Senioren mit Freude begrüßenFacetten einer seniorengerechten Zahnarztpraxis
E in Be i t rag von Pro f . Dr. Ina N i t schke MPH und Pro f . Dr. Sebast ian Hahnel , Le ipz ig
Im Alltag einer allgemeinen zahnärztlichen Praxis werden an die dort praktizierenden Zahnärzte sowie deren Teams nicht nur von Kindern, Ju-gendlichen und jungen Erwachsenen Ansprüche gestellt, sondern auch von Senioren. Senioren sind eine sehr heterogene Patientengruppe, die unterschiedliche Bedürfnisse und Notwendigkei-ten mit sich bringt.
Alle Dienstleistungserbringer, besonders auch
diejenigen im medizinischen Bereich, sollten sich
auf diese sehr heterogene Gruppe einstellen, was
natürlich auch für Zahnmediziner gilt. Die heute
in Deutschland lebenden Senioren unterscheiden
sich aber nicht nur zahlenmäßig von denen vor
50 Jahren (Abb. 1), sondern auch durch den Um-
stand, dass sie im Vergleich zu früheren Genera-
tionen eine bessere orale Gesundheit aufweisen.
Es sind nicht nur die zahnlosen Senioren, die die
Zahnmediziner mit neuen Totalprothesen heraus-
fordern, die sie erst im hohen Alter benötigen. Die
heutigen Senioren haben oft noch eigene Zähne,
die zu erhalten sind. Aus einer zahnärztlichen Be-
handlung wird mit zunehmender Gebrechlichkeit
eine zahnmedizinische Betreuung. Die Zahnärzte-
schaft sollte die Versorgung der Senioren daher
weiter in den Vordergrund rücken.
Demografischer Wandel betrifft auch die zahnärztlichen PraxenDie achte Variante der 13. koordinierten Bevölke-
rungsvorausberechnung, die in aktualisierter Fas-
sung auf Basis des Jahres 2015 vorliegt, zeigt den
demografischen Wandel in Deutschland. Die Zu-
wanderungen in den Jahren 2014 und 2015 haben
die Bevölkerung in ihrer Größe und Struktur verän-
dert. Der Altersaufbau der Bevölkerung unterschei-
det sich nun innerhalb der Bundesländer stark. So
ist festzuhalten, dass der Altenquotient1 mit 30 in
Hamburg, 33 in Bayern und 43 in Sachsen und
Sachsen-Anhalt stark variiert. Die Unterschiede
zwischen Stadtstaaten, westlichen und östlichen
Flächenländern sind erheblich (Tab. 1).
Somit ist nachvollziehbar, dass die Gruppe der
Senioren diejenige Altersgruppe ist, die vor der
Praxistür stehen und umfangreiche zahnmedizi-
nische Leistungen in der allgemeinen Hauszahn-
arztpraxis abfragen wird. Die Ansprüche der
60- bis über 100-Jährigen sind hoch und stellen
eine Herausforderung für das gesamte zahnmedi-
zinische Team dar. Nur gemeinsam im Team wird
es möglich sein, eine seniorengerechte Praxis auf-
zubauen. Das Motto „Team = Toll, einer, der Alles
macht“ gilt bei der Betreuung der Senioren nicht.
Zahnmediziner, zahnmedizinische Fachange-
stellte, Prophylaxeassistenten, Dentalhygieniker,
zahnmedizinische Verwaltungsangestellte, Praxis-
manager und Zahntechniker werden ihren Beitrag
leisten müssen, wenn die Senioren ihrer funktio-
nellen Kapazität beziehungsweise ihrer Gebrech-
lichkeit entsprechend in die Praxis aufgenommen
werden sollen.
Seniorengerechte Praxis ohne Barrieren im KopfDie oralen Krankheiten der Senioren unterschei-
den sich nicht grundlegend von denen der Erwach-
senen mittleren Alters, wobei die verschiedenen
Facetten des Alterns die Senioren auch in der
Zahnarztpraxis zu einer sehr heterogenen Gruppe
machen. Schon allein die Altersdifferenz innerhalb
der Gruppe der Senioren von rund 40 Jahren ver-
deutlicht, dass es Unterschiede bezüglich der Be-
dürfnisse und Notwendigkeiten gibt, die Mund-
Abb. 1: Anteil der 80-Jährigen und Älteren an der deutschen Gesamtbevölkerung zwischen 1950 und 2050 [10]
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1 Der Altenquotient bildet das Verhältnis der Personen im Renten-alter (Anzahl der derzeit 65-Jährigen und Älteren) zu 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) ab.
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gesundheit zu erhalten beziehungsweise wieder-
herzustellen. Auch das heutige Anspruchsverhal-
ten zwischen den betagten und hochbetagten Senio-
ren ist sehr unterschiedlich und wird sich mit dem
Eintritt der alternden Baby-Boomer-Generation in
das Rentenalter nochmals ganz anders darstellen.
Die nette 95-Jährige, die sich heute freut, wenn ihr
jemand bei der Behandlung die Hand hält, wird
sich wandeln. Die heute 60-Jährigen werden in
der Zukunft eher mit den Teams diskutieren, ob
die gut gemeinte streichelnde Hand etwas Über-
griffiges und damit zu unterlassen sei. Das Team
in der Seniorenzahnmedizin zu trainieren und in
den „Gero-Staffs“ gemeinsame Absprachen zu tref-
fen, ist wichtig, wenn die Zahnarztpraxis Senioren
willkommen heißen möchte.
Altersaufbau Deutschland 2015
Deutsche Bevölkerung im Jahr 2015 (gesamt 81,3 Millionen)
Insgesamtjünger als 20 Jahre[%]
20 bis 64 Jahre[%]
65 bis 79 Jahre[%]
80 Jahre und älter[%]
65-Jährige und Ältere je 10020- bis 64-Jährige (Altenquotient)Bundesland Millionen Anteil1
Baden-Württemberg
10,8 19,0 61,0 14,5 5,6 33
Bayern 12,8 18,4 61,5 14,7 5,4 33
Berlin 3,5 17,3 63,5 14,5 4,8 30
Brandenburg 2,4 16,3 60,2 17,3 6,2 39
Bremen 0,7 17,2 61,5 15,6 5,8 35
Hamburg 1,8 17,8 63,4 13,7 5,1 30
Hessen 6,1 18,4 61,1 15,0 5,6 34
Mecklenburg- Vorpommern
1,6 15,9 60,9 16,9 6,3 38
Niedersachsen 7,8 18,7 59,6 15,8 5,9 36
Nordrhein-Westfalen
17,6 18,5 60,7 15,0 5,9 34
Rheinland- Pfalz
4,0 18,0 60,8 15,2 6,0 35
Saarland 1,0 16,1 60,8 16,5 6,6 38
Sachsen 4,0 16,2 58,5 18,1 7,2 43
Sachsen- Anhalt
2,2 15,1 59,4 18,6 6,9 43
Schleswig-Holstein
2,8 18,3 58,9 17,0 5,8 39
Thüringen 2,1 15,8 59,8 18,0 6,5 41
Stadtstaaten 6,0 17,4 63,2 14,4 5,0 31
Flächenländer West
62,9 18,5 60,7 15,1 5,7 34
Flächenländer Ost
12,4 15,9 59,5 17,9 6,7 41
Deutschland 81,3 18,0 60,7 15,4 5,8 35
¹ Abweichungen von 100 % sind rundungsbedingt.
Tab. 1: Aufbau der deutschen Bevölkerung, nach Alter und Bundesland geschichtet. 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung nach Bundesländern, kontinuierliche Entwicklung bei schwächerer Zuwanderung (Variante 1, G1-L1-W1) [9].
Wissenschaft und Fortbildung | BZB November 18 | 57
Eine seniorengerechte Praxis ist nicht gleichbedeu-
tend mit einer barrierearmen Praxis, wo nichts im
Weg steht, worüber jemand fallen könnte. Eine bar-
rierearme Ausstattung der Praxis sollte nicht ver-
wechselt werden mit der Barrierefreiheit im Kopf
aller Teammitglieder gegenüber den Eigenschaften
und Herausforderungen, die Senioren mit sich brin-
gen. Gerostomatologisches Wissen, Hilfsmittel, eine
gute und sichere Erreichbarkeit der Praxis sowie ein
professioneller Umgang sind Grundlagen für eine
gute zahnmedizinische Betreuung der heterogenen
Patientengruppe der Senioren und somit Grundlage
für eine seniorengerechte Praxis.
Was ist Seniorenzahnmedizin?Die Seniorenzahnmedizin (auch Gerostomatolo-
gie, Gerontostomatologie, Alterszahnheilkunde,
Alterszahnmedizin oder Alternszahnmedizin ge-
nannt) hat die Aufgabe, die älteren Menschen, also
nicht nur die älteren Patienten, vom Eintritt in
den Altersruhestand bis zum Tod in allen direkten
zahnmedizinischen Aufgaben und bei Fragestel-
lungen aus den angrenzenden Bereichen während
des Alterns zu begleiten, zu betreuen und wissen-
schaftlich die Herausforderungen aufgrund der
Alternsvorgänge aufzubereiten.
Die gerostomatologischen Therapieentscheidungs-
prozesse sind komplexer und damit in ihrer Ge-
staltung auch aufwendiger als bei allgemein-
medizinisch gesunden Patienten. Multimorbidität,
Polypharmazie, Malnutrition, geriatrisches Assess-
ment, gerostomatologischer Wohlfühlfaktor, Nach-
sorgekompetenz (siehe Kasten „Nachsorgekompe-
tenz“), zahnmedizinische funktionelle Kapazität,
Adaptationsrisiko, relativierter objektiver Behand-
lungsbedarf und Versorgungsdiagnose sind einige
Schlagwörter aus der Seniorenzahnmedizin, die
für Zahnärzte, die ältere Patienten behandeln, keine
Fremdwörter sein sollten.
Im Rahmen der Versorgungsdiagnose (siehe Kasten
„Versorgungsdiagnose“) sollte geklärt sein, wer der
Entscheidungsträger ist und welche Personen ne-
ben dem Patienten in den partizipativen Therapie-
entscheidungsprozess einbezogen werden sollten.
Der Weg zur partizipativen Therapieentscheidung
wird von den Betagten und Hochbetagten genauso
gewünscht wie von jüngeren Patienten, nur ist der
Entscheidungsfindungsprozess wesentlich aufwen-
diger. Trotz des Aufwands ist dieser Entscheidungs-
prozess mit den Senioren ausführlich zu durchlau-
fen, um am Ende eine gute Mitarbeit und möglichst
wenige Adaptationsprobleme zu bekommen. Hier-
zu ist es notwendig, sich schnell einen Überblick
über die Funktionalität, sprich, welche Fähigkeiten
der Patient zur Behandlung mitbringt, zu verschaf-
fen. Hierbei kann das Schema zur Festlegung der
Belastbarkeit des Patienten mithilfe der zahnärzt-
lichen Einschätzung zur zahnmedizinischen funk-
tionellen Kapazität des Patienten eine hilfreiche
Grundlage sein.
Die zahnmedizinische funktionelle Kapazität des Patienten einschätzenDie zahnmedizinische funktionelle Kapazität (ZFK)
beurteilt die Funktionsmöglichkeiten eines Patien-
ten unter dem zahnmedizinischen Blickwinkel.
Nachsorgekompetenz [6]
Die Nachsorgekompetenz beschreibt die Fähigkeit des Pa-
tienten (Eigen-Nachsorgekompetenz) oder einer anderen
Person aus seinem Umfeld (Fremd-Nachsorgekompetenz),
· die Mundhöhle und Zahnersatz zu reinigen und
· eine kontrollorientierte Inanspruchnahme einer zahnmedi-
zinischen Dienstleistung regelmäßig, auch engmaschig,
wahrzunehmen.
Der Zahnarzt sollte sich in seinem Anamnesegespräch da-
rüber klar werden, ob der Patient für die Nachsorge selbst
verantwortlich sein kann. Es wäre auch zu klären, wer bei
zunehmender Gebrechlichkeit die regelmäßige Reinigung
der Mundhöhle durchführen kann. Dazu wäre es wichtig
zu wissen, ob diese Person auch für das tägliche Ein- und
Ausgliedern von eventuell vorhandenem Zahnersatz trai-
niert werden könnte. Zur Nachsorgekompetenz gehört
auch die Klärung, wer für die Organisation und Durch-
führung von regelmäßigen, kontrollorientierten Besuchen
beim Zahnarzt zuständig sein könnte. Zur richtigen Zeit,
also bevor die Selbstverständlichkeiten des Alltags für den
Patienten schwierig und immer schwieriger werden, tut
der Zahnarzt gut daran, die Nachsorgekompetenz anzu-
sprechen. Ziel sollte dabei sein, Ansprechpersonen recht-
zeitig ausfindig zu machen, mit denen man ins Gespräch
kommen könnte. Wenn die eigene Nachsorgekompetenz
nachlässt, sollte im Rahmen der zahnmedizinischen Be-
treuung die Fremd-Nachsorgekompetenz bereits geklärt
und in der Patientendokumentation die Person (oder auch
Personen), Anschrift und Telefonnummern hinterlegt sein.
Das Stellen der Versorgungsdiagnose […] und die Er-
mittlung der Nachsorgekompetenz kann auch mithilfe
des Anamnesebogens geschehen.
| BZB November 18 | Wissenschaft und Fortbildung58
Andere geriatrische Assessmentinstrumente, die
der Geriatrie in großer Zahl zur Verfügung stehen,
sind für die zahnmedizinischen Überlegungen nur
eingeschränkt nutzbar, da sie zum Beispiel andere
Funktionen abfragen als die, die im Rahmen der
zahnmedizinischen Betreuung benötigt werden.
Daher wurde ein Instrument für die zahnmedizi-
nischen Belange entwickelt, das den Anwender
anregen soll, seinen Patienten besonders unter
dem zahnmedizinischen Funktionsaspekt zu ana-
lysieren. Dabei werden die drei Parameter Thera-
piefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigen-
verantwortlichkeit besonders berücksichtigt. Je-
der Parameter wird getrennt in einer mehrstufigen
Einteilung nach der Belastbarkeit des Patienten
betrachtet. Daraus ergibt sich als Gesamtwert die
zahnmedizinische Belastbarkeit älterer und alter
Menschen in einer vierstufigen Einteilung. Der am
schlechtesten bewertete Parameter führt zur Fest-
legung der Belastbarkeitsstufe (BS), die dann Aus-
druck der ZFK (BS 1 bis 4) ist (Tab. 2).
Therapiefähigkeit Bei der Therapiefähigkeit eines betagten Menschen
ist vom Untersucher abzuschätzen, ob eine zahn-
ärztliche Behandlung wie bei einem allgemein-
medizinisch gesunden Patienten durchgeführt wer-
den kann oder ob und gegebenenfalls in welchem
Maße bei der Therapie wegen einer verringerten
Belastbarkeit Einschränkungen (z. B. Anzahl und
Länge der Behandlungstermine, Wahl des Behand-
lungskonzepts und des prothetischen Behandlungs-
mittels) zu erwarten sind (Tab. 3). Die finanzielle
Situation des Patienten hat auf die Festlegung der
BS keinen Einfluss. In den BS 1 und 2 wäre eine fest-
sitzend-abnehmbare Versorgung denkbar. Aller-
dings kann es notwendig und ratsam sein, bei Pa-
tienten der BS 2 den Behandlungsablauf auf meh-
rere Sitzungen zu verteilen und eine ausreichende
Nachsorge anzuschließen. Bei stark reduzierter The-
rapiefähigkeit (BS 3) würde sich der Untersucher für
eine partielle Kunststoffprothese mit gebogenem
Verankerungselement entscheiden, die ohne viel
Versorgungsdiagnose [5]
Die Versorgungsdiagnose in der Seniorenzahnmedizin be-
schreibt, unter welchen Umständen beziehungsweise wie
ein älterer Patient lebt. Sie ist für jeden älteren Patienten
zu erheben und wie der Anamnesebogen immer wieder
– mindestens einmal im Jahr – zu reevaluieren. Es wird
unterschieden zwischen dem häuslichen Leben oder dem
Leben in einer stationären Pflegesituation.
Das häusliche Leben wird dabei unterteilt in:
· allein lebend,
· mit Partner lebend,
· mit Kindern lebend und
· in einer Wohngemeinschaft lebend.
Des Weiteren soll geklärt werden, ob bei den zu Hause
Lebenden zurzeit pflegerische Unterstützung benötigt wird
und wer diese durchführt. Es ist zudem zu eruieren, ob der
Patient allein entscheidet oder ob andere Personen in den
partizipativen Therapieentscheidungsprozess einzubezie-
hen sind. Hier ist vor allem auch zu klären, ob eine gesetz-
liche Betreuung für den Patienten eingerichtet ist.
Beispiel einer Versorgungsdiagnose
Eine 88-jährige rüstige Patientin lebt zu Hause in ihrer
Eigentumswohnung im Haus ihrer Tochter und wird in
der Haushaltsführung durch die Tochter und ihren Schwie-
gersohn unterstützt. Eine pflegerische Unterstützung wird
momentan nicht benötigt. Zurzeit ist die Patientin sehr
selbstbestimmt, möchte aber trotzdem, dass die Tochter
in den Therapieentscheidungsprozess einbezogen wird. Der
Versorgungsstatus wurde im Anamnesebogen erfragt und
die Versorgungsdiagnose dann im Rahmen des Anamnese-
gesprächs durch den Zahnarzt gestellt.
Belastbarkeitsstufe Therapiefähigkeit Mundhygienefähigkeit Eigenverantwortlichkeit
BS 1 normal normalnormal
BS 2 leicht reduziert leicht reduziert
BS 3 stark reduziert stark reduziert reduziert
BS 4 keine keine keine
Tab. 2: Zahnmedizinische funktionelle Kapazität: vierstufige Einteilung der Belastbarkeit aufgrund der Beurteilung der drei Parameter Therapiefähigkeit, Mundhygienefähigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Innerhalb der beiden Parameter Therapiefähigkeit und Mund-hygienefähigkeit wird der Patient in einer vierstufigen Einteilung hinsichtlich seiner zahnmedizinischen Belastbarkeit betrachtet. Dabei ist die Stufe 1 die beste – normale Belastbarkeit –, die Stufe 4 die schlechteste Stufe – keine Belastbarkeit. Beim Parameter Eigenverant-wortlichkeit erfolgt eine Einteilung nur in drei statt vier Stufen: normal, reduziert oder gar nicht eigenverantwortlich [3].
Wissenschaft und Fortbildung | BZB November 18 | 59
Aufwand (wenige, kurze Sitzungen) anzufertigen
ist. Wenn die Belastbarkeit sehr stark reduziert ist
(BS 4), kann in der Regel keine Neuanfertigung
durchgeführt werden. Kleine Reparaturen am alten
Zahnersatz sind denkbar, jedoch kann dem stark
eingeschränkten Senior keine weitreichende zahn-
ärztliche Therapie zugemutet werden.
Damit die Beurteilung der Therapiefähigkeit des
älteren Menschen unabhängig vom Mundbefund
standardisiert erfolgen kann, sollte sich der Be-
handler die Frage beantworten, welchen Therapie-
weg er bei seinem Patienten einschlagen würde,
wenn dieser im Oberkiefer zahnlos wäre und im
Unterkiefer nur noch zwei Zähne vorhanden wären.
Diese vom individuellen Zahnstatus unabhängige
Überlegung hilft dabei, die Schwierigkeiten bei der
Versorgung von zahnlosen Patienten nicht zu unter-
schätzen. Mit dem theoretischen Zahnstatus kann
die Therapiefähigkeit des älteren Patienten, beson-
ders des Zahnlosen, zuverlässig beurteilt werden.
MundhygienefähigkeitBei der Beurteilung der Mundhygienefähigkeit ist
die Frage zu beantworten, ob der ältere Mensch
einer individualprophylaktischen zahnmedizini-
schen Maßnahme folgen kann und ob er die mo-
torischen sowie kognitiven Fähigkeiten besitzt, die
Instruktionen zur Mundhygiene zu verstehen und
bei der täglichen Mund- und Prothesenhygiene
umzusetzen. Ist der Patient zum Beispiel seh- und
hörbehindert, gilt er bei der Mundhygienefähigkeit
als leicht reduziert belastbar. Hier sollten sich die
Aufklärungs- und Motivationsgespräche anders ge-
stalten, damit der Patient davon profitieren kann.
Bei stark reduzierter Mundhygienefähigkeit ist zu
klären, wer das Defizit aus dem eigenen Putzen wie
auffängt. Die Fremdputzer, beispielsweise Angehö-
rige, sollten instruiert und die Terminintervalle für
die professionelle Zahn- und Prothesenreinigung
verkürzt werden. Patienten, die ihre Mundhygiene
gar nicht mehr selbstständig durchführen können,
gelten als nicht belastbar, sodass der Zahnarzt seine
Therapie und Unterstützung zur Mundhygiene bei
ihnen ganz anders ausrichten müsste.
EigenverantwortlichkeitDas Kriterium Eigenverantwortlichkeit beschreibt,
ob der Senior in der Lage ist, die Entscheidung
zu treffen, einen Zahnarzt zur Kontrolle oder zur
Therapie aufzusuchen, und diesen Besuch dann
auch für sich selbst zu organisieren. Es ist ferner
zu prüfen, ob der Patient den Wunsch äußert, den
Zahnarzt aufzusuchen, aber den Besuch nicht selbst
organisieren kann (reduziert eigenverantwortlich),
oder ob er gar nicht mehr an seine Mundgesund-
heit und zahnmedizinische Versorgung denkt (nicht
eigenverantwortlich).
BelastbarkeitsstufeDie drei Kriterien Therapiefähigkeit, Mundhygiene-
fähigkeit und Eigenverantwortlichkeit sind jeweils
einzeln nach dem Anamnesegespräch vom Zahn-
Therapiefähigkeit Mundhygienefähigkeit Eigenverantwortlichkeit
· Risiko für allgemeinmedizinische Zwischenfälle
· Lernfähigkeit/ Umsetzung von Informationen
· kontrollorientiertes Besuchsverhalten
· Risiko Medikamenteninteraktion · Greiffähigkeit · Entscheidungsfähigkeit
· Transportfähigkeit · Putzkraft · Nachsorgekompetenz
· Umsetzbarkeit · Hilfe durch Fremdputzer/Dritte · Willensäußerung
· Lagerungseinschränkung · Sehvermögen · Erkennen von Problemen
· Nachsorgekompetenz · Nachsorgekompetenz · Organisationsfähigkeit
· Verständnis von Anweisungen/ Sachinhalten
· Überwachung der Mundhygiene · Verantwortungsträger
· Möglichkeit der Diagnostik · Kauf der Mundhygieneartikel · Vorhandensein eines Betreuers
· längere Mundöffnungsphasen · Handkraft · Koordination
· manuelle Geschicklichkeit
· Adaptationsfähigkeit
Tab. 3: Beobachtungshinweise für den Zahnarzt und sein Team zur Einschätzung der zahnmedizinischen funktionellen Kapazität des Patienten [4]
| BZB November 18 | Wissenschaft und Fortbildung60
arzt abzuschätzen. Bei der Einstufung wird der
Zahnarzt nach etwas Übung feststellen, dass er
vergleichbare Situationen anhand der BS wieder-
findet. Er wird auch merken, dass gute kognitive
Fähigkeiten des Patienten ihn nicht mehr dazu
verleiten, gegebenenfalls dessen eingeschränkte
Therapie- oder Mundhygienefähigkeit zu über-
sehen. Die schlechteste Bewertung eines der drei
Parameter führt zur abschließenden Gesamtbewer-
tung. Es empfiehlt sich für den Behandler, diese
BS bei all seinen Entscheidungen im Hinterkopf zu
behalten, da sie die begrenzende Komponente in
der weiteren Behandlungsplanung sein sollte. Die
BS ist dann Ausdruck der ZFK des Patienten.
Gerostomatologischer WohlfühlfaktorUm die Inanspruchnahme zahnärztlicher Dienst-
leistungen durch die heterogene Patientengruppe
der Senioren aufrechtzuerhalten oder zu verbes-
sern, bietet es sich für den Zahnarzt und sein Team
an, den gerostomatologischen Wohlfühlfaktor sei-
ner Praxis zu überprüfen und gegebenenfalls anzu-
passen. Dieser Wohlfühlfaktor spielt neben einem
in Seniorenzahnmedizin ausgebildeten Zahnmedi-
ziner und einem gerostomatologisch geschulten
Praxisteam eine wichtige Rolle.
Zum gerostomatologischen Wohlfühlfaktor gehört
die Erreichbarkeit einer Praxis (Lage der Praxis; Fak-
toren, die den Transport von immobilen oder in
der Mobilität eingeschränkten Patienten erschwe-
ren oder behindern; Anbindung an öffentliche
Verkehrsmittel; ausreichend Parkmöglichkeiten in
der Nähe etc.). Rollstuhlfähige Treppenaufgänge,
das Vorhandensein eines Lifts, beidseitige Treppen-
geländer, sofern nötig, und ausreichende Beleuch-
tung führen dazu, dass eine Praxis als barrierearm
wahrgenommen wird – und diese Anforderung
nach Sicherheit beginnt bereits vor der Praxistür.
Wichtig ist, darauf zu achten, dass auch immobile
oder in ihrer Mobilität eingeschränkte Patienten
einen guten Zugang erhalten (z. B. im Bereich der
Rezeption, in den Toiletten, im Warte- und Behand-
lungsraum). Glatte Bodenoberflächen oder auch
Teppichränder können Gefahrenstellen für Patien-
ten mit Gehhilfen, Rollstühlen und eingeschränk-
ter Bewegungsfähigkeit (z. B. Morbus Parkinson)
darstellen. Ziel ist es, dass die Überwindung, zum
Zahnarzt zu gehen, nicht so groß ist.
Des Weiteren sollte die Praxis Hilfsmittel parat ha-
ben, die den Umgang der Senioren mit dem Zahn-
arzt und umgekehrt erleichtern können (Abb. 2a
und b). Aufgrund der im Alter nachlassenden Seh-
funktion sollten Hinweisschilder, Anmeldungs- und
Anamnesebögen oder Aufklärungsformulare in
entsprechender Schriftgröße bereitgestellt werden.
Zusätzlich können universelle Lesebrillen zum Aus-
leihen bereitliegen. Eine seniorengerecht ausge-
rüstete Praxis kann auch durch das Vorrätighalten
von weiteren Hilfsmitteln wie einem konfektionier-
ten Hörgerät oder auch einer Kopfstütze für den
Rollstuhl profitieren.
Abschließend ist jedoch auch der Umgang mit den
Senioren wichtig. Ein guter Umgang bedeutet auch,
empathisch für die Situation der älteren Menschen
zu sein. Man sollte ihnen gegenüber offen sein,
auch wenn einem manchmal der Zeitdruck des
zahnärztlichen Alltags im Nacken sitzt. Eine persön-
liche Auseinandersetzung mit seinen eigenen Vor-
Abb. 2a und b: Hilfsmittel: Kopfstütze und Kopfkissen
Wissenschaft und Fortbildung | BZB November 18 | 61
behalten gegenüber dem Älterwerden hilft, ausrei-
chend Zeit in die Betreuung von älteren Menschen
zu investieren. Nur, wenn man unvoreingenommen
auf die Senioren zugeht, wird man ältere Menschen
in ihren unterschiedlichsten Facetten kennenlernen
und eine Beziehung aufbauen können. Für diesen
eigenen Lernprozess sollte man sich ausreichend
Zeit nehmen, denn Empathie kommt nicht schnell
von heute auf morgen. Wichtig ist, die älteren Pa-
tienten in alltäglichen Situationen zu beobachten,
diese Situationen von außen zu betrachten und
anschließend kritisch zu hinterfragen, ob man
ausreichend Interesse gezeigt hat. Das Erlebte des
Älteren nachzuvollziehen und mitzufühlen ist dabei
ausschlaggebend. Das Hören mit den Ohren eines
älteren Menschen, das Sehen mit den Augen eines
Seniors und das Fühlen mit dem Herz eines Greises
stehen dabei im Vordergrund.
Sich mit seinem Team zum Seniorenzahnmediziner fortbildenDie Approbationsordnung sieht derzeit nicht vor,
dass eine Ausbildung der Zahnmedizinstudenten
auf dem Gebiet der Seniorenzahnmedizin an der
Universität stattfindet. Unter dem Hinweis auf
den demografischen Wandel und die Reduktion
der Kariesaktivität bei Kindern sollten die Studen-
ten im Studium grundsätzlich auf die speziellen
Aspekte der älteren, sehr heterogenen Patienten-
gruppe vorbereitet werden [1,2,7,8]. Der neue
Lernzielkatalog Zahnmedizin hält hierzu etwas
bereit, wobei erst die Zukunft zeigen wird, wie die
Seniorenzahnmedizin an den Universitäten ver-
treten sein wird.
Einige Zahnärzte haben bereits gemerkt, dass
der Satz: „Ältere Patienten haben wir doch schon
immer behandelt!“ eine ziemlich eingeschränkte
Abb. 3: Station „Taktilität“, Übung mit Tremor-handschuhen
Abb. 4a und b: Altersanzüge
Abb. 5: Lesen mit einer Simulationsbrille Abb. 6: Transport aus dem Rollstuhl in den Behandlungsstuhl
| BZB November 18 | Wissenschaft und Fortbildung62
Sichtweise widerspiegelt. Zahnärzte sollten sich
ihre gerostomatologischen Fortbildungen daher
mit genauem Blick aussuchen. Unter bestimmten
Voraussetzungen kann auch der fortgebildete Spe-
zialist für Seniorenzahnmedizin erreicht werden.
Auf der letzten Jahrestagung der Deutschen Ge-
sellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ) im Mai
2018 in Magdeburg wurden nach der Prüfung acht
neue DGAZ-Spezialisten für Seniorenzahnmedizin
geehrt. In Deutschland sind auch einige Zahnärzte
mit ihren Teams als „Seniorengerechte Praxen“ von
der DGAZ zertifiziert.
Ein gutes Format für alle Mitglieder des Praxis-
teams ist die Teilnahme an einer Fortbildung mit
dem Gero-Parcours. Der mit dem Anliegen, das
Altern anfassbar beziehungsweise erlebbar zu ma-
chen, vorbereitete Parcours besitzt rund 19 Statio-
nen mit Themenkomplexen, die für die Betreuung
und den Umgang mit Senioren sensibilisieren und
je nach Ausbildungsstand der Anwender variiert
werden können. Es werden zahnmedizinische Fälle
mit ethischen Aspekten gelöst, die nonverbale
Kommunikation mit dem Patienten mittels Erken-
nung und Deutung von Emotionen und Demenz-
simulation eingeübt, Prophylaxekonzepte entwor-
fen, klinische Nahrungsergänzungen ausprobiert,
Transfertechniken vom Rollstuhl auf den zahnärzt-
lichen Behandlungsstuhl eingeübt und die Hilfs-
mittel aus der Pflege sowie die Ausrüstung für eine
mobile aufsuchende Betreuung getestet. Bei den
Stationen zu den Veränderungen der Sinneswahr-
nehmungen werden zahnmedizinische Aufgaben-
stellungen vorbereitet, die den Aufwand des Patien-
ten und seines betreuenden Umfelds verdeutlichen
sollen: Schwierigkeiten, wie das Heraussuchen der
Adresse einer Zahnarztpraxis oder die Verwendung
von Zahnzwischenraumbürstchen bei einem Hand-
tremor können mit einer Simulationsbrille für Au-
generkrankungen und einem Tremorhandschuh
verdeutlicht werden. Zudem können die Parcours-
teilnehmer durch einen Alterssimulationsanzug,
einen Hemiplegieanzug, Gelenkversteifungen,
Hörschutz und Simulationsbrillen körperliche Ein-
schränkungen erfahren (Abb. 3 bis 7).
Als besonders eindrücklich beschreiben die Teil-
nehmer des Gero-Parcours die simulierten Sinnes-
und Mobilitätseinschränkungen. Dies gipfelt laut
Aussagen einiger Zahnärzte darin, ihre Patienten
und deren Einschränkungen erstmalig verstanden
zu haben. Weitere Informationen zu dieser Fortbil-
dung können über eine Anfrage an ina.nitschke@
medizin.uni-leipzig.de angefordert werden.
FazitAbschließend kann festgestellt werden, dass die
Herausforderungen, die die Alterszahnmedizin mit
sich bringt, aus einem weitschweifenden Blickwin-
kel mit gerostomatologischem Wissen zum Wohle
unserer älteren Patienten angegangen werden soll-
ten. Die Teams, die sich in das Fachgebiet eingear-
beitet haben, haben sich oft sehr gestärkt und tre-
ten gemeinsam an, neben der zahnmedizinischen
Versorgung auch einen Beitrag zur Verbesserung
der Lebenswelt der Senioren zu leisten. Dies er-
höht sehr häufig auch die Zufriedenheit der Team-
mitglieder nachhaltig. Curricula zur Fortbildung
im Bereich der Seniorenzahnmedizin gestaltet
die Deutsche Gesellschaft für AlterszahnMedizin
(www.dgaz.org). Zwei Module mit jeweils vier Fort-
bildungstagen finden in Berlin und München in
Zusammenarbeit mit der Akademie der Praxis und
Wissenschaft (www.apw.de/curricula/curriculum-
alterszahnmedizin-pflege) statt.
Mit einem gerostomatologisch geschulten Praxis-
team macht es auch Freude, die Herausforderun-
gen als Team anzunehmen und die facettenreiche
Klientel der Senioren zufriedenzustellen. Die älteren
Patienten bedanken sich oft mit langjähriger Praxis-
treue für die altersgerechte zahnmedizinische Be-
treuung, die allgemein zahnärztlich tätige Kollegin-
nen und Kollegen leisten können.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Ina Nitschke MPH
Universitätsklinikum Leipzig AöRDepartment für Kopf- und Zahnmedizin
Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und WerkstoffkundeLiebigstraße 12, Haus 1
04103 [email protected]
Literatur bei den Verfassern Es liegen bei den Autoren keine Interessenkonflikte vor.
Abb. 7: Demenzsimulation
Wissenschaft und Fortbildung | BZB November 18 | 63