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Sinn und Person - Ausgewählte Beiträge zur Logotherapie ... · 10 SinnundPerson Alexander...

Date post: 19-Oct-2020
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Vorwort Der Wille im Blicklicht Gemeinsame Spurensuche zum 100. Geburtstag von Viktor E. Frankl »Wir sind stolz auf Sie!« Mit diesen Worten gratulierte der damalige österreichische Bundespräsident Thomas Klestil Viktor E. Frankl zum 90. Geburtstag. Dieser Dank für sein großartiges Lebenswerk, die Logotherapie und Existenzanalyse, die weltwei- te Anerkennung fand, war auch der Beweggrund für den Internationalen Kongress zum 100. Geburtstag in seiner geliebten Heimatstadt Wien. Zum Themenschwerpunkt »Der Wille zum Sinn« versammelten sich herausra- gende Referentinnen und Referenten und vermittelten beeindruckende Einblicke in die vielfältigen Forschungs- und Anwendungsbereiche der sinnzentrierten Psycho- therapie. Mit dem vorliegenden Sammelband sollen diese Beiträge in besonderer Weise gewürdigt werden. Das Geschenk eines unvergesslichen Gemeinschaftserlebnisses durch die vielen interessierten Kongressteilnehmer kann auch als Vermächtnis für die zukünftige Weiterentwicklung der Logotherapie und Existenzanalyse angesehen werden und dazu ermutigen, die Kommunikation weiter zu intensivieren und im Sinne einer »gelebten Logotherapie« zu konkretisieren. Otmar Wiesmeyr
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  • Inhaltsverzeichnis 9

    Vorwort

    Der Wille im BlicklichtGemeinsame Spurensuche zum 100. Geburtstag von Viktor E. Frankl

    »Wir sind stolz auf Sie!« Mit diesen Worten gratulierte der damalige österreichischeBundespräsident Thomas Klestil Viktor E. Frankl zum 90. Geburtstag. Dieser Dankfür sein großartiges Lebenswerk, die Logotherapie und Existenzanalyse, die weltwei-te Anerkennung fand, war auch der Beweggrund für den Internationalen Kongresszum 100. Geburtstag in seiner geliebten Heimatstadt Wien.

    Zum Themenschwerpunkt »Der Wille zum Sinn« versammelten sich herausra-gende Referentinnen und Referenten und vermittelten beeindruckende Einblicke indie vielfältigen Forschungs- und Anwendungsbereiche der sinnzentrierten Psycho-therapie.

    Mit dem vorliegenden Sammelband sollen diese Beiträge in besonderer Weisegewürdigt werden.

    Das Geschenk eines unvergesslichen Gemeinschaftserlebnisses durch die vieleninteressierten Kongressteilnehmer kann auch als Vermächtnis für die zukünftigeWeiterentwicklung der Logotherapie und Existenzanalyse angesehen werden unddazu ermutigen, die Kommunikation weiter zu intensivieren und im Sinne einer»gelebten Logotherapie« zu konkretisieren.

    Otmar Wiesmeyr

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    Alexander Batthyány

    »Immer schon war die Person am Werk«Viktor E. Frankls Weg zur Logotherapieund Existenzanalyse

    1923–1927: Von der Individualpsychologie zur Logotherapie

    Im Jahr 1926 verwendete der 21-jährige Medizinstudent Viktor Frankl erstmals denBegriff »Logotherapie« in einem Vortrag im »Akademischen Verein für medizinischePsychologie« in Wien. In den folgenden zehn Jahren, insbesondere im Rahmen dervon Frankl initiierten Jugendberatung und seiner Facharztausbildung in Psychiatrieund Neurologie an den Wiener Nervenheilanstalten Rosenhügel, Maria-Theresien-Schlössl und der psychiatrischen Klinik Steinhof, entwickelte er die Logotherapieschrittweise zu dem eigenständigen psychotherapischen System, das heute unter derDoppelbezeichnung »Logotherapie und Existenzanalyse« bekannt ist.

    Dabei dürfte Frankl in den 1920er-Jahren zunächst noch nicht an die Gründungeiner eigenen psychotherapeutischen bzw. psychiatrischen Schule gedacht haben: Erdefinierte sein Anliegen 1926 vielmehr in der Bildung eines therapeutischen undtheoretischen Programms, das die Individualpsychologie Alfred Adlers um das Ver-ständnis neurotischer Weltbezüge ergänzen sollte. Frankl wollte mit anderen Worteneine Begegnungsgrundlage mit Patienten schaffen, deren Lebenshaltung die Aussich-ten auf eine erfolgreich verlaufende Therapie zu gefährden drohte:

    Man kann einem Pessimisten, der sehr intelligent und bewusst ist, nicht durch den Rat, sichgut zu nähren und Sport zu treiben, helfen, denn darauf wie auf die ganze Gesundheit gibt erja aus seiner Philosophie heraus nichts. Wir müssen hier erst seine Wertung beeinflussen, umüberhaupt den Boden für eine weitere Behandlung zu schaffen, nämlich die Diskutabilität derNeurose! (Frankl 1925: 250)

    Frankl arbeitete im Rahmen dieses therapeutischen Modells auch eine ausführlichePhänomenologie und Denktypologie der gestörten Weltbezüge aus (Frankl 1926a)und war damit innerhalb der individualpsychologischen Bewegung einer der Ersten,der eine phänomenologische Forschungsarbeit über neurotische Lebenshaltungenvorlegte. Interessanterweise hat diese Typologie keinen Eingang in die heutige Logo-therapie gefunden, obwohl Frankl einige seiner 1926 vorgestellten Überlegungenund Beobachtungen später auszugsweise in seiner »Pathologie des Zeitgeists«(Frankl 1949) verwendete. Während Letztere aber kollektive Fehlhaltungen be-

  • Immer schon war die Person am Werk 11

    schreibt, formuliert zunächst im Zusammenhang mit den Erfahrungen des ZweitenWeltkrieges, zielt Erstere auf individuell gestörte Mensch-Welt-Beziehungen ab undwar als solche im engeren Sinne als diagnostischer und therapeutischer Leitfaden fürdie klinische Praxis vorgesehen. Es dürfte mehrere Gründe dafür geben, dass Franklvon der weiteren Verwendung seiner Denktypologie Abstand nahm: Zum einen ent-wickelten sich die Logotherapie und die Existenzanalyse innerhalb weniger Jahre zueiner eigen- und vollständigen Therapieform, wodurch die Klassifizierung neuroti-scher Lebenshaltungen im Verhältnis zu den nun breiteren Anwendungen der neuenLogotherapie/Existenzanalyse vergleichsweise an Gewicht verlor. Zweitens erkannteFrankl gerade angesichts der sich abzeichnenden breiten Anwendbarkeit seiner neuenTherapieform die Grenzen einer jeden Typologie und diagnostischen Schematisie-rung und stellte zunehmend die Begegnung mit der individuellen Person des Patien-ten in den Vordergrund der Psychotherapie. Dennoch bietet sich die von Frankl aus-gearbeitete Klassifikation nicht zuletzt aus differenzialdiagnostischen Gründen alsein auch heute noch interessantes Forschungsthema an: Man kann etwa die Denksti-le des »intellektuellen Neurotikers« im Rahmen der modernen Logotherapie als per-sönlichkeitsspezifische Ausdrucksformen der noogenen Neurose betrachten und mitHilfe konkreter Leitlinien therapeutisch zugänglich machen, ohne zugleich der Ver-suchung zu erliegen, die jeweilige Typuszuschreibung über die Individualität des Pa-tienten selbst zu stellen. Eine Durchsicht der vor allem in Die Psychotherapie in derPraxis beschriebenen Kasuistiken jedenfalls legt nahe, dass Frankl selbst auch Jahr-zehnte später noch des Öfteren darauf zurückgegriffen hat.

    Frankls Erkenntnis, dass es vor Beginn der eigentlichen Therapie notwendig seinkann, dem Patienten zunächst die »Diskutabilität der Neurose« bewusst zu machen,offenbart ein Person- und Krankheitsverständnis, in dem es in entscheidender Weisevon der Bereitschaft und Einsicht des Patienten selbst abhängt, ob die Therapie ge-lingen wird oder nicht. Das ist an sich keine grundlegend neue Einsicht – jeder Kli-niker und Therapeut weiß, dass nicht alle Patienten ihre Therapie gleich motiviertbeginnen. Neu ist aber Frankls Versuch, die Gründe für diese Motivationsunter-schiede als Ausdruck einer Lebenshaltung zu verstehen und sie relativ unabhängigvon der neurotischen Grundstörung zu betrachten und ernst zu nehmen:

    Es ist a priori nicht im Geringsten ausgemacht, dass das, was wir krankhaft nennen, auch falschist. Es ist damit, dass wir etwa eine intellektualistische Anschauung oder Wertung im Lichteder Individualpsychologie lebensunrichtig finden, noch lange nicht gesagt, dass sie auch in sichunrichtig ist. (Frankl 1926a: IX)

    Es ist mit anderen Worten nicht zwingend Ausdruck oder Symptom einer psychi-schen Störung, sondern kann unter bestimmten Umständen und innerhalb gewisserLebensanschauungen durchaus rational und folgerichtig sein, wenn ein Patient zumBeispiel am Sinn seines Lebens zweifelt und sich in Folge auch von der Heilung einerseelischen oder körperlichen Erkrankung wenig Änderung seiner gesamten Lebens-situation verspricht. Frankl löst mit diesem Verständnis die Lebenshaltung des Neu-rotikers von seiner seelischen Verfassung ab: Letztere mag krankhafte Züge aufwei-

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    sen, Erstere nicht, oder zumindest nicht notwendig. Sie wird aber, sofern sie nichtseitens des Arztes oder Therapeuten angesprochen wird, den Behandlungsverlaufselbst verhältnismäßig unverändert überdauern – eben deswegen, weil sie keinKrankheitssymptom als solches ist. Andererseits liegt es nahe, dass bestimmte Le-benshaltungen bestehende Symptome verstärken bzw. die Erfolgsaussicht einerTherapie von vorneherein untergraben können; oder auch, dass nach einer erfolg-reichen Therapie bestimmte Lebenshaltungen ein höheres Rückfallrisiko mit sichbringen als andere. In der Vor- und Nachbetreuungsphase der Therapie ist es dahernotwendig, den Patienten zu einem angemessenen Mensch-Welt-Verhältnis hinzu-führen bzw. ihm die Möglichkeiten lebensbejahenderer Daseinshaltung vorzustellen,zu denen sich der Patient dann eigenständig entscheiden kann. Auch Frankls früherLehrer und Mentor, Rudolf Allers, definierte »die Absicht aller psychotherapeuti-schen Bemühung […] als das Unternehmen, eine Versöhnung von Person und Weltherbeizuführen« (Allers 1963/2005: 12). Es spricht viel dafür, dass diese sich nichtautomatisch einstellt, wenn die ursprüngliche Krankheitssymptomatik auf ein er-trägliches Maß reduziert oder ganz ausgeheilt ist. Denn auch nach der erfolgreichenTherapie gilt, dass die Krankheit die Biographie und Lerngeschichte des Patienten,und solche unweigerlich auch seine Lebensanschauung, prägte. Zugleich kann esnicht das Ziel einer menschenwürdigen psychiatrischen oder psychotherapeutischenBehandlung sein, dem Patienten seine Lebenserfahrung und Lerngeschichte »weg-zunehmen«: Erstens ist fraglich, ob dies überhaupt im Rahmen einer ethisch ver-tretbaren Psychotherapie möglich ist; und selbst wenn es möglich wäre, stünde einsolches Vorgehen zweitens in direktem Widerspruch zum Personen- und Würdever-ständnis der Logotherapie. Umso mehr bleibt ihr aber die Aufgabe, den Patienten inder Nachbetreuungsphase zu einer frei gewählten wirklichkeitsnahen Zustimmungzum Leben hinzuführen, auf deren Grundlage sein weiteres Leben gelingen kann.

    Die mittlerweile auch empirisch bestätigte Beobachtung (z.B. Moomal 1989;Stewart et al. 1993; Testoni & Zamperini 1998; McHoskey et al. 1999), dass es ver-fehlte und belastete Daseinsweisen gibt, die nicht alleine seelisch oder körperlich be-dingt sind, sondern auch geistig-lebensanschauliche Mitursachen haben, brachteFrankl erstmals sogar noch früher, nämlich schon im Jahr 1923, zum Ausdruck.Damals sprach der Mittelschüler von der Möglichkeit einer »Geisteskrankheit imwahrsten Sinne des Wortes, also nicht im medizinisch-klinischen, denn ich sprechevon Geist und nicht von Seele« (Frankl 1923).

    Frankl hat mit diesen frühen Entwürfen bereits als Student, teils auch schon alsSchüler, Entwicklungen in der Psychologie vorweggenommen, die sich erst Jahr-zehnte später unter dem Vorzeichen der »kognitiven Wende« innerhalb der wissen-schaftlichen Gemeinschaft durchsetzen sollten. Heute herrscht im Allgemeinen brei-ter Konsens darüber, dass ein seriöses psychologisches Forschungsprogramm derVielfalt menschlicher Anliegen, Einstellungen und Werte Rechnung tragen muss.Nur noch wenige Modelle – sie halten sich allerdings umso beharrlicher – wollen vordem Hintergrund eines ideologischen Reduktionismus die geistigen Motive und An-

  • Immer schon war die Person am Werk 13

    liegen des Menschen als »uneigentlich« einebnen und vollständig durch triebdyna-mische oder lerntheoretische Begriffe ersetzen.

    Man kann vermuten, dass seine frühe Ausrichtung auf das Geistige und Persona-le auch entscheidend dazu beigetragen hat, dass es Frankl nicht lange bei seinen ers-ten beiden Lehrern, Freud und Adler, halten konnte. Zugleich scheint es, als ob ersich selbst anfangs noch nicht in vollem Ausmaß der Bedeutung seiner Abgrenzungdes Geistigen vom Seelischen bewusst war. Möglich ist auch, dass er sie kurzzeitigunter dem Einfluss seines ersten großen Lehrers, Sigmund Freud, aufgab: Seine erstewissenschaftliche Publikation in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse je-denfalls zeichnet den jungen Frankl zwar als originellen Denker aus – er bemühtsich hier um eine Erklärung der Bejahungs- und Verneinungsmimik als Weiterfüh-rungen der Koitus- und Ekelreaktionen –, aber zugleich auch als einen, der anschei-nend der Versuchung der Rückführung grundlegend menschlicher Anliegen auf ihrepsychodynamischen Substrate erlegen ist, wenn er etwa unter ausdrücklicher Aus-klammerung der geistigen Anteile der Bejahung und Verneinung schreibt:

    Die Entstehung der mimischen Bejahung und Verneinung dürfen wir nicht in der Weise su-chen, dass wir die betreffenden Kopfbewegungen als Symbole für eine intellektuelle Bejahung,beziehungsweise Verneinung auffassen […]. Dementsprechend werden wir bei der Erklärungdes Phänomens auf die zwei elementaren Lebenstriebe, den Ernährungstrieb und den Sexual-trieb Bezug nehmen. (Frankl 1924)

    Es fällt nicht leicht, in diesen Zeilen den späteren Begründer der Logotherapie undder Existenzanalyse wiederzufinden. Aber schon kurz nach ihrer Veröffentlichungbegann Frankl, von der Psychoanalyse Sigmund Freuds Abstand zu nehmen undsich Alfred Adlers Individualpsychologie zuzuwenden. Neben dem missglückten Ver-such, eine Lehranalyse bei Paul Federn zu beginnen, dürfte es mehrere Gründe gege-ben haben, die zu seiner Abkehr von der Psychoanalyse führten: Zunächst ist anzu-nehmen, dass sein reges Interesse an der Philosophie und auch sein soziales Enga-gement in der Psychoanalyse auf Dauer keine angemessene Entsprechung gefundenhaben – tatsächlich widmen sich die ersten postpsychoanalytischen PublikationenFrankls vornehmlich diesen beiden Themen. Zudem dürfte ihm bald bewusst ge-worden sein, dass das psychoanalytische Modell nur einen Teilbereich der mensch-lichen Psyche beschreibt, dessen Überhöhung die Psychoanalyse der fortwährendenGefahr aussetzt, auch noch die genuinen weltanschaulich-philosophischen Anliegender Patienten zu pathologisieren, statt sie als solche anzuerkennen und, wo nötigund gerechtfertigt, im Rahmen der Therapie anzusprechen. Diese Gedanken findenihren Niederschlag auch in Frankls erster individualpsychologischen Publikation:Nur ein Jahr nach seiner Veröffentlichung in der Internationalen Zeitschrift für Psy-choanalyse erscheint ein Artikel Frankls, der schon über weite Strecken sein späteresLebenswerk vorwegnimmt. In »Psychotherapie und Weltanschauung« schreibtFrankl:

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    Der Neurotiker kann nicht glücklich sein, denn er ist dem Leben nicht gewachsen, weil er esverachtet, entwertet, hasst. Die Liebe zum Leben, den Willen zur Gemeinschaft ihm ganz wie-derzugeben, ist die Aufgabe des Psychotherapeuten, und er kann es leicht auf dem Wege einerkritischen Auseinandersetzung, in der der Lebenswert, der Wert der Gemeinschaft klar wird alsunbeweisbar, aber gegeben […]. (Frankl 1925)

    Der Kontrast zwischen beiden Passagen – sie könnten gegensätzlicher kaum sein –mag teils auch mit dem Umstand erklärbar sein, dass zwischen dem Verfassen beiderAufsätze ein zeitlicher Abstand nicht von einem Jahr, sondern von drei Jahren1 liegt:drei Jahre, in denen Frankl wieder zu seiner ursprünglichen Auffassung des Geisti-gen als eigenständiger Kategorie zurückkehrt – und nicht nur zu ihr zurückkehrt,sondern sie auch in grundlegend vertiefter Form im Rahmen der Individualpsycho-logie therapeutisch nutzbar zu machen versucht.

    Im Jahr 1926 begegnet uns Frankl bereits als aktiver Adlerianer, unter anderemals regelmäßiger Sitzungsteilnehmer der individualpsychologischen Gesprächsrun-den im Café Siller und als Herausgeber einer Zeitschrift »zur Verbreitung der Indivi-dualpsychologie« (Der Mensch im Alltag). Bereits im September desselben Jahreswurde ihm angetragen, auf dem Internationalen Kongress für Individualpsychologiein Düsseldorf ein Haupt- und Grundsatzreferat zu halten.

    Ungefähr zu dieser Zeit dürfte Frankl auch seinen frühen Förderer Rudolf Allerskennen gelernt haben, der sich wie Frankl kurz zuvor von Sigmund Freud losgesagtund sich etwa ab Anfang 1925 dem Kreis um Adler angeschlossen hatte. Frankl assis-tierte Allers zwischen 1925 und 1926 am Physiologischen Institut der UniversitätWien, als Allers seine sinnesphysiologischen Studien zur Abstufung der Farbwahr-nehmung durchführte. Allers stand, gemeinsam mit dem späteren Begründer derPsychosomatik Oswald Schwarz, dem »anthropologischen Flügel« der Individual-psychologischen Vereinigung vor, um deren philosophische Grundlegung er sichvermutlich ab 1924 bemühte. Indessen zeichneten sich in eben diesem Versuch vonAnbeginn an inhaltliche Konflikte mit der orthodoxen Individualpsychologie ab. Eswaren im Wesentlichen zwei Hauptkritiken, die der anthropologische Kreis um Al-lers, Schwarz und Frankl an Adlers Entwurf äußerte – sie lassen sich im Vorwurf derEindimensionalität des individualpsychologischen Menschenbildes zusammenfas-sen: Es wurde erstens kritisiert, dass Adler eine monokausale Neurosenlehre vorstell-te, die seelische Störungen fast ausschließlich aus Konflikten zwischen Gemein-schaftsgefühl, Macht und Geltungsstreben abzuleiten versuchte; zweitens schien dasProjekt eines umfassenden philosophisch-anthropologischen individualpsychologi-schen Systems auch dadurch gefährdet, dass Adler Werte primär unter dem Ge-sichtspunkt ihrer sozialen und psychologischen Utilität betrachtete und somit denUnterschied zwischen Regel und Wert zu unscharf zeichnete (Allers 1924: 10ff.).

    1 Frankl hat den in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse veröffentlichten Artikel bereits 1922verfasst und an Sigmund Freud geschickt, der sich für seine Veröffentlichung in der IZP aussprach. Ererschien zwei Jahre später – zu einem Zeitpunkt, da Frankl sich vermutlich gerade von der Psychoana-lyse zu trennen und der Individualpsychologie Alfred Adlers zuzuwenden begann.

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    Eine Regel beschreibt aber im Idealfall Realisierungsmöglichkeiten eines Wertes,ohne notwendig selbst ein solcher zu sein. Darüber hinaus stellt die Überhöhung derRegelhaftigkeit sozialer Übereinkünfte einen Normbegriff auf, der mitunter auch dasUnwerte zum Wert erheben kann. Der einzelne Mensch ist unter dem Gesichtspunk-te einer anthropologisch fundierten Werterkenntnis aber nicht nur der Gemein-schaft, sondern vor allem seinem eigenen Wertempfinden (bzw. Gewissen) gegen-über verantwortlich – und zwar auch bzw. vor allem dann, wenn dieses den gegen-wärtigen Normen oder ihrem aktuellen Nutzwert zuwiderlaufen sollte. Allersschreibt in einem späten Rückblick auf diese philosophische Auseinandersetzung:

    Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, wenn Statistik als Grundlage einer Grenzbestimmungabgelehnt wird. Es ist offenbar, dass der Durchschnitt nur dann dem Normalen entspricht,wenn es sich so trifft, dass die normalen Phänomene eine merkliche Mehrheit bilden. Das aberheißt, dass man sich erst über das Normale klar sein muss, ehe man statistische Daten verar-beiten kann. Auch wenn in einer Bevölkerung sich 99% als tuberkulös erwiesen, so bliebe daseine restliche Prozent Repräsentant der Normalität. Das gilt für Krankheiten wie für alle ande-ren Aspekte menschlichen Seins. Auch Moralstatistik kann nichts darüber aussagen, was nor-male Sittlichkeit ist; diese muss definiert sein, um die Statistik in sinnvoller Weise verwertbarzu machen. (Allers 1963/2005: 123)

    Wie auch Allers und Schwarz, glaubte Frankl zunächst, die Individualpsychologievon innen her reformieren und auf ein solideres philosophisch-anthropologischesFundament stellen zu können (Frankl 2002: 43). Nach dem Düsseldorfer Kongressfür Individualpsychologie 1927 – Frankl hatte hier bereits den Boden der orthodo-xen Individualpsychologie verlassen, als er die Neurose nicht nur als Arrangement,sondern auch als authentischen personalen Ausdruck beschrieb – nahmen die Span-nungen zwischen dem anthropologischen Flügel der Individualpsychologischen Ver-einigung und Adler zu; bald darauf kam es zum öffentlichen Bruch:

    Dann kam […] 1927 der Abend, an dem Allers und Schwarz ihren bereits vorher angekündig-ten Austritt aus dem Verein für Individualpsychologie coram publico vertraten und begründe-ten. Die Sitzung fand im Großen Hörsaal des Histologischen Instituts der Universität Wienstatt. In den letzten Reihen saßen ein paar Freudianer, die schadenfroh das Schauspiel betrach-teten, wie es Adler nun nicht anders erging als zuvor Freud, aus dessen Wiener psychoanalyti-scher Vereinigung Adler seinerzeit ja ebenfalls ausgetreten war. (Frankl 2002: 42f.)

    1927, wenige Monate nachdem Frankls Lehrer und Mentoren Rudolf Allers undOswald Schwarz ihren Rücktritt aus dem Verein für Individualpsychologie bekanntgaben, wurde er auf persönlichen Wunsch Adlers hin wegen »unorthodoxer Ansich-ten« aus dem Verein für Individualpsychologie ausgeschlossen.

    1927–1930: Zur Psychologie der Jugendlichen

    Die Trennung von der Individualpsychologie bedeutete für Frankl nicht nur denVerlust der Illusion der inneren Reformierbarkeit der seinerzeit wohl noch grund-

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    sätzlich »geistoffensten« psychotherapeutischen Richtung in Wien; er verlor zudemauch ein wichtiges Forum, in dem er seine Ideen und klinischen Weiterentwicklun-gen der Individualpsychologie mit Adler und seinem engeren Umfeld diskutierenkonnte.

    Zugleich stellten die folgenden Jahre Frankl und sein Modell auch vor neue He-rausforderungen: denn nach dem Ausschluss folgte eine ausgesprochen aktive Zeit,in der Frankl wichtige Erfahrungen in der praktischen Beratungstätigkeit sammelte.Bereits 1926 hatte er, angeregt durch das Vorbild der von Wilhelm Börner in Wiengegründeten Lebensmüdenberatungsstellen, in zahlreichen Publikationen auf dieNotwendigkeit der psychologischen Betreuung Jugendlicher hingewiesen (z.B.Frankl 1926b, 1926c). Vergleichbare Einrichtungen wurden zwar bereits von Indivi-dualpsychologen und den ersten Vertretern der österreichischen Sozialpsychiatrie inWien geführt, richteten ihr Beratungsangebot aber in erster Linie an Eltern und Er-zieher und nicht an die Jugendlichen selbst. Deren Anliegen und Sorgen fanden da-gegen kaum Beachtung:

    Wer die Psychologie des Jugendlichen näher kennt, weiß gut genug, was die letzte undausschlaggebende Ursache [der Not der Jugendlichen] ist, nämlich die Tatsache, dass dem ju-gendlichen Menschen bei uns heutzutage sehr wenig Gelegenheit geboten wird, über jene Le-bensfragen, die ihn bedrängen, und jene Konflikte, die ihm alles bedeuten, mit Menschen vonreifem Urteil und Hilfsbereitschaft sich auszusprechen, um über sie hinwegzukommen.Weder die Beziehung zwischen Kind und Eltern, sofern sie nicht gerade als mustergültig zubezeichnen sind, noch das Verhältnis des Jugendlichen gegen seine Lehrpersonen gestattenihm, sein Herz auszuschütten und sich irgendwo Rat zu holen. Angewiesen auf zweifelhafteFreunde ohne Reife und Wissen, steht er da und wird mit sich und seinen Sorgen alleine gelas-sen.[…]Festhalten wollen wir nur die Notwendigkeit und Möglichkeit der Schaffung von Jugendbera-tungsstellen; wir wollen ihre Errichtung zur Diskussion stellen und ihre Verwirklichung mög-lichst rasch und tatkräftig fördern. Denn: Zeit ist – Leben. (Frankl 1926b: 8)

    Nach seinem Ausschluss aus der Individualpsychologischen Vereinigung griff Franklgemeinsam mit ehemaligen Kollegen aus dem Kreis um Adler – unter ihnen RudolfAllers, August Aichhorn, Wilhelm Börner, Hugo Lukacs, Erwin Wexberg, RudolfDreikurs und Charlotte Bühler – die von ihm gestellte Forderung selbst auf und or-ganisierte ab dem Jahr 1928 zunächst in Wien und dann nach dem Vorbild derWiener Gruppe in sechs weiteren europäischen Städten Jugendberatungsstellen, indenen Jugendliche in seelischer Not unentgeltlich und anonym psychologisch be-treut wurden. Die Beratung fand in den jeweiligen Wohnungen oder Praxen derfreiwilligen Helfer statt – so auch in Frankls elterlicher Wohnung in der Czerningas-se 6 in Wien-Leopoldstadt, die in sämtlichen Publikationen und Flugblättern alsKontaktadresse der Leitung der Jugendberatungsstellen ausgewiesen wird.

    Angesichts der Tatsache, dass Frankl mit diesem Angebot eine wichtige Versor-gungslücke im damaligen Wien füllte, überrascht es nicht, dass die Nachfrage nachAussprachen und Beratungen groß und die Arbeit der Jugendberatungsstellen au-

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    ßerordentlich erfolgreich war: Auskunft darüber, wie erfolgreich – und wie notwen-dig –, geben spätere Übersichtsartikel Frankls, in denen er rückblickend und zu-sammenfassend über seine Tätigkeit als Jugendberater berichtet: In diesen Aufsät-zen nimmt Frankl Bezug auf rund 900 Beratungsfälle, die er alleine betreut hatte(Frankl 1930; Frankl 1935a; Fizzotti 1995), und zieht zugleich eine ernüchternde Bi-lanz über die Situation der Jugendlichen Wiens: Bei immerhin rund 20 % der Be-ratungssuchenden »bestanden Lebensüberdruss und Selbstmordgedanken« (Frankl1930).

    Ab 1930 kümmerte sich Frankl vermehrt um die Fälle von Schülerselbstmorden,die insbesondere in den Tagen unmittelbar vor und nach der Zeugnisverteilung er-heblich anstiegen. In demselben Jahr organisierte Frankl auch die ersten Sonderak-tionen zur Schülerberatung mit besonderem Augenmerk auf die kritische Zeit desSchuljahresendes:

    Die Wiener Jugendberatung hat daher eigens hierfür eine Beratungsstelle geschaffen, in der amTage der Zeugnisverteilung sowie am Tage vorher und nachher eine Art Permanenzdienst […]durchgeführt werden. Es ist dies ein Versuch, der sich lohnen würde, selbst wenn nur ein einzi-ges Kind käme; ein Versuch aber, der ausgebaut werden und – gleich der Jugendberatung alssolcher – mit einem neuen guten Beispiel Wien als Muster ausländischer Fürsorgeschöpfungenvorangehen lassen soll! Vorläufig freuen wir uns darüber, dass der Stadtschulrat unsere Aktionbegrüßt hat. […]Stadtrat Tandler hat einmal gesagt: ›Kein Kind darf in Wien hungern!‹, und wir setzen hinzu:Auch soll kein Kind in Wien seelische Not leiden müssen, ohne jemanden zu wissen, der ihmbeisteht! Mögen in diesem Sinne unser Aufruf und die gesamte Schulschlussaktion Erfolg ha-ben. (Frankl 1931)

    Tatsächlich zeitigte die Aktion bereits im ersten Jahr ihrer Umsetzung (1930) großeErfolge – die Zahl der Selbstmordversuche unter Schülern nahm stark ab; 1931 wur-de erstmals seit Jahren kein Schülerselbstmord in Wien verzeichnet. Entsprechendgroß war auch die Anerkennung, die Frankl für seine Initiative seitens der Medienerfuhr: »Es war eine außerordentlich glückliche Idee des Gründers und ehrenamt-lichen Leiters der Wiener Jugendberatung, des jungen Arztes Dr. V. Frankl, dieseSchülerberatungsstelle ins Leben zu rufen« (zit. in: Dienelt 1959), schrieb der Chef-redakteur einer Wiener Zeitung am 13. Juli 1931.

    Ein »junger Arzt« war Frankl ab 1930 – er hatte sein Medizinstudium erfolg-reich abgeschlossen und trat nun seine Facharztausbildung in Psychiatrie undNeurologie an vier der seinerzeit renommiertesten psychiatrischen Klinikenund Nervenheilanstalten Wiens an. Hier konnte er, im direkten Umgang mit Pa-tienten, weitere Einsichten und Erkenntnisse gewinnen, die die noch werdendeLogotherapie und Existenzanalyse grundlegend prägten. Hatte er sich bishermit der Herausgabe von Der Mensch im Alltag und der Schülerberatungstätig-keit noch vornehmlich der Krisenprophylaxe und Psychohygiene gewidmet, erwei-terte sich nun der im engeren Sinne psychiatrische Anwendungsbereich seinerTherapie.

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    Wie sehr zugleich vor allem die Motivationstheorie zu dieser Zeit bereits gereiftwar, zeigt eine – gemessen an ihrer historischen Bedeutung innerhalb der Logothe-rapieforschung bisher relativ wenig beachtete – Arbeit aus dem Jahr 1933, in der sichbereits die Grundlagen nahezu aller zentralen Konzepte der Logotherapie und Exis-tenzanalyse wiederfinden: Frankl beschreibt darin die seelische und geistige Not derArbeitslosen, die er nicht nur sozial und wirtschaftlich deutet, sondern maßgeblichauch auf ein defizitäres Sinnbewusstsein zurückführt. Auch zeichnet sich die Lei-densfähigkeit (bei unabänderlichem Leid) als ergänzendes Therapieziel (neben dervon Freud und Adler noch in den Mittelpunkt gestellten Arbeits- und Genussfähig-keit) ab:

    Dem als apathisch, depressiv, neurotisch charakterisierten Typus des Jugendlichen fehlt eben –und das kann nicht genug betont werden – weniger die Arbeit an sich, die berufliche Tätigkeitals solche, als das Bewusstsein nicht sinnlos zu leben.Die Jugend schreit mindestens so sehr wie nach Arbeit und Brot nach einem Lebensinhalt, ei-nem Ziel und Zweck des Lebens, nach einem Sinn des Daseins. Junge Menschen, welche mich[…] aufsuchten, baten mich verzweifelt, sie mit Botengängen zu beschäftigen, oder stellten mirgroteske Anträge. (Einer wollte unbedingt immer nach der Sprechstunde, das heißt, nachdemviele Leute in meiner Wohnung gewesen waren, das Vorzimmer aufräumen.) […]Andererseits jedoch lernen wir Burschen und Mädel kennen, die man als wahre Heroen an-sprechen muss. Mit knurrendem Magen arbeiten sie in irgendwelchen Organisationen, sindzum Beispiel als freiwillige Helfer in Büchereien tätig oder versehen Ordnerdienst in Volks-hochschulen. Sie sind erfüllt von der Hingabe an eine Sache, an eine Idee, vielleicht gar an ei-nen Kampf um bessere Zeiten, um eine neue Welt, die auch das Problem der Arbeitslosigkeitlösen würde. Ihre leider im Übermaß vorhandene Freizeit ist ausgefüllt von nützlicher Be-schäftigung. Ich habe das Empfinden, dass man die junge Generation unterschätzt: hinsicht-lich ihrer Leidensfähigkeit (man sehe sich manche trotz allem heiteren Gesichter an) und hin-sichtlich ihrer Leistungsfähigkeit. (Frankl 1933)

    In demselben Artikel finden wir auch erstmals das Konzept der Einstellungswertebei schicksalhaftem Leid, das Konzept der schöpferischen Werte bei behebbaremLeid, die noogene Neurose als nicht psychisch, sondern geistig bedingtes Leiden undden sokratischen Dialog als therapeutische Methode zur Behandlung des existenziel-len Vakuums:

    In diesem Sinne pflege ich die entmutigten jungen Arbeitslosen zu fragen, ob sie etwa glauben,dass schon die Tatsache das Leben lebenswert macht, dass man täglich acht Stunden hindurchbei einem Greißler arbeitet, für einen Unternehmer schuftet oder dergleichen. Die Antwortlautet ›nein‹ und ich kläre die jungen Leute darüber auf, was ihre Antwort positiv bedeutet: Be-rufliche Arbeit repräsentiert nicht die einzige Chance, das Leben sinnvoll zu gestalten! Tatsäch-lich liegt nämlich die irrtümliche Identifizierung von Beruf und Berufung dem geschildertenapathischen Zustand geistig zugrunde. […]Der Berater vermag leider kaum die ökonomische Stellung des Jugendlichen zu ändern, zu-meist dagegen die Einstellung zu ihr zu beeinflussen. Er soll eine derartige Umstellung desBetreffenden herbeiführen, dass dieser die Fähigkeit erlangt, seine Not zu ertragen, wenn esnötig ist, und zu beheben, wenn es möglich ist. (Frankl 1933)

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    1930–1938: Der junge Arzt – Logotherapie in der psychiatrischen Praxis

    Mit diesem theoretischen Grundverständnis und therapeutischen Handwerkszeugtrat Frankl seine Facharztausbildung an. Hatte er in seinem 1933 verfassten Artikelbereits vermehrt auf das Problem des schicksalhaften Leides an sich psychisch Ge-sunder aufmerksam gemacht, begegnete er an der psychiatrischen Klinik Steinhofdem im engeren Sinne psychopathologischen Leiden der psychisch Kranken (er be-treute vor allem depressive Patientinnen). Auch hier konnte er das Wirken dertransmorbiden, geistigen Ressourcen beobachten, die er zuvor als entscheidendesBehandlungselement sowohl im Rahmen der therapeutischen Nachbetreuung neu-rotischer Patienten (Frankl 1926a) als auch bei der Beratung jugendlicher Arbeits-loser beschrieben hatte (Frankl 1933).

    Es erscheint im Nachhinein, als ob Frankls Arbeit in der Psychiatrie die erste Be-währungsprobe, vielleicht auch die eigentliche Geburt der Logotherapie und derExistenzanalyse, wie wir sie heute kennen, gewesen ist. Um diesen Entwicklungs-schritt in vollem Umfang nachzuvollziehen, muss man sich Frankls damalige Situa-tion vor Augen führen: Ein junger Arzt entdeckt, was ihm keiner seiner vormaligenLehrer (Freud und Adler) zuzugestehen bereit ist – dass der geistige Anteil des Men-schen den Beratungs- und Therapieverlauf mitbeeinflussen kann, weil er selbst rela-tiv unabhängig von der Erkrankung oder belastenden Lebenssituation frei zu Letzte-ren Stellung nehmen kann. Der junge Arzt stellt im Verlauf seiner Therapie- und Be-ratungstätigkeit weiters fest, dass dieses Grundprinzip selbst bei so unterschiedlichenProblemstellungen wie der Behandlung von neurotischen Patienten, selbstmordge-fährdeten Schülern und jugendlichen Arbeitslosen – mit anderen Worten: verhält-nismäßig unspezifisch – zu wirken vermag. Seine Erfahrungen zeigen ihm folglich,dass weder das psychologische noch das soziale Schicksal eines Menschen ihn seinergeistigen Freiheit berauben können; und sie zeigen ihm ferner, dass die geistige Frei-heit des Menschen nicht nur eine anthropologische Erfahrungstatsache ist, sondernauch klinisch ausgesprochen wirksam sein kann, weil sie dem Patienten jene Auto-nomie und Selbstentscheidungsfähigkeit zurückgibt, die das psychologische oder so-ziale Schicksal zu unterminieren drohte.

    Mit dieser Erkenntnis – und daraus gewachsenen Methoden, dem Patienten dasBewusstsein seiner Entscheidungsfreiheit zurückzugeben – trifft der junge Arzt nunauf eine Patientengruppe, deren Erkrankung in erster Linie biologisches Schicksal istund sich zugleich sozial und psychologisch schicksalhaft niederschlägt. Würde sichseine Erkenntnis der relativen Schicksalsunabhängigkeit des Geistigen auch hiernoch bewähren können? Das war zumindest einmal ungewiss, denn aufgrund derbiologischen Komponente der endogenen Depression war etwa an eine »Diskutabili-tät der Neurose« und dergleichen nicht zu denken. Zudem stellte sich die Frage, wieer seine Erkenntnis der geistigen Anteile des Menschen an seinen mitunter schwerund chronisch erkrankten depressiven Patienten überprüfen können würde, ohnedie in der endogenen Depression meist symptomatischen überwertigen Schuldideendurch Appelle zur Eigenverantwortung und Ähnlichem noch zu verstärken.

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    Zur Lösung dieser Probleme ging Frankl zunächst mehr phänomenologisch alstherapeutisch vor. Mit anderen Worten: Er beobachtete aufmerksam. In einem spä-teren Rückblick schrieb er, dass in dieser Zeit die Patienten selbst seine Lehrer wur-den; eigenen Angaben zufolge versuchte er nun, »zu vergessen, was [er] von Psycho-analyse und Individualpsychologie gelernt hatte« (Frankl 2002: 52). An die Stelleseiner akademischen Lehrer und Mentoren traten nunmehr die Zuwendung zu denPatienten selbst und die Frage, was über die unmittelbaren psychiatrischen und psy-chotherapeutischen Maßnahmen hinaus zu deren Heilung und Genesung beitragenkonnte. Und wieder bewährte sich sein Modell des transmorbiden – also jenseits derKrankheit unbeschadet existierenden – Geistigen: Frankl sah an seinen geheilten Pa-tienten, dass die geistigen Ressourcen des Menschen tatsächlich nicht nur dem apa-thischen und neurotischen, sondern auch dem stabilisierten psychotischen Patientenhelfen können, einen selbst gewählten und verantwortlichen Standpunkt zur eige-nen Erkrankung einzunehmen, der wiederum auf den Krankheitsverlauf selbst zu-rückwirkt.

    Frankl prägte in diesem Zusammenhang später den Begriff der Pathoplastik – derFähigkeit des Kranken, das »Material der Symptome« bzw. des von einer psychischenKrankheit überschatteten Daseins bis zu einem gewissen Grad noch selbst zu gestal-ten. Aus dem hier angesprochenen Spannungsfeld von schicksalhafter Erkrankungund frei gewählter Stellungnahme reifte nun auch Frankls Freiheitsbegriff, der diemenschliche Bedingtheit nicht eigentlich als Hindernis, sondern als Motor der Frei-heit definiert. Denn eine Freiheit, die sich auch dann noch – oder: inbesondere dann– bewährt, wenn die inneren oder äußeren Umstände überwältigend erscheinen, isteine Freiheit, die nicht bloß als theoretische Fähigkeit ein philosophisches Bekennt-nis bleibt, sondern zur lebbaren Wirklichkeit und damit auch zur klinisch relevantenGröße auch noch angesichts des biologischen Schicksals wird.

    Dieses Modell hat daher auch eminente Folgen für die angewandte Therapie –zum einen, weil die Einstellung des Patienten zur Erkrankung insbesondere ihrenlangfristigen Verlauf prägt (hinreichend nachgewiesen ist dies etwa bei phasenhaftenErkrankungen in Hinblick auf den eigenverantwortlichen Umgang mit sich selbst,wenn erneute Symptomverstärkungen auftreten), und zum anderen, weil der Patientdurch die Distanzierung vom Krankheitsgeschehen nicht nur passiver Symptomträ-ger und Hilfeempfänger bleibt, sondern zu einem gewissen Grad Mitarbeiter desArztes wird:

    Freiheit und Verantwortung sind aber nicht gewährleistet, wenn nicht auch die Selbstständig-keit des Kranken – seine Selbstständigkeit auch dem Arzt gegenüber! – gewahrt bleibt. (Frankl1986: 223)

    Natürlich sind dieser Einbindung des Kranken realistische Grenzen zu setzen; dergemeinsame Versuch, der Erkrankung Herr zu werden, setzt beispielsweise grundle-gende Krankheitseinsicht voraus, die Psychotiker im akuten Erkrankungsstadium inder Regel nicht haben; und diese Einbindung muss zudem dort Halt machen, wo der

  • Immer schon war die Person am Werk 21

    Arzt dem Patienten nicht als Mitarbeiter, sondern als Kliniker begegnet und etwaeine medikamentöse Therapie verordnet. Es geht Frankl also nicht um eine sozial-romantisch missverstandene »Demokratisierung« der Therapie, sondern im eigent-lichen Sinne darum, den Personenkern des Erkrankten zu würdigen und diese Wür-digung therapeutisch nutzbar zu machen, indem er den verbliebenen Residuen vonFreiheit und Verantwortung zur Geltung und Entfaltung verhilft, mittels deren derPatient seinen Krankheits- und Therapieverlauf positiv beeinflussen kann. Mitunter– etwa bei einer endogenen Depression – kann diese Mitarbeit für den Patienten zu-nächst nicht mehr bedeuten, als buchstäblich nichts zu tun, außer den Arzt wirkenzu lassen und bis zum Wirkungseinsatz seiner therapeutischen Bemühungen »aus-zuharren«:

    Wir haben den Patienten dazu zu bringen, dass er nicht ›sich zusammenzunehmen‹ versucht,sondern im Gegenteil: die Depression über sich ergehen lässt – dass er sie als eben endogenehinnimmt, mit einem Wort, dass er sie objektiviert und solcherart sich selbst von ihr distanziert– soweit dies möglich ist, und in leichten bis mittelschweren Fällen ist es möglich. Ob ceterisparibus der eine Mensch sich von seiner endogenen Depression distanziert, während der ande-re sich in diese Depression fallen lässt, liegt nicht an der endogenen Depression, sondern ander geistigen Person; denn immer schon war die Person am Werk; immer schon war sie mit imSpiel; immer schon hat sie mitgestaltet das Krankheitsgeschehen. (Frankl 1986: 237).

    Die erste und zentrale Erkenntnis seiner Ausbildungszeit an der psychiatrischen Kli-nik am Steinhof war die Bestätigung des Wirkprinzips der geistigen Freiheit auchnoch angesichts des biologischen Schicksals: »Immer schon hat sie mitgestaltet dasKrankheitsgeschehen. Aber: mitgestaltet wie und nach welchen Kriterien?« Mit dieserFragestellung wurde Frankl über den Umweg der Dialektik von Schicksal und Freiheitwieder zur Diskutabilität hingeführt – im Fall der psychotischen Erkrankungen aberder Diskutabilität nicht der Kernerkrankung, sondern der Art und Weise, wie sich derPatient zu dieser einstellt; und auch zu der Frage, ob und wie er seine relative Freiheitzu nutzen bereit ist. Dies stellte zwei weitere logotherapeutische Grundkonzepte voreine Bewährungsprobe: erstens die Leidensfähigkeit des Menschen angesichts unab-änderlichen Schicksals und zweitens seinen Willen zum Sinn, bzw. konkreter: dieFähigkeit des Menschen, auch schwere Lebensumstände zu tragen, weil es ein»Mehr« gibt, um dessentwillen sie annehmbar werden. In seinem 1933 erschienenenArtikel über die geistige Not der arbeitslosen Jugendlichen hatte Frankl bereits auf-gezeigt, dass das Wissen um einen »Sinn des Daseins« vor Depression, Resignationund Apathie zu schützen vermag. Am Steinhof konnte Frankl diese Beobachtungenauch an seinen selbstmordgefährdeten depressiven Patienten bestätigen:

    Insofern nun, als es gilt, zu beurteilen, inwieweit die bedrohliche Selbstmordgefahr von einemGrade ist, der entweder die Entlassung des Patienten aus der geschlossenen Anstalt ratsam undangebracht sein lässt oder aber, umgekehrt, seine Abgabe in geschlossene Anstaltspflege, habeich selbst eine Standardmethode angegeben, die sich immer wieder bewährt; sie setzt uns indie Lage, die Diagnose (fort)bestehender Selbstmordgefahr zu erstellen bzw. die Dissimula-tion der Selbstmordtendenz als solche zu diagnostizieren. Zunächst stellen wir dem betreffen-

  • 22 Sinn und Person

    den Kranken die Frage, ob er (noch) Selbstmordabsichten hege: In jedem Falle – sowohl imFalle, dass er die Wahrheit spricht, als auch im Falle bloßer Dissimulation tatsächlicherSelbstmordabsichten – wird er diese unsere erste Frage verneinen; woraufhin wir ihm einezweite Frage vorlegen, wenn sie auch geradezu brutal klingt: warum er sich nicht (mehr) dasLeben nehmen wolle. Und nun erweist es sich regelmäßig, dass derjenige, der wirklich keineSelbstmordabsichten hat, sogleich mit einer Reihe von Gründen und Gegenargumenten beider Hand ist, die alle dagegensprechen, dass er das Leben von sich werfe: dass er seine Krank-heit doch für heilbar halte, dass er doch auf seine Familie Rücksicht nehmen oder an seine be-ruflichen Verpflichtungen denken müsse, dass er doch viel zu sehr religiös gebunden sei usf. –während derjenige, der seine Selbstmordabsichten nur dissimuliert hat, sich auf unsere zweiteFrage hin dadurch entlarvt, dass er uns eine Antwort auf unsere Frage schuldig bleibt, an Stelledessen mit einer charakteristischen Verlegenheit reagiert, und zwar einfach schon deswegen,weil ja tatsächlich um Argumente verlegen ist, die gegen den Selbstmord sprächen […].(Frankl 1947: 121)

    Ein weiteres zentrales Element der Logotherapie entwickelte Frankl während seinerTätigkeit am Steinhof. Dieses nun richtet sich weniger an die Person des Patientenals an das Selbstverständnis des Arztes: Ärztliches Handeln im Sinne Frankls – vorallem, wenn der Arzt zugleich in der Forschung tätig ist – bildet sich unter anderemdarin ab, dass der Arzt auch noch in seiner Funktion als Wissenschaftler versucht,den Patienten nicht nur als Beobachtungsobjekt, sondern als einmalige und einzig-artige Einzelperson anzuerkennen. Damit wird der Arzt und Forscher nicht nur demohnehin nach Frankls Grundverständnis unverlierbar gegebenen Personenwert ge-recht; darüber hinaus gewinnt dieser Zugang auch an klinischem Gewicht, da dieZuwendung zum Patienten auch den Weg zu neuen diagnostischen und therapeuti-schen Erkenntnissen ebnet. Frankls Anliegen nicht nur einer Psychotherapie, son-dern auch einer »Psychiatrie mit menschlichem Antlitz« kommt als Leitgedanke sei-nes Handelns beispielhaft in einem 1935 verfassten Aufsatz zum Ausdruck, in demer von der von ihm und einem Kollegen angeregten Jom-Kippur-Feier für psychoti-sche Patienten am Steinhof berichtet. Man muss sich vor Augen halten, dass Frankldiese und ähnliche Initiativen Jahrzehnte vor dem ersten zögerlichen Aufkommender Psychiatriereform in Österreich setzte:

    Noch führen einzelne Halluzinanten leise Selbstgespräche und ihr leerer Blick irrt ziellos imSaale umher. Da wendet sich der Rabbiner zu ihnen – Menschendienst ist auch Gottesdienst –,er beginnt deutsch zu sprechen. Eindringlich schildert er ihnen den Sinn des soeben […] Ge-sagten – und sie merken auf! So geht es eine Stunde hindurch, am nächsten Tage sechs Stun-den. Bald hatte er heraus, was der kranken Seele Nottut: sie der Wahnwelt entreißen, die Auf-merksamkeit immer aufs Neue erkämpfen – die Kranken beschäftigen. Viel Einfühlung, An-passung und Geduld und Kontaktfähigkeit war nötig zu diesem Werk. (Frankl 1935c: 7)

    Frankls Grundidee, dass die geistige Person nicht direkt in das Krankheitsgescheheninvolviert ist, wohl aber von der psychophysischen Grunderkrankung betroffen, be-schränkte sich in ihrer konkreten Anwendung nicht darauf, dem Patienten sein ent-fremdetes Erleben durch die Anerkennung seiner unverlierbaren Würde und Perso-nalität bloß erträglich zu machen. Vielmehr war es als Arzt sein erstes Ziel und seine

  • Immer schon war die Person am Werk 23

    vorrangige Aufgabe, die zugrundeliegende Erkrankung selbst unter dem Blickpunktder bestmöglichen medizinischen Versorgung zu behandeln. Wir erinnern uns indiesem Zusammenhang an Frankls 1933 verfassten Grundsatz: »Not […] ertragen,wenn es nötig ist, und beheben, wenn es möglich ist«. Beim psychisch Erkranktenmag, zumal im Akutstadium der Erkrankung, das »Ertragen« nötiger sein als das»Beheben« möglich; umso mehr ist es aber nach Frankls Verständnis die Aufgabe desArztes, im Rahmen von Forschung und Klinik stets nach neuen und besseren Be-handlungsmöglichkeiten der psychischen Erkrankung zu suchen. 1939 beschrieb erdie medikamentöse Unterstützung der Psychotherapie bei Neurosen und setzte mitden in diesem Artikel beschriebenen Forschungsarbeiten einen entscheidendenEntwicklungsschritt für die moderne europäische Psychopharmakologie (Frankl1939a). Später leistete er mit seiner Anwendung des ursprünglich als Erkältungs-medikament eingesetzten Myoscain als Vorläufersubstanz der heutigen AnxiolytikaPionierarbeit, die ihren Niederschlag auch im Beipackzettel von Myoscain fand:

    Als erstes Präparat zur Bekämpfung der Angst in Europa von Viktor E. Frankl in die Therapieeingeführt, bei ängstlicher Erregung in Verbindung mit Depressionszuständen, Angstneurosen(Erwartungsangst, Prüfungsangst, usw.), Stottern […].

    1938–1945: … trotzdem Ja zum Leben sagen

    1938, im Jahr des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich, veröffentlichteFrankl seinen Aufsatz »Zur geistigen Problematik der Psychotherapie« (Frankl1938), der über weite Strecken nicht nur den Begriff der Existenzanalyse prägt, son-dern zugleich auch theoretisch untermauert:

    Wo ist jene therapeutisch interessierte Therapie, die die ›höheren‹ Schichten menschlicherExistenz in ihren Aufriss einbezöge und in diesem Sinne und im Gegensatz zum Worte von der›Tiefenpsychologie‹ den Namen Höhenpsychologie verdiente? Wo ist, mit anderen Worten, je-ne Theorie vom schlechthin seelischen und im Besonderen vom neurotischen Geschehen, dieüber den Bereich des Psychischen hinauslangend die gesamte menschliche Existenz, in all ihrerTiefe und Höhe, berücksichtigte und demgemäß als Existenzanalyse bezeichnet werden könn-te? (Frankl 1938: 36)

    In diesem und einem Folgeartikel mit dem Titel »Philosophie und Psychotherapie«kehrt Frankl zu den Ursprüngen der Logotherapie von 1933 zurück und gehtzugleich weit über das hinaus, was er bis dahin auf dem Gebiet der Psychotherapiepubliziert hatte: Erstmals finden wir in dieser Arbeit die logotherapeutische undexistenzanalytische Motivationstheorie – die Sinnorientierung des Menschen – alsdezidiert ausgearbeitetes Konzept; erstmals finden wir auch die drei Wertkategorienerwähnt, die Frankl später als die »drei Hauptstraßen zum Sinn« bezeichnete; understmals finden sich auch einige der Techniken und Methoden der Logotherapie undder Existenzanalyse beschrieben. Ausschlaggebend ist auch Frankls Aufruf an die

  • 24 Sinn und Person

    Psychotherapie, sie müsse ihr »vorgegebenes Bild vom Menschen als leiblich-seelisch-geistiger Einheit auch noch in ihre Ansicht vom seelisch kranken Menschenhinübernehmen« (Frankl 1939b). Frankl legte immerhin so viel Wert auf dieses Be-kenntnis zur personalen Unversehrtheit auch des psychisch Kranken, dass er diesesals eine der wenigen Passagen seines Artikels kursiv drucken ließ.

    Frankl schrieb diese Zeilen im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld der planmäßigenVernichtung psychisch kranker Patienten durch die Nationalsozialisten. Und auchhier kam er, wie schon rund zehn Jahre zuvor, als es die Not der Jugendlichen Wienszu lindern galt, seinem eigenen Appell nach: Zuerst alleine, später mit Hilfe des da-maligen Vorstandes der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien, Otto Pötzl, konnteer durch gefälschte Diagnosen zahlreiche jüdische Psychiatriepatienten vor dem Eu-thanasieprogramm Hitlers und Schirachs schützen (Neugebauer 1997), indem er dieGitterbetten des jüdischen Altersheims in der Wiener Malzgasse mit psychotischenPatienten belegte. Zwar war es dem Altersheim untersagt, psychisch kranke Patientenaufzunehmen, aber:

    […] ich umging nun diese Klausel [die es dem Altersheim verbot, psychisch kranke Pflegefälleaufzunehmen], indem ich die Leitung des Altersheims schützte, selbst aber den Kopf in dieSchlinge steckte, indem ich ärztliche Zeugnisse ausstellte, die eine Schizophrenie in eine Apha-sie, ›also ein hirnorganisches Leiden‹, und eine Melancholie in ein Fieberdelir, also ›keine Psy-chose im eigentlichen Wortsinn‹ verwandelten. War der Patient einmal im Gitterbett im Al-tersheim untergebracht, konnte die Schizophrenie zur Not auch auf einer offenen Abteilungmit Cardiazolschocks behandelt werden oder eine melancholische Phase ohne Suizidrisikoüberstanden werden. (Frankl 2002: 60)

    »Ohne Suizidrisiko überstanden« – was Frankl hier in einem Nebensatz andeutet,legt die Spur zu seiner letzten neurophysiologischen Arbeit vor seiner Deportationnach Theresienstadt. Frankl wurde, nachdem er seine kurz zuvor erst eröffnete Pri-vatpraxis als Psychiater und Neurologe aufgrund der nationalsozialistischen Rassen-gesetze aufgeben musste, 1939 als Primararzt für Neurologie ans Rothschildspitalder Israelitischen Kultusgemeinde berufen – eine Position, die ihm und seinen engs-ten Familienangehörigen vorerst auch Deportationsschutz garantierte. Am Roth-schildspital konnte er zudem auch seiner Tätigkeit als Arzt nachgehen, wenngleich ernun mit Nöten konfrontiert wurde, von denen wenige geahnt hätten, dass sie dasEuropa des 20. Jahrhunderts noch heimsuchen würden. Diese Nöte stellten Ärztevor besondere Herausforderungen. Hatte sich Frankl im Rahmen der Zeugnisaktionund seiner Tätigkeit im Selbstmörderinnenpavillon am Klinikum Steinhof der Auf-gabe verpflichtet gewusst, als Arzt Leben zu schützen und zu retten, kam er auchjetzt seinem ärztlichen Auftrag nach. Unter den entwürdigenden Lebensumständenund teils angesichts der drohenden Deportation begingen zahlreiche Wiener JudenSelbstmord. Entsprechend groß war die medizinische Herausforderung an das Spi-tal: Manchmal wurden täglich bis zu zehn Selbstmordversuche in das Rothschildspi-tal eingeliefert. Getreu der auch in seinen zahlreichen vorhergehenden Arbeiten zumAusdruck gebrachten Überzeugung, dass hinsichtlich des Selbstmords »alles, was

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    therapeutisch möglich ist, getan werden soll« (Frankl 1942), entwickelte er eineeigene Technik, mit Hilfe derer er Patienten mit schwersten Schlafmittelvergiftungennoch zu retten versuchte, indem er unter Umgehung der Bluthirnschranke Gegen-mittel lokal injizierte. Immerhin gelang es mit dieser Methode, Patienten für kurzeZeit wiederzubeleben, obwohl sie vom Klinikstab bereits als todgeweiht aufgegebenworden waren (Batthyány 2006). Frankl konnte diese Methode nicht weiterent-wickeln, da er 1942 mit seiner Familie und seiner ersten Frau nach Theresienstadtdeportiert wurde.

    Noch vor seiner Deportation schloss Frankl in Wien auch sein erstes, allerdingserst nach der Befreiung publiziertes Hauptwerk der Logotherapie und der Existenz-analyse, die Ärztliche Seelsorge, ab.

    Die um 1942 verfasste Urfassung dieses Buchs2 gibt uns Auskunft über FranklsBekenntnis zur Hoffnung als Antithese zum Selbstmord auch dort, wo jedwedeHoffnung auf einen Ausweg augenscheinlich ein Hoffen auf das Wunder ist. Tat-sächlich birgt diese bedingungslose Hoffnung auch das Argument für die unverlier-bare Sinnhaftigkeit unseres Daseins, einschließlich der Möglichkeit, der tragischenTrias von Leid, Schuld und Tod auch noch rückwirkend Sinn abzugewinnen:

    Wenn auch nur ein Einziger von den Vielen, die in der Überzeugung von der Ausweglosigkeitihrer Lage Selbstmord begingen, je nicht recht behalten, wenn sich nämlich dann doch nochein Ausweg gefunden hätte, dann hat schon jeder Selbstmord Versuchende damit unrecht:denn die Überzeugung ist bei allen gleich fest und keiner kann es im Vorhinein wissen, ob ge-rade seine Überzeugung zu Recht besteht – oder aber durch das Geschehen der nächsten, ebenvielleicht nicht mehr erlebten, also versäumten Stunde Lügen gestraft wird. (Frankl 1940/42:83)

    Kurze Zeit, nachdem er diese Zeilen schrieb, wurde Frankl gemeinsam mit seinerFamilie und seiner ersten Frau nach Theresienstadt deportiert. Nur seine Schwesterkonnte durch Flucht nach Australien der Deportation entkommen. Wir wissen ausden autobiographischen Schriften Frankls, dass sein eigenes Argument der unbe-dingten Hoffnung ihm selbst in den schweren Momenten äußerster VerzweiflungKraft gab – und, was vielleicht noch bezeichnender ist: nicht nur ihm, sondern auchanderen. Erst vor kurzem im privaten Nachlass entdeckte Schreiben seiner ehemali-gen Mithäftlinge belegen, dass Frankl den Glauben an den unbedingten Sinn mitseinen Kameraden im Lager teilte und hier noch selbst unter den lebensfeindlichsten

    2 Das folgende Zitat stammt aus einer von zwei Durchschriften des Originaltyposkripts der Urfassungder »Ärztlichen Seelsorge«. Bekanntlich hat Frankl das Original in der Desinfektionskammer vonAuschwitz verloren. Zwei Durchschriften verblieben in Wien: Eine konnte 1942 in die Gefängniszellevon Frankls Jugend- und Kletterfreund Hubert Gsur geschmuggelt werden, als dieser auf die Vollstre-ckung seines Todesurteils wegen »Zersetzung der Wehrmacht und versuchten Umsturzes« wartete. Esist nicht bekannt, was mit Hubert Gsurs Durchschrift geschah; sie wurde vermutlich von der Gefäng-nisleitung vernichtet. Das andere Exemplar befand sich während des Krieges in der Obhut von PaulPolak, der es Frankl nach der Rückkehr nach Wien wieder zurückgab. Das folgende Zitat stammt ausdieser Durchschrift, die heute im Privatnachlass und Schriftenarchiv Viktor Frankls aufbewahrt wird.

  • 26 Sinn und Person

    Außenumständen versuchte, für andere als Arzt, Freund und Mensch Tröster zusein.

    In Theresienstadt wurde Frankl, wie die meisten Ärzte, der Abteilung für Kran-kenbetreuung zugeordnet. Hier begegnete er auch dem Berliner Rabbiner und Vor-denker des liberalen Judentums Leo Baeck. Baeck, der in Theresienstadt durch Vor-träge und Predigten die Lagerinsassen zu ermutigen und aufzurichten versuchte, batauch Frankl, Vorträge zu halten. Eine Ankündigungskarte von Frankls Vorlesungenist erhalten geblieben – als Motto notierte er damals auf der Rückseite:

    Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigt, äußere Schwierigkeitenoder innere Beschwerden zu überwinden – als: das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu ha-ben.

    Mit Hilfe von Erich Munk, dem medizinischen Leiter der Krankenbetreuung, unddessen Assistenten Karel Fleischmann richtete Frankl auch eine mobile psychologi-sche Beratungsstelle in Theresienstadt ein. Die so genannte »Stoßtruppe« setzte sichaus Ärzten und freiwilligen Helfern zusammen, die, wo immer möglich, den seelischin Not geratenen Theresienstädtern Trost, Hilfe und Heilung spendeten. Die Stoß-truppe richtete ihr Augenmerk vor allem auf die Schwachen und Hilflosen in There-sienstadt: die Älteren, Kranken, psychisch Leidenden und jene, die unter den ohne-dies entwürdigenden Lebensumständen am unteren Ende der sozialen Hierarchiedes Lagers standen; eine weitere wichtige Aufgabe sah die Gruppe freiwilliger Helferdarin, den Aufnahmeschock der Neuankömmlinge in Theresienstadt zu lindern.Wann immer Frankl und seine freiwilligen Mithelfer – darunter auch Regina Jonas,die erste weibliche Rabbinerin – auf selbstmordgefährdete Bewohner des Theresien-städter Ghettos hingewiesen wurde, suchten sie diese auf, um ihnen die schwersteLast von den Schultern zu nehmen, eine Gelegenheit zur Aussprache zu bieten undsie »dem Leben zurückzugeben« (Frankl 1993). Wie schon in den Jahren zuvorzeitigte auch hier Frankls Einsatz für den leidenden Menschen Ergebnisse: DieSelbstmordrate in Theresienstadt konnte signifikant gesenkt werden (Berkley 1993:123f.).

    Die Jahre in den Konzentrationslagern – bis zum Kriegsende würde Frankl invier Konzentrationslagern interniert sein – waren auch für ihn selbst Stationen desAbschieds: Der Vater, die Mutter, die Frau, die Schwiegermutter, der Bruder – undauch das Manuskript der Erstfassung der Ärztlichen Seelsorge –, all dies sollte ihminnerhalb eines Zeitraums von nur wenigen Monaten, oft auch nur Tagen, genom-men werden. Am 5. März 1945 wurde Frankl dann in sein letztes Lager, Türkheim,verlegt. Türkheim, ein Filiallager von Dachau, war als »Erholungslager« für krankeLagerinsassen eingerichtet worden. Frankl meldete sich dort freiwillig zum Dienstals Arzt und wurde unter anderem den Fleckfieberbaracken zugeteilt. Es war nur ei-ne Frage der Zeit, bis er selbst, geschwächt durch jahrelange Internierung, an Typhuserkrankte. Von schwerer Krankheit gezeichnet, begann Frankl, sein in Auschwitz ver-lorenes Manuskript der Ärztlichen Seelsorge zu rekonstruieren:

  • Immer schon war die Person am Werk 27

    Was mich persönlich anlangt, bin ich überzeugt, dass zu meinem eigenen Überleben nicht zu-letzt meine Entschlossenheit beigetragen haben mag, das [in Auschwitz] verlorene Manuskriptzu rekonstruieren. Ich begann damit, als ich an Fleckfieber erkrankt war und mich des Nachtswachhalten wollte, um nicht einem Gefäßkollaps zu erliegen. Zu meinem 40. Geburtstag hattemir ein Kamerad einen Bleistiftstummel geschenkt und ein paar winzige SS-Formulare herbei-gezaubert, auf deren Rückseite ich nun – hoch fiebernd – stenographische Stichworte hinkrit-zelte, mit deren Hilfe ich die Ärztliche Seelsorge eben zu rekonstruieren gedachte. (Frankl 2002:76f.)

    1945–1997: Systematisierung und Validierung

    Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager am 27. April 1945 wurde Franklvon den amerikanischen Truppen zum Lagerarzt im Militärspital für Displaced Per-sons im bayerischen Kurort Bad Wörishofen ernannt. Er arbeitete dort über einenZeitraum von rund zwei Monaten als Chefarzt, bis es ihm im Sommer 1945 schließ-lich gelang, auf einem der ersten halblegalen Transporte nach Wien zurückzukehren.Unmittelbar danach begann er, sein erstes Buch, die Ärztliche Seelsorge, zu rekons-truieren und unter anderem um das Kapitel »Zur Psychologie des Konzentrations-lagers« zu erweitern. In der Neufassung dieses Buches stellt Frankl Logotherapie undExistenzanalyse systematisch vor und begründete mit diesem Werk eine eigenständi-ge psychotherapeutische Richtung – nach Freud und Adler auch als Dritte WienerRichtung der Psychotherapie (Soucek 1948) bezeichnet –, die die Sinnmotivation,die Freiheit, die Würde und die Verantwortung des Menschen in den Mittelpunktihres therapeutischen Wirkens stellt (Frankl 1946a).

    Kurz darauf begann Frankl mit der Niederschrift seines biographischen Berichts… trotzdem Ja zum Leben sagen, das im Frühjahr 1946 zunächst unter dem Titel EinPsychologe erlebt das Konzentrationslager im Wiener Verlag Jugend & Volk erschien(Frankl 1946b). Den heutigen Haupttitel … trotzdem Ja zum Leben sagen erhielt dasBuch erst einige Jahre später. Frankl hatte zunächst geplant, seinen biographischenBericht unter Angabe seiner Häftlingsnummer zu veröffentlichen; bald darauf ent-schied er sich, ihn vollkommen anonym erscheinen zu lassen – Frankl empfand einestarke Abneigung gegen den »psychologischen Exhibitionismus« (Frankl 1994a), denbiographische Berichte dieser Art gelegentlich aufweisen. Es ging ihm auch offen-kundig nicht nur darum, primär sein eigenes Schicksal zu beschreiben. Vielmehrwollte er einen sachlichen Text vorlegen, der neben persönlichen Erlebnissen imKonzentrationslager auch die zentralen Botschaften von Logotherapie und Existenz-analyse vermittelt: dass Leid, Schuld und Tod unserem Dasein seinen unbedingtenSinn nicht zu nehmen vermögen; dass der Mensch auch angesichts der widrigstenLebensumstände in der Lage ist, eine »Tragödie in einen Triumph zu verwandeln«(Frankl 1994b); und dass dem Menschen selbst noch in der ausweglosesten Situa-tion ein letzter – und entscheidender – Kern einer existenziellen Freiheit bleibt, dienicht trotz, sondern gerade an und durch seine Bedingtheit zur vollen Geltungkommen kann:

  • 28 Sinn und Person

    Wir haben den Menschen kennen gelernt wie vielleicht bisher noch keine Generation. Was alsoist der Mensch? Er ist das Wesen, dass immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das dieGaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern ge-gangen ist, aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.

    Während Frankls erste Nachkriegsveröffentlichung, die Ärztliche Seelsorge, bereits inden ersten drei Tagen nach ihrem Erscheinen ausverkauft war und aufgrund dergroßen Nachfrage alleine zwischen 1946 und 1948 fünf Auflagen erlebte, verkauftesich Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager zunächst schleppend: Der Verlaghatte, aufgrund des hohen Bekanntheitsgrades des (wenn auch nur in der Innenseiteangegebenen) Autors der Ärztlichen Seelsorge, in Anschluss an die erste Auflage(3.000 Exemplare) bereits eine zweite Auflage (mit Autorenangabe auf der Titelseite)in Druck gegeben. Diese verkaufte sich allerdings so schlecht, dass ein Großteil derzweiten Auflage makuliert wurde, nachdem Frankl selbst vom Verlag etwa hundertExemplare vergünstigt erwarb und dem KZ-Verband spendete.

    Es gibt vermutlich mehrere Gründe, weshalb sich das Buch zunächst im Wien derNachkriegsjahre schwer auf dem Markt durchsetzen konnte, obwohl Frankl selbstein gefragter Vortragender war und in seinen Reden und Radiovorträgen mitunterüber dieselben Themen referierte, die auch in … trotzdem Ja zum Leben sagen zurSprache kommen. Wahrscheinlich mit ein Hauptgrund für die verhaltene Aufnahmedes Buches mag sein Ersttitel gewesen sein (Ein Psychologe erlebt das Konzentrations-lager), den Frankl später wohl auch nicht grundlos überarbeitete: Es war dies daserste und letzte Mal, dass Frankl einen Buchtitel änderte, ohne zugleich den Inhaltdes betreffenden Buches selbst zu verändern.

    Seine eigentliche Wirkung sollte das Buch mit zehnjähriger Verzögerung vorallem mit der durch den seinerzeitigen Präsidenten der American Psychological Asso-ciation, Gordon W. Allport, geförderten amerikanischen Ausgabe entfalten. DieÜbersetzung erschien 1959 unter dem Titel From Death-Camp to Existentialism (ab1963 unter dem Titel: Man’s Search for Meaning) bei Beacon Press in Boston (Frankl1959/1963) und entwickelte sich schnell zu einem internationalen Bestseller: Welt-weit sind in mittlerweile mehr als 150 Auflagen an die zehn Millionen Exemplare desBuches verkauft worden. Die Library of Congress in Washington ernannte es zueinem der zehn einflussreichsten Bücher in Amerika. Frankl stellte in diesem Zu-sammenhang in seinen Lebenserinnerungen fest:

    Ist es nicht eigenartig, dass jenes unter meinen Büchern, das ich garantiert in dem Bewusstseinschrieb, es würde anonym herauskommen und könnte mir zu keiner Zeit persönliche Erfolgeeinbringen – dass gerade dieses Buch zu einem Bestseller avancierte, Bestseller auch für ameri-kanische Begriffe? (Frankl 2002: 84f.)

    Im Februar 1946 wurde Frankl zum Vorstand der neurologischen Abteilung derWiener Poliklinik berufen. Er hatte diese Position 25 Jahre lang bis zu seiner Pensio-nierung inne. An der Poliklinik lernte Frankl die junge zahnärztliche Assistentin Ele-onore Schwindt kennen. Bald folgte die Heirat. Jahre später würde der bedeutende

  • Immer schon war die Person am Werk 29

    amerikanische Philosoph Jacob Needleman in Hinblick auf die Ehe und das gemein-same Wirken von Viktor und Eleonore Frankl sagen: »Sie ist die Wärme, die dasLicht begleitet.« 1947 wurde Tochter Gabriele geboren.

    In den folgenden Jahren erschienen weitere Artikel und Bücher Frankls, darunterauch Die Psychotherapie in der Praxis. Neben der Ärztlichen Seelsorge handelt es sichbei diesem Werk um eine der ausführlichsten Darstellungen der Logotherapie undder Existenzanalyse, die vor allem die Praxis der angewandten Logotherapie anhandvon diagnostischen und therapeutischen Leitlinien darstellt (Frankl 1948). Zahlrei-che Publikationen folgten, in denen Frankl die Theorie und Praxis der Logotherapieund der Existenzanalyse vertiefte und ihre Anwendungsbereiche einer breiten Öf-fentlichkeit zugänglich machte. Insgesamt waren es zweiunddreißig Bücher, dieFrankl zu Lebzeiten veröffentlichte. Sie wurden in 31 Sprachen übersetzt. Das drei-unddreißigste Buch Frankls – Gottsuche und Sinnfrage – wurde erst im Sommer 2004in seinem schriftlichen Nachlass entdeckt und ist anlässlich des 100. Geburtstagesunlängst veröffentlicht worden (Frankl 2005a). Bei dem ebenfalls vor kurzem er-schienenen vierunddreißigsten Buch handelt es sich um eine von der Tochter, Dr.Gabriele Vesely-Frankl, kommentierte und herausgegebene Anthologie der FrühenSchriften Viktor Frankls aus den Jahren 1923 bis 1942 (Frankl 2005b).

    Stießen Logotherapie und Existenzanalyse mit der Veröffentlichung der Ärzt-lichen Seelsorge zuerst im deutschen Sprachraum auf großes Interesse, so sollten sieab den späten Fünfzigern zunehmend Einzug in die internationale wissenschaftlicheGemeinschaft finden. Frankl wurde weltweit zu Vorträgen, Seminaren und Vorle-sungen eingeladen. Auch in Amerika wurde man zunehmend auf Frankl aufmerk-sam: Es folgten Gastprofessuren an der Harvard University in Boston sowie an denUniversitäten in Dallas und Pittsburgh. Die United States International University inKalifornien errichtete eigens für Frankl ein Institut und eine Professur für Logothe-rapie und Existenzanalyse. Über 200 Universitäten auf allen fünf Erdteilen ludenFrankl zu Vorträgen und Gastvorlesungen ein.

    Im Rahmen der verstärkten Ausbreitung von Frankls wissenschaftlichem Werkauf universitärem Boden entwickelten sich Logotherapie und Existenzanalyse nunauch zunehmend zu methodischen Forschungsrichtungen: Zahlreiche wissenschaft-liche Studien wurden durchgeführt, die ihre Grundlagen, Konzepte und klinische Ef-fizienz empirisch untersuchten. In den letzten dreißig Jahren sind über 600 empiri-sche Beiträge alleine in psychologischen und psychiatrischen Fachzeitschriften er-schienen, die Frankls psychologisches Modell und seine therapeutische Anwendun-gen validieren (Batthyány & Guttmann 2005). Dem steht eine ungefähr ebenso hoheZahl weiterer Publikationen gegenüber, die die theoretischen Grundlagen und zahl-reichen Anwendungsbereiche untersuchen (Vesely & Fizzotti 2005).

    Neben seinen Arbeiten zur und über Logotherapie und Existenzanalyse im enge-ren Sinne publizierte Frankl auch weiterhin auf dem Gebiet der Neurologie und Psy-chopharmakologie: Seine neuropsychologischen Forschungsarbeiten nach 1945 keh-ren zum Thema der somatischen Substrate psychischer Störungsbilder zurück – sokonnte er unter anderem nachweisen, dass bestimmte Formen der Angst- und De-

  • 30 Sinn und Person

    personalisationsstörungen endokrinologisch mitverursacht sind (Frankl 1993: 84ff.)und damit einen bedeutenden Beitrag zur Differenzialdiagnostik und Therapie die-ser Erkrankungen leisten.

    Frankl hat von Anbeginn seines Wirkens als Arzt und Forscher Methodenvielfaltnicht nur gelten lassen, sondern geradewegs eingefordert. Sein Modell sieht Leib,Seele und Geist im Menschen als Aspekte einer Einheit, die ihrem Wesen nach quali-tativ zu verschieden sind, um mit einer einzelnen Methode angemessen beschriebenoder behandelt werden zu können. Und auch hier hat Frankl etwas vorweggenom-men, das erst Jahrzehnte später, mitunter erst nach seinem Tod, Eingang in die Wis-senschaftslandschaft finden sollte: Der Trend zur Methodenvielfalt spiegelt sich heu-te in der zunehmenden interdisziplinären Verflechtung der empirischen Verhaltens-wissenschaften wider. So ist zurzeit seitens der wissenschaftlichen Psychologie vonvielen Seiten der Ruf nach einer systematischen Bündelung der Forschungsaktivitä-ten verschiedener Fachdisziplinen zu vernehmen. Es bleibt abzuwarten, ob dieserRuf auch gehört und welche Form seine Umsetzung konkret annehmen wird. Jeden-falls aber können wir feststellen, dass bereits das Zugeständnis, dass es nicht eine,sondern zahlreiche Wissenschaften vom Menschen gibt, ein wesentlicher Erkennt-nisschritt hin auf Frankls Menschenbild ist. Sein differenziertes ätiologisches Modellpsychischer Störungen findet seit einigen Jahrzehnten empirische Bestätigung: Zumeinen gewähren moderne kognitionspsychologische Entwürfe heute zunehmendenEinblick in die kognitiven Mechanismen zahlreicher psychischer Störungen wie etwader Angst- und Zwangskrankheiten. Zwei der zentralen Techniken der angewandtenLogotherapie – die Dereflexion und die Paradoxe Intention – finden hier nicht mehrnur klinische Bestätigung. Erstmals geraten nun auch zeitgemäße theoretische Mo-delle in den Blick, die zu erklären imstande sind, was auf kognitiver Ebene geschieht,wenn Patienten zeitweise die bewusste Kontrolle über ihr Erleben (etwa in derAngststörung) oder Wollen (zum Beispiel in der Zwangserkrankung) verlieren(Wenzlaff et al. 1988; Wegner 1989; Anderson & Green 2001). Viele dieser Modelledrücken mit nur etwas anderen Worten das aus, was Frankl bereits lange vor der»kognitiven Wende« der Psychologie als mitursächlich für das Entstehen von gestör-ten Erlebnis- und Verhaltensweisen benannt und durch die Entwicklung seiner the-rapeutischen Methoden erfolgreich behandelbar gemacht hat.

    Auch sein Modell der körperlichen Mitverursachung einer ganzen Reihe psychi-scher Störungen – zu Lebzeiten Frankls noch ein ausgesprochen konfliktbehaftetesThema vor allem innerhalb der humanistischen Psychotherapie- und Psychiatriebe-wegung – findet seit Jahrzehnten empirische Bestätigung. Und auch hier kommtFrankl und mit ihm der Logotherapie eine Vorreiterrolle zu: So wird heute im Zugeverfeinerter diagnostischer Methoden und der Entwicklung bildgebender Verfahrenzunehmend deutlich, dass es keinen mentalen Zustand gibt, dem nicht ein neurona-les Korrelat zugewiesen werden kann. Die Erkenntnis der neuronal-mentalen Kova-rianz stellt heute den Standard der empirischen Verhaltenswissenschaften dar. Franklbeschrieb dieses Modell in Gestalt des »psychophysischen Parallelismus« zu einerZeit, als die Psychotherapie in erster Linie frühkindliche und psychodynamische Ur-

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    sachen psychischer Störungen geltend machen wollte und ihren somatischen Ursa-chenanteil in der Regel entweder abzuwerten oder ganz abzusprechen geneigt war.Frankl war dagegen zeitlebens bestrebt, ihrem Wesen nach verschiedene (geistige,psychische und physische) Phänomene erstens in ihrer Ganzheit stehen zu lassenund zweitens in ihrem Zusammenwirken in der Einheit des Menschen zu begreifen.Sie in ihrer Ganzheit stehen zu lassen bedeutet: die ihnen eigene Dimension anzuer-kennen, ohne eine Phänomenkategorie auf die nächstniedrigere zurückzuführen;und in ihrer Gesamt- und Einheit zu begreifen bedeutet, sie im Zusammenspiel derSeinstotalität des Menschen zu verstehen. Frankl fasste diese differenzierte Ontologieund Methodologie in dem Diktum des »Pluralismus der Wissenschaften und derEinheit des Menschen« (Frankl 1965) zusammen.

    Frankl hat dieses Modell zu einer Zeit entwickelt, als die Psychotherapie als Wis-senschaft noch als Disziplin innerhalb der klassischen Medizin galt, zugleich aber inhohem Maße spekulativ war (Robinson 1985: 3ff.; 1995: 149ff). Es ist umso bemer-kenswerter, dass gerade Frankl, obwohl er mit der geistigen Dimension an und fürsich eine Ebene im Menschen postuliert, die sich aufgrund ihrer ontischen Eigen-ständigkeit jenseits aller Empirie befindet, viel mehr noch als seine beiden früherenLehrer und Vorgänger Freud und Adler daran interessiert war, Logotherapie undExistenzanalyse als Forschungrichtungen empirisch zu validieren.

    Tatsächlich entwickelte sich Logotherapie ab dem Zeitpunkt, da ihre Grundlagenbereits formuliert waren, hauptsächlich im Dialog mit ihren wissenschaftlichen, vorallem den empirischen und klinischen, Nachbardisziplinen weiter.

    Ausblick: Die Herausforderungen der Zukunft

    Dieser Entwicklungsprozess war bis 1997 hauptsächlich an die Person Frankls unddie erste Schülergeneration innerhalb der Logotherapie geknüpft. Die Anbindungund den Dialog Logotherapie mit der Wissenschaft hat Frankl aber auch von zu-künftigen Logotherapeuten gefordert:

    You cannot turn the wheel back and you won’t get a hearing unless you try to satisfy the pref-erences of present-time Western thinking, which means the scientific orientation or, to put itin more concrete terms, our test and statistics mindedness […]. That’s why I welcome all soberand solid empirical research in logotherapy […]Why should we lose, unnecessarily and undeservedly, whole segments of the academic com-munity, precluding them a priori from understanding how much logotherapy ›speaks to theneeds of the hour‹? Why should we give up, right from the beginning, getting a hearing fromthe modern researchers by considering ourselves above tests and statistics? We have no reasonnot to admit our need to find our discoveries supported by strictly empirical research. (Fabry,1978–1979: 5)

    Diese Rückschau bietet auch die Gelegenheit, einen der jüngst verstorbenen Pioniereder empirischen Logotherapie zu würdigen: James Crumbaugh. Ihm und seinem

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    Coautor Maholick verdanken Logotherapie und Existenzanalyse eine der ersten grö-ßeren empirischen Arbeiten. Crumbaugh und Maholick haben darin erstmals denVersuch unternommen, das logotherapeutische Konstrukt der Sinnerfüllung psy-chometrisch mit Hilfe des Purpose-in-Life-Tests3 einzufangen. Sie wurde 1964 imJournal of Clinical Psychology unter dem aufschlussreichen Titel: »An ExperimentalInvestigation in Existentialism« (Crumbaugh & Maholick 1964) veröffentlicht. Daswar damals wie heute eine ungewöhnliche Titelwahl – man bringt den Existen-tialismus nicht unmittelbar mit empirischen Studien in Zusammenhang. Aber esist genau dieses Spannungsverhältnis zwischen philosophischer Grundlagenfor-schung einerseits und der Bereitschaft, sich außerhalb des geschützten Bereiches derPhilosophie einer empirischen Überprüfung zu stellen, der die einzigartige Stellungder Logotherapie innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie mit ihrem Versuchbeschreibt, als anthropologische Forschungsrichtung innerhalb eines validen Sys-tems der Psychologie und Psychiatrie zu existieren und sich zugleich selbst als einsolches zu etablieren. Die Studie von Crumbaugh und Maholick markierte den Be-ginn der wissenschaftlich-empirischen Tradition innerhalb der Logotherapie: DerPIL war das erste von mittlerweile über 15 Testinstrumenten, die im Rahmen derLogotherapie entwickelt wurden (Guttmann 1996). Alleine zwischen 1975 und 2005sind über 600 empirische und klinische Studien in psychiatrischen und psychologi-schen Fachzeitschriften erschienen, die die klinische Effizienz der Logotherapie/Existenzanalyse ebenso belegen wie die Validität ihrer motivations- und kogni-tionspsychologischen Grundlagen (für eine kommentierte Übersichtsbibliographiedieser Studien, siehe Batthyány & Guttmann 2005). Die Logotherapie ist nicht zu-letzt vor diesem Hintergrund in Österreich und in der Schweiz als eigenständigePsychotherapierichtung staatlich und auch in Amerika von der American Psychologi-cal Association anerkannt; in Deutschland steht die Anerkennung noch aus, wenn esauch Anlass zur Hoffnung gibt, dass die Vertiefung ihrer empirischen Grundlagenihren Beitrag dazu leisten kann, dies zu ändern. Weltweit gibt es rund 80 Instituteund Ausbildungsanbieter.4

    Die Logotherapie hat mit alledem, so scheint es, ihre wichtigsten Bewährungs-proben bereits bestanden. Sie ist als eigenständige Therapie- und Forschungsrich-tung zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der non-reduktiven Tradi-tion innerhalb der klinischen, theoretischen und empirischen Verhaltens-, Sozial-und Humanwissenschaften herangewachsen.

    Aber dieser kurze Rückblick auf die Entwicklung und Verbreitung der Logothe-rapie und der Existenzanalyse sollte nicht nur ein relativ selten reflektiertes Kapitelunserer Disziplin beleuchten. Er sollte auch zeigen, wie sehr sich die Reifung unsererDisziplin der Auseinandersetzung und dem Dialog mit ihren Nachbardisziplinen

    3 Mit dem PIL wird der protektive Faktor der Sinnerfüllung bzw. die Auswirkung eines chronischenDefizits der Sinnerfüllung auf die psychische Gesundheit des Menschen messbar gemacht (Crum-baugh 1977; Crumbaugh & Henrion 1988).

    4 Für eine Liste dieser Institute siehe www.viktorfrankl.org

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    verdankt: Was einst nur als ergänzende Methodik zur Individualpsychologie gedachtwar, wuchs in den vergangenen Jahrzehnten zu einer eigenständigen Therapie- undForschungsrichtung heran, die heute weltweite Anerkennung als einer der letztengroßen Entwürfe innerhalb der Psychiatrie und Psychotherapie erfährt. Wenn mandie bescheidenen Anfänge der Logotherapie im Jahr 1926 dagegenhält und sichzugleich vor Augen führt, gegen wie viel anfänglichen fachinternen Widerstand undunter welch schwierigen zeithistorischen Umständen sich die Logotherapie und dieExistenzanalyse durchsetzten, dann sollte uns das auch die Verantwortung bewusstmachen, die die Schüler- und Nachfolgergeneration gegenüber dem LebenswerkFrankls trägt: Wie können wir auch in Zukunft die Qualität der logotherapeutischenund existenzanalytischen Ausbildung gewährleisten, wie die Anerkennung der Logo-therapie und der Existenzanalyse durch die staatlichen Versorgungssysteme, etwa inden jüngsten EU-Beitrittsländern, gewinnen? Und: Welche Rolle sollen Logotherapieund Existenzanalyse künftig innerhalb der Wissenschaftslandschaft einnehmen? Wiekönnen wir sie aus ihrem bisweilen auch intern beklagten Nischendasein befreienund in einen für alle Seiten fruchtbaren Dialog mit ihren benachbarten Disziplinenund Psychotherapieschulen einbringen? Die Zukunft der Logotherapie hängt maß-geblich von der Beantwortung dieser Fragen ab; und die Beantwortung dieser Fra-gen kann nur innerhalb der Logotherapie selbst erfolgen. Aber wie können und wiesollten diese Antworten ausfallen? Einige weniger geglückte Versuche der vergange-nen Jahren haben uns zunächst einmal vor Augen geführt, wie sie nicht ausfallensollten: Es kann jedenfalls nicht darum gehen, im Namen einer fehlverstandenen»Weiterentwicklung« um der bloßen Anpassung an ohnhin bereits überkommenepsychodynamische Traditionen willen die seit Jahrzehnten in Theorie, Praxis und inzahllosen empirischen Studien bewährten und validierten Grundlagen unserer Dis-ziplin so umzuformen, dass von der eigentlichen Logotherapie und der Existenzana-lyse außer der Namensführung wenig Erkennbares übrig bleibt. Andere Initiativenzeigen aber, wie die Logotherapie/Existenzanalyse die Herausforderungen der Ge-genwart und Zukunft erfolgreich bewältigen kann; und sie zeigen auch, dass das Po-tenzial der von Frankl konzipierten Psychotherapieform noch lange nicht erschöpftist: Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis gibt es neue Sichtweisen, neue An-wendungsgebiete und auch neue empirische Zugangsmöglichkeiten, die den Beitragvon Logotherapie und Existenzanalyse zu den helfenden Berufen und den empiri-schen und klinischen Verhaltenswissenschaften erweitern und vertiefen. Solche Initi-ativen und Forschungsprogramme setzen fort, was Frankl selbst ungefähr ab 1960als Motor zur Weiterentwicklung der Logotherapie erkannte und nutzte: einerseitsder Dialog und die Auseinandersetzung mit den jeweils aktuellen und relevantenwissenschaftlichen Trends und Themen und andererseits die Flexibilität und Offen-heit, Logotherapie und Existenzanalyse den immer neuen anstehenden Problemender Zeit als sinnorientierte und lebens- und wertbejahende Alternativen entgegenzu-stellen.


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