11.07.2014
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Paul L. Plener
Selbstverletzendes Verhalten
und Suizidalität in der Schule: Häufigkeiten und Interventionen
4S Auftakt10.07.2014
Überblick
• Definition und Epidemiologie
• Entstehungsbedingungen
• Projekte zum Umgang mit NSSV und Suizidalität in der Schule
• Das 4S Projekt
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Definition
• Bewusste, freiwillige und direkte Zerstörung von Körpergewebe,
• ohne suizidale Absicht, die
• sozial nicht akzeptiert ist
Lloyd-Richardson et al. (2007); Nitkowski & Petermann (2009)
DSM 5: Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten
• Innerhalb des letzten Jahres hat sich das Individuum an fünf oder mehr Tagen absichtlich selbst eine Schädigung an der Körperoberflächezugefügt, [...] mit der Erwartung, dass die Verletzung nur zu einem kleinen bis moderaten körperlichen Schaden führt (nämlich ohne suizidale Intention) [...]
APA, 2013
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Prävalenz- Studien im Schulsetting
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Prävalenz- Studien im Schulsetting
Systematische Reviews: Adoleszente
• Systematische Meta-Analyse Adoleszenter (Alter: 11-18) Erhebungen (2005-2011): n=53, 21 Länder
– NSSV: Lebenszeit:18% (SD: 7.3)
• Mittlere Prävalenz Raten: Kein Anstieg in den letzten 5 Jahren
• Systematischer Review, Meta-Analyse und Meta-Regression (119 Studien: 128 Prävalenzschätzungen, 18 Länder: 3 Altersgruppen: Adoleszente (10-17 Jahre), junge Erwachsene (18-24 Jahre), Erwachsene (≥ 25 Jahre)
• Daten von 1993-2012: N=231,553
• Lebenszeit: Adoleszente: 17.2% (8.0-26.3)
Muehlenkamp et al., 2012, Swannell et al., 2013
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Prävalenz NSSV: D
• Schulpopulationen: – Lebenszeit: 25.6%-35,1%
– 1-Jahr: 14.9%– repetitiv: 4%
– 6-Monate: 14.2%
• Kinder- u. jugendpsychiatr. Pat.
– Lebenszeit: 49.6%
Plener et al., 2009, Brunner et al., 2007, Plener et al., 2012; Brunner et al., 2014, Kaess et al., 2013
Prävalenz NSSV – D und USA
USA D
n 540 665
Alter 15.53 14.81
Ort Urban high school/
Midwest
Ulm
Alb Donau Kreis
USA D
NoSH 75.2 % 72.89 %
NSSI 16.1 % 20.63 %
SA 1.9 % 1.51 %
NSSI+SA 7.0 % 4.97 %
Ergebnisse:
Plener et al., 2009
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Deutschsprachige Länder: 6-M-Prävalenz
A D CH Total
Nie 202 (89) 572 (86) 413 (92.4) 1187 (88.6)
1-5x 20 (8.8) 71 (10.7) 22 (4.9) 113 (8.4)
monatlich 2 (0.9) 13 (2) 4 (0.9) 19 (1.4)
wöchentlichh 3 (1.3) 9 (1.4) 7 (1.6) 19 (1.4)
täglich 0 (0) 0 (0) 1 (0.2) 1 (0.1)
N=1339, mittleres Alter: 14.99 (0.79)Plener et al., 2013
6-Monatsprävalenz: 11% vs. 14% vs. 7.6% (p=.02)
SEYLE Studie
Land Lebenszeit-prävalenz
manchmal Repetitiv≥ 5x
F 38,5% 25,6% 13%
D 35,1% 22,9% 12,3%
Est 32,9% 23,7% 9,1%
Brunner et al., 2014
• Vergleichsstudie von NSSV
• 11 Länder, n=12.068 (mittleres Alter: ca. 15)
• Lebenszeitprävalenz: 27,6%
• 7,8% repetitives NSSV
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Junge Erwachsene: SEMPER
• SEMPER („Studie zur Empathie, Motivation für Psychiatrie und Emotionale Ressourcen“)
• n=714, w: 65%, Alter: 18-35, M: 23.1
• NSSV:
– 102 (14,3%)
– f: 79 (77.5%), m: 23 (22.5%) (p=.012)
– Häufigkeit:
• 1 mal: 31.4%
• 2-4 mal 41: 40.2%
• 5 mal oder mehr: 29: 28.4%
Allroggen et al., 2014
Altersaspekte
• Wie alt warst Du als Du begonnen hast Dich selbst zu verletzen ?
2,50% 3,13%
6,86%9,38%
25,00%
12,50%
3,13%
37,50%
0,00%
5,00%
10,00%
15,00%
20,00%
25,00%
30,00%
35,00%
40,00%
<10a 10a 11a 12a 13a 14a 15a 16a
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Verlauf NSSV
• Allgemeinbevölkerung: 4%-5.9%
Klonsky, 2011, Moran et al., 2012
N=1802, 15 -30 Jahre, 7 Wellen: 1992-2008
Suizidalität: Deutschland
• Heidelberger Schulstudie: (n= 5759, mittleres Alter: 14.9, SD:
0.73)
– Suizidgedanken: 14.4 %
– Suizidversuche: 7.9 %
– Suizidpläne: 6.5 %
• Ulmer Schulstudie (n=665, Alter: 14-17)
– Suizidversuche: 6,5 %
– Suizidgedanken: 35.9 %
Brunner et al., 2007, Plener et al., 2009
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Prävalenz: Suizid
• Suizidales Verhalten nimmt mit Beginn der Adoleszenzzu, hat einen ersten Gipfel b. 16 Jahren und nimmt imjungen Erwachsenenalter wieder ab
• In D: Suizid: zweithäufigste Todesursache beiJugendlichen
• Häufigste Suizidart: Erhängen
• Männliche Jugendliche verüben ca. 4 mal so häufig Suizid wie weibliche Jugendliche
Nock et al., 2008, Eaton 2007
Aber die Frage bleibt….
?WARUMMACHENDIE DAS
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Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens I
Nock et al. (2007)
„Autonom“: intrapersonell
+: APVErreichen positiv erlebter Zustände
-:Beenden aversiv erlebter Zustände
Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens I
Nock et al. (2007)
+:Erreichen positiv erlebter Zustände
-: ANVBeenden aversiv erlebter Zustände
„Autonom“: intrapersonell
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Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens II
Nock et al. (2007)
„Sozial“: interpersonell
+: SPVAuftretenswahrscheinlichkeit einesexternen Ereignisses erhöhen
-: Beeinflussung aversiver externer
Umstände
Die Verstärker selbstverletzenden Verhaltens II
Nock et al. (2007)
+: Auftretenswahrscheinlichkeit eines
externen Ereignisses erhöhen
-: SNVBeeinflussung aversiver externer Umstände
„Sozial“: interpersonell
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Schulen: sozialer Kontakt
Schule als Platz der Konfrontation
UND
Platz der Intervention
Ergebnisse: Jugendgruppen
• 70.1% haben das Gefühl in der Schule zu einer Gruppe zu gehören
• Gruppenbeschreibung:
– Sports/Fans: 19.8%
– “Gemeinsam Chillen”: 11.5%
– Gemeinsam Party machen: 7.3%
– Gleiche Musik/Style: 6.8%
– Videospiele, Nerds: 6.8%
– Gemeinsam Shoppen: 4.2%
– Drogen, Alkohol, Rauchen: 3.6%
– Best friends forever: 3.1%
Young et al., 2014
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Alternative Jugendliche
• Principle components (varimax) Analyse: – Alternative Identität: Goth, Emo, Punk
– Indie Identität: Hippies, Grunge, Indie, Reggae
– Urban Identität: Techno/Rave, Hip Hop, Drum &Base
– Nerds
– Sportler
• Alternative Jugendliche:– Signifikant mehr NSSV in Vorgeschichte (45.5% vs. 18.8%,
p<0.001)
– Signifikant mehr Suizidversuche (17.2% vs. 3.3 p<0.001)
– Signifikant mehr Suizidgedanken (51.9% vs. 23.9%; p<0.001)
Young et al., 2014
Jugendkultur & NSSV
• Alternative Identität:
– Korrelation mit NSSV (r=0.20-0.24),
– Frequenz der Selbstverletzung (r=0.32-0.35)
– Suizidgedanken (r=0.13-0.20)
– Suizidversuche (r=0.25-0.29).
• Sportler Identität :
– negativ korreliert mit NSSV
(r=-0.11-0.18)
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Einstellung von Lehrern
• high school Lehrer (N=155)
• Schüler mit SVV: 64.5%
• SVV: „entsetzlich“: 60%
• Haben genügend Wissen: 43%
• Sich sicher fühlen im Umgang mit SVV: 67%
• Negativere Einstellung zu SVV u. manipulative Funktion signifikant häufiger b. männlichen Lehrern
Heath et al., 2011
Beratungslehrer I
• N=213, 443 bzw. 470
• Kontakt zu Schülern mit SVV: 81%-99% (durchschn. 3 im letzten Jahr)
• Kontakt durch:
– andere Schüler (67%)
– Lehrer (65%)
– Betroffene selbst (51%)
– selbst Symptome bemerkt (48%)
– Schulschwester (26%)
– Eltern (18%)
Roberts-Dobie & Donatelle, 2007, Robinson et al., 2008, Duggan et al., 2011
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Beratungslehrer II
• Schwierigkeiten:
– Keine Ausbildung dafür (nur 6 % betrachten sich als „sehr gut“ ausgebildet)
– Schlechte Zusammenarbeit mit den anderen Lehrern
– Kein Schulstandard für Umgang (b. 63%)– Kennen Therapeuten/Ressourcen außerhalb der
Schule nicht– Haben keine Materialien
Roberts-Dobie & Donatelle, 2007
Beratungslehrer III
• Wie ging es weiter?– persönliche Beratung (91%)– Eltern kontaktiert (88%)– Überweisung an Psychiater (81%)– Überweisung an Hausarzt (50%)– zu Rektor (41%)– Sozialarbeiter oder Jugendamt (34%)– Schulsozialarbeiter (18%)– Schulschwester (18%)– Gruppenangebot (13%)
Roberts-Dobie & Donatelle, 2007
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Interventionen
Schüler
Lehrer
„Experte“
Prävention
Schüler
Lehrer
„Experte“
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Prävention: SEYLE
• N= 11.000 aus 11 europäischen Ländern
• Interventionen verglichen:
– Lehrerfortbildung
– Schüler „Awareness“ Programm
– Screening
– Vs. Minimalintervention (Poster und Visitenkarten)
Wasserman et al., 2010
SOSI („Signs of Self-Injury“)
• N=274, mittleres Alter: 16.07
• Min. eine/n Freund/in, die/ der sich selbst verletzt: 46,24%
• „ACT“: Acknowledge, Care, Tell
• Vermittlung von Wissen über SSV (Warnzeichen,..), Skills zum Umgang
• Kurze Einführung, DVD, Klassendiskussion (gesamt: 50 min.).
• Ergebnisse:
– Signifikante Zunahme an Wissen
– Weniger Ablehnung von Klassenkameraden mit SVV
– offener für Unterstützung anderer
– Keine signifikante Zunahme an „Hilfe suchen“
– Kein iatrogener Effekt
Muehlenkamp et al., 2009
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Interventionen
Schüler
Lehrer
„Experte“
Schulprotokoll
Schüler
Lehrer
„Experte“
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Schulprotokoll
Lieberman et al., 2009
Schüler
Lehrer
„Experte“
Eltern
externeHilfen
Krisenteam
Schulprotokoll: Ablauf
Erstkontakt
Kontakt mit „Experte“
KJPPRisikoabschätzung
Elternkontakt
Lieberman et al., 2009
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Umgang mit suizidalen Krisen
• Wer fragt macht nichts falsch
– Weder durch Fragebogenuntersuchungen (Gould et al., 2005), noch durch persönliche Ansprache (Crawford et al., 2011) wird Schaden angerichtet
– Fragen wird von Betroffenen eher als entlastend beschrieben (Gould et al., 2005)
4S
Ein Projekt der
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Das 4 S Programm: Ziele
• schnelle Identifikation und Einleitung von Hilfen für Schülern mit NSSV und Suizidalität
• Stärkung der Kompetenz des Schulpersonals im Umgang mit Schülern mit NSSV und Suizidalität
• Schaffung standardisierter Vorgehensweisen in teilnehmenden Schulen Baden-Württembergs („Schulprotokoll“) im Umgang mit NSSV und Suizidalität
• Verbreitung evidenzbasierten Wissens bei Lehrpersonal und Eltern
Multimodaler Ansatz
Train the trainers
Starke Schule
Wissen verbreiten
Hilfe bekommen
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• Für Multiplikatoren und Gatekeeper
• zweitägiger Workshop
• Informationen zu NSSV und Suizidalität,
• Warnzeichen und Risikoabschätzung
• Therapieverfahren: Therapeutic Assessment
• mögliche Schulprotokolle
• Rechtliche Aspekte
• 09.-10.10.2014: Ulm
Modul 1:Train thetrainers
• Eintägige Veranstaltung
• Alle Lehrer einer Schule
• individuelles Schulprotokoll erarbeitet
• vorab Klärung der vorhandenen Ressourcen und Besonderheiten: regional
• Verknüpfung mit lokalen Helfern
• standardisierte Informations-Materialien für den Lehrkörper individualisiert für die regionalen Besonderheiten
Modul 2:Starke Schule
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• Information: homepage: Informationen zu NSSV und Suizidalität und den Umgang damit im schulischen Bereich: frei verfügbar, Download möglich
• Information: Eltern: kostenfreie Elternabende zur Thematik NSSV und Suizidalität
• spezifische Telefonsprechzeiten und e-mail Beratungsangebot:
• Ziel: schnelle Klärung und Anbindung an regionale Hilfsangebote.
Modul 3:Wissen
verbreiten
Modul 4:Hilfe
bekommen
http://projekt-4s.de
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Beendigung von NSSV: wer war am hilfreichsten ?
• NGO
• Freunde
• Krankenschwester
• Lehrer
• Hausarzt
• Sozialarbeiter
• Psychiatrischer Kontakt
• Polizei
• Schulkrankenschwester
• Gefängnisse
• VerwandteMental Health Foundation report (2004)
10. Kongress der ISSS
27.-28. Juni 2015
Vor-Kongress: 26. Juni 2015
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
4S Team:Joana StraubRebecca C. GroschwitzLara MunzPaul L. PlenerJörg M. Fegert
Kooperationen:Michael Kaess, HeidelbergNancy Heath, McGill UniversityJanis Whitlock, Cornell University