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Sehen Denken

Date post: 29-Mar-2016
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Fotografie und Philosophie Buch
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SEHEN soweit das DENKEN reicht Eine Begegnung von Fotografie und Philosophie Yves Bossart (Hrsg.)
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Fotografien: aus Licht entstanden, geben sie ihr Licht demjenigen der Welt zurück.Martin Seel

Gibt es überhaupt etwas, das nicht abgebildet werden kann? Ja: die Unendlichkeit. Sie ist die selber bildlose Bilderstürmerin. – Aber: Gibt es die Unendlichkeit?

Hans Saner

„Alles fliesst“ meinte Heraklit … Wenn man jedoch selbst Fluss ist, sehnt man sich nach dem Meer, in dessen Überfülle jene ursprüngliche Geborgenheit gesucht wird, die wir mit der Vorstellung unserer Herkunft verbinden.

Annemarie Pieper

SEHEN soweit das DENKEN reichtEine Begegnung von Fotografie und Philosophie

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Yves Bossart (Hrsg.)

Yves Bossart, Herausgeber Markward Bossart, Fotografie

Michaela Burri, Gestaltung

SEHEN soweit das DENKEN reichtEine Begegnung von Fotografie und Philosophie

Für Ruth

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Vorwort

Die Philosophie beschäftigt sich mit wichtigen Dingen, die uns allen vertraut sind. Ob es um das gute Leben, den Menschen, die Vernunft, um Bewusstsein, Wahrheit, Er-kenntnis, Macht, Zeit, Freiheit, Schönheit, Gott oder um die Liebe geht: jeder weiss, wovon die Rede ist, alle können mitreden. Im Unterschied zu anderen Wissenschaften präsentiert uns die Philosophie nichts Neu-es, sie macht keine Entdeckungen. Die Naturwissenschaften entdecken schwarze Löcher, bizarre Lebewesen, neue kleinste Teilchen und bisher unbekannte Gesetzmässigkeiten. Die Philosophie dagegen fügt dem Alten nichts Neues hinzu. Sie zeigt uns das bereits Bekannte und Vertraute – jedoch auf eine neue, ungeahnte Weise. Sie präsentiert fremde Sichtweisen, ungewohnte Perspektiven und gewagte Standpunkte. Dadurch taucht sie die Welt in ein neues Licht. Alles sieht anders aus, obwohl sich nichts verändert hat. Wir lesen ein philosophisches Buch und schon werden die materiellen Dinge um uns herum zu blossen Erscheinungen, unser Bewusstsein zu einem unverstandenen Rätsel, die Vernunft zum Sklaven unserer Leidenschaften, Freiheit zu einer Illusion oder Gott zum Opium fürs Volk. Lesen wir ein weiteres Buch, so wird uns klar, dass Moral etwas mit Unparteilichkeit zu tun hat, dass wir in der Pflicht stehen, armen Menschen zu hel-fen, dass wir eine grosse Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen tragen oder dass Tiere schützenswerte Interessen haben. Eine philosophische Einsicht ist wie eine zweite Geburt: Man sieht die Welt und sich selbst mit anderen Augen. Und wer mutig ist, fängt an, anders zu leben.Was aber verbindet die Philosophie mit Kunst – und insbesondere mit der Fotografie? Die Fotografie hat mit der Philosophie zumindest eines gemeinsam: Sie zeigt uns selten Dinge, die wir noch nicht kennen. Diese vertrauten Dinge präsentiert sie uns jedoch – wie die Philosophie – auf eine Weise, die neu ist, die uns anspricht, verblüfft, provoziert oder gar fesselt. Künstlerische Fotografie präsentiert uns keine Dinge, sondern Sicht-weisen von Dingen: Ein Aktportrait zeigt nicht einfach einen nackten Menschen, son-dern macht anschaulich, was Verführung, Leidenschaft, Verlangen und Liebe bedeutet. Es lässt uns spüren, wie ein Körper aussieht, wenn wir ihm verfallen sind. Fotografie ist eine Schule des Sehens und des Denkens. Sie sensibilisiert unser Auge und stimuliert unseren Geist. Sie zeigt uns überraschende Perspektiven auf vertraute

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Dinge und verzaubert das Alltägliche. Für das fotografische Auge wird die Welt zum Abbild der Fotografie, nicht umgekehrt. Wie eine Karikatur unseren Blick auf den Ka-rikierten verändert, so verändert die Fotografie unseren Blick auf die Welt. Und auf uns selbst. Denn die Fotografie ist eine Kunst des Weglassens. Weil aber eine Fotografie immer nur einen Ausschnitt zeigt, eröffnet sie der Phantasie einen Spielraum und wird zur Projektionsfläche des Betrachters. In Fotografien sehen wir immer auch uns selbst. Ähnlich wie die Philosophie vermag auch die Fotografie das Vertraute rätselhaft wer-den zu lassen. Phänomene, denen wir täglich begegnen – wie Zeit, Raum, Bewusstsein, Erinnerung, Wahrnehmung, Phantasie, Wirklichkeit, Bedeutung, Existenz, Freiheit, Schönheit und Glück – werden durch die Fotografie auffällig und fragwürdig. Foto-grafie ist eine Sichtbarmachung philosophischer Gedanken und eine sinnliche Anstif-tung zur philosophischen Reflexion. Kurz: Sie lässt uns staunen. Und mit dem Staunen beginnt die Philosophie. Das wusste bereits Platon.Allein durch die Art der Darstellung – durch die Wahl der Perspektive, des Aus-schnitts, des Lichteinfalls, des Kontrastes, der Schärfe – entlockt der Fotograf alltäg-lichen Gegenständen eine bis dahin verborgen gebliebene Bedeutsamkeit. Er verleiht den Dingen eine Stimme, lässt sie zu Wort kommen, fragt nach ihrer Geschichte und öffnet das Tor zu ihrer Welt. Die Fotografie schenkt dem vermeintlich belanglosen Gegenstand eine symbolische Kraft und macht ihn zum Sinnbild eines umfassende-ren Ganzen, einer philosophischen Idee, einer Haltung, einer Lebenssituation, eines Schicksals. Sie lässt uns Dinge sehen, von denen wir dachten, sie seien unsichtbar: Stil-le, Wärme, Leichtigkeit, Langeweile, Einsamkeit, Geborgenheit oder Glück. Mithilfe der Fotografie können wir tatsächlich – wie der Titel des Buches sagt – sehen soweit das Denken reicht. Was die Philosophie denkt, lässt die Fotografie uns erleben. Ohne das Erleben wären unsere philosophischen Begriffe und Gedanken abstrakt, ja tot. Umgekehrt wären un-sere Erlebnisse ohne Begriffe diffus und unfassbar. Wir brauchen eine differenzierte Sprache, um differenziert empfinden zu können: Nachdem uns ein Weinkenner auf die unterschiedlichen Geschmacksnuancen eines Weines aufmerksam gemacht hat, schmeckt der Wein plötzlich anders, reichhaltiger und intensiver. Bilder sind in dieser Hinsicht wie Weine. Sie lieben es, ihre Wahrheit verborgen zu halten. Sie wollen, dass wir uns auf sie einlassen – und zwingen uns damit, bis an die Grenzen der Sprache vorzustossen.

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Bilder sprechen bekanntlich nicht, aber manche von ihnen enthalten Gedanken. Jeder Versuch, den Gehalt eines Bildes in Sprache zu fassen, ist allerdings zum Scheitern ver-urteilt, denn: Was ein Bild ausdrückt, kann unmöglich gesagt werden. Jede Analyse, jede Interpretation wirkt am Ende platt. Ihr entgeht, was dem Bild seinen unbeschreib-lichen Reiz und seine Kraft verleiht. Ein ausdrucksstarkes Bild zu beschreiben, ist so verfehlt, wie eine Metapher zu paraphrasieren. Ein Text sollte nicht über ein Bild reden, sondern mit ihm. Er sollte das Bild nicht beschreiben, sondern es zum Sprechen bringen. Wenn Texte mit Bildern ins Gespräch kommen, dann verändern sich beide, Bild und Text. Die Fotografien dieses Bandes wir-ken anders, nachdem man die Texte gelesen hat. Und auch die Texte verändern sich, wenn man die Bilder kennt. Und schliesslich sollte sich die lesende Betrachterin be-wusst machen, dass es sich nicht um einen Dialog zwischen zwei Gesprächspartnern, Text und Bild, sondern um eine Dreierkonstellation handelt: Sie selbst ist schliesslich auch an dem Gespräch beteiligt. Zu hoffen bleibt, dass auch die Leserin sich durch das Gespräch mit den Texten und Bildern verändert – sodass sich die Welt vor ihren Augen zu verwandeln beginnt.

Yves Bossart

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Wasserscheide

Die ältesten Denker unserer abendländischen Kultur waren die so genannten Vorsok-ratiker. Wie die modernen Evolutionstheoretiker interessierten sie sich für die Entste-hung der Welt und betrachteten die vier Elemente als Bausteine, aus denen alle Dinge bestehen. Thales von Milet vertrat die These, dass alles aus dem Wasser hervorgegangen sei. Das Wasser war für ihn gleichsam die Ursuppe, deren feste Partikel sich nach dem Zufallsprinzip und nicht infolge eines Urknalls in einem langen Prozess zu Körpern verdichteten, während gleichzeitig die reine Flüssigkeit ausgeschieden wurde und Flüs-se, Seen, Meere bildete. An den Rändern zwischen dunkler, undurchdringlicher Materie und durchsichtiger Wasseroberfläche entstanden Pufferzonen, die das Entstehen lebendiger Wesen mit unterschiedlichen Anteilen an Festem und Flüssigem begünstigten. Die Blutströme in den Organismen trugen zur Entwicklung geistiger Fähigkeiten bei, die ihrerseits Be-wusstseinsströme in Gang setzten, in deren Verlauf eine weitere Scheidung erfolgte: die zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Aussenwelt und Innenwelt. Der Mensch entdeckt bei der Betrachtung des Wassers die grosse Nähe zwischen sich und diesem Element, in dem er sein eigenes Verlangen nach Klarheit widergespiegelt sieht. Er möchte die Untiefen des Weltalls durchschauen und alle Hindernisse, die sei-nen Vorwärtsdrang bremsen, überwinden. Im Fluss des Lebens sucht er seine Form, in-dem er sich an seinen Widersprüchen reibt und an ihnen wächst. „Alles fliesst“ meinte Heraklit, ein anderer Vorsokratiker, deshalb steige man nie zweimal in denselben Fluss. Wenn man jedoch selbst Fluss ist, sehnt man sich nach dem Meer, in dessen Überfül-le jene ursprüngliche Geborgenheit gesucht wird, die wir mit der Vorstellung unserer Herkunft verbinden.

Annemarie Pieper

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Waschkiri

Schwarzweiss. Eine lebende Fläche mit knochiger Ausstülpung. Glänzend, wie gerade gewaschen. Eine Kuh, die zum Lachen aus dem Bild geht. Die Karikatur einer Käsepro-duzentin. Das Schwarz dahinter war mal blau, bis es durch den Zivilisationsfilter ging. Stellt sich in die Aussicht. So ist das immer in der Schweiz, da steht die Zivilisation, stehen die Produzenten mit ihren Geräuschen und ihrer perfekten Oberfläche vor der Aussicht. Tun so, als gehörten sie dahin und geben sich Mühe, jeden Dahergelaufenen spüren zu lassen, dass er nicht dahin gehört. Sehnsucht, auch Fell und Geräusch zu sein. Ich muss es wissen, ich bin kurzsichtig. Nicht der erste Verirrte, der sich von schweizer Kühen durchfüttern lässt. Die Sonne wärmt meinen Augen das Fell. Was sie berühren, glitzert. Sichtflaum, kleine Härchen, wie auf einem Gipfelkamm, stechen aus der ge-färbten Fläche hervor, verwandeln sie in ein Bild. Ich könnte stundenlang zuschauen. Geht die Sonne auf oder unter, dort wohin die Kuh lacht? Woher weiss ich, dass es eine Kuh ist und kein Bulle? Ich Städter kenne diese Art Fell ohnehin kaum von lebendigen Tieren, sondern als Bettvorleger. Die Adern wirken durchblutet, unten links, das könn-te ein Euter sein. Der Knochenhöcker, so solitär positioniert im Bild, eine Ausstülpung, hinter der Kinobesucher sonstwas vermuten würden. Ein schwarzer Fleck auf dem Fell – nennt man das „Zeichnung“? – wiederholt das Schwarz des Hintergrundes, wirkt wie ein aufgerissenes Loch im unschuldigen Weiss, dann wie eine Rücknahme der Plastizi-tät in die farblose Fläche. Licht und Schatten, Schwarz Weiss, all dies. Heilige Kuh. Und was wäre da noch alles zu interpretieren. Also zunächst eine Beschreibung dessen, was man sieht. Was sehe ich denn, ohne Worte, die immer schon zuviel sagen? Eine Fotografie, die einen Ausschnitt von etwas wählt, das ich nicht eindeutig identifizie-ren kann. Sie betont dadurch Aspekte, die sonst nicht auffallen würden, macht sie erst sichtbar, verrätselt andere. Sie erlaubt keine Gesamtschau, ist zu nah dran. Und zugleich noch nicht im mutmasslichen Berührungsradius dessen, was man sieht. Merkwürdig, wie das Auge Abstände auf flachen Fotografien berechnet, als wäre es selbst im Bild. Im Zentrum des Bildes, links unter dem schwarzen Fellfleck, eine Linie, die eher wie eine Narbe aussieht, aber auch eine Ader sein könnte. Eine Adernarbe. Das berühmte verstörende Moment, punctum, das ins Auge sticht, dem Blick zunächst entgeht und keine studierbare Bedeutung hat. Krampfadern, Trombose. Meine Narben.

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Die Fotografie wirkt konzentriert und muss sich doch dem, was sie einfängt, überlassen. Die Kuh steht entspannt im Bild, obschon sie sich, rechts ausserhalb des Bildes, sicher-lich ausmärt vor Lachen. Und was wird sie schon links jenseits des Bildrandes tun: Mit dem Schwanz wedeln? Einen Fladen lassen? Sicherlich stände der Rumpf dann nicht so lässig da. Kuhfragment, frei nach Polyklet. Die Biographie einer Kuh, in Anlehnung an Arno Schmidts Halbtrauer: Zeichnungen auf dem Fell, Adernarben, leichte Falten am Hals, Fahne im Wind, das Porträt der Versonnenheit, auf die Kuh gebracht, griechische Mythen und moderne Technik. Fotograf und Kuh, das erinnert von Weitem an die Anekdote von Thales und der la-chenden Thrakerin. Denn die Fotografie ist auch eine Aufzeichnung dessen, was nicht im Bild ist. Den fotografischen Akt kennzeichnet mehr als das, was sich mit Abzügen auf Fotopapier reproduzieren lässt. Der Betrachter dieser Fotografie kann nicht umhin, sich den Menschen vorzustellen, der diese Fotografie hergestellt hat. Wie er dort, leicht gebückt, steht, hinter der Fotokamera, in den Lichtschacht seiner Objektive versenkt, im Freien, auf einer Wiese, die Beine zwischen dem Stativ postiert wie ein Jäger, die Kuh im Visier, scharf stellend, bedacht den Ausschnitt wählend, den Abstand geniessend, in den Brunnen gestürzt, um besser den Himmel zu sehen: Hört er die Kuh? Geniesst er ihre Regungslosigkeit? Ganz objektivierender Erkenntnisapparat? Versteht er nicht, wie es ist, Kuh zu sein? Freut er sich, dass er unter Kühen lebt, anstatt in einer Welt aus Carrara-Marmor? Was macht der Mensch mit der Welt, indem er fotografiert? Die sieben Mägen der Fotografie. Eine Kuh verdaut ihr Lachen zu Käse.

Ludger Schwarte

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Unsichtbare Schatten

Das Bild stellt die gewohnte Akzentuierung des Sehens auf den Kopf: Normalerweise gilt unsere Aufmerksamkeit den Dingen; dass sie auch Schatten werfen, wird als neben-sächlich hingenommen. Hier ist ein Schatten das eigentliche Thema. Das schattenwer-fende Geländer ragt noch in den Bildraum, aber im Zentrum steht sein Schatten, wäh-rend das, worauf er fällt, nur verschwommen als ein vorüberfahrendes Auto erkennbar ist. Das Bild erhascht den Augenblick, in dem der Schatten aufs Auto fällt, was das Flüchtige, das ihm ohnehin eigen ist, noch zusätzlich betont. Ein Schatten, der nur kurz aufblitzt, lässt fragen, ob es auch dann einen Schatten gibt, wenn nichts da ist, worauf er fallen kann. Man möchte meinen, genau das will das Bild uns zeigen.Tritt etwas auch nur kurzzeitig in den Bereich eines Schattens, wird während dieser Zeit ein Schatten sichtbar. Was jeweils als Schatten erscheint, ist nur die Schnittfläche eines Schattens, der als Ganzes unsichtbar bleibt, dabei doch einen begrenzten Raum einnimmt, dessen Grenzen immer dann partiell sichtbar werden, wenn ein Körper ihn durchquert. Wir wollen diesen Schatten „potentiell“ nennen, weil aus ihm das entsteht, was wir als Schatten anzusehen gewohnt sind, und ohne den kein Schatten sichtbar werden kann. Der potentielle Schatten ist kein Ding, kein Körper, er ist nicht wahr-nehmbar, und hat doch eine Gestalt, die aber nur nacheinander sichtbar werden kann und nie simultan als Ganzes erscheint. Ihn als Ganzes vorzustellen, gelingt nur der Phantasie, wobei dieses Phantasiegebilde das Merkwürdige hat, wirklich zu sein, sofern wir etwas, das Wirkungen hat, als wirklich bezeichnen dürfen. Gerät ein Ding in den Bereich eines potentiellen Schattens und ist kleiner als dessen Schnittflächen, so sagen wir, es sei „ganz“ im Schatten. Dann zeigt sich nichts von sei-nem Umriss, es wirkt lediglich dunkler als zuvor und verliert an Plastizität. Immerhin sehe ich das Ding im Schatten, wenn es kleiner ist als dieser. Ist es grösser, tritt es gegen-über dem Schatten, der auf es fällt, zurück. Was es ist, ist gleichgültig geworden, sofern es nur als Projektionsfläche dient.

Rudolf Ruzicka

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Die Gleich-Gültigkeit der Dinge

Manche Fotografien erwecken den Eindruck, als wäre der Auslöser losgegangen, ohne dass der Fotograf es wollte. Auf solchen Bildern gibt es nichts zu sehen, obwohl manches abgebildet ist. Der Betrachter ahnt noch nicht einmal, was der Fotograf hier festhalten wollte. – Es gibt kein Motiv. Aber genau darin besteht die Kunst dieser Fotografien. Was wir vor uns haben, ist ein Bild, das nichts ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Ein Bild, auf dem nichts wichtiger ist als anderes. Ein Bild ohne Hierarchien. Die abso-lute Gleichberechtigung der Dinge. Die Emanzipation des Banalen. Ein Blick, der nicht wertet, sondern die Dinge hinnimmt, wie sie sind. Ein teilnahmsloser, un-menschlicher Blick. Der Tod des Motivs. Eine Welt ohne Werte. – Man könnte sagen: Motivlose Bilder zeigen, wie die Welt aussieht, wenn wir sie nicht ansehen. Oder mit Baudrillard: „Die Fotografie berichtet vom Zustand der Welt in unserer Abwesenheit“.Wittgenstein schreibt: „Der menschliche Blick hat es an sich, dass er die Dinge kostbar machen kann, allerdings werden sie dann auch teurer“. Wenn das stimmt, dann sind die Dinge hier umsonst. So sieht die Welt für jemanden aus, dem sie nichts bedeutet. Die Welt, gesehen mit einem indifferenten Blick, der nichts versteht und dem nichts wichtig ist. Es ist überaus schwierig, einen fotografischen Ausschnitt zu wählen, der nichts ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt: keinen Gegenstand, keine Szene, keine Geschich-te, kein Detail, noch nicht einmal eine Stimmung. Eine minimale Änderung und schon drängt sich etwas ins Bild und übernimmt das Zepter – die Balance wankt und die Herrschaftslosigkeit zerfällt. Auf gewöhnlichen Fotografien gruppieren sich die Dinge um visuelle Gravitationszentren, wobei abgebildete Menschen wohl die grösste Anzie-hungskraft auf unser Auge ausüben. Beim Anblick motivloser Bilder dagegen verliert sich unser Blick, nichts lenkt ihn, nichts zieht ihn an, er ist vollkommen schwerelos. Hier ringen die Gegenstände nicht um unsere Aufmerksamkeit. Hier will kein Ding wichtiger sein als die anderen. Diese Bilder wirken ausgewogen, aber nicht weil sich die wichtigen Dinge die Waage halten, sondern weil es hier nichts gibt, das Gewicht hat. Was diese Fotografien festhalten, ist die Gleich-Gültigkeit der Dinge.Das Bild lässt uns im Stich. Selbst in der Spiegelung der Statue auf dem Autodach ist nicht zu erkennen, wer hier geehrt wird oder wo wir uns befinden. Der aus Zement

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gegossene Wegweiser am Strassenrand zeigt die Richtung an, aber nicht für uns. Wir stehen hinter den Kulissen der Welt, sehen zwar noch Zeichen, aber nicht mehr, was sie bedeuten. Auch das parkierte Auto im Vordergrund, das knapp einen Drittel der Bildfläche beansprucht, lässt uns in Dunkeln: es verrät weder Marke, Typ, Jahrgang noch Kennzeichen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite sehen wir bei näherer Betrachtung einen weissen Rahmen, gemalt an eine steinerne Hauswand. In dem Rah-men: Nichts. Eine Metapher für das ganze Bild: Eine Präsentation von Leere. Alle ge-wünschten Informationen bekämen wir wohl in dem Touristenbüro rechts im Bild, das allerdings nicht den Eindruck macht, als habe es geöffnet. In der Welt, die uns hier gezeigt wird, sind wir allein – ganz allein.Gelungene motivlose Fotografien sind weder stimmungsvoll, noch wecken sie Gefüh-le. Sie sind rein geistige Übungen. Betrachten wir diese Bilder länger, schweift unser Denken ab – kein Wunder, schliesslich zeigen die Bilder, was wir sehen, wenn wir in Gedanken versunken sind und mit leerem Blick vor uns hinstarren. Sie zeigen, was wir sehen, wenn wir vom Sehen abgelenkt sind. Sie halten fest, was wir sehen, wenn wir nicht sehen, sondern denken. Wendet man sich dem Motivlosen zu, so verschwindet es – wie die Unschärfe der Ge-genstände an den Rändern unseres Gesichtsfeldes. Wie Eurydike, wenn sich Orpheus nach ihr umdreht.

Yves Bossart

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Ein Zufallsbild zuerst. Doch dann meint man, auf ein Triptychon zu blicken. Der Stuhl im Mittelteil. Links und rechts: Mantel und Stock. Das Licht bricht fahl durch die Vorhänge. Wir sehen die Welt durch einen blinden Spiegel: Der Spazierstock wird zur Krücke, der Mantel zum Leichenhemd. Auf dem Stuhl findet man die letzte Ruhe. Das Bild zeigt die Welt Grau in Grau. Jede Weisheit fehlt. Niemand ist da. Und doch wissen wir, dass jemand alt geworden ist.

Philipp Hübl

Bei Dämmerung verlieren die Dinge ihre Körperlichkeit und Tiefe. Sie werden zu Sil-houetten. Unser Auge sieht zweidimensional und die Welt wird zum Bild.Wer bei Tag fotografiert, raubt den Dingen eine Dimension, indem er Körper und Räu-me auf eine Fläche bannt. Der Nachtfotograf dagegen wartet, bis die Welt selbst zur Fläche wird, damit er ihr nichts wegnehmen muss und sie so zeigen kann, wie sie ist.Auf Nachfotografien ist kaum etwas zu sehen. Und doch ist es die einzige Art, den Dingen nichts wegzunehmen. Auch nicht die Zeit. Hier muss das Auge des Betrachters verweilen, ebenso wie der Fotograf verweilte. Denn feine Unterschiede erfordern Geduld.

Yves Bossart

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Autorenverzeichnis

Herausgeber und AutorYves Bossart studierte Philosophie an der Universität Luzern, promoviert an der Humboldt-

Universität zu Berlin zum Thema „Ästhetik nach Wittgenstein“ und lebt in Zürich.Fotograf Markward Bossart, geboren und aufgewachsen in Schötz, lebt in Luzern. Er ist Autodidakt,

arbeitet mit allen Negativ-Formaten und neuerdings digital. Für den Band „Sehen soweit das Denken reicht“ hat er aus seiner knapp 40-jährigen Schaffensperiode eine enge Auswahl zu-sammengestellt.

GestaltungMichaela Burri arbeitet als Architektin in Aarau und lebt in Zürich.

Autorinnen und AutorenRamona Benz studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie an den Universi-

täten Luzern und Basel und bildet sich zurzeit im Bereich Regie weiter.Jonas Briner studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Luzern und arbeitet als

Geschichtslehrer an der Kantonsschule Zug.Tobias Brücker studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie und arbeitet am

Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung der Universität Luzern.Dr. Orlando Budelacci ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des Nationalen Forschungs-

schwerpunktes „eikones“: Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder.Giuseppe Corbino studierte Philosophie und Theologie an der Universität Luzern und arbeitet

zurzeit als Religionslehrer. Alexandra Elsen studiert Philosophie an der Universität zu Köln.Esther Furger studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie an den Universi-

täten Luzern und Basel und arbeitet als Texterin und Projektmanagerin bei einer Agentur für digitale Kommunikation in Basel und Frankfurt am Main.

Alex Grob studiert Philosophie an der Universität Zürich.Prof. Dr. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität

Stuttgart. Publikationen: Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie, Ham-burg 2012.

Dr. Dominic Kaegi ist Studiengangmanager des Integrierten Studiengangs Kulturwissenschaf-ten und Geschäftsführer des Kulturwissenschaftlichen Instituts der Universität Luzern. Pub-likationen: Philosophie der Lust, Zürich 2009.

David Kasparek ist Architekt und arbeitet als Redakteur der Zeitschrift „der architekt“, als frei-beruflicher Gestalter und als Architekturkritiker in Berlin.

Stephanie Kasparek ist Architektin, Philosophiestudentin und ehemalige Herausgeberin der Architekturzeitschrift „Zeilenbau“, sie lebt in Berlin.

Prof. Dr. Geert Keil ist Professor für Philosophische Anthropologie an der Humboldt-Univer-sität zu Berlin. Publikationen: Handeln und Verursachen, Frankfurt a. M. 2000; Willens-freiheit, Berlin 2007.

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Dr. Matthias Kiesselbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen: Ethische Wirklichkeit. Objektivität und Vernünftigkeit der Ethik aus pragmatistischer Perspektive, Berlin 2012.

Stephan Padel promoriert in Philosophie an der RWTH Aachen.Rosmarie Paradise-Dahinden ist diplomierte Musikerin, studierte Philosophie an der Univer-

sität Luzern und schloss 2010 mit dem Lizentiat ab. Seither arbeitet sie freiberuflich als Lek-torin.

Dr. Frank Pauly studierte Philosophie, Germanistik und Anglistik in Freiburg in Brsg., promo-vierte 2010 und arbeitet zurzeit als freier Autor und wissenschaftlicher Berater am Theater Freiburg.

Prof. em. Annemarie Pieper war Professorin für Philosophie an der Universität Basel und ar-beitet als freischaffende Philosophin und Autorin. Publikationen: Einführung in die Ethik, Tübingen 1991; Selber denken. Anstiftung zum Philosophieren, Leipzig 1997; Die Klug-scheisser GmbH, Basel 2006.

Allan Porter ist Autor, Herausgeber und Fotograf, lebt in Luzern und war von 1965-1981 Her-ausgeber der Zeitschrift „Camera“.

Michael Poznic promoviert in Philosophie an der RWTH Aachen.Prof. em. Enno Rudolph war Professor für Philosophie und Leiter des Kulturwissenschaftlichen

Instituts an der Universität Luzern. Publikationen: Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilo-sophie zwischen Metaphysik und Historismus, Tübingen 2003; Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems, Stuttgart 1991.

Dr. Rudolf Ruzicka lebt als freischaffender Philosoph in Basel.Dr. Dr. h.c. Hans Saner studierte Philosophie, Psychologie, Germanistik und Romanistik. Er war

Privat-Assistent von Karl Jaspers und Dozent für Kulturphilosophie an der Musik-Akademie Basel. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu philosophiehistorischen, kulturkritischen, po-litischen und ästhetischen Fragen und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.

Friederike Schmitz promoviert in Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und lebt in Berlin.

Christian Schnellmann studierte Philosophie an der Universität Bern, arbeitet für das Kunst-museum Bern und lebt in Luzern.

Jochen Schuff promoviert in Philosophie an der Goethe Universität Frankfurt am Main.Prof. Dr. Ludger Schwarte ist Professor für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf. Pu-

blikationen: Regeln der Intuition. Kunstphilosophie nach Adorno, Heidegger und Wittgen-stein, München 2000; Philosophie der Architektur, München 2009; Vom Urteilen, Berlin 2012.

Prof. Dr. Martin Seel ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt theoretische Philosophie an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Werke: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt 2003; 111 Tugenden, 111 Laster. Eine Philosophische Revue, Frankfurt 2011.

Till Spieker studierte Philosophie an der RWTH Aachen und nun an der Universität Ham-burg.

Dr. Hartmut Westermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt. Publikationen: Die Intention des Autors und die Zwecke der Interpreten. Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen, Berlin 2002.

Fotografien: aus Licht entstanden, geben sie ihr Licht demjenigen der Welt zurück.Martin Seel

Gibt es überhaupt etwas, das nicht abgebildet werden kann? Ja: die Unendlichkeit. Sie ist die selber bildlose Bilderstürmerin. – Aber: Gibt es die Unendlichkeit?

Hans Saner

„Alles fliesst“ meinte Heraklit … Wenn man jedoch selbst Fluss ist, sehnt man sich nach dem Meer, in dessen Überfülle jene ursprüngliche Geborgenheit gesucht wird, die wir mit der Vorstellung unserer Herkunft verbinden.

Annemarie Pieper

SEHEN soweit das DENKEN reichtEine Begegnung von Fotografie und Philosophie

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Yves Bossart (Hrsg.)


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