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Sich | Foucault · beteiligt war, ist die Frage nach der Verknüpfung von Theo - rie und Praxis...

Date post: 18-Sep-2018
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Sich | Foucault
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Sich | Fou cault

Peter SichFou caultEine Einführung

Reclam

Für Michael, Lena, Bela & Pina

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 195202018 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,Siemensstraße 32, 71254 DitzingenGestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich ForssmanUmschlagabbildung: Portrait of Michel Fou cault in 1977© Getty Images / Françoise ViardDruck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2018RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK undRECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Markender Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-019520-8

Auch als E-Book erhältlich

www.reclam.de

Inhalt 5

Inhalt

Anstelle eines Vorworts, oder: Was dieses Buch nicht ist 7

Überblick: Denken und Werk 10Einführung: Kritik und Geschichte 15Archäologie und Wissen 28Genealogie und Macht 64Ethik und Selbst 105Epilog: Theorie und Praxis 136

Anmerkungen 141Literaturhinweise 160Schlüsselbegriffe 172Zeittafel 176Zum Autor 180

Was dieses Buch nicht ist 7

»Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war.«1

Michel Fou cault

Anstelle eines Vorworts, oder: Was dieses Buch nicht ist

Der vorliegende Band ist als problemorientierte Einfüh-rung in das Denken Michel Fou caults gedacht. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein derartiges Vorgehen zu einer Verknappung führt. Deshalb ist es weder das Ziel, Fou-caults Werk in seiner Gänze darzustellen, noch es syste-matisch und vollständig in Hinblick auf nur einen einzigen Aspekt erschöpfend aufzuschlüsseln. Vielmehr soll das Kernproblem des Subjekts als Leitmotiv dienen, um eine Schneise durch das Dickicht des Fou cault’schen Denkens zu schlagen, von der aus sich dem Leser / der Leserin im-mer wieder Möglichkeiten zur Abzweigung ergeben. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf die Hauptwerke und nimmt kleinere Texte dort in den Blick, wo sie die in den Hauptwerken entwickelten Methoden und Konzepte er-hellen. Eine systematische Darstellung der materialreichen Vorlesungsreihen am Collège de France wird nicht vor-genommen, obgleich durch deren sukzessive Veröffent-lichung in den letzten Jahrzehnten neue Konzepte publik und Zugangsweisen eröffnet wurden.

Auf biografische Schilderungen wird in dieser Darstel-lung ebenso verzichtet wie auf eine theoriegeschichtliche Einordnung. Zwar ist kaum ein Name derart eng mit dem Poststrukturalismus verknüpft wie der Michel Fou caults,

8 Was dieses Buch nicht ist

und unabhängig davon, wie man gegenüber derartigen Eti-kettierungen stehen mag (Fou cault selbst lehnte sie vehe-ment ab): Ohne den Einfluss des Strukturalismus und – mehr noch – ohne dessen Überwindung ist Fou caults Werk nicht zu denken. Zugleich zeigt sich aber, dass die Bezug-nahme auf diesen Deutungsrahmen abseits einer theorie-geschichtlichen Einordnung nicht zwingend notwendig ist, um sich seinem Denken zu nähern. Im Gegenteil: Die Kategorisierung verstellt eher den Blick für dessen Eigen-heiten.

Ähnlich verhält es sich mit biografischen Bezugnahmen. Sicherlich lassen sich bestimmte Gedanken stets auf Le-bensereignisse zurückführen oder zumindest zu diesen in Bezug setzen. Und insbesondere bei einem politisch enga-gierten Intellektuellen wie Fou cault, der vor allem in den 1970er Jahren an vielen linken bis linksradikalen Aktionen beteiligt war, ist die Frage nach der Verknüpfung von Theo-rie und Praxis nicht uninteressant. Gerade eine verknap-pende Darstellung birgt aber immer die Gefahr, in die Falle der Psychologisierung zu tappen und die Theorie als Über-schussprodukt der Biografie zu deuten. Wer sich für die (durchaus spannende) Lebensgeschichte Fou caults inter-essiert, dem seien die entsprechenden Bücher von Didier Eribon oder David Macey empfohlen. Im Anhang dieses Buches findet sich zudem eine biografische Übersicht.

Der Aufbau des vorliegenden Bandes folgt der Chro-nologie, die im nächsten Kapitel erläutert wird. Diesem schließt sich ein systematisch orientiertes Kapitel an, das die grundlegenden Charakteristika des Denkens Fou caults entwickelt und einen ersten Überblick über die Stellung des Subjekts im Werk gibt. Der anschließende Teil orien-

Was dieses Buch nicht ist 9

tiert sich in seinem Aufbau an einem gängigen Schema, ge-mäß dem sich Fou caults Schaffen in drei Abschnitte eintei-len lässt. In jeder dieser Phasen verfolgt Fou cault ein spezi-elles Forschungsinteresse. Auf diese Weise ergibt sich aus der historischen Abfolge auf natürliche Weise eine syste-matische Gliederung. Dabei eröffnen die Kapitel jeweils mit einer Darstellung der innerhalb der jeweiligen Werk-phase dominierenden Methode, bevor sich eine themen-orientierte Darstellung der Inhalte anschließt.

Mein Dank gilt David Sich und Beatrix Sich für die Durch-sicht der Erstfassung des Textes, für die Begutachtung Die-ter Birnbacher und Simone Dietz, ihr insbesondere auch dafür, dieses Buchprojekt in die Wege geleitet zu haben, für die Unterstützung dabei Ludger Schwarte; Reinhold Görling für die Aufnahme an sein Institut und die Mög-lichkeit, Foucault gemeinsam mit Studierenden weiter aus-zuloten, sowie Silvia Bahl für die Unterstützung dabei; Eva Mackensen für ihre hilfreichen Anmerkungen zum Ex-posé; für die kritische Durchsicht des Manuskripts Stavros Patoussis, Lukas Wilhelmi, Johannes Sich und insbeson-dere Felix Weiler – sowie ganz grundsätzlich Lena.

10 Überblick: Denken und Werk

Überblick: Denken und Werk

Als Michel Fou cault 1984 im Alter von 57 Jahren starb, hin-terließ er ein alles andere als einheitliches Werk. Sein rast-loses Schaffen ist durchzogen von Brüchen, Revisionen, strategischen und methodischen Kehrtwendungen. Dabei lassen sich aber gewisse einander ablösende Grundströ-mungen ausmachen, die über bestimmte Zeiträume mehr oder weniger deutlich präsent bleiben und gemäß derer Fou caults Werk sich dann doch halbwegs schlüssig syste-matisieren lässt. Ein gängiges Modell ist dabei die Eintei-lung in drei große Phasen.1

Die Zeit bis 1970 lässt sich als ›archäologische Phase‹ be-zeichnen. Mit der sogenannten »Archäologie« führt Fou-cault in den 1960er Jahren eine Methode ein, die sich durch die radikale Ablehnung von Kategorien wie Urheber- und Autorschaft auszeichnet. Mit dem Begriff bezeichnet Fou-cault ein diskursanalytisches Verfahren, das die Grund-lagen der Wissenssysteme einer Epoche zum Vorschein bringen soll. Hierbei wird die Geschichte des Wissens nicht mehr an Wissensstifter gebunden, sondern allein der Regulierung von Diskursen durch vorbewusste Ordnungs-systeme unterworfen. Bereits in dieser Zeit hat die in iro-nisierender bis zynischer Geste vorgetragene Unterminie-rung der neuzeitlichen Subjektphilosophie Fou cault den Ruf eingebracht, das menschliche Subjekt als Gegebenheit radikal zu leugnen.

Die maßgeblichen Werke dieser Zeit sind Folie et dé­raison (Wahnsinn und Gesellschaft, 1961, im Folgenden zit. als: WG), Fou caults Dissertationsschrift, und Les mots et les choses (Die Ordnung der Dinge, 1966, zit. als: OD). Hin-

Überblick: Denken und Werk 11

zu kommen einige kleinere Schriften und historiogra-fisch-philosophische Monografien wie Naissance de la cli­nique: Une archéologie du regard médical (Die Geburt der Klinik, 1963, zit. als: GK). Den systematischen Höhepunkt dieser Phase bildet L’archéologie du savoir (Die Archäolo­gie des Wissens, 1969, zit. als: AW), Fou caults Discours de la méthode2, sein einziges Buch, das tatsächlich und aus-schließlich eine Methodenreflexion darstellt.3 Den markan-ten Abschluss dieser Periode stellt die unter dem Titel L’or­dre du discours (Die Ordnung des Diskurses, publiziert 1971, gehalten 1970, zit. als: ODis) veröffentlichte Antrittsvor-lesung am Collège de France dar, die zugleich die zweite, die ›genealogische Phase‹ einleitet.

Diese mittlere Phase dürfte die bedeutendste im Ge-samtwerk sein. Mit den beiden Büchern Surveiller et punir (Überwachen und Strafen, 1975, zit. als: ÜS) und La volonté de savoir (Der Wille zum Wissen, 1976, zugleich der erste Band der Reihe Sexualität und Wahrheit 4, zit. als: SW I) veröffentlicht Fou cault in diesen Jahren zwei seiner wich-tigsten Arbeiten. In diesen befasst er sich mit der Entwick-lung des modernen Strafsystems sowie der Sexualität in der Neuzeit. Die Methode, die diesen Betrachtungen zu-grunde liegt, bezeichnet er mit dem bei Nietzsche entlehn-ten Begriff der »Genealogie«: Deren Ziel ist es, durch das Nachzeichnen der historischen Entwicklung scheinbar na-turgegebener Phänomene (wie z. B. der Sexualität) deren geschichtliche Verfasstheit aufzuzeigen. Dabei wird im Denken Fou caults Macht zum zentralen Konzept. Zu die-ser Zeit wird für ihn auch die Frage nach dem Subjekt drän-gender, wobei dieses stets in Abhängigkeit und als Produkt von Machtbeziehung gedacht wird. Entsprechend konsta-

12 Überblick: Denken und Werk

tiert Fou cault einige Jahre später, dass die Analyse der Macht aufs Engste mit der Frage nach den Konstitutionsbe-dingungen des Subjekts verknüpft sei.5

Da zwischen Der Wille zum Wissen und den letzten bei-den zu Fou caults Lebzeiten publizierten Büchern (L’usage des plaisirs, dt.: Der Gebrauch der Lüste und Le souci de soi, dt.: Die Sorge um sich; beide Bände sind zugleich: Sexuali­tät und Wahrheit II und III, beide 1984, zit. als: SW II und SW III) acht Jahre ohne größere Veröffentlichung liegen, fällt eine genaue Abgrenzung zur dritten, der ›ethischen Phase‹ schwer. Eine solche lässt sich jedoch anhand der in diesen Jahren gehaltenen Vorlesungen rekonstruieren. Als einschneidend werden gelegentlich Fou caults Erfahrungen während der iranischen Revolution von 1978 verstanden, die er für die italienische Tageszeitung Corriere della serra journalistisch begleitete. Überhaupt werden zu dieser Zeit Textformen, die abseits der gängigen akademischen Publi-kationsformen liegen, immer wichtiger. Insbesondere In-terviews, die Fou cault gegeben hat, haben einen bedeuten-den Stellenwert eingenommen.

In dieser Phase wendet Fou cault sich antiken Konzep-tionen von Ethik zu. Diesen liegt laut Fou cault die Idee ei-ner Sorge um sich zugrunde, ein Konzept, anhand dessen er den ethischen Selbstbezug und die Selbstkonstituierung des Subjekts untersucht. Das Aufkommen dieser Selbstbe-züglichkeit war der maßgebliche Grund dafür, dass nach der Toderklärung des Subjekts in Foucaults archäologischer Phase nun in der Rezeption die Rede von einer Wende zum Subjekt umherging.6

Dieses Phasenmodell ist freilich äußerst schematisch. Zwar bietet es ein brauchbares heuristisches Instrument,

Überblick: Denken und Werk 13

um eine grobe Beschreibung der inhaltlichen und methodi-schen Verschiebungen zu liefern und sich somit über diese zu verständigen, es ist aber weder so, dass nach einer der Neuausrichtungen die vorherigen Ergebnisse vollständig aufgegeben worden wären, noch dass die einzelnen Phasen in sich vollständig homogen wären. Im Gegenteil: Die hier vorgeschlagene Systematisierung bedeutet nicht, dass in-nerhalb dieser Schaffensphasen eine tatsächliche Einheit-lichkeit der Methodik oder der Thematik vorherrscht. Fou-caults theoretisches Fundament blieb zeit seines Lebens ein work in progress, so dass nahezu jedes Buch trotz gewis-ser Konstanten in den Grundkonzeptionen einer im Detail spezifischen Methodik folgt, die in Konfrontation mit dem jeweiligen Thema immer erst erarbeitet wird. Zudem un-terschlägt dieses Phasenmodell u. a. Fou caults frühe Veröf-fentlichungen, wie Maladie mentale et personnalité (später erneut herausgegeben als Maladie mentale et psychologie, dt.: Psychologie und Geisteskrankheit) und die Einleitung zur französischen Übersetzung von Traum und Existenz des Schweizer Psychoanalytikers Ludwig Binswanger (bei-de 1954), die sich mit einer Positionierung zwischen Fun-damentalontologie und Psychoanalyse jeder Einordnung in das Schema entzieht.

Neben den Monografien nimmt für die Rezeption Fou-caults ein Fundus kleinerer Texte (Vorträge, Aufsätze, In-terviews, Zeitungsartikel usw.) einen bedeutenden Stel-lenwert ein. In diesen finden sich neben eigenständigen Theoriekonzepten vielfach Klarstellung, Präzisierungen und Positionsbestimmungen, die ein erhellendes Licht auf Fou caults Hauptwerk und seine Denkbewegungen werfen. Die Texte wurden erst 1994 auf Französisch in den vierbän-

14 Überblick: Denken und Werk

digen Dits et écrits gesammelt veröffentlicht, noch deutlich später, nämlich 2001–2005, folgte die deutsche Ausgabe unter dem Titel Schriften (zit. als: DE 1–4). Diese Publikati-onen haben der Fou cault-Forschung neue Impulse gege-ben, ebenso wie die Vorlesungsreihen, die Fou cault ab 1970 am Collège de France hielt. Die Vorlesungen waren (wie am Collège de France üblich) öffentlich und hatten enormen Zulauf. Die Texte wurden anhand der Tonbandaufnahmen von Zuhörern transkribiert. Diese sehr materialreichen historischen Untersuchungen lassen sich teilweise als Aus-führungen oder Vorbereitungen zu den im zeitlichen Um-feld entstandenen Büchern lesen, teils entwickelt Fou cault in ihnen aber auch gänzlich neue Konzepte, die nur am Rande in seinen Büchern anklingen. Dies hatte und hat be-züglich einiger Aspekte des Fou cault’schen Werks (etwa des Konzepts der »Gouvernementalität«) eine verzögerte Rezeption zur Folge.

Einführung: Kritik und Geschichte 15

Einführung: Kritik und Geschichte

Trotz der methodischen und theoretischen Revisionen, die Fou caults Werk durchziehen, lassen sich bestimmte Grund-motive und Hintergrundannahmen seines Denkens skizzie-ren, die nahezu das gesamte Werk durchziehen. Ein paradig-matischer Begriff, der Fou caults Grundhaltung zu illustrie-ren vermag, ist der des Wahrheitsspiels. Fou cault selbst führt diese Wortschöpfung, die eine Ähnlichkeit zu Witt-gensteins Begriff des Sprachspiels nicht verhehlen kann,1 erst relativ spät ein, nämlich in den frühen 1980er Jahren.2

Um diesen Begriff einordnen zu können, mag es hilf-reich sein, sich kurz zu vergegenwärtigen, was ein Spiel als solches ausmacht. Entsprechend der klassischen Definition von Johan Huizinga sind zwei Momente für ein Spiel maß-geblich: Zum einen sein freier, eben spielerischer, Charak-ter, zum anderen (und vielleicht wichtiger) seine Regelhaf-tigkeit und die unbedingte Geltung dieser Regeln an einem bestimmten Ort und über eine begrenzte Dauer.3

Wenn Fou cault den Begriff der Wahrheit mit dem des Spiels in Verbindung setzt, geht es ihm also nicht darum, dass die Wahrheit zum Objekt einer Art »Herumspielens« und dadurch beliebig wird. Vielmehr beinhaltet der Begriff des Wahrheitsspiels die inhaltliche Bestimmung, dass Wahrheit das Produkt bestimmter regelhafter Prozesse ist. Das spricht ihr zwar die Letztgültigkeit ab, bedeutet aber eben nicht, dass es überhaupt keine Wahrheit gibt, sondern dass deren Hervorbringung bestimmten (historischen) Re-geln unterliegt.4

Fou cault geht es nun bei der Analyse von Wahrheits-spielen um die Erforschung, wie sich solche Regeln histo-

16 Einführung: Kritik und Geschichte

risch konstituieren. Damit ist allerdings »nicht die Ent-deckung der wahren Dinge gemeint; vielmehr liegt den Regeln, nach denen ein Subjekt über bestimmte Dinge sprechen kann, die Frage nach der Wahrheit und Falschheit zugrunde«.5 Die »Entdeckung der wahren Dinge« ist mit Fou cault schlechterdings unmöglich. Denn die Suche nach dem und das Verständnis dessen, was wahr ist, unterliegt stets schon den Regeln der Kultur und der Epoche, der der Suchende entstammt. Diese vorgängigen Regeln struk-turieren das Denken und Sprechen. Sie bestimmen den Raum dessen, was als wahr gelten kann, ohne dass es dem Einzelnen möglich wäre, auf eine dahinterliegende, überzeitliche Wahrheit zu blicken oder selbst ahistorische Gültigkeitsbedingungen oder Rationalitätsmaßstäbe für Wahrheit anzubringen.6 Denn auch dieser Blick unterliegt den je schon vorhandenen Regeln, auch wenn er dem Ein-zelnen erweitert erscheinen mag. Der Althistoriker Paul Veyne, ein enger Freund Fou caults, illustriert dies mit ei-nem schönen Bild:

»So sind in jeder Epoche die Zeitgenossen […] wie in vermeintlich transparente Fischgläser eingeschlossen, sie wissen nicht, um welche Fischgläser es sich handelt, und sind sich nicht einmal darüber im Klaren, dass ein solches Glas existiert«.7

Fou cault hatte nun, so könnte man grob zusammenfassen, die Absicht, seinen Zeitgenossen die Existenz des eigenen Fischglases durch die Rekonstruktion der Geschichte der Fischgläser bewusst zu machen.8

Mit den im vorangehenden Kapitel skizzierten methodi-

Einführung: Kritik und Geschichte 17

schen Verschiebungen in Fou caults Werk ändern sich auch die Phänomene, die Fou cault als ursächlich für die Ent-wicklung der Wahrheitsregeln ansieht. In der Archäologie unterliegen diese noch autonomen Diskursen, die durch vorgängige Ordnungen strukturiert werden. Mit der Ge-nealogie rücken nicht-diskursive Praktiken und die Wir-kungen der Macht in den Vordergrund, die dann ihrerseits auf die Regulation des Wissens wirken. Denn die gemäß den Regeln der Wahrheitsspiele hervorgebrachten Sätze und Aussagen verbinden sich zu Satzsystemen, zu Wis-senssystemen, zu diskursiven Formationen. Durch diese werden wiederum das Wissen und die Wissenschaften ei-ner Epoche konstituiert. Die Arten und Weisen, wie über Dinge gesprochen, gedacht, geforscht wird, stehen dabei im Wechselspiel mit der Hervorbringung ihrer Gegenstän-de.9 In seinen Analysen geht es Fou cault also u. a. darum,

»zu bestimmen, unter welchen Bedingungen etwas zum Objekt eines möglichen Wissens werden kann, wie es als ein zu erkennendes Objekt problematisiert und wel-chen Verfahren der Unterscheidung es unterworfen wer-den konnte sowie welcher Teil davon als zutreffend an-gesehen wurde. Es soll also die Objektivierungsweise bestimmt werden, die sich, je nach der Art des Wissens-typus, um den es sich handelt, unterscheidet«.10

Laut Fou cault unterliegen diese Wissenstypen und die dar-aus resultierenden Objektivierungsweisen – also jene Ar-ten, wie etwas zum Gegenstand des Wissens wird – histo-rischen Veränderungen. Da diese Prozesse konstitutiv für die faktische Verfasstheit der Phänomene sind, folgt dar-

18 Einführung: Kritik und Geschichte

aus, dass auch deren konkrete Erscheinungsformen nicht notwendig, sondern immer historisch und damit zwar re-gelhaft, aber letzten Endes kontingent, also nicht-notwen-dig sind. Fou cault hat dabei anhand unterschiedlicher Su-jets analysiert, wie über solche Prozesse verschiedene, ver-meintlich naturgegebene Phänomene (etwa der Wahnsinn, die Sexualität, das Subjekt) konstituiert werden.

Daraus folgt aber nicht, dass Fou cault das tatsächliche Vorhandensein der konstituierten Phänomene oder von Wahrheit überhaupt leugnet: Dass sie und die Form ih-res Auftauchens von spezifischen Aussageregeln abhängen, bedeutet nicht, dass sie irreal sind. Trotz der Kontingenz der Konfigurationen, in denen sie sich präsentieren, bilden sie konkrete Realitäten. Und diese sind alles, auf was wir zugreifen können, eben weil es so etwas wie eine eigentli-che Natur der Dinge gemäß Fou cault nicht gibt.11 Das Hin-terfragen solcher scheinbar naturgegebener Phänomene und die Offenlegung ihres historisch-kontingenten Cha-rakters ist das Ziel nahezu aller seiner Arbeiten, und hierin liegt der durchaus politische Anspruch der Philosophie Fou caults:

»Ich habe mir vorgenommen – dieser Ausdruck ist ge-wiss allzu pathetisch –, den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen; dass sie Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimmten Zeit-punkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und dass man diese so genannten Evidenzen kritisieren und zerstören kann. Etwas in den Köpfen der Menschen zu verändern – das ist die Aufgabe des Intellektuellen«12.

Einführung: Kritik und Geschichte 19

In dieser Bestimmung der Philosophie als zeitdiagnos-tisch-kritische und emanzipierende Methode stellt sich Fou cault an verschiedenen Stellen in die Tradition Kants.13 In einigen Texten, allen voran den Vorträgen Was ist Kritik (1978) und zwei namensgleichen mit dem Titel Was ist Aufklärung (1983/1984)14, aber auch im programmatischen Aufsatz Das Subjekt und die Macht (1982), setzt sich Fou-cault dezidiert mit Kants Begriffen der Aufklärung und der Kritik auseinander. Dabei bestimmt er den Begriff der Kri-tik weniger als Umschreibung des transzendentalphiloso-phischen Programms, als vielmehr in seiner zeitdiagnosti-schen Dimension.

Zentraler Bezugspunkt ist für ihn Kants Text Beantwor­tung der Frage: Was ist Aufklärung. Denn darin habe zum ersten Mal ein Philosoph die Analyse eines »geschichtli-che[n], noch junge[n], ja aktuelle[n] Ereignis[ses]«, dort nämlich der Aufklärung, zum Gegenstand einer philoso-phischen Analyse gemacht.15 Und damit sei Kant der Erste gewesen, der den Status der eigenen Subjektivität im Hin-blick auf seine historische Verfasstheit untersucht habe: »Wer bin ich – ›ich‹ ist für Descartes jeder, überall und zu jeder Zeit. Kant hingegen fragt etwas anderes: Wer sind wir in diesem präzisen Moment der Geschichte? Kants Frage zielt analytisch zugleich auf uns und unsere Gegenwart«16. Damit geht die Philosophie dazu über, die Zeitdiagnostik als einen Teil ihres Geschäftes zu verstehen, ohne vollstän-dig darin aufzugehen.

Fou cault sieht das kantische Verständnis der Aufklärung (die da verstanden wird als Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit) in enger Nähe zu seinem eigenen Begriff der Kritik. Kritik, deren »Entste-

20 Einführung: Kritik und Geschichte

hungsherd […] im wesentlichen das Bündel der Beziehun-gen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt ist«17, hat für Fou cault eine emanzipierende Funktion. Sie zielt auf die gegenwärtige Verfasstheit des Subjekts, um seine Bedingtheit und die Verstrickungen in die Wahr-heitsspiele offenzulegen und es von diesen zu befreien. Dabei ist er der Meinung, sein Verständnis von Kritik sei »nicht weit entfernt […] von jener Definition, die Kant ge-geben hat: allerdings nicht von der Kritik, sondern von der Aufklärung«18.

Das ist eine bemerkenswerte Denkbewegung: Fou cault stellt sich in die kritische Tradition Kants, meint an dieser Stelle aber »Aufklärung«, wenn er »Kritik« schreibt.19,20 Konkret führt er aus:

»Kritik [ist] die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machtef-fekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheits-diskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilli-gen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwer-fung«.21

Oder kürzer: Kritik ist »die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«22. Nicht dermaßen regiert zu werden bedeutet aber wiederum nicht, nicht regiert zu werden. Die Befrei-ung, auf die Fou cault abzielt, kann sich gleichsam ihrerseits nur im Gesamtkontext der Wahrheitsspiele und Machtver-hältnisse vollziehen und auf eine Überschreitung bzw. Transgression und Transformation abzielen.

Einführung: Kritik und Geschichte 21

In diesen Formulierungen der emanzipatorischen Wir-kung, die der Kritik durch das Hinterfragen der Bedingun-gen von Wahrheit beikommt, klingt bereits an, dass es das Subjekt ist, das es zu befreien gilt. Tatsächlich postuliert Fou cault 1982 in dem zentralen Text Das Subjekt und die Macht 23: »Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist […] das allgemeine Thema meiner Forschung«24. Der Text ist mit äu-ßerster Vorsicht zu betrachten, handelt es sich doch um eine späte Interpretation des eigenen Werkes, weshalb nicht aus-zuschließen ist, dass es sich hierbei um den Versuch han-delt, der eigenen Rezeption einen bestimmten perspektivi-schen Drall zu geben. Mit einigem Recht lässt sich »diese Selbstinterpretation« deshalb »für allzu kreativ halten«, wie Martin Saar anmerkt.25 Nimmt man sie aber als Lese- und In-terpretationsfolie ernst, hat sie durchaus Sinn. Tatsächlich stellt es einen brauchbaren heuristischen Schlüssel dar, das Werk Fou caults in Hinblick auf die Thematisierung des Subjekts zu interpretieren. Dabei stellt sich aber schnell her-aus, dass sowohl der Begriff als auch die Stellung des Sub-jekts im Werk deutlichen Variationen unterliegen.

Durchgehend gilt, dass Fou cault unter Subjekt »im Ge-gensatz zu einer ganzen philosophischen Tradition nichts Substantielles, Überhistorisches und Letztverbürgtes« ver-steht26, so Saar. Für Fou cault ist das Subjekt weder etwas, was von vornherein gegeben wäre, noch lassen sich allge-meine ahistorische Bestimmungsmerkmale finden, die konstitutiv für dieses wären. Vielmehr werden das Subjekt, seine Verfasstheit und seine Stellung im System des Wis-sens wie der Macht immer im Prozess hervorgebracht. Das Subjekt »ist keine Substanz, sondern eine Form, die in un-terschiedlichen Bezügen anders ist«27.

22 Einführung: Kritik und Geschichte

Trotz aller Varianzen ist Fou caults Subjektbegriff durch-gängig anti-essenzialistisch und streng historistisch. Sei-nen Überlegungen liegt dabei die Ablehnung der Idee ei-nes grundlegenden, vorgängigen Subjekts zugrunde, das die Basis für bestimmte Formen von Erkenntnis und ent-sprechende erkenntnistheoretische Fragestellungen bildet. Laut Foucault bedarf es der Zurückweisung dieser a-priori- Theorie des Subjekts, wie er sie etwa dem Existentialis-mus und der Phänomenologie unterstellt, um den Weg frei zu machen für die Analyse der Konstituierung des Sub-jekts.28

Die Formulierung dieser »radikalen Kritik des mensch-lichen Subjekts durch die Geschichte«29 hat Fou cault ver-schiedentlich den Vorwurf eingebracht, er propagiere eine »Philosophie der Subjektlosigkeit«30, so Ruoff, mit dem Ziel einer, so Habermas, »radikal historistischen Auslöschung des Subjekts«31. Diese Kritik verkennt jedoch einen der Kerngedanken Fou caults: Die historistische Dezentrierung des Subjekts zugunsten einer Untersuchung seiner Kon-stitutionsbedingungen bedeutet eben nicht dessen Aus-löschung. Denn indem diejenigen Prozesse untersucht werden, die das Subjekt hervorbringen, wird es zwar sei-ner autonomen Stellung enthoben, dabei aber stets als his-torisch konkret Gegebenes anerkannt.

Dennoch lässt sich feststellen, dass Fou cault die traditio-nell starke Stellung des Subjekts in der Neuzeit untergräbt. So lehnt er die Idee eines souveränen Subjekts sowohl auf der erkenntnisstiftenden als auch auf der soziologischen Ebene ab. Damit untergräbt er gleichermaßen den Status eines kantischen oder cartesianischen Erkenntnissubjekts (was für ihn ohnehin dasselbe sei, wie er einmal polemisch

Einführung: Kritik und Geschichte 23

einfließen lässt)32 wie auch den eines autonomen Hand-lungsträgers.

An dieser Stelle zeigt sich eins der Probleme, die im Ver-such einer komprimierten Darstellung der Philosophie Fou caults sichtbar werden: Die Terminologie ist inkonsis-tent. Fast könnte man meinen, die historische Variabilität, die Fou cault in Bezug auf historische Phänomene konsta-tiert, gelte auch für seine eigene Begriffswahl. So kommt es immer wieder vor, dass Fou cault Begriffe nicht ausreichend oder bloß provisorisch definiert und sich die Freiheit her-aus nimmt, den Bedeutungsgehalt en passant zu variieren.

Im Zusammenhang mit dem Begriff des Subjekts lassen sich mindestens drei verschiedene Bedeutungsebenen von-einander unterscheiden, die Fou cault zum Teil parallel ver-wendet und manchmal miteinander vermengt (was wie-der um daran liegt, dass sie in engem Bezug zueinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen). So spricht er an verschiedenen Stellen von drei Achsen der Subjektivität, gemäß derer diese sich untersuchen lasse:

»Erstens eine historische Ontologie unserer selbst im Verhältnis zur Wahrheit, durch das wir uns als Subjekte des Wissens konstituieren. Zweitens eine historische Ontologie unserer selbst im Verhältnis zu einem Macht-feld, durch das wir uns als Subjekte konstituieren, die auf andere einwirken; drittens eine historische Ontolo-gie im Verhältnis zur Ethik, durch das wir uns selbst als moralisch Handelnde konstituieren«.33

Diese drei Achsen bzw. Dimensionen sind dabei weit-gehend deckungsgleich mit den erwähnten jeweiligen

24 Einführung: Kritik und Geschichte

Schwerpunkten der Werkphasen Foucaults, nämlich Wissen, Macht und Ethik/Selbsttechniken.34

Zunächst lässt sich das Subjekt in seiner erkenntnistheo-retischen Funktion begreifen. Als solches ist es Bedingung für jede Erkenntnis und deckt sich zunächst mit dem neu-zeitlichen Erkenntnissubjekt. Mit der starken Bedeutung, die diesem in der Neuzeit seit Descartes und später dann durch Kant zukommt, korrespondiert die Herausbildung der Idee eines empirisch gegebenen Subjekts, das als Kno-tenpunkt der Erkenntnis und als souveräner Handlungs-träger dient. Diesem kommt unter anderem in der Kunst, aber auch in den Wissenschaften durch die Figur des Au-torsubjekts ein besonderer Stellenwert zu. Erkenntnisse werden stark an ihren Entdecker gebunden und Geschichte ist in dieser subjektzentrierten Sichtweise vor allem die Geschichte handelnder Akteure. Foucault kritisiert diese Vorstellungen aufs Schärfste:

»Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der […], der dem beobachtenden Subjekt absolute Pri-orität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität setzt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt«35.

Schon die Idee eines erkenntnisfundierenden Subjekts ist laut Foucault weniger eine Entdeckung als vielmehr ein historisch konstituiertes Phänomen, denn »auch das Er-kenntnissubjekt hat eine Geschichte«36.

Schließlich schält sich auf dieser ersten Achse des Wis-sens eine weitere Bedeutung des Subjekts heraus. Das Zu-

Einführung: Kritik und Geschichte 25

tagetreten des subjektzentrierten Denkens schlägt näm-lich auf das Subjekt zurück. Es ist nicht mehr bloß Stifter und Knotenpunkt der Erkenntnis, sondern wird selbst zu deren Objekt.

Diese Dimension des Subjekts als Erkenntnissubjekt ist in der archäologischen Phase noch deutlich präsenter. In der Genealogie treten diese Bestimmungen hinter einen praxisorientierten, empirisch-soziologischen Subjektbe-griff zurück.37 Subjektivität meint dann – dies ist die zweite Achse – eine spezifische Konfiguration des Selbstbewusst-seins, die vor allem durch eine starre Bindung an die eigene Identität gekennzeichnet ist. Diese Form des Selbstbe-wusstseins ist maßgeblich auf die Wirkungen gesellschaft-licher Mächte zurückzuführen und ist deshalb immer schon ein Unterworfenes.

In dieser empirischen Bestimmung von Subjektivität überlagern sich zwei begriffliche Ebenen, die Foucault nicht immer scharf voneinander unterscheidet. In einer engen Definition bezeichnet »Subjekt« nur diese moder-ne, durch Machtprozesse modellierte Form des Selbstbe-wusstseins:

»Ich werde Subjektivierung den Prozess nennen, durch den man die Konstitution eines Subjekts, genauer, einer Subjektivität erwirkt, die offensichtlich nur eine der ge-gebenen Möglichkeiten zur Organisation eines Selbstbe-wusstseins ist«38.

Dieser Begriff des modernen Subjekts wird durchweg von einem negativen Unterton begleitet und ist der eigentliche Zielpunkt der kritischen Machtanalyse der Genealogie. Ne-


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