handelns erkennen zu wollen.

Ebert (2008, S. 10) postuliert die „Reflexion als Schlüsselkategorie für das

professionelle Handeln sowie für die Professionalisierung der Sozialen Arbeit“.

Spiegel (2004, S. 85) fordert von angehenden Fachkräften der Sozialen Arbeit „die

Reflexion der vorberuflichen Einstellungen und Wertestandards und ihre

Weiterqualifizierung zu einer wertgeleiteten, durch Profession definierten

'Beruflichen Haltung'“. Reflexion ist ein Merkmal für Professionalität und die

Entwicklung eines sozialarbeiterischen Habitus. Reflexion könnte auch helfen zu

erklären, warum professionelle Intervention „in nicht seltenen Fällen fehlschlägt“

(Kleve 2003, S. 44).

Wissenschaftliche Theorien bieten Erklärungsansätze für individuelle

Beobachtungen, sollten aber selbst reflexiv hinterfragt werden.

„Erkenntnistheoretische Reflexionen, zumal wenn sie konstruktivistischen

Zuschnitts sind, haben das Potential, PraktikerInnen auf viele bisher kaum bewusste

Grundannahmen hinzuweisen, welche die unmittelbare Arbeit keineswegs nur am

Rande tangieren“ (ebd., S. 19). Handlungssituationen können durch theoriegeleitete

Reflexion ganzheitlich erfasst werden, die Interaktion kann angemessen erfolgen.

Insofern bietet die Reflexion eine Verbindung zwischen Wissen und Können.

Reflexion ermöglicht den Schritt von intuitiver zu reflexiver Kommunikation und

Interaktion. Ebert (2008, S. 51) nennt vier Bezugspunkte reflexiver

Auseinandersetzung:

1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Form verwendet, selbstverständlich gelten die Personenbezeichnungen immer für beiderlei Geschlecht.

1

1. Der Einfluss von persönlichen Faktoren in der professionellen Beziehung2. Das Einnehmen einer multiperspektivischen Sicht und vernetzendes Denken und

Handeln3. Die Verortung in den Ethischen Standards der Sozialen Arbeit4. Die Auseinandersetzung mit Machtfaktoren

Die im vierten Punkt erwähnten Machtfaktoren durchdringen auch die anderen drei

Perspektiven. Dies gilt sowohl für den persönlichen Standpunkt, geprägt durch

kulturelle und biografische Einflüsse, wie auch für gesellschaftliche und ethische

Standards und ihre sozialpsychologischen Auswirkungen. Wie in gesellschaftlichen,

so auch in den persönlichen Systemen ist deshalb die Reflexion der

Machtstrukturen und das Bewusstsein für eigene Konstruktionen Voraussetzung für

ein verantwortliches professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit (vgl. Hanses

2007, S. 315ff.; Preis 2015).

Hier wird bereits deutlich, dass theoriegeleitete Reflexion stets

professionsübergreifend erfolgen sollte. Wichtige wissenschaftliche Anstöße

kommen unter anderen aus der Ethik, der Soziologie, der Sozialpsychologie, der

Entwicklungspsychologie und der Sozialpädagogik. Das Thema Macht ist in allen

Professionen relevant.

In der praktischen Tätigkeit der Sozialarbeiter fehlt aber oft das Bewusstsein für die

Notwendigkeit des Reflektierens, insbesondere für die Reflexion der

handlungsleitenden Maximen und der eigenen Verstrickung in Machtstrukturen. Es

mangelt oft an der Bereitschaft oder dem Vermögen zur Reflexion sowohl unter den

professionellen Helfern in der Sozialen Arbeit, wie auch in der Profession und den

Institutionen der Sozialen Arbeit. Mehrere aktuelle Untersuchungen

(Scholz/Schneider & Iser 2014; Müller/ Gerber & Markwalder 2014; Iser 2015b;

Lindner 2013; Knorre 2013) unterlegen diese Hypothesen und regten mich zu

dieser Thematik an.

Ein weiterer Impuls kommt aus der Praxis: Im Rahmen der Entwicklung der

Einrichtung, in der ich tätig bin, spielt die Haltung und Reflexion des Handelns der

Mitarbeiter eine wichtige Rolle. Wenn diese Arbeit professionellen Helfern einen

Anstoß zur Reflexion der Machtverhältnisse und der eigenen Betroffenheit geben

könnte, wäre ein Ziel dieser Arbeit erreicht.

Deshalb soll in dieser Studie untersucht werden, was Reflektieren für Sozialarbeiter

2

bedeutet. Am Beispiel der theoriegeleiteten Reflexion gesellschaftlicher

Machtbeziehungen soll gezeigt werden, wie ertragreich das Reflektieren für die

Haltung des Sozialarbeiters in seinem Alltag ist.

Nach Foucault (1987) konstituiert sich das Subjekt sowohl über Praktiken der

Machtunterwerfung, als auch Praktiken der Befreiung und Freiheit. Er beschreibt

im Rahmen seiner 'Genealogie'2 drei Richtungen, in denen befreiende

Selbstreflexion möglich ist:

Drei Gebiete von Genealogie sind möglich: Erstens eine historische Ontologie unsererselbst im Verhältnis zur Wahrheit, durch das wir uns als Subjekte des Wissenskonstituieren. Zweitens eine historische Ontologie unserer selbst im Verhältnis zueinem Machtfeld, durch das wir uns als Subjekte konstituieren, die auf andereeinwirken; drittens eine historische Ontologie im Verhältnis zur Ethik, durch das wiruns als moralisch Handelnde konstituieren (Foucault 1987, S. 275).

Um diese Perspektive einzunehmen, ist eine Selbstdistanzierung notwendig, eine

Selbstbetrachtung aus der Metaperspektive – die Reflexion.

Diese Studie ist gewissermaßen eine Reflexion meines eigenen Standpunktes als

Mensch, als Sozialarbeiter in der Behindertenhilfe, freilich auch als Gegenüber

meiner Klienten und als Teil des gesellschaftlichen Systems in Deutschland. Ich

beobachte mein Handeln, meine Einstellung und das System 'Soziale Arbeit'.

Selbstverständlich kann diese Reflexion keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder

Übertragbarkeit auf andere Individuen haben. Aber die Reflexion des eigenen

Standpunktes, die Betrachtung der Strukturen und Bedingungen unter denen ich

selbst und die Soziale Arbeit handeln, helfen mir Entscheidungen zu treffen und

Sinn in meinen Handlungen zu erfahren. Damit will ich Kollegen Mut machen, sich

auch bewusst auf den Weg der Selbstreflexion im Rahmen der eigenen Profession

und Theorie einzulassen (vgl. Kap. 2).

Basierend auf dieser ausführlichen Standortbestimmung im zweiten Kapitel wird

im dritten Kapitel exemplarisch gezeigt, was 'theoriegeleitet' bedeutet: Das Thema

'Macht' wird aus Sicht des Sozialarbeiters erörtert. Dabei werden zwei rote Fäden

die verschiedenen Perspektiven verbinden:

Einerseits die Frage nach den Macht- und Herrschaftsverhältnissen, in denen sich

Sozialarbeiter bewegen. Komplexitätsreduzierung und Komplexitätserweiterung im

2 Die metaphysische Suche nach den Ursprüngen und der Historie der Macht (vgl. Foucault 2009)

3

Rahmen der Beobachtung der sozialen Situation spielen dabei eine wesentliche

Rolle.

Andererseits die Suche nach dem Widerstand, der Gegenmacht und den Kosten der

Resistenz bezüglich einschränkender Macht bei professionellen Helfern und

Klienten. Wo finden sie ihren Entwicklungsraum und welche Rollen spielen dabei

die Sozialarbeiter?

Die Reflexionen gehen überwiegend von der Theorie aus. Philosophie, Soziologie

und Psychologie als wissenschaftliche Professionen bieten den Praktikern Theorien

als Projektionsfläche für ihre täglichen Erfahrungen. Im Rahmen dieser Studie

konzentriere ich mich auf die machttheoretischen Aussagen des Systemtheoretikers

Niklas Luhmann (Kap. 3.1) und des Philosophen Michel Foucault (Kap. 3.2). Nach

einem Zwischenresümee (Kap. 3.3) sollen sozialpädagogische Methoden auf ihre

Eignung hinsichtlich der Übertragung von Macht zu Gunsten marginalisierter

Individuen geprüft werden (Kap. 3.4). Ich setze in meinen Ausführungen die

Kenntnis grundlegender Fachbegriffe der Theorien dieser Autoren voraus. Ihre

Aussagen sind geprägt vom Perspektivismus und Konstruktivismus: Subjekte

weisen in Gegenwart, Geschichte und auch vorausplanend dem Wahrgenommenen

Bedeutung zu. Dabei wird Wirklichkeit erschaffen. 'Objektive' Erkenntnis ist immer

subjektiv, Objektivität existiert nicht. Welche Bedeutung zugewiesen wird, hängt

von den individuellen Erfahrungen, der Kultur, dem Wissen usw. der handelnden

Subjekte ab3.

Theorien erfordern und benötigen ihrerseits die praktische Erprobung. Deshalb

sollen, anschließend an das zweite Kapitel, im vierten Kapitel Möglichkeiten der

Reflexion in Alltagssituationen des Sozialarbeiters beispielhaft erläutert werden.

Neben einer Anzahl von Methoden (Kap. 4.5) wird insbesondere die notwendige

Haltung des Sozialarbeiters untersucht (Kap. 4.1-4.4).

Das Resümee fasst die Erträge dieser Studie zusammen.

3 Zur Kritik des Konstruktivismus bzw. Ansätzen für einen 'Postkonstruktivismus' vgl. Renn/ Ernst & Isenböck (2012)

4

„An die Realisten.- […] ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, sosei sie wirklich beschaffen: […] Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran 'wirklich'? Zieht

einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zutat ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr daskönntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschul vergessen könntet- eure gesamte

Menschheit und Tierheit! Es gibt für uns keine 'Wirklichkeit“ (Nietzsche 1990, S.75).

2 Klärung des Standpunktes und der Standortverbundenheit

Aus der Praxis kommend, bin ich mit dem Handeln der Sozialarbeiter, den

Institutionen und ihren Klienten in der Behindertenhilfe konfrontiert. Der

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist meine Alltagspraxis als

Sozialarbeiter. Von diesem Standpunkt beobachte ich mich selbst, mich als Teil der

gesellschaftlichen Praxis und das System 'Soziale Arbeit'. In diesem Sinne ist diese

Studie ein subjektiver Ausdruck meines Standpunktes. Ich offenbare meine

individuellen Deutungen meiner Beobachtungen (vgl. Kleve 2003, S. 70ff.).

Die Praxis erfordert die Reflexion und die Nutzung theoretischer Konstruktionen.

Die Reflexion der Wahrnehmung, des Handelns und der Hintergründe der

individuellen Werte und Sinnzuschreibung im Licht der Theorie formt die Haltung

und ist zugleich Teil einer professionellen Haltung (vgl. Kap. 4.1). Solche Haltung

ist eng verbunden mit der Berufsethik. Diese Art der Klärung des eigenen

Standpunktes bewahrt vor ideologischer Erstarrung. Im Gegenteil ist das Ziel sogar

die „Irritation […] unbrauchbarer Wirklichkeiten“ (Kleve 2003, S. 142). Mannheim

(1985) fordert eine Haltung, die den eigenen Standort skeptisch immerwährend in

Frage stellt und „Wahrheitsansprüche nur als vorübergehende Mittel im Diskurs

von Wirklichkeitsdeutungen zu handhaben“ (Jung 2007, S. 33). Das Bewusstsein,

dass ein unverrückbarer Standpunkt oder eine zweifelsfreie Gewissheit unvereinbar

mit der nötigen sozialen Distanz zur Wirklichkeit sind, führt zu einer gewissen

Fremdheit in der Welt, zu einer Haltung der „unentwegten Reflexion des Weltsinns“

(ebd., S. 63).

Die Fragestellungen, die sich mir beim Reflektieren des beobachteten Handelns

stellen, führen mich zur Theorie und der Frage nach dem, was dahinter steckt (vgl.

Luhmann 1993). Informationen aus Lehrveranstaltungen und dem

wissenschaftlichen Diskurs verknüpfen sich bei den folgenden Erläuterungen mit

Erfahrungen aus meinem Leben und der praktischen Arbeit in einer, sich auf

christlich-diakonische Werte gründenden, Einrichtung der Behindertenhilfe.

5

2.1 Standortanalyse I: Was weiß ich?

Eine Methode steht bei der Reflexion im Mittelpunkt: Das Hinterfragen des

Wissens. Wissen stellt einen Machtfaktor dar und kann den Blick auf Wesentliches

verstellen (vgl. Luhmann 1993, S. 247). Wissen entsteht überwiegend im Diskurs

und seine Ursprünge sind oft nicht überschaubar. In jedem Fall sind das Wissen und

die dem Wissen vorausgehende Wahrnehmung Konstruktionen, die Wirklichkeit

dagegen ist nicht wahrnehmbar. Für Mannheim ist die Wirklichkeit „prinzipiell

rätselhaft, gar numinös unbegründbar“ (Jung 2007, S. 63). Wissen beruht also nicht

auf der Wirklichkeit, sondern nur auf subjektiven Konstruktionen, die diskursiv

beeinflusst werden. Dabei spielt die Sprache die bedeutende Rolle. Wörter und

Begriffe sind das Medium, mit dem etwas von der Umwelt unterschieden werden

kann. Sprache ist kulturell tradiert, wird aber heute auch sehr durch die

Massenmedien geprägt.

Die Reflexionen dieser Arbeit erfolgen im Bewusstsein, Teil des Systems zu sein, in

dem das Wissen generiert wird, und in der Verantwortung, das Wissen dem System,

in diesem Falle den Kollegen und Lesern, zurück zu geben bzw. in einen Diskurs

darüber einzutreten. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Reflexion ist abhängig

von den Vorerfahrungen. Früher gewonnene Erkenntnisse und Erlebnisse

bestimmen den Rahmen der Möglichkeiten. Luhmann (1997, S. 94) verweist darauf

in seinen Erläuterungen der Konstruktion von Information:

Alle Operationen (Kommunikationen) haben mithin eine Doppelfunktion: Sie legen(1) den historischen Zustand des Systems fest, von dem dieses System bei dennächsten Operationen auszugehen hat. Sie determinieren das System als jeweils sound nicht anders gegeben. Und sie bilden (2) Strukturen als Selektionsschemata, dieein Wiedererkennen und Wiederholen ermöglichen.

Luhmann spricht von Anschlussfähigkeit, Bourdieu spricht von strukturierten

Strukturen, die Sozialpsychologie von 'Scripten', die Hirnforschung von

'Engrammen'... Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass wir Wissen aufgrund

zurückliegender Erfahrungen konstruieren.

Wissen soll im folgenden als Bewusstseinsinhalt und Bedeutungszuweisung

verstanden werden, mit denen Systeme aufgrund von Informationen und in ihren

historischen und sozialen Kontexten und diskursiven Zusammenhängen

Unterscheidungen treffen bzw. Wirklichkeit deuten und gestalten. Das System

6

unterscheidet zunächst zwischen Wissen und Nichtwissen, realisiert dabei aber das

Nichtwissen nicht (vgl. Nörenberg 2007, S. 98ff.).

2.1.1 Reflexion von Unterscheidungen

Unterscheidungen werden immerwährend getroffen: „Information ist also ein

zutiefst ambivalenter Sachverhalt. Sie enthält gewissermaßen ihren eigenen

Gegenbegriff. Sie reproduziert, und dies von Moment zu Moment immer neu,

Wissen und Nichtwissen“ (Luhmann 19997, S. 1092).

Der Vorgang der Unterscheidungen in Systemen kann vom selben System im

Moment der Selektion nicht beobachtet werden. Im Moment der Unterscheidung ist

das Selektierte im Blick, das Ausgeschlossene nicht. Anders gesagt kann „sich eine

Beobachtung im Moment des Vollzug nicht selbst beobachten“ (Nörenberg 2007, S.

85). Dieses Nichtwissen kann aber nachträglich in den Blick genommen bzw.

reflektiert werden. Reflexion bedeutet nach Luhmann die unterschiedenen Seiten

wieder im Ganzen, in der Einheit zu sehen (vgl. Kap. 2.1.2). Das ist im Nachhinein

in Form eines „Wiedereintritts der Unterscheidung in den durch sie unterschiedenen

Bereich“ (Nörenberg 2007, S. 85) möglich. Aber auch dieser Vorgang beruht wieder

auf einer Unterscheidung. Das führt zu einer paradoxen Situation und der

Erkenntnis, dass eine umfängliche Erkenntnis der Situation unmöglich ist.

Die Konstruktion von Wissen bedeutet deshalb auch, falls es wahre Aussagen gibt,

dann immer nur relativ zum eigenen Standort, z.B. historisch, kulturell,

gesellschaftlich – relational. Es gibt keine absolute, vom Standpunkt losgelöste

Wahrheit. Da jedes System anders disponiert ist, werden Informationen different

bewertet. Folglich konstruiert und kommuniziert jedes System eigene Wahrheiten,

seine eigene Wirklichkeit.

Und selbst die Feststellung des eigenen Standpunktes ist bedingt. Mannheim spricht

vom Zustand der 'doppelten Unbekanntheit': Sowohl die Wahrnehmung der Welt,

als auch unsere eigene Wahrnehmung ist ein Konstrukt. „Eine vom Standort des

Erkennenden abgelöste Wahrheit zerstört“ (Gadamer 1990, S. 40). Luhmann (1997,

S. 1061) weist darauf hin, dass „ein Beobachter (und auch ein Selbstbeobachter)

nicht sehen kann, was er nicht sehen kann, und zwar vor allem sich selber nicht.

7

Die Einheit der Gesellschaft wird in der Selbstbeobachtung zur Paradoxie des

Beobachters“.

Der permanente Unterscheidungsprozess zwischen Wahrnehmung und

Nichtwahrnehmung, Information und Nichtinformation erfolgt immer wieder neu:

Unsere Analysen legen die Annahme nahe, daß die moderne Gesellschaft mit dieserTechnik des Beobachtens des Nichtbeobachtenkönnens das Paradox des Beobachtersals des ausgeschlossenen Dritten nachvollzieht. […] Der Beobachter ist dasUnbeobachtbare. Das führt jedoch nicht in die Verzweiflung. Im autopoietischenSystem gibt es keinen Abschluß, weder Anfang noch Ende. Jedes Ende ist ein Anfang.[…] Und wenn dies geschieht und wenn solche Beobachtungsoperationen immerwieder auf ihre eigenen Resultate angewandt werden, könnte es sein, daß das imErgebnis zu stabilen 'Eigenwerten' führt, das heißt zu einer Semantik, die dies aushältund deshalb bevorzugt wird (ebd., S. 1081f.)

So gesehen, geschieht auch in dieser Studie ein Zirkelschluss. Meine Reflexion

über die Reflexion ist geprägt durch meine individuellen Erfahrungen und

Wahrnehmung. Die (unbewusste) Unterscheidung, was für mich wichtig ist, wie

und warum ich mich in dem Moment des Denkens und Schreibens so entschieden

habe, ist mein blinder Fleck. Doch weil die Reflexion im Gegensatz zur

Verschriftlichung in dieser Studie keine einmalige Handlung sondern ein laufender

Prozess ist und damit immer wieder durch neue Unterscheidung auf frühere

Resultate angewendet werden kann, entsteht dadurch eine reflektierte Haltung.

2.1.2 'Unmarked Space' oder Einheit der Weltsicht

Deutlich wird dabei, dass Reflexion in Abhängigkeit von der Zeit geschieht: Sie

kann auf eine zuvor vorgenommene Unterscheidung folgen, aber niemals mit ihr

gleichzeitig vorgenommen werden.

An dieser Stelle weitet sich plötzlich die dualistische Perspektive, die aber der

Reflexion nach wie vor zugrunde liegt. Kraus (2013, S. 28) verweist auf Platon,

Descartes und Kant, wenn er feststellt: „Dualistische Positionen, die das Seiende

auf zwei nicht voneinander ableitende Substanzen oder Prinzipien zurückführen,

sind eine unerlässliche Voraussetzung abendländischen Philosophierens“. Durch

den Faktor Zeit kann aber auf frühere Unterscheidungen aufgebaut bzw. können

diese beschrieben bzw. beobachtet werden. Die Reflexion einer Unterscheidung ist

nur durch eine neue, spätere Unterscheidung möglich. Dabei wird die Perspektive

verändert und die Unterscheidung an sich, also die Trennlinie, der „unmarked

8

space“ (Luhmann 1993, S. 246), samt beiden Seiten des Entschiedenen beobachtet.

Der 'unmarked space', der blinde Fleck ist das Nicht-Gedachte, das Nicht-

Gesehene. Diese 'nicht in den Blick genommene' Seite der Unterscheidung ist

'unendlich' groß. In der Reflexion wird nun die zurückliegende Unterscheidung in

ihrer Einheit untersucht: Was wurde unterschieden, was wurde im Dunkeln

gelassen? Nach Luhmann (ebd.) ist die Suche nach der Einheit einer

Unterscheidung der paradoxe aber notwendige Schritt zur „Einheit der Weltsicht“.

Diese Beobachtung 2. Ordnung beruht auch wieder auf einer Unterscheidung, die

im nächsten Augenblick wieder reflektiert werden kann (vgl. Nörenberg 2007, S.

87ff.). Der Beobachter untersucht, was dahinter steckt, was wurde bei der zuvor

getroffenen Unterscheidung ausgeblendet. Im Laufe der Zeit können so viele

Perspektiven bezüglich einer Entscheidung eingenommen werden und alternative

Sichtweisen mit neuen Anschlussmöglichkeiten können in den Blick genommen

werden.

Resümierend lässt sich sagen, dass unser Wissen offenbar gegenüber dem

Nichtwissen sehr begrenzt ist und auf 'wackligen Füßen' steht. Die

wahrgenommene Welt wird vom Subjekt konstruiert, dass heißt jeder Mensch

konstruiert sich seine eigene Wirklichkeit. Im Diskurs darüber entsteht sogenanntes

Wissen, mit dem Etikett 'Wahrheit' wird es zum Machtfaktor. Dies soll im Kapitel 3

genauer untersucht werden. Zuvor soll untersucht werden, welche Folgen diese

Erkenntnisse auf die Entscheidung und das Handeln hat:

2.2 Standortanalyse II: Wie entscheide ich mich?

Charakteristisch für die Perspektive des Sozialarbeiters ist nicht der distanzierte

Beobachter sondern der handelnde Teilnehmer in der konkreten Situation. Typisch

für die Situationen, in denen Sozialarbeiter sich bewegen ist die

Unvorhersehbarkeit und Komplexität. Jede ethische Entscheidung, die getroffen

wird, fordert die angemessene Anwendung der bestehenden Freiheit. Dafür muss

die konkrete Situation analysiert werden und mit der persönlichen Haltung und den

Erfahrungen abgeglichen werden. Diese handlungsleitende Grundhaltung,

vergleichbar mit Weisheit oder Ethik, entsteht in der Reflexion des Wissens und der

Erfahrung in der Praxis (vgl. 4.3). Sie bewährt sich in den Entscheidungen, die in

9

der Praxis getroffen werden, im Können. „Um die Überlegungen in Handlung zu

überführen, sind Übung und des [sic] Lernen erforderlich, das heißt

Habitualisierung“ (Möhle 2015, S. 12). Diese Habitualisierung ist ein lebenslanger

Prozess, der im Gegensatz zur Entstehung des Habitus nach Bourdieu, aktiv durch

Selbsttechniken gestaltet werden sollte (vgl. Kap 2.3).

In dem Bewusstsein, dass Wahrnehmung eine Konstruktion ist, gilt aber auch „Was

wir sehen, ist das, was wir sehen“ (Kleve 2003, S. 64). Es gibt nur subjektive

Wahrheiten, die individuell Kriterien für Handlungen sind. Wahrnehmung

produziert „keine Information, die entweder wahr oder falsch ist, sondern die ist

immer wahr“ (Förster 1994, S. 68).

Absolute Kriterien für das Handeln gibt es oft nicht, Prinzipien müssen im

Einzelfall in Frage gestellt werden. Es muss das relativ Bessere dem relativ

Schlechteren vorgezogen werden. Dafür ist oft ein Abgleich von

Variationsmöglichkeiten hilfreich. Nörenberg (2007, S. 100) empfiehlt

Sozialarbeitern, „von einer Orientierung an Routinen auf Überraschung und von

Regelhaftigkeit auf Orientierung am singulären Beispiel“ umzuschwenken. Dann

kann es gelingen eine Vielfalt an möglichen Umgangsweisen mit bewährten

Problemlösungsstrategien zu bewältigen. Der Konstruktivismus bezeichnet eine

Erkenntnis, die der Realität nicht widerspricht und für das Handeln ausreicht

'viabel': „Theorien können also nicht absolut 'wahr' sein, sondern bestenfalls a)

funktionieren und b) verschiedene Erfahrungsinhalte erklären. Mehr als dieses ist

nicht möglich, aber auch nicht notwendig“ (Kraus 2013, S. 62).

Verantwortliches Handeln erfordert demnach eine Entscheidung in der eigenen

subjektiven Begrenztheit gegenüber der ganzen unbegrenzten komplexen

Wirklichkeit. Diesem Wissen über die eigene Begrenztheit der Wahrnehmung, dem

persönlichen Spielraum, dem individuellen Standpunkt usw. soll diese Arbeit

dienen. Dahinter steht die Freiheit, sich für das Handeln nicht rechtfertigen zu

müssen, und die Notwendigkeit, dafür Verantwortung zu übernehmen (vgl.

Johannsen 2003, S. 62f.; Foerster 1994; Möhle 2015; Kurtz 2006; Kap. 3.2.3).

10

2.3 Standortanalyse III: Wie führe ich mich?

Nach Foucault (1987 und 1988) kommt es bei individuellen Entscheidungen auf die

Selbstbeziehung an. Eine reflektierte Beziehung zu eigenen Werten, Verhaltens-

und Denkmustern (Habitus), die bewusste Orientierung an einer persönlichen

Lebensethik, ermöglicht ein selbstbestimmtes und selbstachtendes Entscheiden

jenseits der Festlegung durch äußere Normen und Vorschriften. Er versteht unter

der Selbstbeziehung einen dauerhaften Prozess der Selbsteinwirkung, der

Selbstkontrolle durch Selbsttechniken. Es kommt zu einer Ästhetik der Existenz,

einer Ethik des Seins, in der eigene Werte, Bewertungen und Moralvorstellungen

kritisch reflektiert werden. Ergebnis ist eine Art Selbstkontrolle bzw.

Selbstunterwerfung und Herrschaft über sich selbst. Modern könnte man von echter

Selbstbestimmung im Gegensatz zur Fremdbestimmung sprechen. Voraussetzung

ist für Foucault die persönliche Entscheidung. Sie kann die Führung durch

institutionelle Mechanismen oder moralphilosophischen Expertenkulturen ersetzen

(vgl. Kap. 3.2.5)

Reflexion führt zu Souveränität des Subjekts. Das Ergebnis ist die relative Freiheit

von Fremdbestimmung, insbesondere in lebenspraktischen Entscheidungen - die

Ethik. Ethik ist ein Grundmoment des Sozialen (Habermas). Es geht aber nicht um

eine Ethik, die zu Legitimationszwecken für eigenes Handeln benutzt wird, sondern

„um ein Verständnis von Ethik, welches Orientierung für die Praxis bereitstellt,

wohlgemerkt unter der Zumutung von fortgesetzter, kritischer Selbstreflexion“

(Nörenberg 2007, S. 9).

Das Wort 'Selbstreflexion' soll hervorheben, dass Reflexion immer ein auf sich

selbst bezogener Prozess ist. Luhmann spricht von 'Selbstreferenz'. Selbst wenn

Beobachtungen der Umwelt reflektiert werden, werden doch nur die eigenen

Konstruktionen bzw. die eigene Wahrnehmung, die eigenen Unterscheidungen

reflektiert (vgl. ebd., S. 88).

Die Konsequenz dieser Denkweise (auch des Konstruktivismus) ist eine Pluralität

der Ethiken. Aber für das Zusammenleben ist auch ein gewisser Konsens nötig,

Normen, die das Zusammen-Leben sichern. Diese sollten die Freiheit der Subjekte

11

schützen und müssen auf Macht- und Herrschaftsaspekte untersucht werden. Kraus

(2013, S. 162) bezieht sich auf Hejl (1995, S. 55) und fordert die Begründung des

Handelns an den Postulaten: Toleranzgebot, Verantwortungsakzeptanz und

Begründungspflicht.

An dieser Stelle stößt die Theorie Foucaults, die sich auf Kant und Nietzsche

bezieht, wie auch die Aussagen von Kraus und Hejl, die die ethischen Folgen des

Konstruktivismus reflektieren, an die Grenze. Ist der Mensch der letzte Horizont

und Maßstab, ist er nur das Resultat seiner Unterwerfung? Oder ist er eine

Unterwerfung unter seine Seele, die ihm Existenz verschafft? Das Subjekt, das sich

auf sich selbst bezieht, braucht einen Wertmaßstab, der apriori vorhanden sein

muss.

Das unter anderem von Nietzsche (1990) beobachtete aufklärerische 'Gott ist tot!'

führt zu einer Überforderung des Subjekts. Eine, wenn auch abendländisch geprägte

und seit Jahrtausenden tradierte, Perspektive bietet die Orientierung an dem Wort

bzw. der Offenbarung Gottes. Diese Offenbarung kann, trotz aller hermeneutischen

Probleme, einen Ausweg öffnen. Insbesondere die jüdisch-christliche Offenbarung

beschreibt einen machtvollen Gott, der seine Macht aber im Kleinsein, der Hingabe

und dem Opfer entfaltet (vgl. Kap. 3.2.2).

Der Zwang zur Selbstbehauptung weicht der jüdisch-christlichen Freiheit, die den

Zweifel und immerwährende Fragen zulässt. Diese Freiheit, die einem Glauben

entspringt, widersetzt sich auch totalitären Wahrheitsansprüchen und Ideologien.

Autorität erhält der Mensch durch den liebenden freiheitschenkenden Gott, als

dessen Ebenbild er erschaffen wurde. Eine Herrschaft über Menschen ist zur

Sicherung der menschlichen Identität nicht mehr nötig. 'Ungleichwertigkeit' ist

apriori durch den Bezug auf Gott unmöglich. Der Andere, auch der Fremde,

erscheint als gleichwertiger Bruder und hat ein 'individuelles Gesetz' (Simmel). Das

Miteinander in Brüderlichkeit der Menschen wird möglich. Im Bewusstsein seiner

Individualität respektiert der Mensch die höchstpersönliche Individuation des

Gegenübers. Er ist nicht allgemein 'der Mensch' (Kant), sondern individuell 'der

Nächste', mein 'Du' (vgl. Buber 1995).

12

„Macht verbirgt sich in allem, man muß sie nur sehen“ (Popitz 2004, S. 17).

3 Das Spiel der Macht

Das dritte Kapitel soll die Auseinandersetzung des Sozialarbeiters mit

wissenschaftlichen Theorien darstellen. Ein naheliegendes Thema ist, wie

einleitend beschrieben, die Frage nach Machtstrukturen und ihre Auswirkung auf

die Marginalisierung und Ausgrenzung von Individuen. „Für die Soziale Arbeit ist

die Auseinandersetzung mit dem Thema 'Macht' unumgänglich, da sie die

Potentiale und Grenzen ihrer helfenden und kontrollierenden Interaktionsmacht

gegenüber ihren Adressaten reflektieren muss“ (Kraus 2013, S. 119). Darüber

hinaus müssen aber auch alle anderen Akteure, Systeme und das eigene

Selbstverständnis hinsichtlich sozialer und gesellschaftlicher Machtstrukturen in die

Reflexion einbezogen werden.

Theoriegeleitete Reflexion4 ist die Verbindung eigener Beobachtungen, und der sich

daraus ergebenden Fragestellungen, mit professionsübergreifenden

wissenschaftlichen Erklärungsversuchen. Insbesondere die Soziologie könnte man

als Organum der Selbstbesinnung und Selbsterweiterung bezeichnen (vgl. Jung

2007, S. 35).

In diesem Zusammenhang verweise ich nochmals auf den 'Erkenntniszirkel'.

Sowohl die theoretischen Erklärungsversuche, wie auch meine Ausführungen dazu

sind Konstruktionen: Theorien und Wissen sind Konstruktionen, die Verweise in

dieser Arbeit auf den wissenschaftlichen Diskurs und die Theorien sind

Beobachtungen dieser Theorien, also meine Konstruktionen aufgrund konstruiertem

Wissen (vgl. Kap. 2.1.1).

Aus vielen Theorien unterschiedlicher Professionen zur Macht greife ich in dieser

Arbeit zwei heraus:

Im Lebenswerk des Philosophen Foucault (Kap. 3.2) nimmt die

Auseinandersetzung mit den Ursprüngen, Eigenschaften und Wirkungen von Macht

einen zentralen Stellenwert ein. In Luhmanns Beiträgen (Kap. 3.1) hat die Macht

dagegen eine eher nachrangige Bedeutung. Mit seinem abstrakten Denken ergänzt

er aber die Erkenntnisse Foucaults und bietet einen schlüssigen soziologischen

4 Verschiedene praktische Methoden werden im Kapitel 4.5 vorgestellt.

13

Zugang zu dem Phänomen ‚Macht‘. Beide Theorien können als Reflexionsfolie für

den Sozialarbeiter und sein Handeln dienen. In der vorliegenden Studie sollen sie

beispielhaft zeigen, wie notwendig theoriegeleitete Reflexion für professionelles

Handeln des Sozialarbeiters ist.

Dem Sozialarbeiter kann bewusst werden, wie er in Machtstrukturen eingebunden

ist. Diese Erkenntnis kann ihm helfen, mit seiner Macht bzw. Ohnmacht und der

Macht seiner Klienten verantwortungsvoll umzugehen. Ziel der Reflexion sind

praktische Konsequenzen im Handeln des Sozialarbeiters. Im Kapitel 3.4 werden

die Theorien auf ihre Bedeutung in der sozialarbeiterischen Praxis überprüft.

Zunächst soll sich den Begriffen 'Macht' und 'Herrschaft' genähert werden:

Zahlreiche und sehr unterschiedliche Definitionen von 'Macht' werden in der

Literatur veröffentlicht und kritisiert (vgl. Weber 2002; Arendt 2011; Foucault

2001; Popitz 2004). Wesentliche Merkmale sind:

Macht lässt sich schwer verorten, sie wirkt variabel, reziprok und zirkulär. Es ist

kaum möglich, Kausalbeziehungen zu beschreiben, zu komplex und zu vielfältig

sind die Ursachen und Wirkungen. Praktisch hat jeder Mensch 'Macht', die ihm

Möglichkeiten zum Handeln gibt. Aber man kann Macht nicht wie ein Gut besitzen.

Macht ist empirisch schwer messbar (vgl. Luhmann 2013, S. 13ff.).

Herrschaft wird allgemein als institutionalisierte und verfestigte bzw. gesicherte

Macht bezeichnet, die bei den Beherrschten Gehorsam findet. Gehorsam wird als

wechselseitiges Einverständnis über die Legitimität des sozialen Einflusses

beschrieben. Wie diese Legitimation trotz oft ungleicher Meinung zustande kommt,

soll in diesem Kapitel anhand der Theorien untersucht werden (vgl. Weber 2002, S.

38; Kraus 2002, S. 180).

Max Weber nutzt eine relative Definition und bezeichnet Macht positiv als eine

Chance, als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen

auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“

(Weber 2002, S. 28). Es geht um die Möglichkeit etwas Gewolltes durchzusetzen.

Popitz (2004, S. 22) bezeichnet Macht als das „Vermögen, sich gegen fremde

Kräfte durchzusetzen“. Um die gesellschaftlichen Machtzusammenhänge besser als

in diesen Definitionen der Moderne zu verdeutlichen, sollen die Ansätze von

14

Luhmann und Foucault besprochen werden5. Denn auch Luhmann (1975, S. 12)

spricht von der Macht als Chance, „die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens

unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern“.

Doch was bedeutet das Wort 'Chance' oder 'Möglichkeit'?

Kurze Studien der beiden ausgewählten Autoren zum Thema 'Macht' sollen im

Folgenden einen Überblick über das Thema geben. Der Blick geht dabei von der

sehr abstrakten Sicht Luhmanns hin zu den ontologischen Erkenntnissen Foucaults.

5 Lohnend wäre eine Überprüfung der Definitionen und ggf. Neudefinition von Macht und ihrer postmodernen Funktionsweisen, z.B. im Zusammenhang mit der Entsolidarisierung und zunehmenden Verlagerung der Risiken an das Individuum.

15

3.1 Luhmann und die systemische Sicht

Die Systemtheorie nach Luhmann ist für Sozialarbeiter eine interessante

Reflexionsfolie: Durch die Einführung der Unterscheidungen zwischen System und

Umwelt, Beobachten und Erkenntnis und Erkenntnis und Handeln lassen sich alle

Operationen separat hinsichtlich der Unterscheidungen reflektieren. An dieser

Stelle verweise ich auf seine Schriften und die sehr umfangreiche Rezeption seiner

Werke und wende mich seiner Reflexion bezüglich der 'Macht' zu.

Luhmann definiert Macht als Einfluss eines Psychischen oder Sozialen Systems auf

ein Anderes. Hintergrund des Einflusses ist ein Wissensvorsprung bzw. die

Selektion von Informationen. Selektierte bzw. in ihrer Komplexität reduzierte

Information wird weitergegeben bzw. kommuniziert. Macht ist nach Luhmann

(1997) ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Macht motiviert

bzw. dirigiert zur Reproduktion von bestimmten Selektionen bzw.

Unterscheidungen. Luhmann (2013, S. 54) spricht wörtlich auch von

„Generalisierung der Relevanz individueller Entscheidungsleistungen“.

3.1.1 Komplexitätsreduzierung durch Selektion und Generalisierung

Luhmann (2013, S. 50ff.) beschreibt Macht als Fähigkeit zur

Komplexitätsreduzierung. Unter Komplexität versteht Luhmann, dass es für ein

System mehr Möglichkeiten gibt, als es aktualisieren kann. Folglich steht das

System unter Selektionszwang sowohl hinsichtlich der Informationen aus der

Umwelt, als auch systemintern. Beides muss außerdem abgestimmt erfolgen (vgl.

Luhmann 1997, S. 136).

Je mehr Informationen bzw. Wissen ein System aufnehmen und verarbeiten kann,

dass heißt je besser es komplexe Zusammenhänge bewältigen kann, desto mehr

Macht hat es. Die Komplexitätsreduzierung hat das Ziel der Beobachtung oder

Kommunikation 'Sinn' zu zuschreiben. Fuchs (2010, S. 13) spricht deshalb auch

von „Sinnsystemen“, Luhmann von 'Sinnzwang' der Systeme.

Sinn erscheint als Simultanpräsentation von Möglichem und Wirklichem, die alles, was intentional erfasst wird, in einem Horizont anderer und weiterer Möglichkeiten versetzt (Luhmann 1997, S. 81).

16

Dieser Sinn kann von anderen Systemen mit geringerer Kapazität zur

Informationsverarbeitung nicht geprüft werden.

Vereinfacht könnte man es wie folgt beschreiben: Ein System ist, aufgrund

mangelnder Kapazität komplexe Informationen zu verarbeiten, auf die Vorselektion

eines anderen Systems, und damit Reduktion der Komplexität, angewiesen. Die

Kommunikation geschieht im Rahmen eines Selektionsprozesses und das

empfangende System wird Handlungen und Entscheidungen aufgrund der Selektion

des anderen vollziehen. Wenn diese „selektionsbedingte Selektion“ (Luhmann

2013, S. 50) von dem Informationsempfänger erwartet wird bzw. unkritisch

übernommen wird, entsteht in diesem Kommunikationsprozess Macht.

Obwohl beide Seiten handeln, wird dennoch Macht allein dem Machthaber

zugerechnet. Der Machtunterlegene hat die Entscheidung, den Sinn bzw. die

Selektionsofferte anzunehmen oder die Vermeidungsalternative, die unter

Umständen mit Sanktionen verbunden ist. Beide Seiten kennen die angedrohte

Sanktion und wollen sie vermeiden. „Die Form der Macht ist nichts anderes als

diese Differenz, die Differenz zwischen der Ausführung der Weisung und der zu

vermeidenden Alternative“ (Luhmann 1997, S. 356).

Die Macht ermöglicht zunehmend komplexere und differenziertere

Zusammenhänge zu verarbeiten, stabilisiert durch eine zunehmende

Generalisierung der Kommunikation. Generalisierung bedeutet Verallgemeinerung

von Sinnorientierung, um leichter aus allen Möglichkeiten Alternativen bestimmen

zu können. Diese strukturieren die Entscheidungsprozesse und belegen sie mit Sinn,

nicht nur einmalig, sondern auch erwartbar in künftigen Situationen (vgl. Luhmann

2013). „Jede Handlung muß in jedem Augenblick unter als feststehend behandelten

Entscheidungsprämissen operieren und fügt sich dadurch, daß sie reduzierte

Komplexität übernimmt, der Macht derer, die die Prämissen definiert hatten“ (ebd.,

S. 87).

Diese Komplexitätsreduzierung relativiert den Wahrheitsanspruch der Information.

Die soziale Situation in ihrer Komplexität, Mannheim spricht von 'Totalität', ist

nicht erkennbar und nicht kommunizierbar. Nur durch die Reduzierung der

Komplexität wird die Lebenswelt beschreibbar, die begriffliche Wiedergabe verliert

17

aber den Anspruch der 'totalen' Wahrheit (vgl. Jung 2007, S. 97; Kap 2.1).

Genau dieser Vorgang gehört zu den Hauptaufgaben professioneller Hilfe, die in

unserer Gesellschaft stark organisiert und institutionalisiert ist. Große

Hilfsorganisationen haben entsprechende Kapazitäten zur

Komplexitätsverarbeitung und Macht. Eine Reflexion der Institutionalisierung von

Hilfe offenbart aber noch weitere kritische Ansätze:

3.1.2 Institutionalisierung

In der Praxis gilt es Machtverhältnisse auf ihre Institutionalisierung in

Herrschaftsverhältnissen zu untersuchen. Gegebenenfalls ist zu prüfen, wie sie

antiherrschaftlich verändert werden können. Dabei ist die Reflexion von subtilen

Machtverhältnissen, die Autonomie in Fremdbestimmung verkehren, genauso

wichtig, wie die Strukturen, Institutionen und Vergesellschaftungsmomente, die

Herrschaft und Ungleichheit produzieren (vgl. Langemeyer 2008, S. 177ff.). Zu

nennen wären vielfältige gesellschaftliche Systeme und Entwicklungen, die hier

nicht weiter besprochen werden sollen, z.B. Ökonomisierung des Sozialen,

Normalisierungstendenzen, Individualisierung und Übertragung gesellschaftlicher

Risiken an das Individuum usw. (vgl. Hanses 2007, S. 317).

Institutionalisierung ist eine Folge der funktionalen Differenzierung und der hohen

Komplexität in der Moderne (vgl. Lambers 2010, S. 68). In Institutionen geschieht

nach Luhmann (2013, S. 70) „formale Organisation der Macht“:

Um seine Mitgliedschaft zu erhalten, unterwirft der einzelne sich der im Systemorganisierten Weisungsgewalt und wird in den Grenzen festgelegterEntscheidungskompetenzen indifferent dagegen, was im einzelnen von ihm verlangtwird: Er erfüllt dann um seiner Mitgliedschaft willen diejenigenVerhaltenserwartungen, die jeweils nach bestimmten Regeln als verbindlich definiertwerden (ebd. S. 70f.).

Je größer die Institution und die Komplexität, umso mehr muss in individueller

generalisierter Kommunikation Komplexität reduziert werden. Der Sinn der

Kommunikation ist die Reduktion von Komplexität, die Form ist die „generalisierte

Macht“ (ebd. S. 77). Die Regeln des Systems, Luhmann spricht von internen

Kommunikationen, organisieren die Macht einzelner systeminterner Akteure im

Sinn des Systems. Je größer und stärker das System bzw. die Institution ist, desto

18

höhere Komplexität kann verarbeitet werden. Der individuelle Wille des

Machtunterworfenen wird neutralisiert (vgl. insgesamt Luhmann 1975; Luhmann

2013).

Mit Blick auf Organisationen der Sozialen Arbeit problematisiert Kleve (2003, S.

39ff.), dass diese definieren, wer hilfebedürftig ist. Dafür werden Normen

festgelegt, die kollektive Definitionsprozesse auslösen. Inklusionsprobleme werden

als soziale Probleme konstruiert, vom selben System kann dann die Lösung

angegangen werden. So sichert das Bestehen der Probleme auch das Bestehen des

Systems. Diese selbstreferentielle Operation der Problemdefinition durch das

System wirkt für das System stabilisierend bzw. erhaltend (vgl. Baecker 1994, S.

93f.).

Eine Methode dafür ist die Diagnose (vgl. Kap. 4.5.1) und ihre „selbst erfüllende

Prophezeiung“ (Watzlawick 1985, S. 65). Eine Diagnose ist stets reduzierte

Komplexität im Vergleich zur sozialen Situation. Diese durch die Diagnose

konstruierte Wirklichkeit, zum Beispiel eine geistige Behinderung, kann dann zu

einer durch Umgangs- und Verhaltensnormen und festgelegte Therapie- und

Rehabilitationsformen stabilisierten Institution werden. Das Individuum unterwirft

sich der Diagnose, um benötigte Unterstützung zu erhalten. In Iser (2015a) werden

die Ursache und die Folgen dieser gesellschaftlich-institutionalisierten Macht am

Beispiel der Institution 'Geistigbehindertsein' untersucht.

Fuchs (2010b, S. 95) kritisiert die sogenannte „basale Inklusion“ bzw. die

„Vollbetreuung“, insbesondere pflegebedürftiger Menschen, in Sondersystemen.

Die Kommunikation der Klienten wird nur noch „körperhermeneutisch“ (ebd., S.

97) gedeutet. Im Rahmen der Institution, dem System „Körperversorgungswelt“

(ebd.), werden unbewusst alle Äußerungen der Klienten hinsichtlich des Auftrags

der Betreuer gedeutet. Sinn wird zugeschrieben, die Komplexität ist auf basale

Bedürfnisse reduziert. Fuchs (ebd.) fordert an dieser Stelle eine „amicale

Beobachtungskultur“, das heißt eine Zuwendung, ein 'Verstehenwollen' in

freundschaftlicher Zugewandtheit (vgl. Kap 2.3). Fuchs verweist damit auf ein

Äquivalent zur Macht, die fürsorgende Liebe. Sie kann nach Luhmann das

symbolische Kommunikationsmedium 'Macht' begrenzen bzw. ersetzen.

19

3.1.3 Die Grenzen der Macht

Luhmann beschreibt die Grenzen der Macht wie folgt:

Zum ersten sind es die Möglichkeiten der Systeme: „Unmögliches kann nicht

befohlen werden“ (Luhmann 2013, S. 96).

Zum zweiten erfordert ein großer Einfluss, große Freiheit, d.h. große Komplexität,

bei dem Beeinflussten. „Die Steigerung seiner Freiheit steigert daher unvermeidlich

den Einfluss, dem der einzelne unterliegt“ (ebd., S. 97). Zumindest müssen

Machthaber und Beeinflusster Alternativen besitzen und kennen. Wenn schon im

Voraus feststeht, was passiert, oder der Machthaber physischen, wirtschaftlichen

oder sozialen Bindungen unterliegt, wird sein Entscheidungsspielraum

eingeschränkt. Luhmann (ebd., S. 87) betont deshalb auch: „Als Ganzes gesehen ist

Macht ein durch Generalisierung und Organisation entstehendes permanentes

Medium der Kommunikation im System, das in seiner Funktion weitgehend latent

bleibt“.

Darüber hinaus weist Luhmann (1975, S. 9ff.) auch auf die anderen symbolischen

Kommunikationsmedien hin: Liebe, Wahrheit, Geld und Kunst. Sie begrenzen bzw.

ersetzen Macht und erschweren sowohl die Erfassung als auch die Beschreibung

von Macht in der Praxis. Das gleiche gilt für Substitute bzw. funktionale

Äquivalente zur Macht, z.B. Hierarchien, die Systemgeschichte, Verträge. Eine

Erweiterung bzw. Aktualisierung der Liste der symbolischen

Kommunikationsmedien ist denkbar. Die schnelle gesellschaftliche Veränderung

führt zu postmodernen Machtprozessen, die neue Theorien nötig machen6.

Hinsichtlich der Möglichkeit zur Begrenzung von Macht- und

Herrschaftsstrukturen spielt das Phänomen der Inklusion und Exklusion

Psychischer Systeme eine wichtige Rolle.

3.1.4 Die Unmöglichkeit der Inklusion

Die schnelle gesellschaftliche Veränderung der postmodernen Gesellschaft hat eine

immer stärkere Differenzierung in autonome Funktionssysteme zur Folge, die sich

selbst immer weiter in Subsysteme ausdifferenzieren. Für jedes dauerhafte Problem

6 Zum Beispiel führt Maaß (2009) für die Soziale Arbeit das Medium „Ansprüche“ ein.

20

bildet ein System ein Subsystem. Diese Systeme sind operativ geschlossen

(autonom) und operieren autopoietisch (selbsterschaffend bzw.

-weiterentwickelnd). Das heißt auch, sie legen ihre Grenzen zur Umwelt selbst fest.

Jedes dieser Sozialen Systeme funktioniert selbstreferentiell, das heißt

Informationen werden in einem auf die eigenen Strukturen bezogenen Prozess

bewertet. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit des Systems, die Informationen

wahrzunehmen. Das ist ein zirkulärer Prozess: Je differenzierter ein System

strukturiert ist und je stärker die Umwelt bzw. die Gesellschaft differenziert ist,

desto unwahrscheinlicher wird die Kommunikation. Je höher die Komplexität,

desto mehr wird eine übergreifende Interaktion erschwert: „Von der

Kommunikation eines Problems fühlen sich immer einzelne Teilsysteme der

Gesellschaft betroffen, niemals die ganze Gesellschaft“ (Lambers 2010, S. 134).

Durch die große Diversität und Komplexität der modernen Gesellschaft ist kein

Individuum in allen Subsystemen integriert. Luhmann (2005, S. 241) definiert

Inklusion als Beteiligung an der Kommunikation. Die Sozialen Systeme

entscheiden und selektieren selbst, wer für sie (Sinn-)relevant ist bzw. wer

inkludiert wird. Luhmann (ebd., S. 241) beschreibt das Relevanzkriterium:

Inklusion (und entsprechend Exklusion) kann sich nur auf die Art und Weise beziehen,in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden.

Durch ihre Kommunikationsfähigkeit und ihre Relevanz werden Menschen zu einer

Person bzw. Psychische Systeme von den mit ihnen kommunizierenden Sozialen

Systemen wahrgenommen (vgl. Kleve 2003, S. 39). Personen sind adressierbar.

Wenn allerdings das Desinteresse bzw. die Nicht-Relevanz von Funktionssystemen

an Personen Teil ihrer sozialen Adresse wird, kann der Ausschluss quasi Teil der

Identität werden, er wird subjektiviert (vgl. Fuchs 2010a, S. 24; Kap 3.2.2). „Das

sinnhafte Arrangieren des Alltags seitens des Individuums wird zunehmend von

teilgesellschaftlich erzeugten Inklusions- und Exklusionschancen konditioniert“

(Wirth 2014, S. 536).

Problematisch ist, dass die Funktionssysteme Regeln haben, die für die Teilhabe

erfüllt werden müssen. Diese autonom von den Systemen festgelegten Regeln

entstehen durch Beobachtung und werden der Umwelt als eine Art

21

Zugangsvoraussetzung kommuniziert. Durch die von außen nicht beeinflussbaren

Voraussetzungen entsteht Inklusion und Exklusion7 (vgl. Luhmann 2005).

Die Regeln betreffen unter Umständen die Teilhabe an anderen Systemen.

Beispielsweise erhält nur jemand eine Wohnung, der auch Arbeit hat, aber den

Arbeitsplatz erhält die Person nur, wenn sie eine Wohnadresse vorweist8. Es scheint

für die gesellschaftliche Teilhabe besonders wichtige Funktionssysteme zu geben,

beispielsweise das Beschäftigungssystem. Im Fall, dass Individuen aufgrund der

fehlenden Teilhabe an einem Funktionssystem keine Kommunikation mit einem

anderen aufnehmen können, verlieren sie an Freiheitsgraden, an Möglichkeiten der

Teilhabe bzw. Kommunikation in der Gesellschaft. Kleve (2009) spricht von

„Exklusionsdrift“.

Denn Exkommunikation verhindert Inklusion. Exkommunikation kann sowohl

mangels kommunikativer Fähigkeiten auf Seiten der Akteure, als auch seitens der

Institutionen, z.B. aufgrund von Desinteresse oder durch Exklusion in Verbindung

mit Inklusion in Sondersystemen erfolgen (vgl. Kap. 3.2.4). Wirth (2014, S. 537)

fasst zusammen:

Individuell unterschiedliche Inklusionsbereitschaften und personale Fähigkeitenkönnen insitu Kommunikationen verhindern oder anstoßen, die sich - als individuellesScheitern oder Gelingen beschrieben - auch nicht durch formale Interventionen oderwohlfahrtsstaatliche Programm […] beeindrucken lassen.

Der Ausschluss von potentiellen Akteuren wird von der Gesellschaft nicht als

soziale Dysfunktion wahrgenommen. Gleichzeitig wird aber das immer stärker in

der Gesellschaft eingeforderte Inklusionsgebot den betroffenen Individuen

angelastet. Funktionssysteme arbeiten autonom und selbstreferentiell, sie können

keine Verantwortung für Inklusion übernehmen. Entscheidend ist für sie der

Nutzen. Nur wenn es für diese Sozialen Systeme sinnvoll ist, werden die Regeln

bzw. Zugangsvoraussetzungen geändert. Soziale Arbeit stellt sich unter diesem

Umständen als „Adressenarbeit“ (Maaß 2009, S. 73) dar, „die durch geschicktes

Arrangieren der Vorbedingungen für Inklusionsrelevanz Inklusion erhalten oder

ermöglichen soll“ (ebd.).

7 Lambers (2010, S. 195) empfiehlt bei der Verwendung des Begriffes 'Exklusion' im Sinne von Luhmann besser von 'Nicht-Inklusion' zu sprechen, um die Unterscheidung zu verdeutlichen.

8 Wie der Hauptmann von Köpenick, der sich polizeilich nicht melden konnte, weil er keine Arbeit hatte, aber keine Arbeit bekam, weil er polizeilich nicht gemeldet war.

22

3.2 Foucault und die Genealogie der Macht

Foucault spricht von Machtbeziehungen und Machtverhältnissen. Er spricht von

einer

Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; dasSpiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen dieseKräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die dieseKraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten- oder dieVerschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren und schließlich inStrategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien undinstitutionelle Kristallisierungen sich in Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und inden gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern (Foucault 1977, S. 93).

Er sieht die Herkunft der Macht dezentral und die gesamte gesellschaftliche Praxis

als von Machtnetzen durchzogen. Deshalb bezeichnet Foucault (1977, S. 94)

'Macht' auch als „Name, den man einer komplexen strategischen Situation in der

Gesellschaft gibt“.

Auch bei Foucault spielt das Wissen und die Kommunikation bzw. der Diskurs die

zentrale Rolle bei der Entstehung der Macht. Im Gegensatz zur natürlichen

‚Seinserfahrung‘ sieht er die Gesellschaft geprägt durch einen vordergründigen

Willen zur Wahrheit, hintergründig geprägt von Kontrolle und Macht (vgl. Foucault

1973; Kap 3.2.3).

Wissen verleiht einerseits Macht und Freiheit. Foucault sagt: „daß in unserer

Gesellschaft ein Wissen berechtigt ist, Macht auszuüben“ (Foucault 2001, S. 49).

Andererseits muss sich das Individuum auch dem Wissen unterwerfen. Nur dadurch

kann es Zusammenhänge begreifen und das Wissen nutzbar machen. Das

Individuum erliegt dem Paradox: Je vermeintlich sicherer ein Sachverhalt bestimmt

wird, desto mehr wächst die Unbestimmtheit (vgl. Schäfer 2004, S. 150).

Foucault sieht Macht als Beziehung zwischen zwei aufeinander bezogenen

Punkten. Deshalb schließt er, dass keine Macht ohne Widerstand existiert: Die

Machtverhältnisse „können nur kraft einer Vielzahl von Widerstandspunkten

existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben,

Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Diese Widerstandspunkte sind überall im

Machtnetz präsent“ (Foucault 1977, S. 96; Kap. 3.2.5).

Auf der Suche nach einem Widerstandspotential erkennt Foucault in seinen späten

23

Schriften das Potential eines Subjekts zur Selbsterkenntnis, aber auch die begrenzte

Möglichkeit der Reflexion eigener Erfahrungen (vgl. Kap. 2.3; Kap. 3.2.2).

Der Diskurs hat selbst eine „eminente wirklichkeitserzeugende Macht“ (Dederich

2009, S. 36). Gesellschaftlich oder kulturbedingt entstandene Ansichten wirken

später als naturgegeben und werden nicht mehr hinterfragt. Das Wissen kann zur

Machtausübung oder Kontrolle genutzt werden, ohne dass sich Betroffene unwohl

fühlen. Es wird akzeptiert ohne nach den Quellen oder kulturellen Motiven zu

fragen (vgl. Dederich 2007, S. 69: Kap 3.2.2). Wahrheit wird relativiert, wie

Luhmann (2013, S. 83) konstatiert: „Wahr ist nur jenes Wissen, das von jedermann

akzeptiert werden muß, der sich der Gemeinschaft vernünftiger Menschen

zurechnet“.

3.2.1 Erkenntnis und Wahrheit

Wie Luhmann sieht Foucault kein Zentrum der Macht. Erkenntnis, Wissen und

Macht entstehen nicht im Subjekt, sondern kommunikativ im Diskurs. Er fordert

einen Umgang mit Informationen, als kämen sie aus einer fremden Kultur und ihr

Ursprung müsste archäologisch erforscht werden (vgl. Foucault 1973; Kap. 3.4).

Der Mensch ist kein universales Erkenntnissubjekt für Wahrheit, wie Kant es

beschrieb. Die Erkenntnis ist bestimmt durch Erfahrungsstrukturen und einem

konkreten kulturbedingten Erkenntnisraster, von Foucault 'Episteme' genannt. Um

den eigenen Standort reflektieren zu können, ist es hilfreich, historische Brüche und

Strukturen des eigenen Wissens zu erkennen (vgl. Kögler 2004, S. 48).

Gadamer (1990, S. 295) formuliert: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine

Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein

Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig

vermitteln“. Wahrheit gilt relational zu den Seinsbedingungen (Mannheim) bzw. der

Perspektive, insbesondere in Abhängigkeit von der Zeit (vgl. Kap. 2.1).

Aber auch in dieser Weise ist eine universale Wahrheitsfassung nicht möglich, da,

wie Luhmann beschreibt, der Beobachter Teil des Systems ist.

Entsprechend kann auch die Wissenschaft nur bedingt hilfreich sein, da sie als

System auch den Machtstrukturen und der komplexitätsreduzierenden Macht

24

unterliegt. Foucault kritisiert deutlich die unreflektierte Vereinnahmung der

Humanwissenschaften und ihres Wissens durch die Macht. Es kann der

Humanwissenschaft letztlich nicht um Wahrheit gehen. Wenn sie ihr Wissen

reflektiert, wird laut Foucault die Einbindung in Machtpraktiken sichtbar.

Die Wahrheit der Aussagen über den Menschen ist durch spezifischeErfahrungsstrukturen der Wissenschaften und der professionellen Systeme möglichgeworden. Die Erfahrungen des Subjekts selbst haben nicht interessiert (Hanses 2007,S. 315).

Kögler (2004, S. 50) resümiert, dass keine Befreiung „vom schwankenden Boden

der Geschichte“ möglich ist. Der Rückblick, die Genealogie, geschieht immer aus

dem kulturell geprägten Hintergrund, entsprechend des Habitus.

3.2.2 Subjektivierung

Macht entsteht nach Foucault wie erörtert durch Wissen und Diskurs. Ausgehend

davon beschreibt Foucault die Verinnerlichung der Machtstrukturen im Subjekt und

nennt diesen Vorgang Subjektivierung. Die von außen wirkenden Machtstrukturen

und die daraus folgenden Einschränkungen bzw. erwarteten Handlungsformen

werden zum Selbstverständnis und einer eigenen Erfahrung des Individuums.

Ähnlich wie Bourdieu sieht Foucault das Subjekt als Ergebnis eines

Sozialisationsprozesses durch den sozialen Kontext und die gesellschaftlichen

Verhältnisse. Subjektivierung ist ein Prozess des Werdens des Subjekts (vgl.

Lembke 2005). „Durch die Macht werden Individuen zu dem, was sie sind“

(Dederich 2009, S. 36). Macht unterdrückt das Subjekt nicht, sondern stellt es

durch die Objektivierung von Wissen und Diskurs her.

Wissen wird dem konkreten Erfahrungskontext entnommen und in universeller und

absoluter Form ein Machtfaktor, mit dem auf Subjekte eingewirkt werden kann.

Was als ‚Wahrheit‘ der Subjekte in den Humanwissenschaften galt und gilt, erweistsich damit als soziale Konstruktion, als die symbolisch-praktische Projektion vonIdentitätsmustern in die Köpfe und Körper von vergesellschafteten Subjekten (Kögler2004, S. 185).

Foucault sieht das Subjekt aufgrund der sozialen Verankerung der Diskurspraktiken

in Macht eingebettet. Der Einzelne nimmt im Diskurs entstandene Normen und

Kategorien als gegeben hin. Auf dieses Weise können Herrschaftsverhältnisse und

Ungleichheiten legitimiert werden. Je regelmäßiger sie bestehen und je mehr sie

25

strukturell verankert werden, desto mehr werden die Machtverhältnisse akzeptiert

und subjektiviert. Die Legitimation oder Delegitimation der Machtpraktiken wird

nicht mehr in Frage gestellt (vgl. Schneider & Kraus 2014, S. 14). Bourdieu (1979,

S. 151) beschreibt die Situation als „Willkürcharakter des Selbstverständlichen

[Hervorhebung im Original]“. Folge ist eine Art Selbstkontrolle des Subjekts, eine

Ausrichtung an der Norm, die nicht hinterfragt wird bzw. werden kann (vgl.

Foucault 1978). Das Individuum diszipliniert sich selbst, strukturiert sich

entsprechend der externen Machtstrukturen (vgl. Kap 3.4.1).

Der Kontrollgedanke Foucaults korrespondiert mit dem Beobachter der Beobachter

Luhmanns. Unter dem Druck vermeintlicher dauernden Beobachtung, passt sich

das Subjekt den vermeintlichen Erwartungen an. Deleuze (1993) prägte in

Anschluss an Foucault dafür den Begriff 'Kontrollgesellschaft': Macht wird durch

Kontrolle ausgeübt. Die Ausübung von Kontrolle erfordert Kommunikation. Je

mehr die Adressen genormt sind, d.h. je mehr sich die Adressen anpassen, ihre

Informationen preisgeben, sich wie erwartet bzw. berechnet verhalten, desto

leichter ist ihre Kontrolle. Je mehr Informationen des Subjektes bekannt sind, desto

mehr wird es kategorisiert und adressierbar. Störungen und Konflikte durch

Subjekte werden als Impulsgeber neuen Wissens bzw. für Anpassungen (Reformen)

genutzt, in die Kontrollmechanismen eingebunden und mittels Kommunikation

kontrolliert, solange die Adresse ansprechbar ist. Das Subjekt fühlt sich als

Teilhaber, und tut alles, um den Status zu sichern, es kontrolliert sich selbst aus

Angst vor dem Ausschluss (vgl. Kap. 4.5.8). Widerstand wird durch

Nichtanpassung und unerwartetes Verhalten möglich. Wenn Adressen dadurch nicht

mehr erreichbar sind, reagieren Systeme darauf mit Exklusion (vgl. Kap. 3.2.4).

Foucault geht auf der Suche nach dem Widerstandspotential noch einen Schritt

weiter und fragt, inwieweit sich das Subjekt auch selbst (autopoietisch) erkennen

und konstituieren kann. Er arbeitet in seinem Spätwerk eine zweite Form der

Subjektivierung heraus, gewissermaßen eine reflexive Form der Subjektivierung,

eine bewusste Rückbesinnung und Reflexion eigener Werte hinsichtlich der

enthaltenen Machtanteile. Er beschreibt den Vorgang allerdings nicht nur als eine

spekulative Einsicht, sondern als ein Einüben bzw. als eine allgemeine Fertigkeit

der Selbstführung. Ziel ist das Erwerben einer spezifischen Handlungsmacht (vgl.

26

Kap. 3.2.5; Kap. 3.4).

Fraglich ist nun, wie die beiden Formen der Subjektivierung, die heteronome und

die autopoietische, zueinander im Verhältnis stehen. Beide wirken dynamisch

konstituierend auf das Werden des Individuums ein.

Vermutlich sind für die Selbstführung Ressourcen notwendig, die nicht allen

Individuen gleichmäßig zur Verfügung stehen. Die Entwicklung einer Haltung und

einer bewussten Lebensführung und die Orientierung an einem individuellen

Lebensziel oder -sinn könnten der foucaultschen (reflexiven) Subjektivierung nahe

kommen (vgl. Kap. 2.2). Es geht nicht um eine von außen erzwungene

Selbstoptimierung im Sinne der Anpassung an gesellschaftliche Erfordernisse. Im

Gegenteil zielt Selbstführung auf die Entwicklung einer individuellen reflexiven

Lebenshaltung (vgl. Kap. 4.1ff.). Ein Sinnbild des freien und der Wahrheit

moralisch verpflichteten Menschen ist für Foucault (2010, S. 13) die altgriechische

„Parrhesia“9, das über sich selbst die Wahrheit sagende Individuum. Dem nahe liegt

laut Foucault auch die Sorge bzw. das Kümmern um sich selbst und das sokratische

Prinzip 'Erkenne dich selbst!' (vgl. ebd., S. 17f.; Kap. 4).

Kritisch ist Foucault entgegenzuhalten, dass eine rein autopoietische reflexive

Erkenntnis nicht möglich ist. Im Sinne Bubers erkennt der Mensch sich im 'Du'.

Systemtheoretisch ausgedrückt benötigt das operational geschlossene System die

Kommunikation mit der Umwelt, um sich selbst zu 'erkennen'.

Lembke (2005) sieht im foucaultschen Modell der „Ontogenese des Subjekts“ einen

wenig hoffnungsvollen immerwährenden Kampf des Individuums gegen die

Einflüsse von außen, gegen die Anderen und sich selbst. Eine Orientierung an einer

Offenbarung Gottes, speziell die biblischen Überlieferungen, akzeptiert auch

Foucault als hellen Pol, während der finstere Pol die menschenfeindliche

Umsetzung der Offenbarungen durch die Menschen ist (vgl. Foucault 2010; Kap

2.2). Eine ontologische Begründung, weshalb Menschen anderen Menschen zu

mehr Macht verhelfen sollen, ist laut Foucault nicht möglich. Hier bedarf es der

theistischen Erklärung, die Gott als einen Bezugspunkt außerhalb des Subjekts

beschreibt (vgl. Kap. 2.3).

9 Parrhesia ist eine altgriechische Form, bei der Bürger freimütig und wahrhaftig öffentlich die eigene Meinung (auch im Widerspruch zu populären Ansichten) äußerten (vgl. Foucault 2010)

27

3.2.3 Exkurs: Bewertung von Macht

Für Foucault, wie auch für Luhmann, ist Macht eine Relation zwischen Subjekten.

Das führt zu der Frage, wozu es den Begriff ‚Macht‘ überhaupt braucht? Im

Unterschied zu Bourdieu und Luhmann zielt Foucaults Denken auf einen

möglichen Widerstand gegen die Macht, die dafür bezeichnet und bewertet werden

muss. Damit befindet er sich in der Tradition der Kritischen Theorie von Adorno

und Habermas, in die auch Popitz (2004, S. 20) einstimmt, mit dem Postulat: „Alle

Macht ist fragwürdig“.

Luhmann entwirft seine Theorie der Kommunikation ohne Wertungen. Er

beobachtet die Gesellschaft und beschreibt die Abläufe. Ethische Reflexion und

'Sollens-Sätze' lehnt er im Rahmen der Beschreibung aus der

Forschungsperspektive ab. Das ist nachvollziehbar, würde doch eine Wertung

diesen Forschungsgegenstand verändern (vgl. Lambers 2010, S. 141).

Die Komplexität der beobachteten sozialen Situationen ist für den Beobachter nicht

überschaubar. Auch die Differenzierung und Rationalisierung (Weber) des Denkens

führt dazu, dass Situationen in der Praxis oft nur noch innerhalb von

Systemgrenzen erfasst werden. Im Grunde ist ein autopoietisches System aufgrund

der eigenen strukturellen Determinierung nicht in der Lage, Situationen außerhalb

seiner Systemgrenzen in ihrer Komplexität zu erfassen. Durch Systematisierung,

Strukturierung und Rationalisierung soll die Situation beherrscht werden,

gleichzeitig wird der Kontext der Situation aufgrund der nötigen

Komplexitätsreduzierung aber immer weniger erfasst. Deshalb sollte der Soziologe

im Gegensatz zum Politiker oder Juristen keine Wertung kommunizieren, aber

versuchen, die Situation in hoher Komplexität zu beobachten und zu beschreiben.

Dies tritt insbesondere in Luhmanns Dialog mit Habermas hervor. Darüber hinaus

ist die Soziologie aufgefordert implizite Wertungen und Moralvorstellungen zu

reflektieren und zu begründen. Zum Beispiel können Sprache und Bezeichnungen

der Wissenschaft auf dahinter liegende moralische Einstellungen hinweisen.

Aber ist eine bewertungsneutrale Diskussion von Macht möglich? Foucault

verneint: Da unser Vorwissen bereits Bewertungen enthält, werden wir bewusst

28

oder unbewusst wertend in den Diskurs eintreten. Wenn es gelingt einen relativ

selbstdistanzierten Blickwinkel auf das eigene Wissen einzunehmen, könnten die

Bewertungen kontrastierend herausgearbeitet werden (vgl. Foucault 1973, S.

200ff.).

Man muß sich vom konstituierenden Subjekt, vom Subjekt selbst befreien, d.h. zueiner Geschichtsanalyse gelangen, die die Konstitution des Subjekts imgeschichtlichen Zusammenhang zu klären vermag. Und genau das würde ichGenealogie nennen, d.h. eine Form der Geschichte, die von der Konstitution vonWissen, von Diskursen, von Gegenstandsfeldern usw. berichtet, ohne sich auf einSubjekt beziehen zu müssen, das das Feld der Ereignisse transzendiert und es mitseiner leeren Identität die ganze Geschichte hindurch besetzt (Foucault 1978, S. 32).

Bourdieu erklärt diesen geschichtlichen Zusammenhang der Konstituierung des

Subjekts in seiner Theorie des Habitus. Er setzt, im Gegensatz zu Foucault, die

Kultur und den Habitus zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion in

Verbindung. Wie Foucault sieht er die Wechselwirkung von Herrschafts- und

Selbsttechniken der Macht, setzt die Akteure aber zu jedem Zeitpunkt in den

Kontext der Struktur der Felder und ihrer hierarchischen Anordnung. Nur so ist eine

Unterscheidung von Momenten der Fremdbestimmung und Potenzen der

Selbstbehauptung möglich. Bourdieu sieht eine Dialektik zwischen objektiven und

im Habitus der Subjekte verinnerlichten Strukturen (vgl. Langemeyer 2008, S.

177f.).

Der Habitus ist geprägt von der sozialhistorischen Eingebundenheit bzw. der

Sozialisation im Lebenslauf. Er ist eine aus dem sozialen Umfeld übernommene

Haltung zur Welt. Mannheim (1985) nennt diese unbewusste Haltung

'Weltanschauung'. Der Habitus drückt sich durch unbewusste Strukturen aus, die

verinnerlicht, verkörperlicht wurden und das Handeln prägen. Bourdieu spricht von

strukturierten und strukturierenden Strukturen, die das Wahrnehmungs- und

Bewertungsschema prägten. Das Ergebnis ist ein Lebensstil mit Handlungsweisen,

die klassifizierbar sind. Er wirkt distinktiv, er markiert öffentlich Unterschiede, er

legt soziale Hierarchien fest.

Der Habitus fungiert als 'gesellschaftlicher Orientierungssinn' und könnte auch als

Seins- und Standortverbundenheit bezeichnet werden (vgl. Jung 2007). Mannheim

spricht von der sozialen Gebundenheit des Wissens, einem sozialgeschichtlichen

Entstehungsprozess. Nur über eine Schritt-für-Schritt-Rekonstruktion kann der

29

Zusammenhang von Wissen und seinem sozialen Standort in seiner historischen

Entwicklung nachvollzogen werden (vgl. Kap. 4.5.3).

Obwohl Bourdieu seine Studien ohne Wertung der sozialen Situation erstellte,

spricht aus seinen Worten Sympathie für die marginalisierten und ausgegrenzten

Subjekte. Offenbar sind die in der Praxis beobachteten Strukturen und ihre

distinktiven Funktionen Ausgangspunkte für Inklusion und Exklusion. Dort wo sich

in der Gesellschaft institutionelle Herrschaftsverhältnisse bilden, die Menschen den

legitimen Weg zu Funktionssystemen der Gesellschaft verwehren, ist der

Widerstand zu unterstützen10. Das gilt besonders dort, wo durch die Subjektivierung

eine Unterscheidung zwischen Fremdbestimmung und eigenen Überzeugungen und

praktischem Verhalten nicht mehr möglich ist. Die Macht agiert unbeobachtet,

subjektiviert. Oder sie tritt offen zutage, indem Ungleichheiten in der Gesellschaft

als individuelles Schicksal aufgrund persönlich zu verantwortender Versäumnisse

gedeutet werden (vgl. Schneider & Kraus 2014, S. 13f.).

Eine ethische Wertung der beobachteten Machtstrukturen ist deshalb fallabhängig

und wird mit verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen kontextuellen

Wissen unterschiedlich ausfallen. Auf objektive Kriterien muss verzichtet werden.

Kritisch betrachten sollte der Sozialarbeiter darüber hinaus seine Funktionalisierung

und Institutionalisierung im Machtsystem der Sozialen Arbeit.

Diesen Prozess hat Luhmann (1993) beschrieben. Er weist auf die Risiken der

individuellen Reflexion durch hochgradig funktional differenzierte Teilsysteme in

der Gesellschaft hin: Organisationen, die relativ autonom, d.h. ohne übergeordnete

Steuerungsinstanz und ausgestattet mit relativ viel Macht im System 'Soziale

Arbeit' bzw. 'Soziale Hilfe'11 agieren, orientieren sich an ihren eigenen Zielen. Das

ist nicht die Integration der Klienten, die letztlich die Organisation überflüssig

machen würde. Eher sichern hilfebedürftige Klienten die Existenz (vgl. Kleve

2003, S. 37). Kraus (2002, S. 202) fragt: „Wer entscheidet darüber, was Probleme

sind“? Im Rahmen des autopoietisch operierenden System 'Soziale Arbeit' trifft

10 Die Frage der Legitimität ist schwer zu entscheiden. Hier sollen die angeführten ontologischen Begründungen des Kapitels ausreichen (vgl. Lambers 2010, S. 115ff.)

11 Es wird angenommen, dass das System 'Soziale Arbeit' ein Funktionssystem der Gesellschaft ist (vgl. Baecker 1994; Kurtz 2004; Maaß 2009). Es gibt Kritik an dieser Annahme, z.B. bei Lambers (2010, S. 119ff.).

30

diese Unterscheidung das System selbst(erhaltend). Anders gesagt: „Es gibt keine

prinzipielle Grenze der Expansionsmöglichkeiten Sozialer Arbeit“ (Lambers 2010,

S. 140).

Hinzu kommt, dass soziale Organisationen und ihre Mitarbeiter sich zunehmend für

ihre Fallzahlen und den wirtschaftlichen Umgang mit öffentlichen Gelder

rechtfertigen müssen, statt Verantwortung für die Lösung komplexer Probleme ihrer

Klienten zu übernehmen. Deshalb ist Wirth (2014, S. 539) zuzustimmen, der

konstatiert:

Deshalb benötigt jede sozialwissenschaftliche Theorie der Lebensführung einennormativen Kompass, der die Navigation leistet hinsichtlich dessen, welcheAbweichung warum nicht toleriert werden soll. Für die praktische Soziale Arbeit giltdies in besonderer Weise.

3.2.4 Die Realität der Exklusion

Foucault beschreibt, wie die frühere Exklusion von Menschen und

Menschengruppen sich in der funktional differenzierten Gesellschaft zur

Einsperrung und Disziplinierung gewandelt hat. In speziellen Organisationen oder

Lebensbereichen, zum Beispiel in Haftanstalten, stationären Einrichtungen aber

auch prekären Wohnquartieren, werden Menschen inkludiert und gleichzeitig von

gesellschaftlichen Funktionssystemen exkludiert. Das Extrembeispiel beschreibt

Goffman (1973, S. 11) unter dem Begriff „totale Institution“. Die Welt wird in

Innen- und Außenwelt unterschieden, die Grenze ist für die Insassen schwer

überwindbar. Goffman beschreibt, wie die Herrschaft über den Menschen in einer

totalen Institution sein Selbst verändert. Diese Subjektivierung führt nach Goffman

(ebd., S. 367) zu einer „selbstentfremdenden moralischen Knechtschaft“, die die

Diagnosen, Ausgrenzung und Sonderbehandlung wiederum rechtfertigen.

Ganz praktisch und anschaulich ist Exklusion in der Kommunikation über eine

Person in deren Abwesenheit, also über sie hinweg (vgl. Fuchs 2010a, S. 19).

Dies ähnelt der systemischen Sicht Luhmanns, der von Exklusionsindividualität,

von Vollinklusion in Teilbereichen der Gesellschaft spricht, beispielsweise der

Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Behindertenhilfe (vgl. Kap

3.1.4). Schon Simmel (1890, S. 199ff.) hat in seiner Theorie der Kreuzung sozialer

31

Kreise ähnliche Vorstellungen geäußert. Die Zahl der Kreise bzw. der Systeme wird

zum Beispiel durch die institutionelle Versorgung in Heimen, Tagesgruppen,

Werkstätten etc. vergleichsweise klein gehalten (vgl. Kap. 3.1.2).

Eine Funktion der Macht ist es Grenzen zu ziehen, zwischen dem was normal ist

und zur Gesellschaft gehört und dem anderen Fremdartigen, welches nicht der

gesellschaftlichen Norm entspricht. Durch Konstruktion und Zuschreibung von

Identitäten entsteht das Fremde, das Stigma, das selbst zur Institution werden kann.

Beispiele sind 'behindert', 'psychisch krank', 'kriminell', 'drogenabhängig', usw.

Aufgrund der Stereotypen entstehen Kategorien, die ermöglichen, „Menschen in

Blöcken“ (Goffman, 1973, S. 18) und unter Überwachung bzw. Kontrolle zu

managen.

Die Soziale Arbeit erhält die gesellschaftliche Aufgabe die Exklusion zu verwalten,

falls sie sie nicht vermeiden und Inklusion vermitteln kann (vgl. Lambers 2010, S.

116ff.).

Der Kampf um Inklusion bzw. Exklusion entsteht durch die Konkurrenz um

Ressourcen. Trotz deren ungleicher Verteilung scheint es aber 'Spielräume' zu

geben. Widerstand in Spielräumen entsteht durch Aktionen, durch aktives Handeln,

oft in überraschender und nicht kalkulierbarer Weise12. Allerdings gilt auch, im

Sinne Hegels, Freiheit muss ein Dasein haben. Soziale Arbeit kann beispielsweise

in Form des Empowerment dabei helfen (vgl. Kap. 3.4).

3.2.5 Widerstand

Foucault sieht die Möglichkeit des Widerstandes in der Dimension des

Selbstverhältnisses des Subjekts, in der Reflexion des Standpunktes.13 Auslöser des

Widerstandes kann die Bereitstellung von Wissen sein. Das Wissen der Betroffenen

kann auch von außen bereitgestellt werden. Nicht in Form von Bevormundung,

aber durch Spiegelung der eigenen Wahrnehmung und Beobachtung. Dabei gilt es

zu versuchen, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen. Auch partizipative

Prozesse führen zur ‚Selbst-Ermächtigung‘ (vgl. Kap. 3.4.3).

12 Vgl. 'dissipative Strukturen' und die 'Chaostheorie', z.B. bei Gloy (2014)13 Foucault beschreibt viele Formen des 'Ungehorsams', z.B. das 'Nein'-Sagen, die Verweigerung

und die Desertion und gibt durch sein politisches Engagement selbst ein Beispiel.

32

Gerade über diese aus der Tiefe wieder auftauchenden Wissensarten, diese nichtqualifizierten, ja geradezu disqualifizierten Wissensarten (das Wissen derPsychiatrisierten, des Kranken, des Krankenwärters, das des Arztes […] das Wissender Delinquenten usw.), die ich als Wissen der Leute bezeichnen würde und die nichtzu verwechseln sind mit Allgemeinwissen oder gesundem Menschenverstand, sondernim Gegenteil ein besonderes, lokales, regionales Wissen […] darstellen, das seineStärke nur aus der Härte bezieht, mit dem es sich allem widersetzt, was es umgibt;über das Wiederauftauchen dieses Wissens also, dieser lokalen Wissen der Leute,dieser disqualifizierten Wissensarten, erfolgte die Kritik (Foucault 1978, S.60f.).

Die Wahrnehmung der konkreten Lebenssituation, des konkreten Wissens der Leute

ist der gegenteilige Prozess zu den verallgemeinernden, komplexitätsreduzierenden

Prozessen, die Luhmann beschreibt. Foucault und Luhmann sind sich an dieser

Stelle sehr nahe. Die Verallgemeinerung, die Verwissenschaftlichung, bringt das

Kontextwissen, Foucault spricht von Realkonstitution der Erfahrung, zum

Verschwinden. Wahrheit im Diskurs ist in der Wahrheit der Erfahrung begründet,

die die Subjekte in ihrem komplexen und individuellen Kontext machen.

Mannheim spricht von der sozialen Situation: Er betont die Bedeutung des

Rückbezugs von Wissen und Denken auf die soziale Situation, auf die

existenziellen Bedingungen, unter denen das Wissen Sinn und Funktion erhält (vgl.

Jung 2007, S. 131ff.).

Foucault gibt für den Vorgang folgendes Beispiel. Er bezieht sich dabei auf eine

historische Situation, bei der ein Betriebsarzt gezwungen war, die strukturell giftige

(bleihaltige) Arbeitsumgebung zu ignorieren und stattdessen einzelne

Organerkrankungen zu diagnostizieren:

Die Funktion des Arztes war es, die wirkliche Kausalität zu verleugnen, indem ersagte: ‚es liegt an diesem Organ, an jener Verletzung, hieran und daran‘. Man gestandden Ärzten das Recht zu, die zu reparierenden Objekte zu benennen, oder eher nochdie Stellen der Dysfunktion der Objekte, niemals aber, die Bedingungen bekannt zumachen und zu denunzieren, unter denen man diese Objekte zerbrach, zerriß,fertigmachte, beschädigte. Vor allem durften sie niemals sagen: ‚Sie wissen genausogut wie ich, daß es ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen sind, die sie allmählichumbringen‘ (Foucault 1976, S. 97).

Wissen wird reduziert, die Bedingungen der Entstehung, die soziale Situation, wird

ignoriert und es entstehen Wahrheiten durch komplexitätsreduzierende Macht.

33

3.3 Zwischenresümee

Macht entsteht in der Komplexitätsreduktion. Beispielsweise werden durch

Massenmedien oder die Wissenschaft alltägliche komplexe Situationen

beschrieben. In diesen Beschreibungen verliert der Sinn, den die Handelnden ihrem

Handeln zuschreiben an Bedeutung. Unter Umständen wird er von den Beobachtern

durch Kategorien oder Typisierungen ersetzt. Der Sinnzusammenhang geht verloren

und wird neu konstruiert.

Eine Rückbindung des Wissens an die soziale Situation seiner Entstehung, eine

Suche nach dem Kontext der Soziogenese bzw. den koexistenziellen

Erfahrungswelten des Subjekts könnte Machtstrukturen in der Gesellschaft sichtbar

machen. Die nicht überschaubare Komplexität würde wahrgenommen, im

Bewusstsein der eigenen Konstruktion hinsichtlich der Beobachtung. Gleichzeitig

würde es dem Individuum in seinem Werden und seinem Handeln größere

Bedeutung und mehr Macht zuweisen. Dafür müsste über das Subjekt hinaus nach

seinem sozialen Ursprung gesucht werden (vgl. Jung 2007, S. 36ff.).

Wahrheit liegt in der komplexen sozialen Situation und in den Aussagen der

Subjekte, sie ist relativ und subjektiv. Im Gegensatz zur Konstruktion sozialen

Hilfebedarfs durch Institutionen müsste die Problemdefinition wieder bei den

Betroffenen in der sozialen Situation gesucht werden (vgl. Kleve 2003, S. 43).

Die Reflexion dieser Systematik relativiert in erster Linie den Wahrheitsanspruch

von Wissen bzw. Informationen. Wahrheit gilt nur relational zu den

Seinbedingungen bzw. der Perspektive. Anders gesagt, es gibt nicht schwarz und

weiß, wahr und unwahr, richtig und falsch. Eine Beschreibung der Gesellschaft mit

absolutem Wahrheitsanspruch ist unmöglich, da die soziale Situation in ihrer

Komplexität nicht wahrnehmbar ist und nicht wiedergegeben werden kann (vgl.

Mannheim 1985).

Foucault, und gewissermaßen auch Luhmann, sehen in autopoetischen Selbst-

Technologien eine Widerständigkeit zu den heteronomen Subjektivierungen von

außen:

34

Das Systemische und das Eigene, das Heteronome und das Autonome müssen in derhistorischen Dimension ihrer widersprüchlichen Symbiose befragt werden. Das Eineist ohne das Andere nicht zu denken. Es existiert keine Autonomie ohne systemischeZwänge. Es existiert aber auch kein soziales System ohne Verarbeitung der autonomenAnsprüche. Hierin liegt die Gefahr der Überwältigung, aber eben auch dasMöglichkeitsmoment neuer Subjektivitäten, die quer zu den systemischenErfordernissen liegen (Brieler 2008, S. 33).

Dieses Widerstandspotential, diese Möglichkeit der Emanzipation, diese Macht ist

nach Foucault immer präsent. Dieses Potential könnte Ansatzpunkt für die Soziale

Arbeit jenseits von Kategorien und Stereotypen sein. Die Aufgabe des

Sozialarbeiters wäre die Ermutigung, die Ermöglichung eines Widerstandes aus den

marginalisierten Individuen heraus. Er sollte Raum schaffen für die

Selbstentwicklung und Emanzipation des Klienten. Ausgangspunkt wäre der Klient

selbst, seine Sicht auf die Situation und seine Potentiale.

Im folgenden Kapitel soll nach Möglichkeiten der Selbstentwicklung, der

Selbstermächtigung, gesucht werden. Welche Rolle spielt in dieser Perspektive die

Soziale Arbeit, die beispielsweise mit dem Schlagwort 'Empowerment' den

Klienten gegenübertritt?

35

3.4 Praxisrelevanz der Reflexionen zur Macht

Theorie ohne Praxis bleibt leer, Praxis ohne Theorie ist gefährlich. Erst durch

Reflexion besteht die Möglichkeit, das beobachtete Verhalten, vermeintliche

Erkenntnisse und Wissen gegenüber der Welt zu hinterfragen. Theorien fordern

dabei zu Reflexionen heraus und helfen, praktisches Handeln zu begründen.

Die Einheit der Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis und die Wirkung auf

das Handeln von Sozialarbeitern wird in der neuen Fassung der Definition 'Sozialer

Arbeit' der IFSW (2014) hervorgehoben:

Soziale Arbeit ist eine praxisorientierte Profession und eine wissenschaftlicheDisziplin, dessen bzw. deren Ziel die Förderung des sozialen Wandels, der sozialenEntwicklung und des sozialen Zusammenhalts sowie die Stärkung und Befreiung derMenschen ist. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die Menschenrechte,gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlagen derSozialen Arbeit. Gestützt auf Theorien zur Sozialen Arbeit, auf Sozialwissenschaften,Geisteswissenschaften und indigenem Wissen, werden bei der Sozialen ArbeitMenschen und Strukturen eingebunden, um existenzielle Herausforderungen zubewältigen und das Wohlergehen zu verbessern.

Die 'theoretische Stütze' wird in dieser Definition ausdrücklich auch auf tradierte,

kulturelle Diskurse ausgeweitet. Nicht nur indigenes Wissen, sondern auch das

Wissen westlicher Theorien hat kulturellen Hintergrund. Im Sinne der Genealogie

Foucaults (1973) sollte der Sozialarbeiter die Erkenntnisse und das Wissen

hinterfragen, als ob es Informationen einer fremden Kultur wären. Es gilt der

Tendenz des etablierten Diskurses vorzubauen, der „die Erfahrung von ihren

eigentlichen Entstehungskontexten“ (Kögler 2004, S.124) abschneidet. Erst die

Perspektive, der Kontext, die Situation der Subjekte begründet die Wahrheit eines

Wissens.

So werden auch die Machtzusammenhänge bewusst, die durch kontextfreie

Aussagen und Behauptungen verschleiert werden. Popitz (2004, S. 15) ist

überzeugt, dass „Macht 'gemacht' ist und anders, als sie ist, gemacht werden kann“.

Hinsichtlich des Klienten ist das Ziel die Wiedereinsetzung des konkreten

Erfahrungssubjekts in den Diskurs. Dafür ist die Selbst-Ermächtigung der

individuellen Subjekte nötig (vgl. Foucault 1976).

Dieses Kapitel soll beispielhaft Möglichkeiten des professionellen Sozialarbeiters

36

skizzieren, marginalisierte Menschen mit symbolischem Kapital auszustatten.

Insofern geht es um die Früchte der Reflexion. Sie sollten in der Selbstreflexion

und einer entsprechend gefestigten Haltung des begleitenden Sozialarbeiters

fundieren (vgl. Kap. 4.1). Eine verstehen-wollende Haltung und aufmerksame

Wahrnehmung des Klienten ist der Ausgangspunkt. Denn Sozialarbeiter in der

helfenden Beziehung tragen viel Verantwortung:

Der Sozialarbeiter hat einerseits die Aufgabe Komplexität zu reduzieren, um sich

und dem Klienten einen Überblick über die soziale Situation zu verschaffen. Die

Komplexitätsreduzierung ist auch nötig, um anhand von Theorien die Situation zu

reflektieren.

Andererseits hat der Sozialarbeiter die Pflicht, die Komplexität zu erweitern und die

soziale Situation multiperspektivisch, bestenfalls multiprofessionell zu erfassen und

dem Klienten die Reflexion der Situation zu ermöglichen. Der Klient beurteilt die

Situation von seinem Standpunkt (inkl. seiner Kultur, seinen Werten, seiner

biografischen Erfahrungen). Unterstützung erfährt der Klient durch die

Ermöglichung seines Reflexionsvorgangs durch Zuschreibung von Macht bzw.

symbolischen Kapitals (Bourdieu).

Ein Einsatz von Methoden ohne eine reflektierte Haltung reduziert deren

Effektivität erheblich. Die dialogische Beziehung, die persönliche Integrität des

Sozialarbeiters und seine Selbst- und Fremdachtung, und nicht zuletzt seine eigene

psychische Gesundheit könnten gefährdet werden (vgl. Kap. 4.1). Paradoxien,

vielfältige widersprüchliche Aufträge des Sozialarbeiters (doppeltes Mandat) und

Übertragungen und Projektionen verbunden mit entsprechender emotionaler

Belastung können in berufliche Krisen oder zum Burn-Out führen (vgl. Ebert 2008,

S. 24; Iser 2015a).

Der reflektierte Sozialarbeiter ist dagegen machtvoll. Er kann seine Macht zur

Ermächtigung der Klienten einsetzen. Die Ermächtigung der Subjekte verbunden

mit der Ermöglichung von Selbstreflexion im Sinne Foucaults eröffnet ihnen einen

Möglichkeitsraum des Wachstums und der Entwicklung. Das gilt sowohl für den

Klienten, als auch dem Sozialarbeiter.

37

3.4.1 Selbst-Ermächtigung - Empowerment

Foucault beschreibt einerseits das Subjekt als Produkt der Machttechniken, sieht

aber andererseits die Möglichkeit der Selbst-Ermächtigung durch Selbstsorge und

Selbstbildung. Das Subjekt kann sich gegenüber der Umwelt und den Einflüssen

distanzieren bzw. selbstbestimmt verhalten. Es kann seine Lebenspraxis ändern.

Dafür ist das Subjekt aber auf eine bestimmte strukturelle Umgebung und

Unterstützung angewiesen - ein Aufgabenfeld des Sozialarbeiters im Kampf gegen

Benachteiligung und strukturelle Gewalt.

Der Begriff 'Empowerment' hat im Deutschen keine direkte Wortentsprechung. Er

wird in der Sozialen Arbeit sinngemäß als Stärkung der Eigenmacht oder

Selbstbefähigung verwendet. Ziel des Empowerment ist es „den Handlungs- und

Möglichkeitsspielraum der Menschen (wieder) zu erweitern, indem Wege

beleuchtet und erarbeitet werden“ (Lenz 2012, S. 81). Ziel ist es, Individuen

Verwirklichungsmöglichkeiten zu eröffnen, eine Chance bzw. die Möglichkeit zur

Erreichung ihrer Ziele zu eröffnen. Kraus (2002, S. 197) fasst das in folgender

moralischen Maxime für Sozialarbeiter zusammen: „Sei um die Erweiterung der

Möglichkeiten deines Klienten bemüht! [Hervorhebung im Original]“. Das Ziel

des Empowerment ist nicht die Erreichung des Ziels der Betroffenen (vgl. Wirth

2014, S. 540f.).

Empowerment ist als Befähigung zur Sinngenerierung im Gegensatz zur

zwangsweisen Sinnübernahme zu verstehen. Der Sozialarbeiter verzichtet auf den

Einsatz von Macht bzw. setzt sie zielgerichtet ein, um dem Klienten zu

ermöglichen, 'seinen' eigenen Sinn zu erkennen. Erst durch Anschlusshandlungen

wird der Sinn erkennbar, der sich aber auch permanent verändern kann (vgl. Fuchs

2010a, S. 13ff.).

Empowerment geht von den Ressourcen der Menschen und seinem individuellen

Kontext aus. „Handlungsleitend für den Therapeuten/Berater ist eine Abkehr von

paternalistischen Handeln hin zu einem professionellen Verständnis, das von

Kooperation und Partnerschaftlichkeit geprägt ist“ (Lenz 2012, S. 82).

Foucault (1988) beschreibt ein Beispiel, wie aus der andauernden,

individualisierenden Zuneigung Kontrolle und individualisierende Macht wird: Er

38

untersuchte das urchristliche Bild des Hirten in alten hebräischen und griechischen

Schriften und die 'pastorale Geschichte'. Aus dem Bild des dienenden Hirten wird

durch die folgenden vier beschriebenen Schritte der Verallgemeinerung machtvolle

Führung und Bevormundung:

Extreme Ausweitung der Verantwortlichkeit des Hirten (Seelenverwalter,

Moralrichter, Prüfer)

Verpflichtung der ‚Schafe‘ zu absoluten Gehorsam (Unterordnung, totale

Abhängigkeit, Unterwerfung)

Besonderes Wissensverhältnis (Zustand jedes einzelnen ‚Schafes‘ muss

genau bekannt sein, Kontrolle, Selbstprüfung)

Praktiken der Selbstzüchtigung

Das vordergründige Ziel dieses modernen Hirtenmodells ist die Fürsorge um das

individuelle Wohlbefinden, die Reinigung der Seele. Im Hintergrund steht nach

Foucault der Unterwerfungsritus unter eine pastorale Autorität, und zwar nicht nur

des einzelnen Individuums, sondern der ganzen Herde (vgl. Foucault 1988).

Das Individuum hat folglich zwei Möglichkeiten. Entweder es lässt sich führen

oder es führt sich selbst. Eine Selbstführung ist allerdings nur möglich im

Bewusstsein seines Selbst, der eigenen Fähigkeiten und Stärken (vgl. Kap. 4.1.2).

Hier knüpft der Gedanke des Empowerment an. Empowerment ist eine

professionelle Haltung, in der sich der Sozialarbeiter Macht nehmen lässt bzw. sie

dafür nutzt, den Klienten in seine Macht zu führen. Voraussetzung ist die Reflexion

der Machtsituation. Herwig-Lempp (2007) fordert vom Sozialarbeiter eine

„Machtbewusstseinserweiterung“. Dem partnerschaftlichen Verhältnis muss der

fürsorglich-behütende Paternalismus weichen (vgl. Herriger 2014). Der

Sozialarbeiter tritt dem Klienten in einer Haltung der Gleichwertigkeit gegenüber.

Er sucht mit dem Klienten nach dessen Ressourcen zur individuellen Entwicklung

und Problemlösung in seinem sozialen Kontext. Rogers (2007) und die Vertreter der

humanistischen Psychologie sprechen von der 'Selbstaktualisierungstendenz' des

Menschen, dass heißt, jeder hat zu jeder Zeit alle Lösungen für seine Probleme in

sich. Im Dialog kann der Klient die Krise als persönliche Chance erkennen.

39

Empowerment hat das 'sokratische Ziel' im Klienten einen Erinnerungsprozess in

Gang zu setzen, um latent vorhandenes Wissen um die Lösung seiner Probleme

zutage zu fördern (vgl. Kap. 4.1). Moralische Wertungen und Problemzuweisungen

an die Klienten sind dabei tabu. Vielmehr müssen die eigenen Erwartungen des

Sozialarbeiters gegenüber dem Klienten überprüft werden und gegebenenfalls ein

Prozess der Selbstveränderung in Gang gesetzt werden. Ziel ist die Selbstachtung

genauso wie die Fremdachtung. Wenn Klient und Sozialarbeiter tatsächlich

gleichwertig und gemeinsam den Weg gehen, werden sie beide vom Empowerment

profitieren.

Herwig-Lempp (2009) fasst diesen Ermächtigungsprozess wie folgt zusammen:

SozialarbeiterInnen sind dann am mächtigsten, wenn sie ihren KlientInnen Machtunterstellen [Hervorhebung im Original], wenn sie von vorneherein davon ausgehenund einfach voraussetzen, dass ihre KlientInnen über das Vermögen verfügen,Mögliches wirklich werden zu lassen. Ihre Aufgabe ist es, den Machtspielraum derKlientInnen auszuweiten–mit den KlientInnen auszuloten, was (noch) möglich ist.

Es sollte tatsächlich um die Verbesserung der Teilhabe und die Ermächtigung des

Klienten gehen. Eine Beteiligung pro forma, um ihn zur Ruhe zu stellen oder zu

kontrollieren, wäre ein Spiel mit der Angst des Klienten, noch weiter

ausgeschlossen bzw. marginalisiert zu werden (vgl. Kap. 3.2.2).

Dass echtes Empowerment in der Praxis selten eingesetzt wird, lässt sich

vermutlich auf den Umgang mit der Macht zurückführen: Empowerment bedeutet

für den Sozialarbeiter, sich Macht nehmen zu lassen. Die Achtung und Stärkung der

Verantwortung des Klienten scheinen die Macht und den vermeintlichen 'Einfluss'

auf den Klienten zu reduzieren. Das erschwert die Rechtfertigung der Tätigkeit des

Sozialarbeiters (und des Systems 'Soziale Arbeit'). Er muss sich in Frage stellen

lassen und sich immer wieder selbst in Frage stellen bzw. vom Klienten irritieren

lassen (vgl. Müller 2012, S.183). Letztlich geht es darum das Hilfeverhältnis, das

System aufzulösen. Es geht nicht um die Rechtfertigung, sondern um die

Übernahme von Verantwortung auf beiden Seiten (vgl. Kap 2.2).

Eine typische Form des Empowerment ist die Selbsthilfegruppe.

3.4.2 Selbsthilfegruppe

Als demokratische und moderne Bewegung ist die Selbsthilfegruppe die

40

Umsetzung des Leitbildes des Empowerment: „Selbstbestimmung in eigenen

Belangen, Mitbestimmung bei Angelegenheiten, die die eigene Person im Verbund

mit anderen betreffen, sowie Mitwirkung bei persönlichen und gemeinschaftlichen

Angelegenheiten“ (Engelhardt 2011, S.9). Selbsthilfeinitiativen stehen dabei den

traditionellen (mächtigen) Institutionen des Systems 'Soziale Arbeit' gegenüber. Oft

haben sich lokale Gruppen zu losen Verbänden zusammengeschlossen. Im

Gegenüber zu den 'professionellen' Organisationen fordern sie diese heraus,

insbesondere in der Umsetzung des Empowerment.

Aufgaben der Selbsthilfegruppen sind unter anderem, Betroffene einer ähnlichen

Problemlage im Wissen zusammen zu bringen, dass sie selbst die Möglichkeiten

zur Verbesserung ihrer Lebenssituation in sich tragen. Darüber hinaus spielen der

Erfahrungsaustausch und die Entwicklung von Handlungsansätzen auch über die

Selbsthilfegruppe hinaus eine wichtige Rolle. Die Selbsthilfegruppe vereint die

personenzentrierte, wie auch die sozialpolitische Komponente des Empowerment.

In der Selbsthilfegruppe können gesellschaftliche Ausgrenzung, institutionelle

Versorgungsmängel, eingeschränktes Verständnis von Fachkräften und Problemen

im eigenen Selbstverständnis überwunden werden (vgl. ebd., S. 42).

In ihrer Tätigkeit sind Selbsthilfegruppen sehr erfolgreich, meist ohne die

Mitwirkung von sogenannten Fachkräften. Dies könnte an der Nähe zur komplexen

sozialen Situation liegen, aber auch in der starken Differenzierung der

Selbsthilfelandschaft in Deutschland.

Selbsthilfegruppen handeln in der sozialen Situation. Sie suchen und nutzen

Möglichkeiten der Macht, um sich selbst und gegenseitig aus marginalisierten

Umständen zu befreien. Selbsthilfegruppen brauchen symbolisches Kapital, in

Form von Anerkennung, Ermutigung und Vertrauen. Nur sehr langsam wächst in

der deutschen Gesellschaft und im System 'Soziale Arbeit' das Bewusstsein dafür,

und damit auch die Unterstützung der Arbeit von Selbsthilfegruppen.

Aufgabe des Sozialarbeiters ist die Ermöglichung der Bildung von

Selbsthilfegruppen und die Ermutigung der Betroffenen zur Nutzung bzw. zum

Zusammenschluss (vgl. Engelhardt 2011; Herriger 2014, S. 130ff.).

Ein Schritt in diese Richtung sind partizipative Prozesse:

41

3.4.3 Partizipative Prozesse

Darunter versteht man die direkte Beteiligung bzw. Einbindung der Betroffenen in

institutionelle Prozesse. Neben formalen Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten

in Einrichtungen sind beispielsweise partizipative Forschungsprozesse wichtig. Die

Partizipation bei der Generierung von Wissen ermöglicht eine direkte Teilhabe an

den daraus entstehenden Machtprozessen. Die Betroffenen sind nicht mehr nur

Objekte der Forschung, sondern bestimmen den Forschungsgegenstand, die

Methoden usw. mit.

Zahlreiche Entscheidungsprozesse in sozialen Einrichtungen, zum Beispiel in der

Organisations- und Qualitätsentwicklung, lassen sich partizipativ durchführen.

Durch die Einbindung der Betroffenen in den gesamten Prozess können sie ihr

Wissen bezüglich der komplexen sozialen Situation einbringen. Ihre Bedürfnisse

und ihre Perspektiven werden dadurch 'systemrelevant'. Die Qualität der

institutionellen Prozesse steigt, gleichzeitig aber auch die Emanzipation der

Betroffenen, die deshalb wiederum höhere Qualitätsansprüche stellen können

In partizipativen Prozessen können Sozialarbeiter ihre Macht nutzen, um

marginalisierte Personen durch Beteiligung zu ermächtigen. Die Betroffenen

erhalten sowohl Anerkennung als Experten ihrer Situation, wie auch Mitsprache-

und Mitwirkungsrechte hinsichtlich der Verbesserung ihrer Situation. Dadurch

erfahren sie Selbstwirksamkeit. Ein Ergebnis dieser Prozesse ist neben der

Verbesserung ihrer Lebensbedingungen die persönliche Weiterentwicklung der

Betroffenen. Partizipative Prozesse können in einen für alle Beteiligten hilfreichen

Kreislauf münden: Emanzipiertere Klienten fordern mehr Qualität und Mitsprache,

die sich wiederum positiv auf die persönliche Entwicklung und Emanzipation

auswirken. Im Prozessverlauf kann die Selbstreflexion des Sozialarbeiters zu einem

besseren Verständnis seiner Macht und Ohnmacht führen. Dieses Bewusstsein

erleichtert ihm seine Arbeit. Zum Beispiel kann er Verantwortung bei dem Klienten

belassen und ihm aktiv Assistenz bei der Problemlösung anbieten.

Das Ziel der persönlichen Entwicklung hat auch die Biografiearbeit.

42

3.4.4 Biografiearbeit

Biografiearbeit ist eine personenzentrierte Forschungsmethode. In einem

professionellen Setting reflektiert eine Person ihr Leben (vgl. Hölzle 2011). Der

Begriff zielt durchaus auch auf die professionelle Auseinandersetzung des

Sozialarbeiters mit der eigenen Lebensgeschichte (vgl. ebd., S. 31). Allerdings wird

der Begriff häufiger im Kontext der begleiteten und strukturierten Reflexion und

Interpretation der Lebensgeschichte durch den Klienten genutzt. Anlass ist oft ein

Bruch in der Biografie oder der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Der Klient

blickt zurück, um die Vergangenheit zu bewältigen, das Erleben der Gegenwart zu

verstehen oder Ressourcen für die Zukunft zu identifizieren. Die Biografiearbeit

bemüht sich dabei um Reframing. Erinnerungen sollen in einen neuen Rahmen

gestellt und dadurch besser versteh- und akzeptierbar werden. Oft besteht der

Wunsch die biographischen Gedächtnisinhalte zu dokumentieren (ebd., S. 34).

Wirklichkeitskonstruktionen werden in Verbindung mit ihrer Entstehungsgeschichte

und der Komplexität des sozialen Kontextes in Verbindung gebracht. Diese

Rekontextualisierung ist eine Komplexitätserweiterung, die dem Klienten nicht nur

Verständnis für seine Biografie und seine aktuelle Situation verschafft, sondern

auch Selbstwirksamkeit und Handlungsmacht in der historischen Situation

erkennen lässt und in der aktuellen Situation verschaffen kann (vgl. Kap. 3.4).

Durch die Biografiearbeit kann die Identitätsentwicklung unterstützt werden,

insbesondere das Selbstwertgefühl. Das Leben wird rückblickend als sinnvoll

erlebt. Bedrohliche Situationen können neu bewertet werden. Erfahrungen und

Strategien werden als Kompetenzen und Ressourcen erkannt. Alte Lebensziele,

persönliche Beziehungen und vieles mehr können zur Bewältigung zukünftiger

Situationen oder einer Neuausrichtung genutzt werden (vgl. Ruhe 2014).

Nimmt die betroffene Person die Anregung zur Reflexion und gegebenenfalls zu

einem Perspektivwechsel an, kann sie dadurch ihr Selbstbewusstsein steigern.

Eigenes Handeln wird als bedeutsam erkannt und kann positiv bewertet werden.

Das Bewusstsein der eigenen machtvollen Handlungsmöglichkeiten wächst. Dies

geschieht vor allem dann, wenn der Klient seinen Erkenntnisweg in der

Biografiearbeit weitestgehend selbst bestimmt. Nicht nur das Ergebnis der Arbeit,

43

sondern der Prozess ist wichtig: Der Sozialarbeiter reflektiert achtsam die Aussagen

des Klienten, im Wissen um sein Nichtwissen hinsichtlich dem Erleben und der

Komplexität des geschilderten Lebens.

3.4.5 Die SIVUS- Methode

Die SIVUS-Methode ist eine systematische Beschreibung von Grundlagen und

Methoden in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. Sie wird weltweit

in über 50 Ländern erfolgreich angewendet (Walujo & Malmström 1996, S. 10f.).

Die in diesem Konzept beschriebene Haltung und das Menschenbild kann

beispielhaft für Sozialpädagogen in der Arbeit mit Klienten sein. Jakob (2015, S. 8)

spricht vom „sozialen Reifen“ in zwei Dimensionen: einerseits dem Weg der

Menschen zueinander, andererseits dem Weg zu einem reiferen Selbst. Beteiligt

sind sowohl die sogenannten Begleiter, die professionellen Helfer, wie auch die

Menschen, die auf dem Weg zu mehr Selbständigkeit, Selbstvertrauen und

Zusammengehörigkeit begleitet werden. Die Zusammengehörigkeit, das

'Miteinander Leben und Lernen' in der Gruppe spielt in diesem Konzept eine

wichtige Rolle. In allen Lebenszusammenhängen werden Fähigkeiten, Bedürfnisse

und Handlungen der Menschen ernst genommen. „Nur im Tun und Reflektieren

erfährt man, was die Ideen bedeuten. Deshalb können wir sie erst in Verbindung mit

Aktivitäten erkennen und entwickeln“ (Walujo & Malmström 1996, S. 30). Im

Gegenüber erfolgt reflexiv der Abgleich von Fremd- und Selbstbild und es

entwickelt sich Selbstvertrauen und Verantwortungsbewusstsein füreinander (vgl.

Jakob 2015; Walujo & Malmström 1996).

Der Verzicht auf pädagogische Übermacht, die Akzeptanz des Gegenübers als

gleichwertig, die Begegnung im 'Du' ist eine wirksame Form der Aufwertung des

Anderen bzw. der Übergabe bzw. Anreicherung von symbolischen Kapital. Geleitet

wird diese Art der Ermächtigung einerseits vom Bedürfnis dem Anderen zu helfen,

sich zu entfalten und zu entwickeln. Anderseits leitet die Erkenntnis der eigenen

Bedürftigkeit, des eigenen Unwissens, der eigenen Ohnmacht im Wissen um die

Komplexität der Situation. Diese Haltung entsteht durch Reflexion und der

Erkenntnis der inneren Verbundenheit und Angewiesenheit der Menschen

untereinander (vgl. Kap. 2.3).

44

„Handle stets so, daß Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst“ (Foerster 1988, S. 33)!

4 Reflexion in der Praxis

Reflektierte Sozialarbeiter können Klienten ermutigen, einen Weg der persönlichen

Reflexion mit dem Ziel der Stärkung des Selbstbewusstseins und dem Erwerb

benötigter individueller Ressourcen zu gehen. Spiegel (2004, S. 85) weist nach,

dass es sich dabei eher um eine 'Kunst' handelt, als um Können: „In einem

Handlungsfeld, in dem berufliche Handlungen als einmalige, nicht

standardisierbare bzw. reproduzierbare Schöpfungsakte erscheinen, ist es schwierig,

Regeln und Maßstäbe für professionelles Handeln zu formulieren“.

So vielfältig wie der Kreis der Adressaten Sozialer Arbeit sind auch ihre

differenzierten Einstellungen und Werte und die daraus folgenden Ansprüche an

den Sozialarbeiter. Die Pluralisierung und Differenzierung erhöht die Komplexität

des Arbeitsfeldes und erschwert die Orientierung des Sozialarbeiters (vgl. Kleve

2003, S. 33f.).

Das Handlungsfeld ist, wie bisher schon angedeutet wurde, geprägt von

Paradoxien. Die Anwendung einer Theorie auf den Einzelfall ist an sich ein

Paradoxon, außerdem die notwendige Abstraktion des Einzelfalls, um die

Erkenntnisse wieder auf eine gleiche oder ähnliche Situation zu beziehen (vgl.

Spiegel 2004, S. 86f.). Luhmann (1993, S. 346) unterscheidet die Fragen „'Was ist

der Fall? und 'Was steckt dahinter?'“ und fordert die "Einheit der Weltsicht" (ebd.).

Kleve (2009, S. 103f.) resümiert im Hinblick auf die große Differenzierung und

Komplexität des sozialen Arbeitsfeldes, dass die Reflexion der zahlreichen

Ambivalenzen nur zu einer sozialarbeiterischen Haltung des 'Sowohl-als-auch'

führen kann.

In diesem vierten Kapitel der Studie soll deshalb untersucht werden, wie der

Sozialarbeiter unter den genannten Bedingungen reflektieren kann. Was gehört zu

der ‚Kunst‘, was bedeutet ‚Einheit der Weltsicht‘?

Die folgenden Ausführungen gehen deshalb von der konkreten ‚Machtreflexion‘

weg. Es geht um den allgemeinen Kontext, der Sozialarbeitern die Reflexion

ermöglicht bzw. vereinfacht. Das vierte Kapitel schließt damit an das Zweite an.

45

Eine wesentliche Voraussetzung für Reflexion ist die Haltung bzw. der Habitus

(Kap. 4.1- 4.4). Ein letzter Schwerpunkt soll anschließend auf die Kurzdarstellung

unterschiedlicher Methoden der Reflexion gelegt werden (Kap. 4.5).

4.1 Haltung des Sozialarbeiters

In erster Linie geht es um die Herausbildung und permanente Weiterentwicklung

eines professionellen sozialarbeiterischen Habitus. Wesentlich ist dafür die Haltung

(vgl. Kap. 2):

Lohnend scheint ein Blick auf die von Platon überlieferte antike Person Sokrates:

Sokrates stellte seinen Gesprächspartnern Fragen, umkreiste mit diesen Fragen die

Problemstellung des Gesprächs und führte den Partner im Dialog zu seinem Wissen

um die Sache. Betrachtet man die Haltung des Sokrates in seinen mäeutischen

Dialogen (vgl. Kap 4.2), fällt auf, dass er sich nicht in die Rolle des Experten gibt,

sondern einerseits das Gespräch moderiert und gleichzeitig als Lernender mit

seinen Gesprächspartnern gemeinsam auf der Suche nach dem Ergebnis der

Untersuchung ist. Es formt sich ein gleichberechtigter Dialog. Nörenberg (2007, S.

102) nennt ihn „dialogischen Aushandlungsprozess zwischen beiden

Gesprächspartnern“. Kern dieses themenzentrierten Dialogs ist die

Beobachterposition, und zwar die Beobachtung 2. Ordnung. Das Gespräch, die

Kommunikation wird beobachtet und hinsichtlich von Vorannahmen und dem

sozialen Entstehungskontext der Aussagen reflektiert. Wesentlich in seiner

beobachtenden Haltung ist, dass Sokrates sich aller Bewertungen der Äußerungen

des Dialogpartners enthält.

Mit Blick auf den Sozialarbeiter wird einerseits der bewusste Umgang mit seiner

Macht durch die nicht wertende und gleichberechtigte Haltung deutlich,

andererseits das Bewusstsein der relationalen Haltung zu Wissen und Erkenntnis.

Gemeinsam mit dem Klienten werden Einsichten gewonnen. Der Sozialarbeiter

kann durch Fragen aus der Beobachterposition vermeintliche Gewissheiten des

Dialogpartners verunsichern, um neue Perspektiven zu eröffnen. Gleichzeitig ist es,

wie oben schon dargestellt, Aufgabe des Sozialarbeiters, die Aushandlungsfähigkeit

des Klienten durch Ermächtigung herzustellen (vgl. Kap. 3.4; Kraus 2002, S.

184f.).

46

Zur Haltung des Sozialarbeiters gehört auch die Akzeptanz, das ein Mensch einen

anderen, zum Beispiel der Sozialarbeiter den Klienten, nicht direkt beeinflussen

kann (vgl. Kap. 3.1.4). Veränderungen des Klienten beruhen auf selbstreferentiellen

Prozessen. Das relativiert die Wirkung, die Sozialarbeiter oft ihren Interventionen

zuschreiben. Sozialarbeiter können getrost auf allgemeinverbindliche

Problemlösungen verzichten, gibt es doch immer verschiedene Lösungswege.

Klienten gehen den Weg, der ihnen am sinnvollsten erscheint. Sozialarbeiter haben

die Aufgabe, Räume und Möglichkeiten für Entwicklungen zu arrangieren und

dadurch irritierende Impulse (Perturbationen) zu selbstreferentiellen

Problemlösungen der Klienten zu geben. Menschen, als autopoietische Systeme,

können lernen, sich selbst zu aktualisieren (vgl. Kleve 2003, S. 70ff.; Kurtz 2006).

Viele weitere Faktoren der professionellen Haltung könnten aufgezählt werden,

beispielsweise Authentizität und Offenheit (Rogers, Cohn), Achtsamkeit (Perls),

Akzeptanz des Anderen und Fremden (Simmel) usw. Im Rahmen der vorliegenden

Arbeit soll aber im Folgenden das für die Haltung wichtige Thema 'Wissen und

Nichtwissen' aus dem Kapitel 2.1 weiter vertieft werden.

47

4.2 Haltung des Nichtwissens und Verstehen-Wollens

Vom Sozialarbeiter wird gefordert, sein Handeln zu begründen. Aber wie ist das

möglich, wenn man nicht weiß, was am Ende herauskommt (vgl. Kurtz 2006)?

Diese typische Situation des Sozialarbeiters wird als Technologiedefizit bezeichnet:

Lineare Interventionen mit gesicherten Auswirkungen sind im Umgang mit

Menschen unmöglich. Gaiwinkler & Roessler (2012, S. 290) postulieren: „Die

Expertise, die notwendig ist, um professionelle Hilfe nützlich zu gestalten, lässt

sich unterteilen in die Expertise des Wissens und die Expertise des Nichtwissens“

(vgl. Kap 2.1).

Nörenberg (2007, S. 33ff.) vergleicht diese Situation mit der Art des fragenden

Dialoges von Sokrates. Sokrates behauptete von sich, nicht zu wissen14. Seine

entscheidende Frage ist: 'Was ist das?' Die dialogische Gesprächstechnik, die

Mäeutik, war sein Wissen. Sokrates selbst nannte diese Methode 'Philosophische

Hebammenkunst'. Seine Erkenntnisse endeten aber meist in der Feststellung, dass

die Dinge nicht zweifelsfrei und absolut erkennbar und erklärbar sind. Sokrates

erkannte die „Beschränktheit der eigenen Wahrnehmung und seiner Abhängigkeit

vom Standpunkt“ (ebd., S. 46). Er findet unter seinen Gesprächspartnern

niemanden, der weiser ist als er, der von sich selbst sagt, dass er nicht weiß. Die

Dialogpartner glauben über bestimmte Sachverhalte genau Bescheid zu wissen und

verabsolutieren und verallgemeinern ihr spezifisches Wissen. Sokrates führt durch

sein Fragen das Wissen auf das Konkrete zurück und weist nach, dass es anderen

Perspektiven nicht mehr standhält. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es unmöglich

ist zu wissen, was man weiß und was man nicht weiß. Beide Seiten der

Unterscheidung, was gut und schlecht ist, sind nicht gleichzeitig erkennbar.

Sokrates hatte die „grundsätzliche und nicht zu hintergehende Begrenztheit

menschlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit“ (ebd., S. 58) erkannt.

In der Antike wurden Selbstsorge und Selbsterkenntnis hoch geschätzt und waren

gesellschaftliche Lebensziele. Die Selbsterkenntnis war der Weg bzw. ein

Hilfsmittel für die Selbstsorge. Die Selbsterkenntnis ist folglich eine Praxis des

Seins nicht der Erkenntnis (vgl. Foucault 2010). Das ist sehr wichtig für die

14 Betont sei, dass 'nicht wissen' etwas anderes meint als 'nichts wissen'.

48

professionelle Haltung: Die Praxis des Seins äußert sich zum Beispiel in

Achtsamkeit, gewaltfreier Kommunikation und in der Haltung des „Nichtwissens“

(Kleve 2014).

In der sozialen Situation wissen wir nicht, welche Folgen unser Handeln hat, oft

kommt es anders als gedacht. Das Verhalten der Klienten ist oft unverständlich und

kann provokant wirken. Sozialarbeiter reagieren eventuell mit Ablehnung und

bestätigen damit vielleicht alte Erfahrungen der Klienten. Dabei müssten sie

wissen, dass die Klienten subjektive gute Gründe für ihr Verhalten haben (vgl.

Gaiswinkler & Roessler 2012, S. 291).

Es ist besser, sich auf diese Unvorhersehbarkeit einzulassen, als die verbreitete

Haltung des allmächtigen Profis einzunehmen (vgl. Kap 3.4). Der Sozialarbeiter

kann den Klienten nicht gänzlich verstehen, er kann sich nur selbst eine Vorstellung

konstruieren. Seine Idee oder Diagnose, geprägt durch Einstellungen und

Erfahrungen, ist „unterkomplex“ (Nassehi 2015, S. 98). Systemisches Verstehen ist

eine Art Hypothesenbildung im Bewusstsein des Nichtwissens, der

Abgeschlossenheit und Eigenreferenz der Systeme 'Sozialarbeiter' und 'Klient' und

der autopietischen Funktion dieser Systeme. Erst die Reaktion des Klienten auf das

Handeln des Sozialarbeiters gibt einen Hinweis darauf, was er verstanden hat. Die

Wahrscheinlichkeit des Nichtverstehens, dass heißt des 'Nichtwissens' bzw.

'Falschwissens' ist hoch. Deshalb ist das „Wissen über den Umgang mit

Unsicherheit und Ungewissheit [Hervorhebung im Original]“ (Kurtz 2006, S. 550)

bedeutsam.

Kleve (2014, S. 220f.) fordert Sozialarbeiter zur therapeutischen Enthaltsamkeit

auf: Es stellt das „abendländische Kasualmodell“ (ebd., S. 221) in Frage: Die

Lösung des Problems setzt nicht unbedingt dessen Analyse voraus. Das „Phänomen

des Nichtwissens“ (ebd., S. 216) hilft Sozialarbeitern auf endgültige Diagnosen zu

verzichten und Interpretationen und Hypothesen immer wieder in Frage zu stellen

bzw. sie in der sozialen Situation zu überprüfen (vgl. Kap. 4.5.1). Hypothesen

messen sich nicht am Diktat des 'falsch oder richtig': Die Frage ist, inwieweit sie

dem Klienten bzw. dem Prozess hilfreich sind. Mit dem „gekonnten Einsatz des

Nichtwissens“ (Kleve 2014, S. 216) kann der Sozialarbeiter mit entsprechenden

49

Methoden eine „Ökologie der Transformation“ (ebd., S. 220) schaffen, eine

Umwelt, die Veränderungsprozesse und Entwicklung des Klienten aus eigener Kraft

ermöglicht.

Die Haltung des Nichtwissens und Verstehen-Wollens ist eine strategische und

induktive Methode im Rahmen des Arbeitsbündnisses. Wichtigster Faktor ist

sicherlich das bedingungslose und akzeptierende Zuhören, wie Freud es

propagierte. Der Klient kennt den Weg zur Lösung seiner Probleme und ist mit

Ressourcen und Selbstheilungskräften ausgestattet. Durch Zuhören und im Dialog

versucht der Sozialarbeiter den Klienten zu verstehen. Er ist gewissermaßen

neugierig, was für den Klienten wichtig ist und kann die Stärken und Potentiale des

Klienten entdecken. Der Sozialarbeiter exploriert die Ziele des Klienten und kann

ihm helfen, seinen Bezugsrahmen und seine Selbstwahrnehmung zu verändern. Der

Klient generiert selbst Wissen und erkennt seinen Weg (vgl. Gaiswinkler &

Roessler 2012, S. 292f.).

Offensichtlich ist bei dieser Haltung auch die Machtzuschreibung an den Klienten.

Die Haltung des Nichtwissens ist gleichzeitig ein Wissen um die Komplexität der

Situation. Nur mit fortgeführter Infragestellung der eigenen Diagnosen und

Hypothesen bzw. der Befragung und Erkenntnissuche mit dem Klienten wird der

Sozialarbeiter der Komplexität gerecht.

Betrachtet man die Bedeutung der Haltung, könnte man zum Schluss kommen, dass

Übung und Erfahrung ausreichen, um als Sozialarbeiter professionell zu handeln. In

welchem Verhältnis stehen Können und Wissen?

50

4.3 Wissen und Können

Theorie15 und Praxis, Wissen und Können sind jeweils die beiden Seiten einer

Unterscheidung. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Hinweise auf diese

Verbindung bringt die Frage nach der Einheit der Unterscheidung (vgl. Luhmann

1993).

Der Geschlossenheit der Systeme 'Wissenschaft' und 'Praxis' folgt

systemtheoretisch die Unmöglichkeit des Transfers von Wissen. Geht man von der

Unterscheidung Wissen/ Nichtwissen aus, kann man zum Schluss kommen, dass es

sowohl in der Theorie als auch in der Praxis Wissen gibt, dass jeweils in dem

anderen System als Nichtwissen unsichtbar ist (vgl. Nörenberg 2007, S. 107ff.).

Handlungsvollzüge können dann vom eigenen Nichtwissen her reflektiert werden.

Als sich selbst beobachtender Beobachter kann der Sozialarbeiter je nach

Unterscheidung die Einheit von „systematischen Wissenschaftswissen und

praktischen Handlungswissen“ (ebd., S. 108) sichtbar werden lassen.

Reflexiv theoretisches Wissen ist dann die Grundlage für (reflexives) Können.

Maßstäbe für die Beurteilung der Praxis entstehen in theoriegeleiteter Reflexion.

Der Prozess hat aber nicht die Form eines Kausalschemas: Voraussetzung sind die

Einnahme der Beobachterposition und die wiederholte und geübte Reflexion.

Für den Praktiker ist daraufhin eine Haltung des professionellen Nichtwissens

denkbar, die sich in der inneren Haltung bzw. seiner Berufsethik äußert (vgl. 2.3).

Müller (2012, S. 100) beschreibt diese Haltung mit „Aufmerksamer Umgang mit

Nichtwissen“.

Die Entwicklung der Haltung beginnt nicht erst mit der Ausbildung sondern ist ein

lebenslang anhaltender reflexiver Prozess. Dieser Prozess hat den Charakter der

Übung, das heißt er muss bewusst und regelmäßig geübt werden. Das betrifft die

Perspektive des Beobachters und die Hinwendung zum Kontext, angefangen bei

einem Tagesrückblick, über die Reflexion des eigenen Handelns, der eigenen

Rollen, der persönlichen Werte und Maßstäbe, der eigenen Haltung, Reflexion der

Institutionen, gesellschaftlichen Werte und Normen, bis hin zu den in dieser Arbeit

15 Das Wort 'Theorie' stammt vom griechischen 'theoros' ab, dass Zuschauer oder Betrachter bedeutet.

51

beschriebenen Machtfaktoren. Situation für Situation, in ihrer Vielfalt an

Möglichkeiten, kann das am Beispiel gelernt werden. Es ist für den Sozialarbeiter

ein permanenter Prozess des „Werdens und der Transformation“ (Nörenberg 2007,

S. 121).

Die Praxis ist geprägt von Überraschungen und dem Entscheidungs- und

Handlungszwang. Sozialarbeiter, die im Reflektieren geübt sind und

multiperspektivisch Situationen erwägen können, gelingt es leichter adäquat zu

handeln (vgl. Herwig-Lempp 2014). Die Gefahr liegt dabei vor allem in der

traditionell machtvollen Professionalität der Sozialarbeiter. Können bedeutet vor

allem auch Machtbewusstsein bzw. -verzicht, Experte im Beobachten, nicht im

Wissen (vgl. Kap 4.2). Das könnte das Entstehen stark asymmetrischer Helfer-

Klienten-Beziehungen und Abhängigkeiten verhindern. Nicht nur der Klient und

seine Kommunikation sollten beobachtet werden, sondern auch das System 'Soziale

Arbeit' und der Beobachter selbst. Erst so können beispielsweise institutionelle

Zwänge und Abhängigkeiten reflektiert werden (vgl. Kap. 3.1.2). Nörenberg (2007,

S. 121) schlägt mit reflexiven Blick auf den Auftrag zur Auflösung der Hilfe den

Begriff 'selbstdekonstruktive Handlungslogik' vor.

Im Bezug auf den Klienten erinnert die umfassende Bedeutung der Reflexion an die

Lebenswelt und das Rahmenkonzept der Lebensweltorientierung nach Thiersch.

Tatsächlich erfordert eine konsequente Orientierung an der Lebenswelt diese

reflexive Haltung. Eine vermeintliche Lebensweltorientierung ohne

Perspektivenwechsel und der Haltung des Nichtwissens erscheint inhaltsleer und

nicht zielführend (vgl. Kraus 2002, S. 146ff.; Nörenberg 2007, S. 113).

Kraus (2013, S. 150) ergänzt den subjektiv orientierten Begriff 'Lebenswelt' mit

dem Begriff „Lebenslage“. Mit ihm werden die äußeren Umstände beschrieben, die

einem Individuum die Verfolgung seines Lebenssinns ermöglichen oder

einschränken:

Auf Grund der strukturellen Kopplung des Menschen an seine Systemwelt sind diegegebenen Rahmenbedingungen bedeutsam für das Konstruieren seiner subjektivenLebenswirklichkeit. So ist der Mensch zwar für die Wahl zwischen den zur Verfügungstehenden Alternativen verantwortlich, aber eben nur für die Alternativen, die ihmauch tatsächlich zur Verfügung stehen, d.h. die unter den gegebenenRahmenbedingungen viabel sind (Kraus 2013, S. 140).

52

4.4 Exkurs: Reflexion des 'Intellektuellen' nach Mannheim

Mannheim (1985) und Weber (2002) beschreiben einen Menschentypus, einen

Habitus, der bewusst und reflektiert die Welt und die Gesellschaft beobachtet. Sie

nennen diesen Denk-Habitus 'der Intellektuelle'. Weber (2002, S. 307ff.) beschreibt

ihn folgendermaßen:

Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik ins Unendliche geht, seinerLebensführung einen durchgehenden Sinn zu verleihen, also Einheit mit sich selbst,mit den Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der Welt als einesSinn-Problems vollzieht. Je mehr der Intellektuelle den Glauben und die Magiezurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt entzaubert werden, ihren magischenSinngehalt verlieren, nur noch 'sind' und 'geschehen', aber nichts mehr bedeuten, destodringlicher erwächst die Forderung an die Welt und 'Lebensführung' je als Ganzes,daß sie bedeutungshaft sind und 'sinnvoll' geordnet seien.

Der Intellektuelle hat eine 'seinskritische' Haltung. Durch Vergegenwärtigung seiner

Standortverbundenheit, seiner Sozialisation und des individuellen Habitus, der

Weltanschauungsmuster und den Machtstrukturen gewinnt er eine gewisse Freiheit

bzw. eine Standortlosigkeit (vgl. Jung 2007, S. 256ff.). Typisch für diese Haltung

sind eine allgemeine Skepsis, eine zeitkritische Haltung, ein relatives Entfernen aus

den alltäglichen Konflikten, ein Besinnen auf die eigenen Wurzeln, Freiheit und

Unabhängigkeit. Diese „konkrete Bewusstmachung der eigenen sozialen Position“

(Mannheim 1985, S. 139) hat eine spirituelle Dimension, wie auch das obige Zitat

von Weber zeigt. Es öffnet sich ein Blick für Gesamtzusammenhänge. Es entsteht

eine Befähigung, „die für den Gesamtprozess“ notwendige „Gesamtorientierung“,

also „das Gesamtwerden der politischen Wollungen und Weltanschauungen aus

dem soziologisch erfaßbaren Totalprozeß zu verstehen“ (ebd., S. 141).

Diese Haltung ermöglicht es, aus eigenem Interesse, als Anwalt der Menschen zu

agieren. Des Menschen Mission ist, „das Sich-Besinnen auf die eigenen Wurzeln,

das Suchen der eigenen Mission, prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des

Ganzen zu sein“ (ebd., S. 138).

War Sokrates (vgl. Kap. 4.2) ein solcher Intellektueller? Er provozierte mit seiner

Unabhängigkeit und Standortlosigkeit im Sinne Mannheims so stark, dass er

hingerichtet wurde. Zentral ist seine Art des Dialoges. Durch den Dialog wird ein

permanenter Abgleich von Selbst- und Fremdbezug ermöglicht (vgl. Nörenberg

53

2007, S. 47ff.). Sokrates ging es in seinen Dialogen nicht um das Finden einer

Antwort auf seine Fragen. Er wollte die Selbsterkenntnis und die

Selbstbeobachtung seiner Gesprächspartner fördern. Ziel war die ethische

Reflexion.

4.5 Methodengeleitete Reflexion

Einige in der Literatur (vgl. Ebert 2008, S. 128ff.; Reich 2005; Spiegel 2004; Kleve

2003) beschriebene Methoden sollen hier kurz dargestellt werden. In den

ausgewählten Methoden werden die besprochenen Theorien des Konstruktivismus,

Relativismus, der Systeme etc. angewendet. In Verbindung mit der besprochenen

Haltung, also im Bewusstsein der eigenen Konstruktionen, der Bedeutung der

Komplexität, des Nichtwissens etc., können die Methoden sehr hilfreich sein, in die

Komplexität der sozialen Situation einzudringen. Das ist das Ziel.

In den vorgestellten Methoden kann sowohl der konkrete Fall, im Beisein oder

Abwesenheit des Klienten, wie auch die generelle Haltung und das

Selbstverständnis des Sozialarbeiters oder des Systems reflektiert werden. Lambers

(2010, S. 16ff.) unterscheidet, die Ebene von Fall und Person und die Ebene von

Struktur und Organisation. Als dritte und wichtigste Reflexionsebene muss noch die

Selbst- bzw. Standortreflexion zugefügt werden. Denn „Soziale Arbeit […] muss

sich stets die Frage nach ihren Handlungsoptionen in Selbst- und Fremdreferenz

stellen. Sie befindet sich sozusagen in einer Dauerreflexion mit ihren

Möglichkeiten“ (ebd., S. 135).

Die Auswahl der Methoden orientiert sich an ihrem Nutzen für die Reflexion in der

Sozialen Arbeit. Sie zeigt die große Vielfalt und soll ganz verschiedene Wege zum

gleichen Ziel veranschaulichen. Einige der beschriebenen Methoden eignen sich

auch zur reflexiven Reflexion über die Methoden und ihren sinnvollen Einsatz. Die

Nutzung von Visualisierung und Symbolen kann dabei helfen.

Bevor ich auf die einzelnen Reflexionsmethoden eingehe, soll an dem Beispiel der

sozialarbeiterischen Diagnostik die Notwendigkeit der Reflexion in der Praxis

dargelegt werden.

54

4.5.1 Praxisbeispiel: Diagnostik

Diagnostik, beispielsweise im Rahmen der Beobachtung sogenannten auffälligen

Verhaltens des Klienten, spielt für den Sozialarbeiter in der Praxis eine bedeutende

Rolle, ist sie doch die Grundlage für die folgende Intervention. Und sie ist ein sehr

wirksamer Machtfaktor, da notwendige Hilfe und Unterstützung, aber auch

Kontrolle und Sanktionen von ihr abhängen.

Aus konstruktivistisch- systemischer Sicht lassen sich das Erkennen bzw. die

Kognition und die Intervention bzw. das Handeln nicht trennen. „Jedes Tun ist

Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“ (Maturana & Varela 1987, S. 32). In einem

autopoietischen System können Erkennen, Verhalten und Beobachten als Einheit

betrachtet werden. Die Wahrnehmung ist ein selbstreferentieller Prozess: Die

Beobachtung führt zur Interpretation der Beobachtung und entsprechendem

Verhalten. Je nach Standort können unendlich viele unterschiedliche Erkenntnisse

bzw. 'Diagnosen' erstellt werden, die jeweils relativ wahr sind, sich aber

widersprechen können. Das Wissen bzw. die Diagnose entsteht im Kopf, wird dann

der Situation zugeschrieben und dort als objektiv wahrgenommen. Allein schon

durch die kategorisierende Sprachschöpfung, vor allem in der Psychiatrie, wird

Komplexität reduziert (vgl. Kap. 2.1). Wenn beispielsweise bei einem Klienten statt

einer Depression, Trauer wahrgenommen wird, führt das unter Umständen zu ganz

anderen Interventionen (vgl. Kleve 2003, S. 65ff.).

Der Beobachter, der Sozialarbeiter, stellt eine Diagnose aufgrund seiner

Unterscheidung und nach seinem Sinn. Ohne Reflexion dieser Unterscheidung bzw.

Beobachtung 2. Ordnung können weitere Unterscheidungen aufgrund

vorhergehender Unterscheidungen in dieselbe Richtung zur sogenannten

selbsterfüllenden Prophezeiung führen. Eine Diagnostik hinsichtlich der

Ressourcen des Klienten kann nachfolgend die Ressourcen bestätigen, eine

defizitorientierte Diagnostik kann durch Defizite bestätigt werden. Die konstruierte

Wirklichkeit, erzeugt durch die Diagnose, bestimmt dann das reale Leben des

Betroffenen.

Die Überzeugung, objektiv zu erkennen, kann zu Intoleranz, Besserwisserei oder

Ideologie führen. Häufig sagt eine Diagnose mehr über den Sozialarbeiter bzw. die

55

Logik des beobachtenden System aus als über die beobachtete Wirklichkeit (vgl.

ebd., S. 141ff.). Die „Prozessuale Diagnostik“ (Keil & Stumm 2014, S. 340), die

Diagnosen immer wieder reflektiert und kritisch hinterfragt, wird im Rahmen der

personenzentrierten Psychotherapie eingesetzt und könnte für die Soziale Arbeit

adaptiert werden (vgl. ebd.).

4.5.2 Multiperspektivische Fallarbeit

Müller (2012) fordert im gesamten Prozess der sozialpädagogischen

Fallbearbeitung Multiperspektivität und Offenheit. In allen Schritten, angefangen

bei der Anamnese, über die Diagnose, die Intervention und nicht zuletzt bei der

Evaluation erwartet er, dass der Sozialarbeiter ausgehend von seinem „praktischen

Standpunkt“ (Müller 2012, S. 32) Fälle in „Fälle zweiter Ordnung verwandelt“,

dass heißt in einem „kasuistischen Raum“ (ebd., S. 37) reflektiert. Fallverstehen

bedeutet für Müller (2012, S. 189ff.) bezugnehmend auf Mollenhauer & Uhlendorf

„Blickwechsel“ zwischen den „zwei Erkenntniswegen“ 'wissenschaftlich-

professioneller Diagnostik' und 'pädagogischer Praxis'. Der erste Weg ordnet den

Fall und erklärt ihn. Das theoretische Wissen gibt dabei keine Entscheidungen in

der Praxis vor, sondern soll neue Perspektiven anregen. Der zweite Weg entledigt

sich wieder der Einordnung und wendet sich „tiefenhermeneutisch“ dem

„Dschungel der Komplexitäten“ (ebd., S. 192) der Praxis zu.

Multiperspektivische Reflexion braucht Zeit und Raum und muss eingeübt werden

(vgl. Kap. 2.1). Praktische Erfahrung reicht allein nicht aus, sondern muss durch die

Beobachtung des eigenen Handelns aus der Distanz ergänzt werden. 'Zeitinseln',

auch wenn es nur kurze Redepausen sind, helfen, in Distanz und in die Reflexion zu

kommen (vgl. Müller 2012, S. 9).

Eine spezielle Version der multiperspektivischen Fallarbeit ist die Methode des

'Reflecting Teams'. In dieser unter anderem von Reich (2005) vorgestellten

Methode wird die Beobachtung der Beobachter umgesetzt. Ein Team von

Sozialarbeitern beobachtet und reflektiert einen Berater im Gespräch bzw. der

Intervention mit dem Klienten. Die Zuhörer sitzen abseits oder im Nachbarraum.

Da die Beobachter nicht direkt im Gesprächsverlauf beteiligt sind, können sie quasi

in einem inneren Dialog die Aspekte bedenken und in Ruhe Ideen generieren.

56

In einem 'Metalog', einem Gespräch über das Gespräch teilt das beobachtende Team

dem Berater und Klienten anschließend seine Beobachtungen wertschätzend mit.

Dabei nimmt das Beobachtersystem aber keinen direkten Kontakt zu dem Klienten-

Berater-System auf. Aus Sicht der Klienten wird die kollegiale Beratung in ihrer

Gegenwart vollzogen.

Nach dem Dialog der Beobachter untereinander über das beobachtete Gespräch

nimmt der Berater das Gespräch mit den Klienten wieder auf. Die gehörten

Perspektiven und Deutungen ermöglichen eventuell neue Lösungswege für den

Klienten. Auch der Berater kann durch die gehörten Gedanken neue Perspektiven

gewinnen und seine Deutungen und Konstruktionen korrigieren.

Von dieser Grundstruktur gibt es zahlreiche, dem Kontext angepasste, Varianten.

Beispielsweise beschreibt Reich (2005, S. 250ff.) für pädagogische Prozesse einen

kollegialen Austausch des Beobachterteams in Abwesenheit der Klienten, um

danach die Ergebnisse mit allen Beteiligten zu diskutieren.

Die unterschiedlichen Perspektiven helfen der Komplexität des Falls besser gerecht

zu werden. Die Reflexion im Team, der Austausch über die Reflexion, eventuell im

Gespräch mit dem Klienten soll helfen Konstruktionen in Frage zu stellen und

anzupassen. Immer wieder sollte die Dekonstruktion von Hypothesen und

Annahmen anhand der realen Situation erfolgen. Die Theorie hat nicht die Aufgabe

Abstraktionen und Kategorien zu bilden, sondern andere Perspektiven auf die

komplexe soziale Situation zu ermöglichen.

57

4.5.3 Fallrekonstruktion

Die 'Fallrekonstruktion' geht in der Reflexion des Falls noch einen Schritt weiter als

die 'Multiperspektivische Fallarbeit'. Sie wird von verschiedenen Autoren mit

unterschiedlichen Blickwinkeln und Intentionen beschrieben (vgl. Kraimer 2000, S.

28ff.). Im Rahmen der vorliegenden Studie kann nur ein kurzer Überblick gegeben

werden und auf die angegebene Literatur verwiesen werden.

Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Ausführungen von Oevermann und

Kraimer, die als Ziel der Methode „die Gewinnung von Professionalität durch die

Verbindung von Theorie, Empirie und Praxis“ (Kraimer & Wyssen-Kaufmann

2012, S. 219) postulieren. Ziel dieses hermeneutischen Verfahrens ist es,

Strukturen, innere Gesetzlichkeiten, Krisen, Rituale und letztlich Sinn im Handeln

der Akteure des Falls nachzuvollziehen und zu verstehen. Durch Rekonstruktion

einzelner Sequenzen des sozialen Handelns kann tief in die Komplexität

eingedrungen werden. Sequenzen entstehen durch Entscheidungen des Akteurs,

denen Sinn, Bedeutung und Regeln zugrunde liegen (vgl. Oevermann 2000, S.

64ff.).

Hilfreich für die Fallrekonstruktion ist ein Zusammenwirken von Vertretern der

professionellen Praxis mit Akademikern bzw. Studierenden der Sozialen Arbeit.

Gegenseitig können Erfahrungen und Wissen zu einer konkreten Falldarstellung zur

Verfügung gestellt werden. Kraimer & Wyssen-Kaufmann (ebd.) sprechen von

einer “fallrekonstruktiven Forschungswerkstatt“ (ebd.), bei der Strukturmuster

identifiziert werden, „die sich aus den Relationen zwischen dem Allgemeinen (z.B.

soziales Umfeld) und dem Besonderen (z.B. Berufsbiografie) ergeben“ (ebd.).

Für das Fallverstehen sind sowohl die Fokussierung auf den Fall, als auch auf die

Methodologie, z.B. hinsichtlich Auftragsklärung, Diagnostik, Gestaltung der

Arbeitsbeziehung, bedeutsam. Das vorliegende Material zum Fall wird sequentiell

interpretiert. Beispielsweise kann die Differenz zwischen dem Spielraum von

Möglichkeiten und der faktisch getroffenen Entscheidung des handelnden Akteurs

untersucht werden. Für jede Sequenz wird eine „Fallstrukturhypothese“ (Kraimer

2000, S. 37) gebildet, die durch eine folgende Materialrekonstruktion und an einem

58

„maximal kontrastierenden Fall [Hervorhebung im Original]“ überprüft wird (vgl.

Oevermann 2000; Kraimer 2000). Bei diesem Vorgehen wird die gegensätzliche

Bewegung offensichtlich, einerseits in die Komplexität des Falls und andererseits

die Komplexitätsreduzierung für die Hypothesenbildung.

Verschiedene Strukturelemente dienen der Fallrekonstruktion:

Die 'Stellvertretende Krisenbewältigung' zeigt, wo im Fall eine professionelle

Intervention erzwungen wird. Dadurch können u. a. Organisationszwänge erkannt

werden (vgl. Kraimer & Wyssen-Kaufmann 2012, S. 221).

Das Aufspüren von Paradoxien in komplexen Zusammenhängen, das im

Zusammenhang mit einem professionellen „Sich-Bescheiden“ (ebd., S. 222) steht,

kann als Strukturelement helfen, schnelle Lösungen zu irritieren und sich der

Komplexität des Falls bewusst zu werden.

Biografische Prozessstrukturen im Lebenslauf aufzuspüren hilft, den Sinn im

Verhalten der Klienten zu verstehen. Dabei soll u.a. auf institutionelle

Ablaufmuster, biografische Handlungsschemata und die Verlaufskurfe geachtet

werden (vgl. ebd., S. 222f.).

Die Fallrekonstruktion ist ein sehr komplexes Verfahren, dass vorwiegend im

Forschungskontext Verwendung findet. Aber in schwierigen Fällen empfiehlt

Kraimer (2000, S. 151ff.) die Methode auch der Praxis.

Diese Methode des Fallverstehens beinhaltet viele Erkenntnisse, die in dieser

Studie zusammengetragen wurden. Besonders hervorheben möchte ich die

Verbindung von Theorie und Praxis, von wissenschaftlichen Wissen und

Handlungswissen. Die Sequenzierung des Falls und die damit verbundene

Sinnsuche helfen, der Komplexität gerecht zu werden und den Klienten zu

verstehen. Dem Handeln des Klienten wird im Voraus Sinn zugeschrieben. Es wird

untersucht, warum sich der Klient in einer Sequenz so verhalten und nicht eine

andere Entscheidung getroffen hat. Damit wird die Lebenspraxis sichtbar gemacht

mit ihren Mustern, Strukturen, Routinen, Krisen und Paradoxien.

59

4.5.4 Transformatorischer Dreischritt

Zur „Überwindung der Dichotomie von wissenschaftlicher Disziplin und

praktischer Profession“ empfiehlt Staub-Bernasconi (2012) den

'Transformatorischen Dreischritt'. In der praktischen Handlungssituation, die von

Unsicherheit und „Finanz-, Zeit-, und Entscheidungsdruck“ (ebd., S. 163) geprägt

ist, soll durch diese professionelle Methode eine wissenschaftliche

Handlungsleitlinie bereitgestellt werden. Nach Staub-Bernasconi stehen sich in der

Praxis das praktische Handlungswissen und das systematische Wissenschaftswissen

gegenüber. Der 'Transformatorische Dreischritt' hat die Aufgabe der

„Relationierung von bezugswissenschaftlichem mit wissenschafts- und ethisch

basiertem, professionellem Problemlösungswissen [Hervorhebung im Original]“

(ebd., S. 169). So haben Sozialarbeiter selbst den Schlüssel in der Hand, das

Theorie-Praxis-Problem zu lösen, anstatt die Interpretation an andere Professionen

abzugeben. Staub-Bernasconi fordert von den Sozialarbeitern, neben dem

Doppelmandat, ein drittes Mandat: Sie sollen eine eigene theoriebasierte und

reflektierte Ethik in ihr Handeln einbringen, statt sich unbewusst auf tradierte Werte

oder standardisierte Methoden zu verlassen. Dafür muss zwischen beschreiben,

erklären und bewerten unterschieden werden.

Eine professionelle Perspektive verbindet die möglichst wertungsfreie

Beschreibung der Situation (lokales kontextspezifisches Wissen) mit der Erklärung

anhand wissenschaftlicher Theorien (Forschungswissen) und der abschließenden

Bewertung der Interventionsmöglichkeiten (Evaluationswissen). Bezüglich des

Problems werden 'W-Fragen' gestellt. Folgende Aspekte beinhalten die drei

Schritte:

1. Der Forschungsstand wird zur Kenntnis genommen.

Ausgehend von der mehrdimensionalen Beschreibung der Ausgangssituation und

des Kontextes des Problems wird der entsprechende (transdisziplinäre)

Forschungsstand ermittelt. Die Fragen sind 'Was?', 'Warum?' und 'Was folgt?'.

Erklärungen des Adressaten und des Sozialarbeiters und trans- und interdisziplinäre

wissenschaftliche Ansätze sollen Gesetzmäßigkeiten des Ausgangsproblems

60

aufdecken. Das Problem wird damit zur erklärenden Größe. Die Frage nach der

Legitimität eines Eingriffs bzw. zur Ethik führt zum nächsten Schritt:

2. Handlungstheoretische Hypothesen werden formuliert.

Mit diesem Schritt werden die Fragen 'Was?' und 'Warum?' mit der 'Wer?' Frage

relationiert: Wer kann die Ausgangssituation beeinflussen? Wer entscheidet wie,

welche Systeme sind betroffen? Mit welchen Ressourcen soll das Ziel erreicht

werden?

3. Professionelle Handlungsleitlinien werden formuliert.

Zuletzt kommen noch die Fragen 'Wie?' und 'Womit?' dazu, um über

Handlungsalternativen zu entscheiden. Die Mandats-/Wert-/Zielfragen und die

Wahl der einzusetzenden Methoden sind abzuwägen. In diesem Schritt sollen

wissenschaftlich fundierte Handlungsleitlinien und -regeln erstellt werden. Die

eingesetzten Verfahren und ggf. Evaluationsmethoden werden festgelegt (vgl.

Staub-Bernasconi 2012).

Zusammenfassend überzeugt diese strukturierte Vorgehensweise für die Erstellung

von Handlungsplänen, sofern diese nicht absolut gesetzt werden, sondern immer

wieder neu reflektiert und gegebenenfalls angepasst werden. Die Überprüfung der

theoretischen Annahmen und Reflexionen in der realen sozialen Situation, die

durchaus die Annahmen falsifizieren kann, ist der entscheidende Schritt. Allerdings

bleibt auch hier die Frage nach einer ethisch legitimen Handlung bzw. Intervention

des Sozialarbeiters offen.

4.5.5 Supervision

Supervision bzw. Coaching oder Teamentwicklung ist eine traditionelle Methode16

in der Sozialen Arbeit. Häufig wird sie in Form von Fallsupervision genutzt,

zunehmend häufiger aber auch zur Metareflexion der Arbeitsbedingungen und

systemischer Zusammenhänge, als Einzel- oder Gruppensupervision.

Der Supervisor, häufig ein speziell ausgebildeter und externer Auftragnehmer,

schließt mit der Institution und/oder den Supervisanden einen Kontrakt. Ziele und

Methoden für die Supervision werden darin festgelegt. Ergebnisse der Supervision

16 Supervision wurde im 19. Jahrhundert in den USA entwickelt (vgl. Krönchen 2012)

61

werden nur im Einverständnis der Supervisanden an die Institution weitergegeben.

Der Supervisor hat eine neutrale, allparteiliche Haltung.

Er nutzt ein großer Repertoire an Methoden, beispielsweise aus der

Gruppendynamik, Gesprächsführung, Gestaltpsychologie, Aufstellungsarbeit,

psychoanalytische und personenzentrierte Ansätze usw.

Die Supervision ist häufig durch einen sozialkonstruktivistischen Ansatz geprägt.

Die Akzeptanz der Vielfalt von Wahrnehmung und Perspektiven und der daraus

entstehenden Wechselwirkung zwischen Psychischen und Sozialen Systemen

stehen im Vordergrund. Der Supervisor macht ein „Beobachtungsangebot“ (Reich

2005, S. 254). Er hilft den Supervisanden zur Beobachtung der Beobachtenden, der

Metakommunikation über die Kommunikation und zum multiperspektivischen

Dialog über das 'Wie' der Kommunikations- und Austauschprozesse. Ziel ist die

Perturbation der, aus der Sicht des Supervisors, fragwürdigen

Wirklichkeitskonstrukte und die gemeinsame Beobachtung der bisher unsichtbar

gebliebenen 'blinden Flecken'. Gute Supervision provoziert, irritiert und fordert

heraus17. Die hohe Komplexität der sozialen Situation wird deutlich, neue

Deutungen und bestenfalls Handlungsansätze werden sichtbar. Supervision

erfordert von den Supervisanden eine Haltung, sich 'aus der Reserve locken zu

lassen' und gewohnte Perspektiven zu verlassen. Entstehender Wut, die in der

Alltagspraxis zum Abbruch der Beziehung führen kann, wird in der professionellen

Supervision-Situation Achtung, Wertschätzung, Empathie und liebevolle

Anerkennung entgegen gebracht (vgl. Krönchen 2012; Reich 2005, S. 254; Kleve

2003, S. 141ff.).

Ähnlich wie in den vorigen Beispielen ermöglicht die Anwesenheit des Supervisors

und seiner Anregungen eine multiperspektivische Sicht. Kategorienbildung und

Stereotypen kann damit vorgebeugt werden oder sie werden transparent gemacht.

Immer wieder kann das Problem in seiner Komplexität ins Blickfeld geholt werden.

Die wechselnde Bewegung zwischen Komplexitätserweiterung und -reduzierung ist

klar erkennbar. Dadurch können Machtstrukturen individueller und institutioneller

Art bewusst werden. Eine professionelle Supervision stellt hohe Ansprüche an den

Supervisor.

17 Eine Ähnlichkeit zur 'Hebammenfunktion' des Sokrates wird deutlich (vgl. Kap 4.2)!

62

Supervision sollte in den meisten sozialarbeiterischen Kontexten die

Arbeitsgrundlage für Reflexion sein. Die Initiative zur Nutzung der Supervision

erfordert aber ihrerseits bereits eine reflektierte Haltung zur Tätigkeit und zu sich

selbst. Vermutlich wird diese effektive Unterstützung der Reflexion deshalb noch

zu selten genutzt.

4.5.6 Selbstevaluation

Die Selbstevaluation oder auch Selbstsupervision ist der Prozess selbstreferentieller

Beobachtung 2. Ordnung. Das heißt die Untersuchung der eigenen Befindlichkeit,

des eigenen Standpunktes, der subjektiven Wahrnehmung. Für ein professionelles

Handeln als Sozialarbeiter ist es wichtig, die eigenen emotionalen und kognitiven

Deutungs- und Verhaltensmuster zu erforschen. Nur bekannte Muster können in der

Alltagspraxis identifiziert und kommuniziert werden oder durch Alternativen ersetzt

werden. Darüber hinaus steht die eigene Selbstwirksamkeit, die 'Wirtschaftlichkeit'

und 'Verträglichkeit' des eigenen Einsatzes unter Selbstbeobachtung.

Kleve (2003, S. 160ff.) stellt einen Fragenkatalog von Pfeiffer-Schaupp vor, der

durch zirkuläre Fragen eine Außenperspektive ermöglichen soll. Er ist darauf

ausgerichtet, „neue oder bisher ungewohnte sowie verlorengegangene Sichtweisen

und Perspektiven zu verdeutlichen“ (ebd., S. 163). Dieser Bogen soll auch eine

Vorbereitung für Supervision oder Fallberatungen ermöglichen (vgl. ebd., S. 159ff.;

Spiegel 2004, S. 132ff.).

Fraglich ist, inwieweit die Selbstevaluation über die, in dieser Studie postulierte

Selbstreflexion des Sozialarbeiters hinaus geht. Ebenso bleibt unklar, wie

tiefgehend die individuelle Selbstbetrachtung ohne professionellen Begleiter

möglich ist und woher die Maßstäbe der Evaluation hinsichtlich des eigenen

Verhaltens, der Verantwortung, der eigenen Einstellungen etc. kommen. Bedeutung

hat diese Methode eher als vorbereitende oder begleitende Übung im Rahmen einer

angeleiteten Reflexionsform.

63

4.5.7 Kollegiale Beratung bzw. Intervision18

Spiegel (2004, S. 162) erläutert in einem ersten Schritt eine Arbeitshilfe

„Situationsanalyse“, um multiperspektivische Ansatzpunkte für eine

Problemlösung zu finden. Wichtig ist ihr „die Komplexität und damit die

Deutungsvielfalt zu erhöhen, um dann eine begründete Komplexitätsreduktion

vornehmen zu können“ (ebd.). Die Wahrnehmung, Motive und Deutungen aller

Beteiligten, die subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen, werden ausgetauscht und

schematisch in einer Matrix festgehalten. Die Deutung jeder einzelnen Sichtweise

anhand wissenschaftlicher Theorien und Alltagstheorien durch Fachkräfte führt in

diesem Schema zur Hypothesenbildung. Der ganze Prozess soll im Dialog ggf. mit

den Betroffenen stattfinden (vgl. Ebert 2008, S. 140ff.).

Diese Hypothesen können Ausgangspunkt für eine kollegiale Beratung sein (vgl.

Tietze 2010).

Eine kollegiale Beratung ist ein strukturierter Austausch unter zumindest im

Beratungsprozess hierarchisch gleichrangigen Sozialarbeitern. Sie ist kostengünstig

und zeitökonomisch, da die selbstangeleiteten Gruppen bei Bedarf vor Ort

zusammen kommen können. Die Eigenverantwortlichkeit der Beteiligten wird

gestärkt und damit einer schleichenden Entprofessionalisierung entgegen gewirkt.

Im Gegenteil werden insbesondere kommunikative Fähigkeiten und der

Perspektivenwechsel geübt.

Üblich ist eine Rollenverteilung: Es gibt einen Falleingeber, der den Fall aus seiner

Sicht schildert und einen konkreten Auftrag oder eine Frage an das Beraterteam

gibt. Der Moderator achtet auf den strukturierten Ablauf, die Zeiteingrenzung und

einen respektvollen, lösungsorientierten Umgang. Bei Bedarf wird ein Protokoll

geführt. Die anderen Teilnehmer folgen dem Schema, das unbedingt eingehalten

werden sollte:

1. Zuhören, während der Falleingeber den Fall ggf. auch mit Methoden, z.B.: einem

Genogramm, Soziogramm, Zeitstrahl etc. vorstellt.

2. Nachfragen, ohne Hypothesen aufzustellen, der Falleingeber beantwortet alle

18 Der Begriff 'Intervision' ist in der Betriebswirtschaft verbreitet (vgl. Lippmann 2013).

64

Verständnis- und Informationsfragen und formuliert am Ende seine Schlüsselfrage.

3. Ursachen analysieren und Hypothesen bilden, während der Falleingeber zuhört,

dafür können Methoden, wie z.B. Skulpturen, Metaphern etc., genutzt werden.

4. Lösungsvorschläge machen, auf die der Falleingeber anschließend in einem

Statement eingeht und mitteilt, was für ihn hilfreich war.

Die Kollegiale Beratung eignet sich besonders gut für Fallbesprechungen, da sie

situativ einsetzbar ist und kein hoher Aufwand an Zeit oder Kosten nötig ist. Sie

bietet durch die multiperspektivische Problemanalyse eine effektive Möglichkeit,

um zu neuen Sichtweisen zu kommen. Bei der Hypothesenbildung, insbesondere

unter Einsatz zusätzlicher Methoden, können vielfältige Beziehungen bewusst

werden. Auch Machtstrukturen im Kontext des Falls können aufgezeigt werden. Oft

ist es wichtig auch die Beziehung des Falleingebers zum Klienten und seinem

System zu hinterfragen.

Diese Methode ist weit verbreitet und wird inzwischen sogar von vielen

Unternehmen im Rahmen der lernenden Organisation und organisationalen Lernens

zur Personalentwicklung eingesetzt (vgl. Lippmann 2013).

4.5.8 Dialogische Introspektion in der Gruppe

Introspektion, gemeint als Selbsterforschung und Selbstbeobachtung, war ein

frühes Verfahren der Psychologie des beginnenden 19. Jahrhunderts. Erst in den

letzten 15 Jahren beginnen die Sozialwissenschaften dieser ursprünglichen Form

der Selbsterforschung wieder Beachtung zu schenken. Das Verfahren, das primär

für Forschungszwecke eingesetzt wird, hat die Wahrnehmung des individuellen

Erlebens zum Ziel. Das innere Erleben in einem bestimmten Kontext oder Ereignis

wird in einer Gruppe gegenseitig zur Verfügung gestellt, ohne gegenseitige

Wertung. Nach einer ersten Runde des Austauschs erfolgt eine zweite Runde, in der

angeregt durch die erste Runde ein innerer Dialog neue Erkenntnisse bringt. Die

vielseitigen Perspektiven durch die Gruppenteilnehmer erschließen das beobachtete

Ereignis in verschiedenen Dimensionen (vgl. Kleining 2010).

Die bisher dargestellten Methoden sind weitgehend sachlich orientiert. Dieses

Verfahren schenkt dagegen dem (emotionalen) Erleben mehr Aufmerksamkeit. Im

65

Rahmen der vorliegenden Studie kann dieses Thema leider nicht weiter bearbeitet

werden. Es soll der Hinweis genügen, dass zum Beispiel das Thema 'Angst'

weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen hat und auch einen besonderen

Machtfaktor darstellt. Wer Angst äußert, besitzt allein aufgrund der Äußerung

Macht. Gruppen aus Ängstlichen können ein machtvolles System bilden.

Andererseits kann Angst auch ohnmächtig machen (vgl. Selk & Malowitz 2015).

Indem die Erlebnisse im Rahmen der Dialogischen Introspektion zur Verfügung

gestellt werden, kann sich der Komplexität der sozialen Situation genähert werden.

Es bildet sich quasi ein Zusammenschnitt der individuellen Konstruktionen der

wahrgenommenen Wirklichkeit. Vermutlich spielen aber beim inneren Erleben

individuelle Erfahrungen und Kategorien eine große Bedeutung. Dieses müssten

durch Reflexion möglichst auch offengelegt werden.

4.5.9 Das Tetralemma

Kleve (2009, S. 105ff.) beschreibt eine Methode, die in den verschiedenen bisher

besprochenen Reflexionsformen angewendet werden kann. Ziel ist die

Komplexitätserweiterung. Oft muss der Sozialarbeiter zwischen zwei

verschiedenen Handlungsmöglichkeiten entscheiden, z.B. intervenieren oder nicht

intervenieren. Das Tetralemma besagt dagegen, es gibt mehr Möglichkeiten als nur

die duale Unterscheidung, nämlich vier Optionen:

1. Das Eine

2. Das Andere

3. Beides (z.B. verborgene Gemeinsamkeiten und Verbindungen)

4. Keines (ausgeblendete Kontexte der Ambivalenz)

Das Tetralemma veranschaulicht ein Ziel der Reflexion: Es gibt oft mehr

Möglichkeiten, als uns durch unser dualgeprägtes Denken bewusst ist. Systematisch

wird das Tetralemma eingesetzt, indem eine nach der anderen Option reflektiert

wird. Welche Folgen hätte eine Entscheidung, welche Gefühle weckt die

Entscheidung? Die dritte Option lässt Fragen nach möglichen Scheingegensätzen

und paradoxen Verbindungen, nach Gemeinsamkeiten auf anderen

Betrachtungsebenen zu. Die vierte Option führt zu den Fragen nach übersehenen

66

Kontexten und bezieht die zeitliche und örtliche Dimension mit ein (vgl. Kap. 2.1):

In welchen Situationen taucht der Gegensatz auf, wann würde er keine Rolle mehr

spielen? Was ist außerhalb des Gegensatzes wichtig?

Theoretisch gibt es nach eine fünfte Option:

5. Die Negation aller Positionen und auch die Negation der Position, dass es diese

Position gibt (etwas ganz Anderes außerhalb dieser Ambivalenz)

Hierbei werden alle bisherigen Positionen verneint: 'All dies nicht- und selbst das

nicht!' Wurden bisher Aspekte, Möglichkeiten, Alternativen ausgeblendet, gibt es

noch eine ganz andere Lösung?

Das 'Durchwandern' der Tetralemma- Positionen führt zu einer Erhöhung der

Komplexität der Situation. Gewissheiten werden dekonstruiert, Vorselektionen und

Verallgemeinerungen werden durch die Reflexion der 'erweiterten' Situation wieder

aufgehoben. Das Tetralemma sprengt unsere Gewohnheit des dualen Denkens und

ist dadurch eine gute Übungsmethode für Sozialarbeiter. Diese Denkweise könnte

zu einer Haltung 'Es gibt mehr Lösungen als gedacht' führen. Jede Position des

Tetralemmas lädt ein, anhand von Theorien die Situation zu beleuchten und erstellte

Hypothesen an der Praxis zu prüfen.

4.5.10 Problem-Lösungs-Zirkel

Eine dem Tetralemma verwandte Methode beschreibt Kannicht (2012) mit dem

Problem-Lösungs-Zirkel. Er ist besonders geeignet, wenn der Sozialarbeiter, durch

die großen Probleme des Klienten oder dessen Hilflosigkeit beeindruckt, selbst in

das Gefühl der Ausweglosigkeit kommt. Es setzt bei der möglichen Ambivalenz des

Klienten (und Beraters) an, dass es auch gute Gründe gibt, die an der Lösung des

Problems hindern. Wiederum geht es um Komplexitätssteigerung und

Perspektivenwechsel.

In Form eines Diagramms mit zwei sich schneidenden Koordinaten können vier

Quadranten dargestellt werden. Die x-Achse beschreibt die Dimension

Vorteil/Nachteil, die y-Achse die Dimension Problem/Lösung. Es ergeben sich vier

Felder. Beachtung finden regelmäßig die Felder Nachteile des Problems und

Vorteile der Lösung.

67

Einen Perspektivenwechsel ermöglichen die Felder Nachteile der Lösung und

Vorteile des Problems:

Die erste Perspektive untersucht Risiken und Nebenwirkungen der Problemlösung.

Welche Anstrengungen sind dafür nötig, welche Herausforderungen sprechen für

das Zögern des Klienten. „Dem Zögern des Klienten, sich in einen

Veränderungsprozess zu begeben, wird somit eine weise innere Stimme unterstellt,

die ihn bereits leitete, auf die er bislang allerdings nur wenig gehört hatte“ (ebd., S.

316).

Blickt man auf die Vorteile des Problems, könnte man gute Gründe für die bisherige

Nichtveränderung finden. Gibt es Dinge, von denen sich der Klient in der

Veränderung verabschieden muss, entstehen Folgeprobleme?

Die Anwendung des Problem-Löse-Zirkels könnte eine neue Zielsetzung, eine neue

Zeitplanung oder auch den Verzicht auf die Problemlösung zur Folge haben. Es

könnten sich auch weitere bedeutendere, bisher nicht thematisierte Probleme zeigen

(vgl. ebd.).

Ähnlich wie bei der Methode 'Tetralemma' werden ungewohnte Perspektiven

eingenommen. Im Zusammenhang mit einer theoriegeleiteten Reflexion der

Positionen können bislang unbewusste Strukturen in der sozialen Situation erkannt

werden. Einmal mehr ist zu betonen, dass eventuelle Lösungsideen in der sozialen

Situation gemeinsam mit dem Klienten geprüft werden müssen.

Beide Methoden, das Tetralemma und der Problem-Lösungs-Zirkel, illustrieren die

Haltung des Sozialarbeiters hinsichtlich der Skepsis bezüglich vermeintlich

schneller oder einfacher Lösungen. Die Komplexität der sozialen Situation und

deren 'Nichterkennbarkeit' erfordert das Hinterfragen bzw. Reflektieren von

Hypothesen und Lösungsmöglichkeiten.

68

„Eine Praxis Sozialer Arbeit, die sich nach wie vor- und nicht zuletzt durch den neuenÖkonomisierungsdruck innerhalb der sozialen Organisationen - unter ständigem

Begründungszwang und somit mit der Forderung nach mehr Transparenz nach außen konfrontiertsieht, wäre mittels systemtheoretisch angelegter Theorien und Konzepte in der Lage, ihr Könnenunter Beobachtung zu stellen und diesen Forderungen wissenschaftlich fundiert und adäquat zu

begegnen, indem sie ihrem eigenen, professionellen Anspruch auch nach außen hin Rechnung trägt“(Nörenberg 2007, S. 114).

5 Resümee

Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch über das Reflektieren des

Sozialarbeiters zu reflektieren. Sie ist insofern eine Reflexion der Reflexion, ein

Beobachten des Beobachtens. Zudem wird im dritten Kapitel der Reflexion

beispielhaft das Thema Macht und Machtbeziehungen zum Reflexionsobjekt

erhoben. Es wird deutlich, dass reflexives Denken eine Grundhaltung des

Sozialarbeiters ist. Die Betrachtungen zu Wahrheit, Wissen und Macht tangieren

vielfältige Aspekte der Philosophie, insbesondere der Ethik. Reflexion scheint eine

Grundform des menschlichen Seins zu sein, eine philosophische Einstellung zur

Welt im Ganzen. Wie bereits in der Hinführung angedeutet, ist dieses

Schreibprojekt deshalb eher als ein Anstoß oder eine Anregung gedacht, denn eine

Abhandlung, die den Anspruch auf Vollständigkeit hat.

Dennoch ergeben sich aus der Reflexion einige Erträge, die kurz

zusammengetragen werden sollen.

Reflexion wird im Rahmen der vorliegenden Studie als Selbstbeobachtung und

Fremdbeobachtung anhand wissenschaftlicher Theorien definiert. Ausgangspunkt

ist die Beobachtung, die zur Konstruktion eines subjektiven Wissens führt. Diese

Beobachtung und die mit ihr verbundene Interpretation reduzieren Komplexität im

Vergleich zur tatsächlichen sozialen Situation. Die subjektive Wahrnehmung ist

geprägt von den Vorerfahrungen, der Kultur, dem eigenen Sprachvermögen usw.

Die Anwendung der theoretischen Kenntnisse auf die soziale Situation ist der

zweite Schritt der Reflexion und erfordert die Erhöhung der Komplexität, nämlich

die sogenannte systemische bzw. multiperspektivische Sicht. „Nur wenn wir […]

die Komplexitätssteigerung vielfältig betreiben, werden wir beziehungsorientiert

und inhaltlich weitsichtig genug pädagogisch arbeiten können“ (Reich 2005, S.

195). Praktisch äußert sich das in einem Umdenken von „Gewissheit auf

69

Unsicherheit, von Eindeutigkeit auf Ambivalenzen und von Wissen auf

Nichtwissen“ (Nörenberg 2007, S. 121).

Ein Ertrag aus der Systemtheorie Luhmanns ist für den reflektierenden Praktiker

das Beobachten und Handeln im Bewusstsein, Unterscheidungen zu treffen und die

Erkenntnis von der Handlung unterscheiden zu können. Dieses Wissen ermöglicht

ihm, angemessen zu handeln: In dem Moment, in dem der Sozialarbeiter die Welt

als seine Konstruktion erkennt, muss er dies auch seinem Gegenüber zubilligen.

Seine Aussagen sind nicht wahrer, als die des Klienten. Er ist

(eigen-)verantwortlich für sein Handeln, genauso wie der Klient, dem dies auch

zugestanden wird. Die Haltung des Nichtwissens führt zu Toleranz und bestenfalls

zu echtem Interesse an der Wirklichkeit des Anderen.

Theoriegeleitete Reflexion ermöglicht den kritischen Blick auf die Strukturen der

Macht, denen der Sozialarbeiter unterliegt und an denen er Anteil hat. Der

systemtheoretische Ansatz bietet gute Erklärungen für das Entstehen von Macht:

Ein wesentlicher Machtfaktor ist die Fähigkeit zur Komplexitätsreduzierung und

-verarbeitung seitens des Machthabers. Mangels der Fähigkeit, den Sinn dieser

vorselektierten Informationen prüfen zu können, muss der Machtunterlegene die

Informationen übernehmen. In der Rolle des ‚mächtigen‘ Professionellen sollte der

Sozialarbeiter kritisch mit seinem Wissen umgehen und seine Annahmen und

Hypothesen an der komplexen sozialen Situation überprüfen. Außerdem ermöglicht

ihm diese Erkenntnis, seinen Standort in der Gesellschaft und im System 'Sozialer

Arbeit' mit seinen Institutionen zu reflektieren.

Eine typische Frucht der Reflexion könnte 'Empowerment' sein, im Sinne des

Arrangierens eines „Ermöglichungsverhältnisses“ und von

„Zurechnungsprozessen“ (Wirth 2014, S. 533). Indem die Perspektive und der Sinn

des Klienten Bedeutung erlangt, können sich für den Klienten, aber auch den

Sozialarbeiter, Räume für die persönliche Entwicklung öffnen. Die Haltung des

Empowerment erfordert in besonderer Weise die Reflexion der Macht.

Die Haltung ist bedeutsamer als die Anwendung der Methoden. Die in der

vorliegenden Arbeit dargestellten Methoden spiegeln die Haltung wieder. Im

Arbeitsalltag wird es oft nicht möglich sein, die teilweise komplexen Methoden

70

durchzuführen. Dennoch ist die dargestellte reflexive Haltung erforderlich. Die

Trennung von Theorie und Praxis führt leider oft dazu, Empowerment nur als

Methode statt als reflektierte Haltung anzuwenden. Der erfahrene Praktiker meint

zu wissen, was moralisch gut ist und was der Mensch braucht. Aber nur die

Gesamtsicht auf die Unterscheidung von Theorie und Praxis, von Wissen und

Können lässt Rückschlüsse auf die komplexe soziale Situation zu. Die immer

wieder durchgeführte Standortreflexion ist deshalb Voraussetzung für

professionelles Handeln.

Diese Studie fokussiert auf die systemisch-konstruktivistische Theorie und die

theoretischen Ansätze von Luhmann und Foucault. Insbesondere die Systemtheorie

betont die Multiperspektivität. Deshalb sind für den reflektierenden Beobachter die

Einbeziehung verschiedener theoretischer Ansätze und die Abwägung bzw.

Verknüpfung verschiedener Theorien, die unterschiedliche Aspekte und Merkmale

betonen, wichtig. Kleve (2003, S. 84) betont, dass der Konstruktivismus auch

„einen mystisch-magischen Erkenntnisweg neben vielen weiteren Formen der

Erkenntnisgewinnung“ ermöglicht. Das Bildungssystem hat in diesem

Zusammenhang die Verantwortung, Studenten mit der Vielfalt der Theorieansätze

vertraut zu machen. Die Systemtheorie und ihre aktualisierten Anschlüsse sollten

dabei als funktionales Werkzeug und „Reflexionsrahmen“ eine

„reflexionstheoretische Grundlage“ (Lambers 2010, S. 19) sein. Wünschenswert

wäre ein genuines Interesse an der Theorie selbst, nicht nur an den Problemen, die

sie lösen kann.

Welche Fragen bleiben unbeantwortet?

Die obigen Ausführungen sind stark kognitiv ausgerichtet. Der Sozialarbeiter nutzt

darüber hinaus immer auch seine Emotionen und ist den Emotionen der Klienten

ausgesetzt. Beispielsweise spielt 'Angst' im Zusammenhang mit Zuschreibung von

Macht, Komplexität und Orientierungsverlust eine bedeutende Rolle (vgl. Kraus

2002, S. 188; Selk & Malowitz 2015). „Angstkommunikation“ (Selk & Malowitz

2015, S. 93) ist ein starkes Machtmittel. Deshalb ist auch eine emotionale

Standortreflexion notwendig (vgl. Kap. 4.5.8).

In komplexen Situationen wird oft nicht reflexiv sondern aufgrund des sogenannten

71

‚Bauchgefühls‘ entschieden und gehandelt (vgl. Gloy 2014, S. 25ff.). Offenbar

gelingt mit diesem physiologisch-emotionalen Faktor eine holistische Erfassung der

Komplexität. Es scheint lohnend dieses Phänomen der Intuition bzw. des Instinktes

in Verbindung mit Reflexion zu untersuchen.

Offen bleibt in dieser Studie die Frage der Legitimität von Widerstand gegen

Macht. Die Legitimation von Ungleichheitskonstellationen scheint ein bedeutendes

Machtinstrument zu sein (vgl. Schneider & Kraus 2014). Wann die Ausübung von

Macht gerechtfertigt ist, ist eine ethische Frage, für die keine einfach zu

begründenden Maßstäbe zur Verfügung stehen. Fall für Fall ist eine persönliche

Entscheidung zu treffen und zu verantworten.

Verantwortung resultiert aus einer Haltung, die Haltung entsteht in der Reflexion,

die in dieser Weise die Persönlichkeit des Sozialarbeiters prägt. Sozialarbeiter

sollten, wie Foucault, Grenzen abgesteckter Felder überschreiten, nicht dem

'Mainstream' folgen, sondern eher autonom und souverän den eigenen

Vorstellungen und Werten folgen. Abschließend möchte ich mich mit reflexivem

Blick auf mich, aber auch auf meine Kollegen in der Sozialen Arbeit, den Worten

von Heiko Kleve (2013) anschließen:

Wer anfängt, sich mit dem Konstruktivismus zu befassen, der verliert den Boden unterden Füßen, gewinnt aber zugleich etwas, das ihn ethisch und moralisch reflektiert durch die Welt trägt: die uneingeschränkte Verantwortung für das eigene Tun.

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Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre hiermit ehrenwörtlich, dass ich

1. die vorliegende Bachelorarbeit mit dem Thema:

Reflexion des Sozialarbeiters anhand der Machttheorien von Luhmann und Foucault

ohne fremde Hilfe angefertigt habe.

2. die Übernahme wörtlicher Zitate aus der Literatur sowie die Verwendung der

Gedanken anderer Autoren an den entsprechenden Stellen innerhalb der Arbeit

gekennzeichnet habe und

3. meine Bachelorarbeit bei keiner anderen Prüfung vorgelegt haben.

Mir ist bewusst, dass eine falsche Erklärung rechtliche Folgen haben wird.

Gera, 05.08.2015

Ort, Datum Unterschrift

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