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Seance des Grauens

Date post: 04-Jan-2017
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Henry Ghost

Seance des Grauens

Occu Band Nr. 03

Version 1.0 November 2010

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Das Parapsychologic Department der Interpol

Das Parapsychologic Department der Interpol

Das »Parapsychologic Department« ist eine von der Interpol gegründete Spezialabteilung zur Klärung und Erforschung von Kriminalfällen, die in das Gebiet der Parapsychologie reichen. Rätselhafte und sensitive Menschen, überirdische Zeichen, okkulte Phänomene und transzendentale Erscheinungen zählen zur Alltagsarbeit dieses speziell ausgebildeten Parapsychologen. Hauptsitz des »Parapsychologic Department« ist Paris.

Joe Baxter 37 Jahre alt, schlank, hochgewachsen, muskulös, blondes gewelltes Haar, stahlblaue Augen. Ein Mann mit Intelligenz, Kraft, Ausdauer und enormer okkulter Begabung. Er ist Hauptkommissar des »Parapsychologic Department« und Hauptfigur der OCCU-Serie. Er kann in Sekunden als Medium fungieren und arbeitet bei Seancen mit dem modernen Psycho-Disc, einem Gerät, mit dem er Stimmen aus dem Jenseits auf Tonband aufnehmen kann. Er trägt niemals eine Waffe bei sich und besiegt seine Gegner nur mit medialen Kräften.

Olga Dussowa 26 Jahre alt, schlank, vollbusig, langes schwarzes Haar, Russin, direkte Nachkomme der Familie des russischen Magiers Rasputin, sehr okkult begabt, kann böse Geister bannen und als Medium weit ins Jenseits vorstoßen. Sie ist Mitarbeiterin von Hauptkommissar Baxter und begleitet ihn auf allen Reisen.

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Viola Oggi 29 Jahre alt, superblond, gertenschlank, ehemaliges Mannequin aus Rom, das durch eine Vision ihre mediale Begabung erkannte, versteht sich auf Kontaktnahme zum Hexen-Reich und auf geheimnisvolle römische Zaubersprüche gegen Lebensgefahr und Krankheiten. Spezial-Agentin und Mitarbeiterin von Hauptkommissar Joe Baxter.

Dr. Leon Duvaleux Leitender Direktor des »Parapsychologic Department« der Interpol, 48 Jahre, graumeliert, Sohn einer Pariser Wahrsagerin, entstanden aus deren transzendentalen Verbindung mit dem Propheten Nostradamus. Beherrscht die Kunst der telepathischen Nachrichtenübermittlung mit seinem Hauptkommissar.

Madame Therese Duvaleux Pariser Wahrsagerin und Kartenlegerin, weißhaarig, 72 Jahre alt, Mutter des Direktors des »Parapsychologic Department«, springt oft ein und steht dem Team mit ihren magischen Ratschlägen zur Seite.

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Seance des Grauens

Unheimlich flackerte das Kaminfeuer. Es warf dämonische Schatten an die rot-schwarz-tapezierten Zimmerwände. Die schweren Samtvorhänge schluckten den Schein des Feuers. Im Raum brannte kein Licht.

Unter einem Ölgemälde, das einen Chinesen darstellte, stand ein Sessel. Darauf saß ein weißhaariger, vornehmer alter Herr. Er zitterte vor Erregung. Immer wieder fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht.

Dann starrte er wieder vor sich in den düsteren Raum. »Wohin muß ich sehen?« flüsterte er mit bebenden Lippen

und sah zu einem der Männer auf, die zu beiden Seiten seines Stuhls standen. Sie waren in schwarze Gewänder mit spitzen Kapuzen gekleidet.

Dumpf antwortete eine Stimme: »Sehen Sie gerade aus, Professor. Dort wird ein Lichtschein aufzucken. Dann erkennen Sie eine Wand. Sie wird sich öffnen. Und dann …!«

»Und dann werde ich mein armes Kind sehen und auch mit ihm reden können?«

Die Männer zu seinen beiden Seiten nickten stumm. Prof. Herremans schluchzte auf und schüttelte den Kopf:

»Ich kann es ja noch immer nicht fassen. Ich darf mein geliebtes Kind nicht nur sprechen, sondern auch sehen und angreifen. Doktor Bunn, wie ist das eigentlich wirklich möglich?«

Eine hohe Gestalt in einer weißen Kutte erhob sich und eine scharfe Stimme antwortete: »Lieber Professor Herremans, Sie sollten jetzt nicht soviel fragen. Sie stören meine Konzentration. Ich habe das Geheimnis der Rematerialisierung entdeckt. Und darum vermag ich als einziger Mensch in meinen Sitzungen die Toten nicht nur akustisch sondern auch leiblich erscheinen zu lassen. Doch konzentrieren Sie sich auf

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Ihre verstorbene Tochter, Professor. Es ist bald so weit …!« Niemand sagte mehr ein Wort. Es war still im Raum. Mit leisen, langsamen Schritten erreichte Dr. Geoffry Bunn

die Mitte des Zimmers. Er kniete nieder, richtete seinen Oberkörper auf und warf die Hände in die Höhe. Dabei sprach er die beschwörende Formel: »Der Tod mag alles Sterbliche im Menschen vernichten. Doch die Seele und den Geist kann er nicht verderben. Und darum kann auch der Körper des Menschen, der von uns gegangen ist, vorübergehend wieder Gestalt annehmen …!«

Er machte eine Pause. Dann warf er sich zu Boden. Murmelnd kam es von seinen Lippen: »Inga Herremans, hörst du mich? Inga Herremans, hörst du mich?«

Der Professor wagte kaum zu atmen. Ein leichter Luftzug glitt durch den Raum und ließ das

Kaminfeuer aufflackern. Professor Herremans schrie auf: »Sie hat sich gemeldet. Inga

hat sich gemeldet, Doktor Bunn …!« Der Doktor antwortete nicht. Er sprach ruhig und

eindringlich weiter: »Inga Herremans, du hast deinen Vater zu früh verlassen.«

Langsam erhob sich Doktor Bunn und ging auf den Sessel zu, auf dem der Vater des verstorbenen Mädchens in sich zusammengesunken saß. Er faltete die Hände und blickte zum Gemälde hoch. Laut deklamierte er: »Shang Fu, größter aller Herrscher über die Toten. Erhöre unsere Bitte. Der Vater des verstorbenen Mädchens will seine Tochter wiedersehen. Er will mit ihr sprechen. Gewähre ihm diese Gnade!«

Minutenlang verharrte Dr. Bunn vor dem Bild. Dann war wieder ein deutlicher Luftzug im Raum zu spüren.

»Shang Fu hat uns erhört. Er wird das Unmögliche möglich machen.«

Jetzt nahm der Doktor die Hände des Professors, kniete vor

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ihm hin und flüsterte: »Wir werden jetzt miteinander leise den Namen von Inga rufen. Und dann blicken Sie auf die Wand. Sie wird sich öffnen. Was dann geschehen wird, weiß ich selbst noch nicht.«

Dr. Bunn und Prof. Herremans riefen leise: »Inga Herremans … Inga Herremans …«

Plötzlich zuckte ein dünnes, bläuliches Licht an der Zimmerwand auf. Der magische Schein ließ die Tapeten unheimlich leuchten.

Der Professor wollte etwas fragen. Dr. Bunn legte ihm die Hand auf den Mund und deutete zur Wand.

Der Professor hörte schrille, hohe Töne mit schrecklichen Dissonanzen. Er wußte nicht, ob nur er diese grausige Musik vernahm.

Dann hefteten sich seine Blicke wie gebannt auf die Wand. Sie öffnete sich unhörbar, wie von einer höheren Macht

befohlen. Die Tapetenwände drehten sich im bläulichen Schein. Ein greller Lichtkegel schwang vom Bild des Chinesen herab, direkt auf die Stelle, wo Dr. Bunn vorher gekniet hatte.

Professor Herremans streckte die Hände aus und wollte etwas rufen. Die Worte aber blieben ihm in der Kehle stecken. Der ganze Raum drehte sich um ihn. Er hatte Dr. Bunn vergessen.

Er sah nur Inga, seine Tochter. Sie saß im Scheinwerferlicht, auf einem Rollstuhl, totenblaß

und starr. Doch sie war anwesend. Kein Zweifel: Sie war es. Die blonden, schulterlangen Haare, der zarte Hals, der volle Mund, die kleine, rundliche Nase, das ockerfarbene Kleid und die Spangenschuhe.

Mit offenen Augen starrte sie ihren Vater an. Professor Herremans flüsterte: »Inga, meine Inga.« Er war erschüttert und weinte. Wie Dr. Bunn gesagt hatte:

Inga würde so erscheinen, wie sie bei ihrem Tod ausgesehen

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hatte. Das tote Mädchen wies dicke, dunkelrote Blutflecken auf, die

Brust war eingedrückt. Als der Professor sich zur Seite beugte, um ihren Hinterkopf zu sehen, erschauerte er: Inga hatte einen vollkommen zertrümmerten, blutbesudelten Hinterkopf.

Grauen stieg in ihm auf. Genauso wie jetzt hatte Inga ausgesehen, als er von der Polizei an jenem Aprilmorgen vor vier Jahren an die Unfallstelle geführt worden war.

»Inga«, meinte der Professor leise, »Inga, meine kleine Inga. Wie geht es dir jetzt?«

Entrückt erklang eine weibliche Stimme: »Vater … Ich liebe dich und bin bei dir … Es ist schön, dich zu sehen und dich zu hören … Ich habe die Leiden dieser Welt überstanden. Erschrecke dich nicht vor meinem Äußeren. Es ist das Letzte, was ich dir an Erinnerung von mir geben kann …!«

Der Scheinwerfer erlosch. Inga saß starr in dem bläulichen Licht.

»Inga, geh noch nicht fort von mir!« rief der Professor. Mühsam und kraftlos richtete er sich vom Sessel auf und ging einige Schritte auf die Totengestalt zu.

»Ich möchte dich berühren, Inga!« stöhnte er und streckte die Hand aus. In diesem Augenblick aber verließen ihn die Kräfte. Er sah wieder das klebrige Blut auf dem Kopf des Mädchens. Er sah die schrecklich zugerichtete Brust.

Ohne ein weiteres Wort stürzte er nach vorn, direkt auf die Tote. Er spürte überall warmes Blut an seinen Fingern und erschrak: Wie konnte sich das Blut vier Jahre lang, so erhalten? Wie war es möglich, mit magischen Kräften Inga wieder so heraufzubeschwören, wie sie damals aussah?

Noch einmal hob der Professor den Kopf und sah in die ausdruckslosen Augen der Toten. Dann fiel er zu Boden.

Alles um ihn war schwarz. In seinem Gehirn hämmerte es. »Du darfst jetzt nicht

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schlappmachen. Du mußt die Chance nützen, mit deiner verstorbenen Tochter beisammenzusein!«

Eisern konzentrierte er sich. Als er die Augen aufschlug, hatte sich im Raum vieles

verändert. Inga auf dem Rollstuhl war verschwunden. Die Deckenleuchte brannte.

»Wo ist meine Tochter?« flehte der Professor und sah Dr. Bunn an.

Der Doktor antwortete abweisend: »Sie haben Ihre Chance und meine mediale Begabung nicht gut genützt. Sie hätten nicht schwach werden dürfen. Inga ist verschwunden. Alle meine magischen Konzentrationen haben mir nichts geholfen: Inga wird nie mehr erscheinen können. Sie wissen: Diese Rematerialisierung aus dem Totenreich gelingt jeweils nur einmal an einer Wesenheit.«

Professor Herremans ließ sich von den beiden vermummten Männern aufheben und zu seinem Sessel zurückbringen. Er sank hinein und murmelte: »Phantastisch! Faszinierend. Als ich hörte, daß Sie Tote vergegenwärtigen können, habe ich es nicht geglaubt, wenn ich ehrlich sein soll! Jetzt durfte ich es selbst erleben. Sie war es. Nach vier Jahren saß sie wieder vor mir, obwohl sie schon solange in ihrem Sarg liegt. Sie haben Ihr wieder Gestalt gegeben. Dafür danke ich Ihnen.«

Der Doktor meinte leise: »Sie verstehen, Professor, daß ich trotz der abgebrochenen Sitzung auf meinem vollen Honorar bestehen muß.«

»Natürlich, das verstehe ich. Sie haben sich ja nervlich bei ihrer okkulten Arbeit angestrengt.«

Dann zog er sein Scheckheft aus der Tasche und setzte eine hohe Zahl ein.

Professor Herremans erhob sich und ging erstaunt auf die Wand zu, aus der seine verstorbene Tochter erschienen war. Er tastete die Tapeten ab. Keine Fuge, keine Naht, keine

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Scharniere. Er drehte sich zu Dr. Bunn: »Was geht hier vor, Doktor? Wie

kann sich diese Wand öffnen? Ich dachte an einen Trick. Doch die Wand hat keinen Durchgang. Doktor! Wie kann meine Tochter da durchgekommen sein?«

Doktor Bunn schaute zu dem Bild von Shang Fu hoch, verneigte sich und meinte: »Das weiß allein er. Ich bin nur sein unwürdiger Diener, der seine Wunder ausführt. Ich hole die Verstorbenen herbei: lebendig und mit ihrer Sprache. Doch die unheimlichen Kräfte, die dieses Wunder ermöglichen, kenne ich selbst nicht …!«

*

Frühlingssonne strahlte über Amsterdam. Der Wasserbus tuckerte durch die Raamgracht in der

Altstadt. Joe Baxter, Olga Dussowa und Viola Oggi hatten einen herrlichen Platz an der Stirnfront des Ausflugbootes.

Viola Oggi, in ein leichtes Kleid gehüllt, das durch seine Kürze die schlanken Beine und die Knie besonders unterstrich, lehnte sich an Joe Baxter, hielt ihm einen Strauß roter Tulpen unter die Nase und fragte: »Also, jetzt schieß einmal los, Joe. Bis hierher habe ich mich ja gern verwöhnen lassen. Aber du bist doch mit uns nicht nach Amsterdam geflogen, um Olga und mir am erstbesten Straßenrand Tulpen zu kaufen. Also, warum hat uns Direktor Duvaleux wirklich hergeschickt?«

Das Boot durchpflügte gerade das brackige Grachtenwasser vor der Zuiderkerk.

»Ein herrlicher Bau«, bemerkte Joe Baxter. Dann ging er erst wieder zur Tagesordnung über und umriß seinen beiden Assistentinnen die Situation, in der sie sich befanden.

»Seit einiger Zeit gibt es in Amsterdam eine okkulte Sensation, die unter der reichen Bevölkerung wie eine Bombe

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eingeschlagen hat. Da hat sich ein gewisser Dr. Geoffry Bunn, seines Zeichens englischer Staatsbürger, im Amsterdamer Stadtteil Sloterdijk in einer Villa eingemietet. Angeblich ein anerkannter Parapsychologe und medial begabter Hellseher …!«

»Nie was von einem Dr. Bunn gehört«, murmelte Viola Oggi. Und Olga Dussowa fiel ihr ins Wort: »Auch ich kenne den

Mann beim besten Willen nicht!« Joe Baxter fuhr fort: »Mir geht's ja genau so. Doch bei diesem

Dr. Bunn laufen alle zusammen.« »Er hat einen ungeheuren Trick: Er hält Sitzungen für

Einzelpersonen ab. Natürlich gegen eine entsprechend hohe Summe. Die Leute können mit ihren verstorbenen Verwandten in Kontakt treten.«

Olga Dussowa meinte gelangweilt: »Joe, das ist doch ein alter Hut. Da muß doch mehr dahinter sein. Oder sind die Amsterdamer in okkulten Dingen genügsam?«

Joe Baxter lächelte: »Natürlich bietet er mehr. Die Leute können nämlich mit den Toten nicht nur im Gespräch Kontakt aufnehmen. Sie können die Verstorbenen direkt vor sich sehen. Auch, wenn Jahre vergangen sind. Das Makabre daran ist, daß sich die Toten so präsentieren, wie sie bei ihrem Ableben aussahen …!«

Viola Oggi schnellte hoch: »Bewegen sich diese Toten auch?« Baxter schüttelte den Kopf: »Keine Spur. Sie sitzen starr da

und reden. Doch sie sind da, und das beeindruckt die Angehörigen. Daher lassen sie eine Menge Geld dafür.«

Olga Dussowa lachte verächtlich: »Wie kann man solchen Unsinn glauben?«

Joe Baxter beruhigte sie: »Du mußt das verstehen, Olga. Wir vom Parapsychologic Department wissen, daß es eine Sitzung in dieser Form nicht gibt. Die besten Medien und Geistbeschwörer besitzen nicht die Fähigkeit Verstorbene in

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einem ganz bestimmten Zustand zu rematerialisieren. Eine Sitzung allein ist überhaupt kein Ausgangspunkt für eine Rematerialisation. Mit einem Wort: Dr. Bunn ist ein Schwindler!«

Viola Oggi legte ihren Arm um Joe Baxter: »Dann können wir ja in Amsterdam richtig Ferien machen. Einen Gauner zu entlarven, ist ja nicht unsere Aufgabe. Das kann die Amsterdamer Polizei erledigen.«

Joe Baxter wehrte mit der rechten Hand ab: »Die Polizei von Amsterdam hat sich an unser Büro in Paris gewandt und gebeten, wir möchten als Fachleute den Fall untersuchen. Es stellt sich nämlich die Frage: Woher nimmt Dr. Bunn seine Toten, die zwar aussehen wie vor Jahren Verstorbene, die aber so frisch und blutbesudelt sind, als wären sie erst kurz vorher aus dem Leben geschieden.«

»Vielleicht arbeitet er mit Puppen?« wandte Olga Dussowa ein.

Joe Baxter schüttelte den Kopf: »Keine Spur. Aussagen von beeindruckten Besuchern bestätigen, daß es sich um richtige Leichen aus Fleisch und Blut handelt. Es ist auch unwahrscheinlich, daß sich ein lebendiges Wesen so gekonnt tot stellt.«

»Ganz geheuer ist mir die Sache nicht«, meinte Viola Oggi. »Erkennen die Besucher ihre Verwandten am Aussehen wieder? Wie macht das dieser Dr. Bunn?«

»Vielleicht hat er einen guten Schminkmeister engagiert, der ihm die Leichen nach Wunsch vorbereitet. Natürlich muß er zu diesem Zweck vorher Informationen einholen, wie die verstorbene Person ausgesehen hat und wie sie gestorben ist.«

»Jedenfalls«, erklärte Olga Dussowa bestimmt, »sollten wir uns Dr. Bunn einmal gründlich anschauen.«

»Ich glaube eher«, konterte Baxter, »er ist ein gemeiner Leichenschänder …!«

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»Oder ein skrupelloser Mörder«, fügte Viola Oggi hinzu. Baxter sah sie lange und ernst an: »Du hast den gleichen

Verdacht wie Direktor Leon Duvaleux in Paris. Auch er glaubt, daß kurz vor jeder Sitzung ein Mensch für diesen Schwindel sterben muß. Einer, der dem Verstorbenen in Statur und Aussehen ähnlich ist …!«

Joe Baxter hielt inne. Das Tuckern des Bootes hatte aufgehört. Viola Oggi und

Olga Dussowa beugten sich zum Fenster hinaus. Zu beiden Seiten der Kaimauern standen dicht gedrängt Menschen. Es wimmelte von Feuerwehrleuten. Vor den Häusern der Gracht standen Polizeiwagen und Uniformierte.

Ein Kran hatte soeben seinen Greifer ins Wasser getaucht. Langsam hob sich der Greifer wieder aus dem Wasser. Er

zerrte das Wrack eines Personenwagens in die Höhe und brachte es ans Ufer. Ströme von Wasser rannen aus dem Fahrzeug.

Joe Baxter meinte: »Da sitzt jemand hinterm Steuer. Ob der noch lebt?«

Das Wasserfahrzeug legte an der Kaimauer an, weil die Polizisten dem Steuermann bedeutet hatten, daß die Gracht für längere Zeit gesperrt sein würde.

Baxter und seine beiden Assistentinnen benützten die Gelegenheit und sprangen an Land. Im Nu standen sie bei dem Personenwagen, aus dem einige Feuerwehrmänner eine blutverschmierte junge Frau herauszerrten und auf das Straßenpflaster legten.

Als Baxter näher kam, ersuchte ihn ein holländischer Polizist höflich:

»Bitte, gehen Sie weiter. Sie dürfen hier nicht stehenbleiben!« Es war nicht nur Neugierde, die den Hauptkommissar des

Parapsychologic Department veranlaßte, zu bleiben, obwohl er mit dem Fall nicht das geringste zu tun hatte. Er zeigte dem

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Polizeibeamten seinen Interpol-Ausweis. Der salutierte und fragte: »Ein Fall, mit dem Sie zu tun

haben?« »Unter Umständen«, murmelte Joe Baxter und stand dann

ganz bei der jungen Frau. Sie war tot. Der Polizeiarzt untersuchte sie und murmelte: »Die Leute sind unverbesserlich. Jetzt hat man ohnehin schon vor jede Gracht Gitter gemacht. Und trotzdem fahren sie immer wieder ins Wasser.«

»Ein Verkehrsunfall wie Tausende«, flüsterte Viola Oggi Joe zu und stieß ihn an: »Komm, laß uns wieder weitergehen. Ich will die Stadt noch sehen.«

Im selben Augenblick pfiff der Polizeiarzt durch die Zähne und richtete sich auf: »Kommissar Vandooren, haben Sie Zeit? Ich habe da etwas Wichtiges entdeckt!«

Kommissar Vandooren, ein langer, graumelierter Holländer kam hinzu. »Was gibt's?«

Der Arzt erklärte: »Ich dachte zuerst, daß die schweren Verletzungen an der Brust und am Hinterkopf von dem Autounfall herrührten. Doch der Unfall war vor einer halben Stunde. Die Verletzungen aber sind mindestens zwei Tage alt. Und noch etwas: Soviel ich erkennen kann, wurden sie der Frau mit einem schweren Hammer oder einem anderen stumpfen Gegenstand zugefügt. Ob dies die Todesursache war, muß die Obduktion feststellen.«

Kommissar Vandooren schaute den Arzt groß an: »Sie meinen damit, daß es – ein Mord war? Der Mörder hat sein Opfer nach der Tat in ein Auto gesetzt und ins Wasser gestoßen, um einen Unfall vorzutäuschen?«

Der Doktor nickte stumm. Joe Baxter drängte sich zum Kommissar hin und stellte sich

vor: »Hauptkommissar Baxter vom Parapsychologic Department. Ich komme hier zufällig vorbei. Ich habe eine

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Frage: Dieses tote Mädchen sieht so unwirklich aus. Darf ich es aus der Nähe betrachten?«

Der Kommissar nickte. Sie gingen alle auf die Leiche zu. »Sie ist sehr stark geschminkt«, warf Baxter ein. Der Doktor setzte hinzu: »Vielleicht eine Schauspielerin.

Oder eine Dirne. Jedenfalls hat sie das Makeup fingerdick im Gesicht.«

»Sieht ganz so aus«, murmelte Baxter, »als wäre sie von jemandem maskenbildnerisch so verändert worden, um jemand anderem ähnlich zu sehen.«

»Was meinen Sie damit?« erkundigte sich der Kommissar. Baxter meinte kurz: »Ich habe da so einen Verdacht, der in

meine Kompetenz fällt. Aber etwas anderes, Kommissar: Sie sind so blaß geworden, als Ihnen der Doktor sagte, es würde sich um einen Mord handeln. Darf ich den Grund erfahren?«

»Mein lieber Freund«, räusperte sich Kommissar Vandooren. »Ich habe auch allen Grund, blaß zu werden. Das hier ist binnen zweier Monate schon die siebente Mädchenleiche, die wir in und um Amsterdam finden. Immer sollte es wie ein Unfall aussehen und immer waren die Opfer stark geschminkt.«

Joe Baxter sah auf: »Das ist ja hochinteressant, Kommissar. Wir sollten uns zusammensetzen, damit Sie erfahren, warum ich in ihrer schönen Stadt bin. Ich glaube, ich weiß, wer in allen sieben Fällen der Mörder ist …!«

*

»Da bummelt man durch Amsterdam und schon steckt man mitten im schönsten Occu-Fall drin!« seufzte Olga Dussowa und warf sich im Hotelzimmer auf das Sofa. Sie sah um Jahre gealtert aus und wirkte leidend.

»Was ist los mit dir?« fragte Joe Baxter und setzte sich an ihre

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Seite. »Seit wir von dieser Toten zurück sind, erbrichst du dich unentwegt. Das macht uns Kummer.«

»So elend war mir noch nie«, gestand Olga und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.

Dann legte sie sich zurück und schloß die Augen. Ängstlich flüsterte sie: »Joe, mir ist so seltsam zumute. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Irgendwelche Kräfte beeinflussen meine Gehirnströme. Ich bin nicht mehr vollkommen Herr meiner Sinne.«

Sie setzte sich auf und sah Joe mit offenen Augen an: »Ich weiß jetzt genau, wie mir ist. Auch meinem Vorfahren Rasputin war einmal so zumute. Wenige Stunden danach verfiel er in einen ungewollten todesähnlichen Schlaf. Sechs Tage lag er so da. Die Leute wollten ihn schon einsegnen und bestatten. Da erwachte er, um viele Kilo abgemagert. Mächte aus dem Totenreich hatten ihn einfach von der Erde entführt, um sich mit ihm zu beraten. Sie ließen ihn auch wissen, daß er bald ermordet werden würde und nichts dagegen unternehmen könne …!«

Joe wollte etwas sagen. Aber er schwieg. Olga war ermattet zurückgesunken und

schien nun mit tiefen Atemstößen zu schlafen. Leise verließ Joe Baxter das Wohnzimmer und lenkte seine

Schritte in den gemeinsamen Arbeitsraum. Die Tür des Badezimmers wurde aufgestoßen. Viola, die sich dort eine provisorische Dunkelkammer eingerichtet hatte, trat heraus, knallte Joe einige Photoabzüge auf den Tisch und erklärte triumphierend: »Na, was sagst du?«

Joe trat näher und musterte die Aufnahmen. Man konnte darauf die Umrisse einer Mädchengestalt sehen, übersät mit kleinen Flammen, die wie Irrlichter auf der Hautoberfläche zu tanzen schienen und deren Spitzen wirr gegeneinander gerichtet waren.

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Bewundernd fragte der Hauptkommissar des Parapsychologic Department seine Mitarbeiterin: »Alle Achtung! Du hast in der Eile von der Toten eine Auraphotographie gemacht?«

Viola nickte: »Mein kleiner Hochfrequenz-Photoapparat ist stets knipsbereit. Und du siehst, es lohnt sich. Man kann an dieser Seelen-Photographie eindeutig erkennen, daß das Mädchen eines unnatürlichen und gewaltsamen Todes gestorben ist. Nur ermordete Körper weisen diese Verwirrung von Auraflämmchen auf.«

»Du hast recht«, sinnierte Joe Baxter. Er starrte auf das Bild und schob es zur Seite. Er wurde den Gedanken nicht los, daß zwischen diesem toten Mädchen und den Sitzungen des Doktor Bunn eine Verbindung bestand.

Nachdenklich durchquerte Joe Baxter das Hotelapartment. Es fiel ihm ein, daß vielleicht Olga in der Stimmung wäre, die Wesenheit der Toten zu rufen und auszufragen. Das Mädchen konnte unter Umständen wertvolle Angaben machen.

»Olga!«, flüsterte Joe, weil er wußte, wie schlecht sich seine Assistentin fühlte.

Als sie nicht antwortete, trat er ein, um nach ihr zu sehen. Jäh prallte er bereits in der Tür zurück. Das Sofa war leer. Keine Spur von Olga. »Viola«, rief Joe Baxter hastig und eilte in den Vorraum, wo

Viola ein Kleid in den Schrank hängte. »Olga ist verschwunden!«

»Unmöglich«, konterte Viola. »Ich hätte gesehen, wenn sie das Apartment verlassen hätte.«

»Nein«, schüttelte Joe Baxter den Kopf! »Sie ist nicht fortgelaufen. Sie hat auch keinen PSI-Ausflug unternommen und sich entmaterialisiert. Das hätte sie niemals getan, ohne uns vorher zu informieren.«

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»Aber, sie kann doch nicht einfach verschwinden. Was ist denn passiert, Joe? Ich habe Angst!«

»Ich auch«, gestand er und sagte leise: »Sie hat es geahnt.« »Was hat sie geahnt?« »Sie ist von unbekannten Mächten aus dem Reich der Toten

gegen ihren Willen entführt worden. Während der letzten Stunden haben sie ihren Abwehrwillen mit magischen Kosmosstrahlen gebrochen. Darum war ihr so übel.«

Violas Stimme wurde hysterisch: »Ja, was wollen denn die von Olga?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Joe Baxter. »Aber ich glaube, wir stecken in dem Fall Doktor Bunn schon weiter drin, als uns lieb ist!«

Joe Baxter nahm Viola bei der Hand und führte sie in den Salon. Während er die Vorhänge zuzog, gab er Anweisungen: »Wir müssen versuchen, Olga einzuholen, ihre Wesenheit und ihren entmaterialisierten Körper von der Ankunft im Jenseits zurückzudirigieren. Konzentriere alle deine medialen Kräfte. Peile Olga an. Brich die Macht ihrer Entführer.«

Viola lag bereits auf der Erde, die Augäpfel nach innen gerichtet.

Sie hörte nicht mehr, wie Joe Baxter auf sie einsprach. Ihre Kräfte eilten bereits mit Lichtgeschwindigkeit der Wesenheit Olgas nach.

Doch Violas okkulte Rufe prallten an einem Panzer von magischem Willen ab, der von Wesenheiten aus dem Totenreich gebildet wurde.

Olga war bereits allen irdischen Para-Künsten entzogen. Und sie selbst vermochte sich nicht mehr aus den Verstrickungen ihrer übernatürlichen Entführer zu entziehen.

Keuchend und schweißgebadet wurde Viola von ihrem kurzen Verfolgungsausflug zum Reich der Toten wach. Sie zitterte am ganzen Körper und murmelte wie abwesend: »Zu

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spät, was wird jetzt geschehen?« Joe Baxter fluchte. Dann konzentrierte er sich: »Entführungen ins Jenseits

können gefährlich werden. Wenn Olga die kleinste Unbedachtheit unternimmt, um ihren Willen zurückzuerobern, kann sie für immer dem Jenseits verfallen und ihr Körper ist nie mehr zu rematerialisieren.«

»Was sollen wir machen?« fragte Viola verstört. Joe Baxter schloß die Augen, betastete seinen Puls und

dachte angestrengt an seinen Chef in Paris. Die telepathische Nachrichtenverbindung klappte tausendmal schneller, als ein Telephongespräch es ermöglichen konnte.

Direktor Leon Duvaleux vom Parapsychologic Department war sofort sende- und empfangsbereit. Er war speziell auf Joes Alarmsignale bei Tag und Nacht eingestellt.

»Ich habe schon auf einen ersten Bericht von Ihnen gewartet. – Haben Sie in Amsterdam etwas herausbekommen können?«

»Dr. Duvaleux, es ist etwas Unerwartetes passiert. Olga ist ins Jenseits entführt worden, und wir können uns nicht vorstellen, warum. Weil sie sich in großer Gefahr befindet, möchte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht von Paris aus irgend etwas für Olga tun könnten.«

»Guru Jogami wäre mit seiner Konzentrationskraft vielleicht in der Lage, ihre Wesenheit zurückzuholen.«

»Das ist gut«, nickte Joe Baxter erleichtert. Guru Jogami hatte auch ihm einmal im letzten Augenblick das Leben gerettet.

Nach kurzer Pause meldete Dr. Duvaleux: »Guru Jogami arbeitet schon.«

»Und was macht der Fall Dr. Bunn?« »Sie hatten recht: Der Kerl ist ein gerissener Betrüger. Seine

Sitzungen sind ein einziges Gangsterstück. Und Ihre Vermutungen, daß er sich seine Leichen, die er dafür braucht, auf makabre und verbrecherische Weise beschafft, scheinen

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sich zu bewahrheiten. Vor ein paar Stunden sagte mir Kommissar Vandooren, daß er bereits sieben Mädchenmorde in Amsterdam zu verzeichnen habe.«

Dr. Duvaleux bedeutete seinem Hauptkommissar: »Gehen Sie noch nicht zu Dr. Bunn. Wiegen Sie ihn in Sicherheit.«

»Das hatte ich vor«, ergänzte Baxter. »Ich will zuerst klären, was es mit den Morden für eine Bewandtnis hat. Ich muß Beweise suchen, um dem Mann das Handwerk zu legen.«

Dr. Duvaleux meinte beschwörend: »Seien Sie um alles in der Welt vorsichtig, Baxter. Ich kenne diesen Dr. Bunn zwar nicht, aber ich kann intuitiv feststellen, daß er ein gefährlicher Mann ist, der vor nichts zurückschreckt, um sein Ziel zu erreichen …!«

Baxter wollte das telepathische Gespräch abbrechen, als ihn Dr. Duvaleux noch einmal aus seinen Gedanken riß: »Ein Beamter von uns steht gerade vor mir und überbringt mir Nachrichten von Guru Jogami.«

»Ja? Und? Was ist mit Olga?« »Sie weilt bereits im Reich der Toten. Aber sie wird bald

wieder unversehrt zurückkommen. Man hat sie in freundschaftlicher und friedlicher Absicht entführt.«

Baxter fragte sichtlich erregt: »Ja, aber warum denn nur?« Duvaleux antwortete: »Es handelt sich um den Fall Dr. Bunn.

Unsere Vermutung war richtig: Die Wesenheiten der sieben ermordeten Mädchen im Jenseits haben beschlossen, dem grausamen und gefährlichen Treiben des angeblichen Hellsehers Dr. Bunn ein Ende zu bereiten. Und wir sollten Ihnen dabei helfen.«

»Olga ist also sozusagen als Verhandlungspartnerin geholt worden?« wollte Baxter wissen.

»Sozusagen. Das ist das erstemal, daß das Jenseits eine Zusammenarbeit mit uns anstrebt.«

Baxter meldete Bedenken an: »Haben Sie nicht auch das

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Gefühl, daß eine Zusammenarbeit zwischen Lebenden und Toten ein Chaos auf Erden heraufbeschwören könnte?«

Dr. Duvaleux konterte: »Dazu sind Sie mit Ihren Assistentinnen da, um alles in den richtigen Bahnen zu halten. Man müßte den Wesenheiten aus dem Jenseits zu verstehen geben, daß uns ihre Mitarbeit erwünscht ist; allerdings müßten die jeweiligen Arbeitsgebiete gegeneinander abgegrenzt werden. Es dürfte einleuchtend sein, daß uns im irdischen Bereich der Vorrang eingeräumt werden muß.«

*

Kommissar Vandooren begrüßte Joe Baxter sehr herzlich, als dieser die Räume des Gerichtsmedizinischen Institutes betrat.

»Die Sache wird immer geheimnisvoller«, berichtete der Kriminalbeamte dem Briten.

Sie betraten die Halle und steuerten direkt auf einen Steintisch zu, auf dem das Mädchen aus der Raamgracht lag, von geschickten Chirurgen geöffnet.

Der Kommissar informierte Baxter in knappen Worten: »Das Mädchen wurde zuerst durch einen harten Schlag auf den Hinterkopf getötet. Dann hat ihr der Mörder mit demselben Gegenstand – vermutlich war es ein Hammer – die Brust eingeschlagen. Er hat diese Schläge ausgetüftelt, weil derartige Verletzungen bei Autounfällen passieren können. Dann hat er das Mädchen in einen Wagen gesetzt und in die Gracht gestoßen. Dazwischen liegen zwei volle Tage. In dieser Zeit dürfte die Leiche unterkühlt aufbewahrt worden sein. Der Gerichtsmediziner entdeckte eine Sensation.«

»Und zwar?« Baxter sah den Kommissar gespannt an. »Jemand hat die Tote an der Nase und an den Ohren operiert.

Dann hat er sie gekonnt geschminkt. Es sieht aus, als wollte er der Toten ein ganz bestimmtes Aussehen verleihen. Die Tote

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muß tagelang in sitzender Stellung verharrt haben. Dann erst wurde sie mit dem Auto ins Wasser gestoßen!«

Baxter nickte: »So habe ich es mir fast vorgestellt. Wer ist die Tote?«

»Wir haben sie mit Schminke photographiert und dann ohne Schminke. Sie sieht da nämlich ein wenig anders aus. Aber wir hoffen, daß sich Leute melden, die sie kennen, wenn wir die Aufnahmen in die Zeitung geben!«

Baxter erhob Protest: »Das würde ich auf keinen Fall tun. Behandeln Sie den Fall wie einen normalen Mord oder gar wie einen Unfall. Wiegen Sie den Mörder in Sicherheit. Er soll glauben, er hat die Polizei an der Nase herumgeführt. Dann wird er sich sicher fühlen und Amsterdam nicht verlassen. Wie steht es mit den anderen sechs ermordeten Mädchen?«

Der Kommissar klopfte seinem Kollegen vom Parapsychologic Department anerkennend auf die Schulter: »Alle Achtung, Baxter. Sie hatten recht. Jede ist zwar auf andere Weise umgebracht worden. Aber alle waren geschminkt, so daß sie anders aussahen. Ich glaube jetzt fast auch schon, daß die Leichen für einen makabren Zweck verwendet wurden.«

»Natürlich: Dr. Bunn ist unser Mann«, rief Baxter. »Aber wir müssen es ihm nachweisen können. Und dieser Kerl hat sich ganz bestimmt abgesichert. Darum müssen wir ihm auf seine Schliche kommen.«

Der Kommissar hieb mit der flachen Hand auf den Steintisch, auf dem das tote Mädchen lag. Entsetzt betrachtete er seine blutige Hand und meinte dabei: »Zu dumm, daß wir über die Zeitung nicht den Kunden suchen können, der zuletzt bei Dr. Bunn zur Sitzung geladen war. Der müßte ja sofort erkennen, ob es sich bei der Ermordeten um die Erscheinung handelt, die ihm vorgegaukelt wurde.«

»Das ist ein Kinderspiel«, antwortete Baxter. »Meine

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Mitarbeiterin Viola Oggi wird heute abend auf telepathischem Wege den Kunden von Dr. Bunn ausfindig machen. Morgen früh können Sie ihm bereits die beiden verschiedenen Photos vorlegen.«

Joe Baxter war schon im Gehen, als Kommissar Vandooren ihm nacheilte und rief: »Mir ist da etwas eingefallen. Ich glaube, wir dürfen nichts riskieren. Wenn wir Dr. Bunn in Sicherheit wiegen und er tatsächlich ein gefährlicher Mörder ist, so wird er auch vor einer nächsten Tat nicht zurückschrecken. Ich kann das nicht verantworten. Ich werde zu ergründen versuchen, wann die nächste Sitzung bei ihm angesetzt ist. Und dann stürme ich das Haus. Wenn wir eine Leiche finden, so ist er geliefert, wenn er auch die anderen Morde leugnet.«

Baxter zuckte mit den Schultern: »Kommissar, ich finde es nicht gut. Aber so eine Haussuchung müssen Sie verantworten. Mich interessieren ja nur die okkulten Aspekte des Falles. Aber ich hoffe nur, daß Sie sich nicht blamieren. Ein Kerl vom Schlag eines Dr. Bunn ist auf Polizeiaktionen, wie Sie sie vorhaben, eingestellt. Darauf können Sie sich verlassen …!«

*

Mondhelle Nacht über Sloterdijk. Harte Polizeifäuste polterten gegen das schwere Holztor der

Umzäunungsmauer. Es dauerte lange, ehe zwei Männer aus der Villa kamen, durch den Park eilten und öffneten. Einer der beiden betätigte rasch einen winzigen Hebel in der Mauer. Die Alarmanlage für Dr. Bunn.

Kommissar Vandooren stürmte mit sieben Beamten durch das Tor und wies den Hausdurchsuchungsbefehl vor. Die Männer hatten die Villa schnell erreicht, drangen in das Stiegenhaus ein und standen im Salon.

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Mit gespieltem Erstaunen drehte sich die hohe Gestalt in dem weißen Kapuzengewand vor dem Kamin um. Aus den beiden Augenschlitzen funkelte es zornig.

»Was soll das? Was wollen Sie hier? Sie stören eine wichtige Sitzung!« rief Dr. Bunn und hob theatralisch beide Hände gegen die Zimmerdecke.

»Machen Sie uns doch nichts vor«, sagte Kommissar Vandooren gelassen. »Sie sind doch ein Schwindler. Das ist doch alles Mumpitz, was Sie hier machen.«

»Ich bringe Sie vor Gericht! Sie haben mich beleidigt!« brüllte Dr. Bunn. »Sie kennen scheinbar nicht genug meine okkulte Macht. Aber ich werde Sie sie noch einmal spüren lassen.«

Jetzt erst sah der Kommissar auf einem Polstersessel unter dem großen Gemälde von Shang Fu eine alte Dame sitzen. Sie schien stark beeindruckt und flüsterte: »Ich nehme an, Sie sind von der Polizei. Sie hätten jetzt nicht kommen sollen. Gerade hätte meine liebe, verstorbene Tochter erscheinen sollen.«

»Aus! Schluß! Jetzt hat der Kommissar alles zerstört. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Meine magischen Kräfte sind verschwunden, meine Dame. Wir müssen die Sitzung abbrechen. Natürlich behalten Sie Ihr Geld. Vielleicht gelingt es ein andermal.« Dr. Bunn strich der alten Frau übers Haar.

Leidend sah sie auf Vandooren und meinte dann: »Sie sollten so eine wunderbare Sitzung einmal miterleben, dann würden Sie Dr. Bunn keinen Schwindler mehr nennen. Er ist wunderbar. Man spürt, wie er Kontakt zum Reich der Toten schafft.«

Vandooren ließ sich nicht beeindrucken. Er machte einen Schritt auf Dr. Bunn zu und fragte: »Apropos tot. Wo ist die Tote, die Sie der Dame präsentieren wollten?«

Dr. Bunn räusperte sich gefaßt. Dann antwortete er: »Sie glauben also wirklich nicht an meine okkulten Fähigkeiten? Sie armer Narr. Die Tote ist seit sechs Jahren begraben. Ich hätte ja

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nur ihren rematerialisierten Körper für einige Augenblicke zurückgeholt. Sie werden bei mir keine Leiche finden. Und wenn Sie das Haus auf den Kopf stellen.«

»Worauf Sie sich verlassen können«, fauchte Kommissar Vandooren und gab seinen Leuten ein Zeichen. Die Beamten begannen die Wände Zentimeter um Zentimeter abzuklopfen. Sie durchkämmten die Kellerräume, öffneten Schränke und Nebenzimmer und suchten den Dachboden ab.

Der Kommissar sah Dr. Bunn mißtrauisch an: »Sagen Sie, können Sie diesen weißen Kaftan nicht ausziehen? Zumindest wäre es sehr nett, wenn Sie die Kapuze abnehmen.«

»Das geht jetzt nicht«, antwortete Dr. Bunn mit scharfer Stimme. »Wenn ich mich in okkulter Spannung befinde, darf ich die Kapuze nicht abnehmen. Mein Gesichtsausdruck würde Sie erschrecken. Ich weigere mich daher. Und Sie können mich nicht zwingen, Ihnen mein Gesicht zu zeigen.«

»Und wann kann ich Ihnen in die Augen blicken, Dr. Bunn? Können Sie morgen bei mir im Polizeibüro vorbeikommen?«

»Aber mit dem größten Vergnügen«, lächelte Dr. Bunn und fügte mit einer leichten Verbeugung hinzu: »Jetzt aber müssen Sie mich entschuldigen. Ich muß die Dame hier nach Hause bringen. Sie ist sehr enttäuscht, daß Sie den ersehnten Kontakt mit ihrer verstorbenen Tochter nicht finden konnte, weil Sie gestört haben.«

Der Kommissar wandte sich zu der alten Dame: »Das tut mir leid. Ich weiß, Sie sind jetzt sehr ungehalten gegen die Polizei, aber vielleicht werden Sie bald anders über uns denken, wenn der Fall hier einmal geklärt werden konnte.«

Nach einer Pause fragte er die Dame: »Wann ist denn Ihre Tochter gestorben?«

Zitternd gab sie Auskunft: »Maria, meine Tochter starb vor sechs Jahren. Sie hatte Liebeskummer und beging Selbstmord.«

»Haben Sie ein Photo von ihr dabei?« fragte der Kommissar.

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Sie nickte und holte aus ihrem Handtäschchen ein verknittertes und abgegriffenes Bild. Maria war ein schlankes, rothaariges, bildschönes Mädchen gewesen mit großen Augen, einer griechischen Nase und Grübchen in den Wangen.

»Danke«, nickte der Kommissar. Allmählich fanden sich die Polizeibeamten mit enttäuschten

Gesichtern bei ihm ein. Einer meldete: »Kommissar, Fehlanzeige. Wir haben alles umgedreht. Es gibt keine Geheimgänge, keine doppelten Wände, keine Toten …!«

Vandooren brummte: »Verdammt, Baxter hatte recht. Ich hätte auf ihn hören sollen.«

Dann wandte er sich an die vermummte Gestalt: »Dr. Bunn, wir sehen uns wieder, das schwöre ich Ihnen. Ich komme Ihnen noch hinter Ihre Schliche.«

Hinter der Kapuzenmaske kam es boshaft hervor: »Natürlich sehen wir uns wieder, Kommissar. Morgen vormittag in Ihrem Büro!«

*

»Achtung, Aufnahme … Ton läuft!« brüllte Regisseur Conny Crash durch die riesige Fabrikshalle im Amsterdamer Stadtteil Zaandam, die die British-TV-Super für einige Monate gemietet hatte.

In einer Ecke war ein Nachtlokal eingerichtet worden. Statisten begannen nach heißer Musik zu tanzen. Dann strahlten die Scheinwerfer hinter dem Tresen auf die Hauptdarstellerin Liza Reynolds, die als Serviererin agierte. Sie beugte sich über die Bartheke und sprach zu ihrem Partner den Drehbuch-Text. Dabei zeigte sie ihre herrlich-lockenden Brüste, die einer der Kameramänner in Großaufnahme auf Zelluloid bannte.

»Schluß! Ton weg. Kamera stop!« rief Regisseur Conny

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Crash. »Liza, was du da bietest, ist Schmiere. Du bist heute so schlecht wie selten zuvor. Das kenne ich bei dir nicht.«

Liza Reynolds baute sich hinter dem Tresen auf und schmollte: »Es ist nicht leicht für mich, eine Bardame zu spielen. Ich habe ja immer gesagt, daß mir die Rolle nicht liegt.«

Conny Crash war wütend: »Und ich habe gesagt, daß du die Rolle spielen wirst, weil wir den Film mit deinem Namen verkaufen wollen. Du mußt eben an dir ein wenig arbeiten. Lern halt, wie sich eine Bardame benimmt.«

Schnippisch fragte Liza: »Kennst du eine aus deinem Freundinnenkreis, die mich lehrt, was ich zu tun habe?«

Der Regisseur fluchte, langte zu seinem Regiepult und angelte sich eine Tageszeitung heran. Er schlug die Annoncen auf und tippte mit dem Finger auf eine davon: »Da, schau her! Da inseriert ein Amsterdamer Nachtlokal: Die suchen Bardamen. Melde dich. Mache ein paar Tage echte Schule an der Bar mit. Dann wirst die Rolle schaukeln. Ich gebe dir drei Tage. Solange pausieren wir mit dem Film und drehen Stadtaufnahmen.«

Knarrend öffnete sich das Tor zur Fabrikhalle. Joe Baxter stand in seiner vollen Größe da und glättete sich

sein gewelltes blondes Haar. Er winkte zum Regiesessel: »Hallo, Conny, alter Freund!« »Joe«, erwiderte der Regisseur und rief dem alten

Kameraden aus militärischen Tagen entgegen. »Was machst du denn in Amsterdam? Wieder eine deiner aufregenden Geistergeschichten?«

Baxter nickte: »Ja, und als ich in der Zeitung las, daß du hier einen Film machst, dacht ich: Du mußt unbedingt den alten Crash besuchen!«

»Lieb von dir«, antwortete der Regisseur. »Leider kommst du nicht gerade sehr gelegen. Du kannst nicht beim Drehen

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zuschauen, weil ich die Arbeit gerade abgebrochen habe. Liza muß zuerst auf Bardame trainieren. Liza! Komm mal her. Ich stelle dir einen alten Freund vor: Das ist Joe Baxter!«

Liza musterte ihn interessiert: »Sind Sie etwa der berühmte Hauptkommissar vom Parapsychologic Department, der das Rätsel um Jack the Ripper gelöst hat?«

Joe Baxter nickte und reichte der Schauspielerin die Hand. Sie wollte sich gerade setzen. Doch Conny Crash ermahnte

sie: »Also, mit Joe Baxter kannst du erst plaudern, wenn du deinen ›Bardamen-Lehrgang‹ gemacht hast. Melde dich sofort auf das Inserat. Wir müssen ja so bald wie möglich den Film zu Ende bringen. Und melde dich zwischendurch!«

Liza verabschiedete sich. »Ein hübsches Mädchen«, stellte Baxter fest und schaute ihr

bewundernd nach. »Aber dumm wie die Nacht«, stöhnte Conny Crash. Joe Baxter sah ihn ernst an: »Dann solltest du ganz besonders

auf sie aufpassen. In Amsterdam sind in den letzten Wochen sieben hübsche Mädchen ermordet worden. Der Täter scheint es auf gutaussehende junge Damen abgesehen zu haben.«

»Sieben Mädchenmorde?« fragt Crash erstaunt. Joe Baxter nickte: »Von sieben weiß die Polizei. Wir wissen

nicht, ob in der Stadt noch irgendwelche Mädchenleichen herumliegen. Die Sache ist jedenfalls bedenklich.«

»Aber Joe, was hast du damit zu tun? Dein Ressort sind doch Geister und überirdische Mächte?«

»Ganz richtig. Warte nur ab. Meine eigentliche Aufgabe beginnt erst!«

Conny Crash wechselte das Thema: »Joe, wie wärs, wenn wir heute abend essen gingen? Jetzt habe ich keine Zeit. Ich bin mit unserem Produzenten verabredet.«

Baxter fragte: »Wer finanziert eigentlich den Film?« »David Leek, ein alter Filmhase. Ein wenig hysterisch, aber

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sonst ganz clever!« In diesem Augenblick betrat Viola Oggi das Studio. Conny Crash pfiff durch die Zähne: »Donnerwetter, die

könnten wir beim Film brauchen. Ist das deine Freundin?« Joe Baxter schüttelte den Kopf: »Das ist meine Assistentin,

Viola Oggi.« Viola Oggi stand aufgeregt vor den beiden Männern. »Joe,

etwas Schreckliches ist passiert. Kommissar Vandooren hat gerade im Hotel angerufen. Sie haben vor einer Stunde an den Schleusen der Zuidersee ein totes Mädchen aus dem Wasser gefischt. Sie hatte keine äußeren Verletzungen. Sie dürfte ertränkt worden sein. Außerdem war sie wieder stark geschminkt …!«

*

Die Tote starrte mit glasigen Augen in den Himmel. Ein hübsches Mädchen: schlank, rothaarig, große Augen,

eine griechische Nase. »Nur die Grübchen in den Wangen fehlten. Und die hat man

ihr optisch durch geschickt aufgetragene Schminke verpaßt«, stellte Joe Baxter fest und sah dann Kommissar Vandooren an.

»Damit ist die Sache klar. Dr. Bunn ist ein Mörder!« Kommissar Vandooren meinte: »Ich habe das Photo von der

alten Dame in der Villa in Sloterdijk nicht zu Gesicht bekommen. Sie haben es sich eben angesehen. Könnte sie das sein?«

Joe Baxter nickte: »Ja, fast so hat Maria ausgesehen. Dr. Bunn hat sich ein Mädchen ausgesucht, das ihr ähnlich sah. Er hat es ertränkt, geschminkt, als Maria präpariert und wollte es der alten Frau bei seiner Sitzung als verstorbene Tochter vorführen. Eine makabre Show. Doch wir haben ihm den Abend verdorben …«

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»Verflucht! Wo hat denn der Doktor die Tote versteckt gehalten, als wir kamen?«

Joe Baxter lächelte: »Ich sagte es Ihnen ja. Dieser Mann hat seine Sache gut vorbereitet. Der mußte doch damit rechnen, daß einmal die Polizei kommen würde.«

Er sah wieder auf die Tote: »Als wir weg waren, hat er die Leiche rasch zur Zuidersee schaffen und in die Schleuse werfen lassen.«

»Das muß ein Wahnsinniger sein. Warum arbeitet er nicht mit einer Puppe, die er nach dem jeweiligen Photo von Verstorbenen umschminkt?« fragte der Kommissar.

Joe Baxter wußte auch keine Antwort: »Vielleicht stimmt bei ihm einiges nicht im Oberstübchen.«

Vandooren triumphierte: »Diese Tote da überführt ihn als Mörder. Sein Spiel ist aus!«

Baxter warnte: »Begehen Sie nicht einen weiteren Fehler. Die Leiche sagt noch gar nichts. Jemand hat ein Mädchen geschminkt und ertränkt. Dr. Bunn behauptet, er hat okkulte Fähigkeiten, Verstorbene erscheinen zu lassen. Da steht Aussage gegen Aussage: Wir konnten ihm noch kein Verbrechen nachweisen. Dies ist aber das Vordringlichste, damit nicht noch mehr Morde passieren.«

Vandooren gestand: »Baxter, ich muß etwas beichten. Als wir unlängst von der Villa in Sosterdijk wegfuhren, da war ich fast überzeugt, daß Dr. Bunn wirklich ein großer Parapsychologe sei, der das alles kann, was er behauptet. Dieses tote Mädchen da hat mich wieder in die Realität zurückgerufen.«

»Was Dr. Bunn tut, hat nichts mit Parapsychologie zu tun, glauben Sie mir, mein Lieber. Wir haben jahrzehntelang geforscht. Es ist unmöglich, Verstorbene nach so vielen Jahren im Zustand ihres Ablebens zu rematerialisieren. Es wäre niemals durchführbar, daß man beispielsweise diese Maria bei einer Sitzung erscheinen ließe. Man kann zwar ihre Stimme zur

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Erde holen, niemals ihren Körper, wie Dr. Bunn es sich vorstellt …!«

*

Abendschatten hatten sich bereits über die Amsterdamer Altstadt gesenkt, als Liza Reynolds – in der Hand das Zeitungsinserat – ihr Ziel in der größten Geschäftsstraße erreicht hatte. Sie betrat das alte Fachwerkgebäude und stieg die enge Treppe in den dritten Stock hinauf.

Sie klopfte zaghaft an. Eine Männerstimme sagte: »Herein!« Liza trat ein. Ein graumelierter Herr von gedrungener Gestalt im

eleganten Anzug ging, nachdem er sich von seinem Schreibtisch erhoben hatte, auf Liza zu und verneigte sich.

Liza fiel gleich mit der Tür ins Haus: »Ich komme auf Ihr Inserat!«

Der Herr begann sofort zu reden: »Ich freue mich, daß Sie bei uns als Bardame anfangen wollen. Sie sind Engländerin?«

Sie nickte. »Sind Sie allein hier in der Stadt?« Sie nickte wieder. Aufmerksam musterte er ihre schlanke Gestalt und meinte

dann: »Sie sind sehr hübsch. Und Sie sehen einer Londoner Nachwuchsschauspielerin ähnlich. Wie heißt sie denn gleich … Ja, ich hab's: Liza Reynolds. Ich habe schon ein paar Filme mit ihr gesehen.«

Liza log: »Das haben schon viele Leute gesagt, daß ich ihr ähnlich sehe. Wann kann ich mit meinem Job anfangen?«

Der Herr lächelte verbindlich: »Sofort, mein schönes Kind. Wirklich sehr hübsch. Und noch dazu blond, schulterlanges Haar, kleine Nase, schrägstehende Augen. Großartig.«

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Er zog sich das Telephon heran und wählte eine Nummer. Sofort wurde am anderen Ende der Leitung abgehoben. Eine tiefe Stimme war zu hören.

»Das Inserat hatte Erfolg«, meinte der graumelierte Herr. »Es ist gerade ein ideales Mädchen vorbeigekommen. So, wie wir sie uns vorgestellt haben. Der Chef wird zufrieden sein …!«

Er legte auf. Dann wandte er sich an Liza: »Wenn ich Sie einladen darf, mit mir zu Ihrem Arbeitsplatz zu kommen?«

Liza horchte auf: »Ich dachte, es handelt sich um das Lokal im Erdgeschoß des Hauses? Das ist doch eine Bar!«

Er lächelte: »Ja, das Lokal gehört auch zu uns. Ich zeige es Ihnen gern. Doch für Sie habe ich etwas ganz Besonderes: unseren Exklusivklub in Diemerbrug. Er heißt ›Orient‹ und nimmt vor allem prominente und gutzahlende Gäste auf.«

Er hakte sich bei Liza ein und führte sie über eine Hintertreppe in die Bar im Erdgeschoß. Ein rothaariges Mädchen an der Bar kam sofort her und kicherte:

»Na, bist du die Neue, die heute zu uns kommen soll?« Liza schüttelte den Kopf: »Nein, ich soll hinüber ins

›Orient‹!« Der graumelierte Herr, vermutlich der Geschäftsführer des

Unternehmens, zerrte Liza weg und flüsterte ihr zu: »Das geht doch niemandem etwas an, wo Sie Arbeit finden werden. Die Mädchen sind ohnehin sehr neidisch.«

Sie verließen die Bar, traten auf die nächtliche Straße, bestiegen einen roten Sportwagen und fuhren in raschem Tempo davon. Liza Reynolds kannte sich bald nicht mehr aus, in welche Richtung sie fuhren. Die vielen engen Gassen und schmalen, hohen Häuser irritierten sie.

Endlich wurden die Straßen breiter. Der Wagen hatte die Altstadt verlassen. Liza spähte aus dem Fenster: ringsum Gärten und Villen. Dann wieder Geschäftshäuser. Schließlich bog das Auto in eine breite Auffahrtsrampe. In Leuchtschrift

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war schon »Orient« zu lesen. Vor dem Lokal parkten teure, riesige Autos, einige mit Diplomatennummern.

»Wir sind da«, murmelte der graumelierte Herr, stieg aus, lief um den Wagen herum und half Liza beim Aussteigen. Sie schüttelte ihre Kleider und strebte dem Haupteingang zu. Sanft zog er sie weg und meinte: »Ich nehme immer den diskreten Hintereingang. Kommen Sie bitte mit mir!«

Liza folgte ihm. Sie verschwanden hinter einer kleinen Eisentür. Der Korridor war nur spärlich beleuchtet. Endlich tat sich eine Nische auf. Sie standen vor einem Samtvorhang. Ein dicker kleiner Mann zog den Stoff zur Seite und brummte: »Ah, da kommt ihr ja!«

Er musterte Liza eingehend, eilte voraus, blickte auf ein Photo, das er auf einem Tisch liegen hatte, sah wieder sie an und meinte dann: »Tadellos. So, genauso sollte sie aussehen. Herzlich willkommen, junge Frau. Nehmen Sie Platz. Wir wollen zusammen einen Whisky nehmen und auf Ihren neuen Job trinken.«

Der Dicke reichte jedem ein Glas. Sie stießen an, und er lächelte: »Auf Ihren neuen Job! Wie heißen Sie eigentlich?«

»Debbie«, log Liza und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Whiskyglas. Als sie es absetzte, spürte sie ein seltsames Drehen im Kopf und einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge.

»So«, meinte der kleine Dicke. »Dann mach deine Sache gut, Debbie. Du wirst dem Chef gut Dienste leisten …!«

Liza wollte fragen, warum gerade dem Chef. Sie brachte aber die Worte nicht mehr hervor. Sie rang nach

Luft, spürte, wie ihr Atem heiß und beißend wurde. Ihr Herz schlug wild. Ihre Augen quollen hervor. Sie ahnte, daß man ihr etwas in den Whisky getan haben mußte. Anders war ihr Zustand nicht zu erklären.

Mit aller Gewalt versuchte sie sich an der Tischkante

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festzuhalten. Alles verschwamm vor Ihren Augen. Da starrte sie auf den Dicken vor sich. Er stand auf und trat mit seinem rechten Fuß gegen ihre Hände, die noch immer nach Halt suchten. Sekunden später stürzte Liza zu Boden und schlug mit dem Kopf hart auf.

Verschwommen hörte sie noch, wie jemand sagte: »Paß doch auf. Sie darf doch keine Verletzungen rundum aufweisen. Sie ist ohnehin schon weg. Laß sie in Frieden …!«

*

Olga Dussowa fühlte sich benommen wie nach einem langen Sturz. Sie spürte einen schweren Druck auf sich. Doch es war eine seelische Last. Sie wußte inzwischen, daß ihr Körper nicht mehr existent war.

Olga war eine Wesenheit in todesähnlichem Zustand. Sie schwebte als Sein in einem Reich, in dem der Tod

herrschte. Sie wußte, daß man sie von der Erde entführt und

entmaterialisiert hatte. Sie faßte ihre Gedanken in Hochfrequenzformeln und sandte Sprechimpulse gegen die Wesenheiten der Verstorbenen aus.

»Warum habt Ihr mich zu Euch geholt? Ich fordere eine Antwort!«

Olga Dussowa vernahm keine Worte. Doch sie spürte genau, was ihr die Stimme einer mächtigen Wesenheit sagte: »Wir sind die acht Verstorbenen, junge Mädchen, die im blühenden Alter einem skrupellosen Verbrecher zum Opfer fielen. Nach unserem grausamen Racheplan muß Doktor Bunn langsam und qualvoll sterben.«

Olga fragte die Wesenheiten als nächstes: »Und was wollt ihr ausgerechnet von mir?«

»Du bist die Mitarbeiterin einer irdischen Organisation, die

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uns nahesteht. Doch wir haben erkannt, daß auch ihr Interesse an diesem Doktor Bunn habt. Das ist uns nicht recht. Die blutige Rache aus dem Jenseits wird ihn treffen. Ihr seid uns im Weg.«

Olga konterte: »Es ist unsere Aufgabe, Doktor Bunn einer irdischen Justiz zuzuführen. Ihr habt doch nichts mehr von eurer Rache.«

»Das verstehst du nicht!« Eine Wesenheit betonte: »Wir schicken dich wieder zur Erde. Du wirst erneut deine Gestalt annehmen. Sage deinen Freunden vom Parapsychologic Department, daß sie ihre Aktion abbrechen sollen. Wir würden nämlich sonst bei unserer Rache an Doktor Bunn auf niemand anderen Rücksicht nehmen können.«

»Was soll das bedeuten?« »Wenn wir ihn vernichten, und ihr seid uns dabei im Wege,

so werden wir auch euch vernichten. Wir haben euch gewarnt. Und da wir sonst eure Arbeit schätzen, lag uns daran, euch zu warnen.«

Olga fühlte sich auf einmal leicht. Sie hörte nicht mehr ein Schwirren, sondern ein harmonisches Aufklingen von Chören. Dann versank sie in ein Nichts und verlor die Empfindung für ihr Existentsein. Sie glitt zur Erde zurück und spürte, wie sich irgendwo wieder die Moleküle ihres Körpers zusammenfanden …

*

Joe Baxter fuhr aus dem Schlaf hoch – das Telefon schrillte. Langsam tastete sich Baxter zum Apparat. »Ja, was ist denn los um diese Zeit?« donnerte er. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war nervös: »Ich

bin's, Joe. Conny.« Joe Baxter war plötzlich hellwach. »Ich dachte, Regisseure

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schlafen um diese Zeit auch, wie andere normale Menschen.« »Joe«, bettelte Conny Crash. »Du mußt mir helfen. Es ist

etwas Entsetzliches passiert. Liza Reynolds ist spurlos verschwunden.«

Baxter setzte sich im Bett auf und spielte mit der Telephonschnur: »Vielleicht ist sie krank und liegt in ihrer Wohnung.«

»Nein, das Apartment hat sie seit drei Tagen nicht mehr betreten. Du weißt doch, daß ich sie auf Grund eines Inserates weggeschickt habe, damit sie ein bißchen lernt, wie sich eine echte Bardame zu benehmen hat. Ich hoffe nur, daß ich da keine Dummheit begangen habe.«

»Weißt du noch den Text des Inserates?« »Selbstverständlich. Sie sollte in die Kalverstraat kommen. In

ein Büro über dem Nachtlokal ›Van Dillen Bar‹. Ich dachte, bevor ich dorthin gehe, verständige ich dich. Du bist schließlich von der Interpol.«

»Warte«, rief Joe Baxter in die Sprechmuschel. »Ich komme mit dir. Ich hab vielleicht doch ein wenig mehr Erfahrungen bei solchen Unternehmungen.«

Joe beeilte sich, denn sein Freund tat ihm leid. Er hatte eine Unüberlegtheit begangen, als er die Hauptdarstellerin seines neuen Films einfach als Barmädchen zur Arbeit schickte. Und nun war sie zum vereinbarten Drehtermin nicht mehr greifbar. Dabei kostete jeder verlorene Drehtag Riesensummen.

Eine halbe Stunde später hielt Conny Crash in seinem Wagen vor dem Hotel. Joe Baxter grüßte kurz und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken.

Conny Crash murmelte ärgerlich: »Der Produzent weiß es noch gar nicht. Wenn ich Liza heute nicht finde, muß ich ihm morgen beichten, daß wir nicht weiterdrehen können.«

Sie waren vor der »Van Dillen Bar« angekommen. Mit raschen Schritten näherten sie sich dem Lokal und traten ein.

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Conny Crash fragte sich nach dem Geschäftsführer durch und wurde in den dritten Stock geschickt.

Die beiden Männer traten ein. Ein graumelierter Herr schritt ihnen entgegen: »Was kann ich

für Sie tun?« Conny Crash stotterte etwas verlegen: »Wir suchen ein

Mädchen, das sich vor drei Tagen bei Ihnen auf Grund des Inserates um die Stelle eines Barmädchens beworben hat.«

Conny Crash beschrieb sie und meinte: »Sie sieht der Schauspielerin Liza Reynolds sehr ähnlich.«

Der Mann lachte: »Das tut mir aber leid, meine Herren. Bei uns stellen sich täglich Hunderte von Mädchen vor. Da kann ich nicht jede einzelne im Gedächtnis behalten. Ich glaube aber nicht, daß das Mädchen, das Sie suchen, bei mir war.«

Sie verabschiedeten sich und gingen noch auf einen Drink in die Bar. Joe Baxter sah sich um. Dann winkte er ein Mädchen her: »Hast du ein blondes Mädchen mit schulterlangem Haar und schrägen Augen vor drei Tagen als Barmädchen hier aufkreuzen sehen?«

Sie schüttelte den Kopf, meinte aber: »Ich glaube, die Mia hat von so einer erzählt. Ich schick sie Ihnen her.«

Sekunden später stand die rothaarige Mia vor Joe Baxter: »Ja, so eine war da. Doch der Chef führte sie nur hier durch. Ich entnahm, daß sie einen besseren Job bekommen sollte, draußen im Orientklub. Als ich mit dem Mädchen darüber reden wollte, da schob sie der Chef weg. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«

Joe Baxter erkundigte sich: »Wo ist der Orient-Klub?« »In Diemerbrug draußen, in der äußeren Stadt!« Baxter und Crash bezahlten und verließen das Lokal. Sie

fuhren sofort in Richtung Süden. Es hatte zu regnen begonnen. »Die Sache ist zu dumm«, murmelte der Regisseur. »Der

Produzent nimmt glatt das Geld aus dem Film heraus. Das

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würde mir noch fehlen. Morgen gibt es einen Skandal. Der Vater von Liza hat schon dreimal aus London angerufen. Als er von mir hörte, daß ich nichts über Lizas Verbleib wüßte, drohte er an, sofort nach Amsterdam zu kommen, um die Sache zu klären. Er liebt seine Tochter und hat verständlicherweise Angst um sie.«

Sie sprachen den restlichen Weg nichts mehr. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Joe Baxter blickte auf, als der Wagen vor der Orient-Bar hielt. »Schicker Klub«, meinte Conny Crash. Als sie das Etablissement betraten, liefen ihnen zwei

Mädchen entgegen: »Hallo, ihr Herren, wollt Ihr euch gut unterhalten?«

»Fehlanzeige, Baby. Wir wollen den Chef sprechen.« Kaum hatte Baxter das gesagt, da stand auch schon ein

kleiner, dicker Mann da und verneigte sich: »Haben die Herren Spezialwünsche, die ich erfüllen kann? Womit darf ich dienen?«

Conny Crash zog aus der Tasche eine Autogrammkarte von Liza Reynolds und hielt ihm das Photo hin: »Kennen Sie dieses Mädchen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten seine Augen. Dann schüttelte er beherrscht den Kopf: »Ein hübsches Mädchen. Aber ich habe sie noch nie gesehen. Tut mir sehr leid …!«

Als Joe Baxter mit dem Regisseur auf die Straße trat, sahen sich beide vielsagend an. Dann knurrte Baxter: »Der weiß sehr viel. Und Liza war sicher bei ihm. Bis hierher also haben wir ihre Spur gefunden. Aber im Augenblick können wir hier nichts ausrichten. Vielleicht kann sich Viola auf Liza konzentrieren und erfahren, ob sie vielleicht irgendwo festgehalten wird …!«

*

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Joe Baxter ließ sich vor dem Hotel von Conny Crash absetzen. Er betrat die Halle und eilte zum Aufzug. In diesem Augenblick wußte er genau, daß er verfolgt wurde, obwohl er niemanden sah. Er bestieg den Lift und fuhr zu seinem Zimmer hoch.

Auf dem Korridor war alles still. Joe Baxter blickte sich nach allen Seiten um. Niemand da. Er wandte sich zum Apartment, im gleichen Augenblick

wurde die Tür nebenan aufgerissen. Eine dunkle Männergestalt sprang auf Baxter zu. Und ehe sich der Hauptkommissar darauf vorbereiten konnte, warf sich der Hüne auf ihn, drückte ihn zu Boden und setzte ihm eine Pistole an die Schläfe.

»Keine Bewegung!« fuhr er Baxter an. Dann tastete er ihn nach einer Waffe ab. Der Fremde bedeutete ihm, nachdem er keine Waffe gefunden hatte, sein Hotelapartment aufzusperren. Baxter befolgte die Anweisung. Er verfuhr dabei sehr laut und stieß polternd die Tür auf. Er hoffte, daß Viola Oggi erwachen und ihm helfen würde.

Doch Baxter war enttäuscht. Im Salon brannte Licht. Viola saß gefesselt und geknebelt in einer Ecke des Raumes und konnte sich nicht mehr bewegen.

Der hochgewachsene Mann lachte: »Da staunst du, was? Ich war schon einmal hier und hab dein Täubchen unschädlich gemacht.«

Er stieß Baxter in einen Sessel und sagte barsch: »Und jetzt hört mir gut zu. Wir drei sind hier ganz allein in dem Apartment. Ihr seid in meiner Hand. Ihr werdet eure Koffer packen und Amsterdam mit der nächsten Morgenmaschine verlassen. Schnüffelt nicht hinter Mädchen her, die euch nichts angehen. Und laßt gefälligst unseren verehrten Doktor Bunn in

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Frieden.« Baxter mußte auflachen. Doktor Bunn und ein »verehrter«

Magier! Das war unglaublich! »Also, Doktor Bunn schickt Sie her?« fragte Baxter. Der andere kam näher und schlug Baxter mit der Hand ins

Gesicht: »Das geht dich gar nichts an, verdammter Engländer!« Joe Baxter tat, als wäre er durch den Schlag ins Gesicht

benommen. In Wahrheit aber konzentrierte er all seine Sinne auf sein Gegenüber. Er sandte seine hypnotischen Strahlen auf die Lider des Fremden. Immer wieder dachte er: »Du bist müde, schrecklich müde. Du bist entsetzlich müde …!«

Es wirkte. Der hochgewachsene Eindringling begann zu schwanken.

Doch er hielt krampfhaft seinen Revolver in den Händen fest. Böse lachte er: »Keine Sorge, wenn ich mich auch ein wenig abgespannt fühle. Ich bin hellwach und knalle euch beide ab, wenn ihr versucht, an mich heranzukommen.«

Baxter erkannte, daß der Fremde einen starken Willen besaß und kaum unter Hypnose einschlafen würde. Das war eben nicht bei allen Menschen möglich.

Angestrengt dachte der Hauptkommissar nach, wie er den Mann ausschalten könne. Er merkte, daß auch Viola Oggi alle Anstrengungen machte, mit Zaubersprüchen, die Durchhaltekraft dieses Gewalttäters zu brechen. Es schien aussichtslos. Dr. Bunn hatte ihn gut für den Einsatz mit PSI-begabten Menschen trainiert.

Da geschah etwas Unerwartetes. Der Fremde, der gerade noch Baxter in Schach gehalten hatte,

starrte entsetzt auf seine rechte Hand. Wider seinen Willen entglitt den Fingern die Pistole und fiel zu Boden.

»Verdammt, was ist mit meiner Hand?« fluchte er und beugte sich schnell herab, um die Waffe aufzuheben. Im selben Augenblick aber trafen ihn einige harte Karate-Schläge aus der

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Luft. Er wirbelte herum und sah – nichts. Er schrie auf, als er zehn Finger von zwei flinken

Frauenhänden an seinem Gesicht verspürte, die ihn kratzten. Das Blut lief ihm in Strömen herab.

»Was ist das, Himmel!« schrie er und rannte wie ein gehetztes Tier in die Ecke.

Dann traf ihn ein letzter Schlag auf den Kopf. Er sank zu Boden.

Joe Baxter hatte die Situation noch nicht ganz erfaßt, obwohl er schon ahnte, was da vor sich ging.

Ein Sausen, Schwirren, Keuchen und Stöhnen fegte gegen die Zimmerdecke.

Die Luft erzitterte. Und dann wurden allmählich Konturen einer menschlichen

Gestalt wahrnehmbar. Es war Olga Dussowa. Soeben rematerialisiert, zurückgekehrt aus dem Reich der

Toten. Jetzt stand sie in ihrer vollen Größe da und flüsterte: »Jetzt

habe ich mich ein wenig zu sehr übernommen. Das Zurückfinden zum eigenen Körper ist sehr anstrengend.«

Joe Baxter umarmte Olga. Dann befreiten sie Viola Oggi. »Olga, dich haben die Toten im rechten Augenblick wieder

entlassen. Du hast uns vermutlich das Leben gerettet.« Joe Baxter rief Kommissar Vandooren an und teilte ihm mit,

daß er einen unbekannten Gewalttäter im Hotelzimmer abholen könne.

Dann setzten sich die drei zusammen. Baxter war sehr neugierig: »Also, was war im Jenseits? Was

wollen die von uns?« Viola Oggi warf ein: »Dr. Duvaleux teilte uns mit, die

Wesenheiten möchten erstmals mit uns zusammenarbeiten …!«

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Olga schmunzelte: »Wer sagt das?« »Duvaleux.« »Na, da hat sich der Direktor aber einmal sehr geirrt«,

erwiderte Olga Dussowa. »Von Zusammenarbeit ist keine Rede. Die wollen im Fall Dr. Bunn allein agieren. Bei den Wesenheiten, die mich warnten, sich in die Sache einzumischen, handelt es sich um die ermordeten Mädchen des Dr. Bunn.«

Baxter klatschte in die Hände: »Dann ist unsere Vermutung also doch ganz richtig. Dr. Bunn mordet, um zu Toten zu gelangen, die er dann, geschminkt und hergerichtet, als längst Verstorbene bei seinen Sitzungen vorführt. Das muß ein Irrer sein. Oder ein Schwein, denn er kassiert für seine Attraktion gigantische Summen. Und die Leute fallen darauf herein.«

Er ging jetzt im Zimmer auf und ab, es war ihm etwas Besonderes eingefallen. »Viola, ich brauche dich dringend. Setz dich hin und sammle deine medialen Kräfte. Aber bitte schnell, meine Liebe.«

»Was soll ich denn für dich herausbekommen?« »Ich will wissen, was dieser Kerl, der da bewußtlos in der

Ecke liegt, dachte, bevor er das Bewußtsein verlor.« Viola bedeckte ihre Augen mit den Händen. Dann ging sie

langsam zu dem Mann, dem Olga durch einen Schlag auf den Kopf den Rest gegeben hatte. Sie ergriff den Puls der rechten Hand, schloß die Augen und murmelte unhörbar die Formeln ihrer Vorfahren, mit denen sie es zuwege brachte, vergangene Gedanken anderer zu reproduzieren.

So hockte sie neben dem bewußtlosen Mann. Und dann entfuhr es ihr stockend: »Was ist nur los mit mir? Jemand schlägt mich und ich sehe niemanden. Das kann nur eine Hexe oder der Teufel sein. Das ist doch nicht zu fassen. Und die anderen entkommen mir. Was wird Dr. Bunn sagen? Dr. Bunn würde vielleicht einen Ausweg wissen …!«

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Sie verharrte noch einige Minuten in der Stellung. Dann ließ sie den Arm los und erhob sich.

»Mehr hat er sich nicht gedacht, als Olga ihn niederschlug.« Joe Baxter drückte ihr ein Küßchen auf die rechte Wange:

»Großartig. Du hast mir sehr geholfen. Ich hatte mir ja gleich gedacht, daß die Sache mit Dr. Bunn zu tun hat.«

»Wie meinst du das?« fragte Olga Dussowa. »Ich bin mit meinem Freund Conny Crash heute auf

Mädchensuche gegangen, weil ihm seine Hauptdarstellerin abhanden gekommen ist. Spurlos verschwunden mitten in Amsterdam. Und als ich nach Hause kam, war dieser Mann hinter mir her. Er scheint mich vom Orientklub aus verfolgt zu haben. Wenn er aber jetzt beim Niedergeschlagenwerden an Dr. Bunn dachte, so ist er ein Gehilfe dieses Gauners. Das bedeutet auch, daß der Orient-Klub ebenfalls mit Dr. Bunn in Verbindung zu bringen ist. Und daß folglich auch das Verschwinden von Liza Reynolds in die Affäre Bunn gehört.«

»Wißt Ihr, was das aber noch bedeutet?« Er wartete keine Antwort ab: »Daß Liza Reynolds in

Lebensgefahr schwebt. Vielleicht ist sie sogar schon tot …!« *

Dicker Nebel lag über London. Der Gerichtsbeamte John Reynolds ging unruhig in seinem Arbeitszimmer hin und her. Hin und wieder blieb er am Fenster stehen, hüllte sich noch mehr in seinen Schlafmantel und starrte zur Themse hinaus, die kaum zu erkennen war.

John Reynolds war von Unrast ergriffen. Seit er wußte, daß seine Tochter Liza während der Dreharbeiten in Amsterdam spurlos verschwunden war, wirbelten die Gedanken in seinem Kopf durcheinander.

Er fühlte sich müde. Doch er wußte, daß er vor Sorge nur

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schwer würde einschlafen können. Er griff nach einem Schlafmittel.

Rasch zuckte seine Hand zurück. John Reynolds wollte Klarheit über das Verschwinden seiner

Tochter. Und diese Klarheit konnte er im Augenblick nur einigermaßen durch einen besonderen Traum erhalten. Hellseherische Träume aber konnte John Reynolds nur dann haben, wenn er sich keiner Medikamente bediente.

Er duschte lauwarm, zog sich einen weichen Pyjama an, trank ein Glas Rotwein und legte sich dann auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. So kamen immer die Träume über ihn, die ihm die Zukunft voraussagten und ihm Klarheit über die Gegenwart gaben.

John Reynolds lag nur wenige Minuten wach, die Augen gegen die Zimmerdecke gerichtet.

Dann entschwanden ihm die alltäglichen Gedanken. Sein Körper zog sich in seine Schlafstellung zurück. Puls und Kreislauf bremsten sich ab, das Herz schlug langsamer. Die Atmung ging leise und regelmäßig.

John Reynolds schlief tief und fest. Eine jähe laute Meeresbrandung ließ ihn hochschrecken.

Zischender Wellenschaum besprühte ihn. Er stand allein auf einem Felsen und schaute in das bewegte Wasser. Doch nicht nur das Meer an sich faszinierte ihn, sondern das riesige Tier, das sich darin tummelte und immer wieder seinen ganzen Körper in die Luft hob. Ein Hai mit einem riesigen Maul und messerscharfen Zähnen. Er wand und drehte sich und versuchte immer wieder ans Ufer zu springen. Aber er wagte es nicht.

Dann tauchte ein Segelboot am Horizont auf. Es kam näher und näher. Der Hai wandte sich blitzschnell um und attackierte das Boot. Er versuchte, es mit seiner Schwanzflosse zu verdrängen. Doch die Wellen trieben es schnell genug zu

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den Felsen, wo es strandete. Die Segel waren zerfetzt. Doch Liza Reynolds sprang heil heraus und flüchtete die steile Küste nach oben landeinwärts.

Doch ehe Vater Reynolds sie warnen konnte, kam ein kleiner Türke mit Turban und Pumphose auf sie zugerannt. In der rechten Hand schwang er einen Krummsäbel. Er rief etwas. Es war die Stimme einer Frau. Ein Eunuch!

Da schrie Liza gellend auf und machte kehrt. Sie stolperte dem Wasser zu. Sie stürzte, raffte sich hoch, breitete die Arme aus und begann in den Wolken zu verschwinden.

John Reynolds blickte hoch. Er rief ihren Namen. Doch dann blendete ihn ein helles Licht von oben, daß er die Hände vor die Augen drückte. Schlagartig wurde es dunkel um ihn. Und als er die Augen aufschlug, – lag er in seinem Bett und sah, wie das Morgengrauen zum Fenster hereinkroch.

Der Gerichtsbeamte stand auf. Noch ehe er ins Badezimmer ging, um sich frisch zu machen, ließ er sich auf seinen Sessel hinter dem Schreibtisch im Arbeitszimmer fallen. Er holte sein indisches Traumbuch aus der Schublade und suchte einige Begriffe.

Hai: Tod, Unglück, Zerstörung. Segeln: Leid, Kummer. Eunuch: Qualen, Unglück. John Reynolds atmete schwer und erhob sich mühsam. Er

betrat den Vorraum, ging ans Telephon und wählte die Privatnummer seines Vorgesetzten.

Es war erst 5 Uhr morgens. Die Stimme am anderen Draht war empört. John Reynolds entschuldigte sich leise und meinte: »Es tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit stören muß. Ich kann heute nicht ins Amt kommen. Ich muß die nächste Maschine nach Amsterdam nehmen. Mit meiner Tochter ist etwas Furchtbares geschehen …!«

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*

Filmproduzent David Leek durchmaß sein Zimmer mit großen Schritten. Sein Gesicht war hart und unerbittlich. Er blieb stehen, blitzte den Regisseur Conny Crash an und brüllte aus Leibeskräften: »Was ist denn das für ein Sauhaufen, mit dem Sie da einen Film auf meine Kosten drehen wollen?«

Conny Crash antwortete nichts. Leek schrie von neuem: »Ich frage Sie, warum erfahren ich

heute erst, daß die Dreharbeiten einfach um drei Tage aufgeschoben wurden?«

Jetzt mußte sich Conny Crash rechtfertigen: »Sir, die Sache ist so: Liza Reynolds spielte schlecht. Sie war nicht überzeugend. Da habe ich ihr aufgetragen, sich besser für die Rolle vorzubereiten.«

Donnernd schlug die Faust des Produzenten auf dem Schreibtisch auf: »So, und heute denke ich, ist der vierte Tag, und es wird noch immer nicht gefilmt.«

»Ich kann nichts dafür. Liza Reynolds ist verschwunden und bis heute nicht wieder aufgetaucht. Wir konnten daher nur einige wenige unbedeutende Stadtaufnahmen machen.«

Der Produzent war hochrot im Gesicht: »Was heißt, sie ist nicht wieder aufgetaucht? Wie kann eine Filmschauspielerin in Amsterdam verschwinden?«

Conny Crash war die ganze Angelegenheit peinlich: »Sie benahm sich als Barmädchen unmöglich. Ich riet ihr, sich einige Tage als Barmädchen anstellen zu lassen. Und das hat sie auch getan. Da war ein Inserat in der Zeitung …«

Rasch fragte David Leek: »Was für ein Inserat?« »In der Kalverstraat wurde ein Barmädchen gesucht. Dorthin

ist sie auch gegangen …« »Und, was wissen Sie noch …?« fragte der Produzent. »Sie ist von dort in den Orient-Klub gebracht worden. Hier

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aber, wie ich mich selbst überzeugen konnte, endet jede Spur.« David Leek stand jetzt ganz dicht vor Conny Crash und

packte ihn am Hemd: »Mann, sind Sie wahnsinnig? Sie schicken Ihre Hauptdarstellerin so mir nichts, dir nichts aus dem Studio in ein Nachtlokal, damit sie dort serviert? Hat sie sich dort unter ihrem echten Namen angemeldet?«

»Natürlich nicht. Darum ist es ja besonders schwer, der Sache auf den Grund zu gehen. Wir wissen gar nicht, wie sie sich nannte.«

Der Produzent war bleich vor Zorn: »Ich empfinde es als bodenlose Frechheit, über meinen Kopf hinweg derartige Entscheidungen zu treffen. Ich möchte Sie auf der Stelle feuern. Wenn ich nicht bereits so viel Geld in diesen Film gesteckt hätte, würde ich Sie höchstpersönlich zur Tür hinauswerfen. Was soll jetzt geschehen?«

»Die Polizei wird Liza finden. Dann holen wir die Drehtage ein.«

»Und wenn ihr etwas passiert ist?« kam die schwerwiegende Frage.

Crash schluckte: »Hoffen wir, daß alles gutgeht.« Es klopfte. Die Sekretärin meldete: »Da ist ein Herr draußen,

der sehr aufgeregt ist. Er sagt, er komme direkt aus London.« »Wie heißt er?« »John Reynolds!« Conny Crash schlug die Hände zusammen: »Himmel, der

Vater von Liza. Der hat uns noch gefehlt!« Da stand er schon im Zimmer, verneigte sich leicht und

fragte Conny Crash: »Wo ist meine Tochter? Haben Sie eine Spur?«

Der Regisseur schüttelte den Kopf. Der Produzent reichte Lizas Vater die Hand und meinte

verbindlich: »Wir tun alles, um ihre Tochter zu finden. Und zwar auch in unserem Interesse, weil wir endlich den Film

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weiterdrehen wollen.« »Aber Sie haben noch nichts Konkretes?« »Leider«, murmelte Conny Crash. John Reynolds richtete sich auf und seine Stimme klagte an:

»Sie sind ein verantwortungsloser Regisseur, Mr. Crash. Sie haben meine Tochter ins Verderben geschickt.«

Der Produzent fuhr dazwischen: »Nun also, von Verderben wollen wir noch nicht sprechen. Wir wissen gar nicht, was mit Liza geschehen ist.«

»Etwas Furchtbares«, meinte John Reynolds. »Ich weiß es genau, denn ich hatte einen visionären Traum. Sie ist in Gefahr, vielleicht sogar schon tot.«

Bei diesen Worten zuckte der Produzent zusammen: »So etwas können Sie nicht sagen!«

John Reynolds hob beschwörend die rechte Hand: »Mr. Leek, Träume sind keine Schäume. Das hat uns die Tiefenpsychologie schon oft bewiesen. Ich hatte einen Traum, der mir den Untergang meiner Tochter mitteilte.«

Conny Crash erkundigte sich: »Was wollen Sie nun in Amsterdam tun? Sie müssen warten wie wir alle, bis die Polizei etwas herausgefunden hat.«

»Ich werde nicht warten. Ich werde etwas unternehmen.« »Und was wollen Sie tun?« fragte der Regisseur. John Reynolds antwortete mürrisch: »Die Polizei von

Amsterdam ist kein Trost für mich. Polizisten arbeiten immer langsam und oft erfolglos. Aber ich habe in London gelesen, daß hier in der Stadt seit einiger Zeit ein berühmter britischer Parapsychologe lebt. Es ist Dr. Geoffrey Bunn. Er kann mit Toten reden. Er kann die Zukunft voraussagen. Er muß mir verraten, wo sich meine Tochter befindet, und was mit ihr passiert ist …!«

»Sie wollen zu diesem Dr. Bunn gehen?« erkundigte sich der Produzent David Leek.

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»Er ist ein Genie«, sagte John Reynolds. »Ich gebe ihm gern viel Geld, wenn er mir meinen Traum bestätigen und beweisen kann. Und ich weiß, dieser Mann wird mir weiterhelfen. Er ist der Schlüssel zum Rätsel um meine Tochter …!«

*

Die Schritte eines Mannes hallten über den Korridor der Polizeizentrale.

Er steuerte zum Zimmer von Kommissar Vandooren und klopfte. Als er eintrat, sah ihn Vandooren fragend an. Er aber lächelte, verneigte sich und meinte zynisch: »Ich bin Dr. Bunn. Sie wollten mich unbedingt von Angesicht zu Angesicht sprechen.«

»Ach ja«, nickte Kommissar Vandooren. »Endlich sind Sie da. Ich rede lieber mit Menschen, die keine Kapuzen über den Gesichtern stecken haben.«

Der Holländer bot dem Briten Platz an. Dann sagte er: »Dr. Bunn. Sie sind ein prominenter Mann in

unserer Stadt geworden, obgleich sie erst seit kurzem hier leben. Ihre Sitzungen sind Tagesgespräch in manchen Bevölkerungskreisen. Wir wissen auch, daß Sie viel Geld mit Ihren okkulten Sensationen verdienen …!«

»Kommissar, worauf wollen Sie hinaus? Reden wir offen miteinander!« fiel ihm Dr. Bunn ins Wort.

Vandooren setzte sich und begann: »Dr. Bunn, Sie brüsten sich damit, daß Sie den Leuten Verstorbene aus dem Jenseits zurückholen und zeigen können. Zufällig waren dies bisher nur lauter Mädchen, wie wir eruieren können.«

»Und was haben Sie dagegen?« »Sehr viel! Zugleich fanden wir nämlich in Amsterdam in

regelmäßigen Abständen Mädchenleichen. Ermordete junge Damen, die sehr wohl für eine Sitzung mißbraucht worden

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sein könnten.« Der dunkelhaarige Mann fuhr vom Sessel hoch: »Ich warne

Sie, Herr Kommissar! Sie schieben mir da Morde in die Schuhe …«

»Das habe ich nicht getan«, konterte Vandooren. »Ich teile Ihnen nur meine Bedenken mit.«

Der andere lachte verächtlich: »Ich kenne Ihre Bedenken. Sie glauben, ich sei ein Schwindler, der gar keine Toten zur Erde holen kann. Sie glauben, ich lasse die Leichen am Schnürchen durch mein Zimmer gleiten. Daß dies aber nicht der Fall ist, sollte Ihnen doch wohl schon klargeworden sein. Sie haben ja meine Villa auf den Kopf gestellt und nichts gefunden, obwohl ich eben dabei war, so eine Sitzung abzuhalten. Da hätte doch Ihrer Schätzung nach eine Leiche bereitliegen müssen …«

Vandooren wußte im Augenblick allerdings wirklich keine Antwort.

Er sagte nur: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Dr. Bunn, daß alle etwaigen Zusammenhänge zwischen Ihren Sitzungen und dem Tod dieser Mädchen auf das genaueste untersucht werden. Und beim leisesten Anhaltspunkt sind Sie erledigt. Sie dürfen bis auf Weiteres Amsterdam nicht verlassen!«

Der andere schmunzelte: »Ich hatte auch nicht die Absicht, dies zu tun. Mir gefällt es hier sehr gut. Und meine Anhänger, die mit ihren Verstorbenen reden wollen, brauchen mich.«

»Sie werden also Ihre makabren Sitzungen weiterhin abhalten?«

»Natürlich. Würde ich aufhören, so wäre das ein Geständnis, daß ich etwas mit den Morden etwas zu tun haben könnte. Aber schlagen Sie sich diese Lösung aus dem Kopf. Suchen Sie Ihren Massenmörder anderswo …!«

Er erhob sich: »Brauchen Sie mich noch, Kommissar?« Vandooren schüttelte den Kopf: »Danke, Doktor, im

Augenblick nicht. Wenn ich etwas mit Ihnen zu besprechen

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habe, werde ich es Sie wissen lassen.« Dr. Bunn verließ das Zimmer. Kommissar Vandooren ging ins Nebenzimmer zu seiner

Sekretärin. Er sagte zu sich: »Ich habe mir damals die Stimme genau gemerkt. Das war nicht Dr. Bunn. Der hat uns einen Strohmann geschickt, damit ich ihn nicht zu Gesicht bekomme. Warum verbirgt sich dieser Dr. Bunn hinter der Kapuze und legt sie niemals ab?«

*

Kurz vor Mitternacht, hielt ein Taxi vor der Villa in Sloterdijk. Mühsam stiegen zwei alte Damen aus. Ihre Gesichter waren verhärmt und ausgezehrt. Sie hatten Gehstöcke und ließen sich von dem Taxifahrer zum Tor bringen. Dort schickten sie ihn zurück. Eine der beiden bat ihn: »Warten Sie bitte! Es wird nicht allzulange dauern!«

Er nickte und ging. Beatrix Norweig und ihre Kusine Gretje öffneten das Tor. Im

Park kam ihnen ein gedrungener Mann entgegen, begrüßte sie und brachte sie ins Haus. Sie wurden sofort in ein großes Zimmer mit schwarzroten Tapeten geführt.

Hochaufgerichtet ging ihnen ein Mann in einem Kapuzenkleid entgegen und streckte ihnen beide Hände zu. Beatrix Norweig und Gretje küßten die Hände und verneigten sich ehrerbietig. Dabei flüsterte Gretje: »Danke, daß Sie wieder Zeit für uns haben. Wie steht die Sache?«

Dr. Bunn räusperte sich und meinte dann von oben herab: »Ich habe stundenlang meditiert und nächtelang mit der bedauernswerten Wesenheit eurer Nichte Kontakt aufgenommen. Juliana wird erscheinen. Ich werde Sie mit ihrer Stimme und mit ihrem geistigen Körper aus dem Jenseits holen können.«

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Gretje erkundigte sich: »Wir werden unsere Juliane so sehen, wie sie bei ihrem Ableben aussah? Also wird sie ein Loch in der Stirn haben, denn ihr Mörder schoß sie von vorn durch den Kopf. Sie trug ein grünes Kleid und eine samtene schwarze Handtasche …«

»So wird es sein«, betonte Dr. Bunn. Beatrix Norweig bat: »Kann ich jetzt das Photo von unserer

Nichte wieder zurückhaben. Hat es Ihnen bei der Kontaktaufnahme mit dem Jenseits eine Hilfe bieten können?«

»Das Bild war mir eine große Hilfe.« Er holte es aus seinem Kapuzenkleid hervor und reichte es den beiden alten Damen, die es mit zitternden Fingern entgegennahmen.

Beatrix Norweig schaute es an und murmelte: »Gott, war unsere Juliana ein hübsches Mädchen. Schade, daß sie so früh und auf diese grausige Weise sterben mußte!«

Sie zeigte das Bild ihrer Kusine. Diese nickte ebenfalls. Juliana mußte in der Tat hübsch gewesen sein: schulterlanges

blondes Haar, schlank, voller Mund, kleine Nase und schräggestellte Mandelaugen.

Mit einer frappierenden Ähnlichkeit: Juliane sah vor zehn Jahren so aus, wie jetzt die Filmschauspielerin Liza Reynolds …

*

»Ich glaube, er ist ein Genie«, wisperte Beatrix Norweig, als sie durch den Park gingen, und hakte sich fest in den Arm ihrer Kusine ein.

Die andere nickte und fragte: »Glaubst du, daß er es übermorgen nacht schaffen wird?«

»Natürlich. Er sagt, er hat es astrologisch ganz genau errechnet. Da ist die Zeit günstig für die Erscheinung.«

»Und du glaubst, Juliana wird wirklich auch als Körper bei

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uns sein?« »Er verspricht sicher nichts Falsches. Hast du ihm schon das

Honorar gezahlt?« Die Kusine nickte: »Aber er hat mehr verlangt. Er sagt, die

Polizei will seine Sitzungen nicht. Sie machen ihm Schwierigkeiten. Darum muß er teurer werden, weil das Risiko größer geworden ist.«

»Warum ist die Polizei dagegen? Es ist doch nichts Unrechtmäßiges, wenn man mit seinen Verstorbenen reden möchte.«

Sie strebten dem Gartentor zu. Der dunkelhaarige, stämmige Mann, der sie eingelassen

hatte, kam gelaufen und überholte sie. Dabei sagte er: »Ich mache Ihnen die Tür auf. Ich sperre nämlich hinter ihnen zu, weil wir heute niemanden mehr erwarten.«

Er ging ein paar Schritte vor den alten Damen. Plötzlich schrie er auf und warf die Hände in die Luft. Er rang nach Atem und stieß erstickte Laute aus. »Was hat er denn?« fragte Beatrix erschrocken. Starr standen

sie jetzt da und schauten einem schrecklichen Schauspiel zu. Der Mann wurde wie von unsichtbaren Händen gegen

seinen Willen in die Lüfte getragen und in etwa 20 Meter Höhe im Kreis herumgeschleudert. Mit letzter Kraft brüllte er: »Laßt mich los! So laßt mich doch los. Ich kann nicht mehr!«

Überirdische Mächte hielten ihn fest an Händen und Beinen. Sie wirbelten ihn herum. Es sah aus, als sollte er durch die Luft fliegen. Und dann jagte nur noch ein Schrei durch die Nacht.

Ein grausiges Knirschen war zu vernehmen. Im selben Augenblick wurden dem Mann die Hände, die

Beine und der Kopf abgerissen. Der Rumpf fiel als erster zur Erde und landete im Rasen. Dann folgten die anderen Teile.

Der Kopf fiel direkt vor Gretje und Beatrix Norweig zu Boden. Die Augen waren weit aufgerissen. Der Mund schrie

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noch immer und verzerrte sich allmählich zu einer Totengrimasse.

»Komm, Gretje«, flüsterte Beatrix. »Rasch, weg von hier. Da hat der Teufel die Hände im Spiel.«

Als sie das Gartentor mühsam aufzogen, wurden sie Zeugen eines neuerlichen unheimlichen Schauspiels: In der Luft standen plötzlich zehn brennende Fackeln. Sie zuckten im Takt wild hin und her. Sie senkten sich zu den blutbesudelten Leichenresten des Mannes und zündeten sie an. Wieder zischte es. Gestank, vermischt mit dicken Rauchschwaden, stieg gegen den Himmel.

Die Tür der Villa wurde aufgerissen. Dr. Bunn stand in seinem Kapuzenkleid da und starrte auf

das Geschehen. Seine hohe Gestalt wankte. Dann griff er sich an die Brust und sank mit einem Angstschrei zu Boden …

*

Der Kaffee duftete und der Kuchen schmeckte ausgezeichnet. Gretje und Beatrix Norweig hatten sich Mühe gegeben für

den Nachmittagskaffee ihrer Gäste. Joe Baxter saß in einem Lehnstuhl auf dem Balkon des alten

Patrizierhauses in Amsterdam und blickte direkt auf eine Gracht hinunter, auf der viele lustige Wohnboote vor Anker lagen. Olga Dussowa und Viola Oggi räkelten sich in den letzten Sonnenstrahlen des Tages und sprachen dem guten Kuchen eifrig zu.

Gretje hatte Joe Baxter von dem schrecklichen Erlebnis bei Dr. Bunn berichtet. Und Beatrix hatte eifrig dazu genickt.

Joe Baxter wollte wissen: »Haben Sie sofort die Polizei alarmiert?«

»Natürlich«, erinnerten sich beide Damen im Chor. »Aber als die Herren zur Stelle waren, da gab es den Spuk nicht mehr.

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Keine zerteilte Leiche, keine Fackeln in den Lüften. Und Dr. Bunn war gar nicht mehr hier. Einer seiner Leute erklärte dem Kommissar, daß wir nicht ganz richtig im Kopf sein müßten, weil hier kein Mensch in den Lüften zerrissen und verbrannt worden wäre.«

Joe Baxter sah zu Olga hinüber: »Hast du die Lösung?« Sie schüttelte den Kopf: »Ich kann beim Kuchenessen nur

sehr schwer denken.« »Die Sache ist vollkommen klar. Einer von Dr. Bunns Leuten

ist das erste Opfer des Racheplans aus dem Reich der Toten geworden. Dabei war das sicher nur ein harmloser Anfang …«

»Harmlos? Du lieber Himmel«, stöhnte Gretje. Joe Baxter fand es an der Zeit, sich mit seinen Assistentinnen

zu unterreden. Er rief zum Aufbruch: »Es war sehr nett, daß Sie uns eingeladen und uns von Ihrem Erlebnis erzählt haben. Sie haben uns sehr geholfen.«

Beatrix fragte: »Was ist jetzt, lieber Hauptkommissar? Denken Sie, daß wir morgen zu Dr. Bunn gehen können, um mit unserer verstorbenen Nichte Juliana reden zu können?«

Joe Baxter fragte: »Hat er Ihnen das versprochen?« »Natürlich, wir haben ja schon bezahlt!« »Wann haben Sie die Sitzung ausgemacht?« »Schon vor über einer Woche.« »Und wann hat er sie fixiert, also Ihnen den Termin

gegeben?« »Gestern.« Baxters Gesichtszüge spannten sich: »Kann ich ein Photo

Ihrer verstorbenen Nichte sehen?« »Natürlich«, antwortete Beatrix, holte aus dem

Nebenzimmer ein Photo ihrer Nichte und drückte es Baxter in die Hand. »Sie ist vor zehn Jahren ermordet worden!«

Baxter pfiff durch die Zähne und reichte Olga Dussowa das Bild: »Geht dir jetzt ein Licht auf?«

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Olga und Viola steckten die Köpfe über dem Photo zusammen. Sie schauten sich an: Sie hatten alle die Ähnlichkeit mit Liza Reynolds erkannt.

Als sie wenige Minuten später das Haus der beiden Damen verließen, stellte Joe Baxter fest: »Wie ihr seht, beginnen die Toten bereits an Dr. Bunn Rache zu üben. Wir haben aber noch keinen Beweis in Händen, daß er ein Mörder ist. Die Amsterdamer Polizei kann ihn nicht festnehmen. Und er lädt weiterhin zu seinen Sitzungen ein. Er mordet weiter. Jetzt, da ich das Bild von Juliana gesehen habe, weiß ich, wie die Sache laufen wird. Damit ist für mich der Beweis erbracht, daß Liza Reynolds durch dieses Inserat in die Fänge Dr. Bunns gelockt wurde. Das bedeutet: Alle bisherigen Mordopfer wurden mit Inseraten in jenes obskure Nachtlokal geholt. Wenn sie nicht entsprachen, wurden sie entweder wirklich als Bardamen angestellt oder wieder weggeschickt. Sahen sie aber einem Mädchen ähnlich so wurden sie festgehalten und auf jene Art getötet, wie man es für die Sitzung brauchte, im Notfall noch geschminkt, wenn gewisse besondere Merkmale fehlten und bei der nächsten Gelegenheit im Rahmen einer Sitzung vorgeführt. Und nachher ließ Dr. Bunn die Leichen irgendwo in der Stadt abladen, in der Hoffnung, es würde wie ein Unfall aussehen.«

»Und du meinst«, fragte Viola Oggi blaß, »daß jetzt Liza Reynolds auf der Liste steht?«

»Natürlich. Sie sieht dieser Juliana sehr ähnlich. Entweder wird sie erst getötet, oder sie ist schon tot. Und ich wage sogar zu behaupten, daß ich weiß, wie sie umgebracht worden ist.«

Olga Dussowa sagte: »Sie hat sicher ein kreisrundes Loch in der Stirn!«

»Ich frage mich nur, warum Dr. Bunn der Polizei gegenüber nicht zugab, daß einer seiner Mähner von überirdischen Mächten in der Luft zerrissen wurde. Das hätte doch seinen

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Ruf als Meister des Übersinnlichen noch untermauert.« Joe Baxter schüttelte den Kopf: »Keine Spur. Dr. Bunn will

nur eines: sich die Polizei vom Hals schaffen. Er muß ja damit rechnen, daß man sonst doch noch auf seine Verbrechen kommt.«

Olga Dussowa mengte sich ein: »Was müssen wir jetzt tun? Die Polizei von Amsterdam kann ja diesen Fall doch nie klären …!«

Joe Baxter erstellte einen Blitzplan: »Es gilt herauszufinden, ob Liza Reynolds noch lebt. Viola, du begibst dich in den Orient-Klub. Aber schau, daß du dich dort unauffällig einschleichen kannst. Sieh dir die Räumlichkeiten an. Es könnte sein, daß die jeweiligen Mordopfer schon dort getötet und präpariert werden. Vielleicht findet man dort auch das Geheimnis, warum in Dr. Bunns Villa bei der Polizeirazzia keine Leiche zu finden war.«

Viola nickte: »Es wäre schön, wenn ich die Schauspielerin noch retten könnte. Vielleicht halten sie sie noch versteckt, um sie erst im letzten Augenblick vor der Sitzung zu töten … Und was macht ihr inzwischen, meine Lieben?«

»Wir nehmen uns in aller Heimlichkeit Dr. Bunns Villa unter die Lupe«, meinte Joe, »werden ja sehen, wer zuerst hinter sein Geheimnis kommt, du oder wir …!«

*

Joe und Olga näherten sich der langen Parkmauer, welche die Villa von Dr. Bunn umgab. Ein Käuzchen schrie.

»Da«, flüsterte Olga und drückte sich geschmeidig an die Mauer. »Hier bröckelt der alte Putz ab. Da können wir ungehindert hochklettern.«

Joe nickte. Er hob Olga empor. Sie griff mit beiden Händen an hervorstehende Steine und zog sich hoch. Dann stand sie

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auf der Mauer und langte zu Joe hinab, um ihm den Aufstieg zu erleichtern. Jetzt richteten sie sich beide im Mondlicht auf der Mauer hoch und bewegten sich vorwärts. Ein Baum wuchs ganz dicht an der Mauer im Park empor. Ein idealer Weg, um auf den Rasen zu klettern.

Joe Baxter war schnell unten. Olga brauchte ein wenig länger. Die erste Hürde hatten sie geschafft. Jetzt galt es, unbemerkt ins Haus einzudringen und die Örtlichkeiten zu untersuchen. Sie waren nicht allein. Zuvor war ein dunkler Wagen in den Park gefahren. Man hatte nicht sehen können, wer ausgestiegen war.

Olga und Joe befanden sich schon ganz nahe am Haus. Sie musterten ein Kellerfenster und überlegten, ob es wohl Sinn hätte, dort einzusteigen.

Da ertönte ein sirenenartiges Geräusch mitten im Rasen. Baxter und seine Assistentin schauten hin und blickten sich

erstaunt an. Es war wie in einem Traum: Aus der Erde stiegen der Reihe

nach acht Mädchengestalten. Es waren Gestalten des Grauens: über und über mit Blut besudelt, mit verkrampften Gliedmaßen und glühenden Augen. Langsam schritten sie hintereinander quer über den Rasen zur Tür der Villa und blieben dort stehen.

Dann richtete sich die erste hoch und stieß einen entsetzlichen Todesschrei aus. Es war wie das Röcheln eines Menschen, der erwürgt wird. Sekunden später stimmte die andere Gestalt ein schrilles Kreischen an. Eine weitere Gestalt schluchzte und summte dann ein Totenlied.

Drinnen im Haus mußte man den seltsamen Lärm gehört haben.

Die Tür öffnete sich. Dr. Bunn – in sein Kapuzenkleid gehüllt – trat heraus, fuhr

aber sofort wieder zurück, um sich einzuschließen. Die Tür

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aber verschwand unter seinen Händen. Er stand in einem leeren Türrahmen da und mußte in die Gesichter der leichenblassen Mädchen starren.

Dabei entdeckte Joe Baxter, daß sich die blutenden, leidenden Mienen in schauerliche Fratzen verwandelten.

Sie stimmten alle ein Schreien und Zetern an. Olga Dussowa flüsterte Joe zu: »Erkennst du sie? Das sind

die Geister all der ermordeten Mädchen von Amsterdam. Sie kommen, um Dr. Bunn zu schocken.«

»Das ist ihnen auch gelungen«, erwiderte Baxter und deutete zum Hauseingang.

Dr. Bunn lehnte an der Wand und rief: »Harry, schaff mir diese Schreckgespenster vom Hals!«

Schritte wurden vernehmbar. Einer der schwarzgekleideten Männer erschien. Er trug keine Kapuze. Rasch riß er eine Maschinenpistole unter seiner Kutte hervor, richtete sie auf die Gestalten und drückte ab.

Ein Rattern entfuhr der Schußwaffe. In den Leibern der klagenden Mädchen wurden dunkelrote

Löcher sichtbar, aus denen wie aus Quellbächen Blut strömte. Doch keine der Gestalten ging in die Knie. Im Gegenteil. Sie kamen näher. Ihre Stimmen wurden lauter. Immer schriller. Immer drohender.

Dr. Bunns Befehle waren Rufe des Entsetzens: »Harry, so schieß sie doch tot.«

Der andere keuchte: »Chef, das geht nicht. Die sind entweder gar nicht da, oder sie sind schon tot.«

Er jagte eine weitere Salve in die Gruppe der acht Mädchen. Neue blutende Löcher entstanden in ihren Körpern.

Jetzt kamen sie näher. Und jede hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Der schwarzgekleidete Diener von Dr. Bunn ergriff die Flucht. Dr. Bunn selbst drängte sich mit dem Rücken an die Wand. Seine Finger verkrampften sich im Mauerwerk und

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kratzten am Verputz. Dann stürzten sich die Gestalten auf Dr. Bunn und stachen der Reihe nach zu. Joe Baxter zuckte zusammen und begann bereits zum Haus zu laufen, um diesem grausigen Morden Einhalt zu gebieten.

»Nein! Nein! Nein!« Seine Stimme gellte durch den Park. Olga Dussowa holte ihn ein und hielt ihm den Mund zu:

»Joe, so richtest du nichts aus. Wir wissen doch, mit wem wir es zu tun haben!«

Joe Baxter stand wie erstarrt vor der Treppe, die zum Haus führte. Er hatte im Laufe seiner Dienstjahre beim Parapsychologic Department vieles erlebt, was unfaßbar und unwahrscheinlich war. Das aber schien über seine Vorstellungskraft zu gehen.

Die Mädchen mit den wachsfarbenen Gesichtern holten weit aus und stießen dem Kapuzenmann die Messer in den Körper. Doch es spritzte kein Blut heraus. Er schrie zwar auf. Sein Leib zuckte unter den Stichen. Doch man sah nur Risse in der Kutte, die wieder zusammenschmolzen.

Baxter hatte jetzt eines der Mädchen erreicht. Er sprang die Stufen hoch und faßte sie am blutbesudelten Kleid. Er wollte sie wegreißen. Doch er griff ins Nichts. Er sah sie, konnte sie aber nicht fassen. Es war ein Alptraum.

Mit einemmal aber hielten alle acht Erscheinungen inne. Sie erhoben ihre Messer und drehten sich blitzschnell um. Joe Baxter sah sich von ihnen umgeben. Er hörte in seinem Gehirn die konzentrierten Gedanken der Wesenheiten, die auf ihn einstürmten: »Warum mischst du dich in unseren Plan ein? Nun müssen wir dich auch töten …!«

Und dann spürte auch Joe Baxter, wie die Messer auf ihn herabsausten und sich in seinen Körper bohrten.

»Joe, um Gottes willen, lauf doch davon!« rief Olga voll Angst.

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Doch Joe Baxter konnte nicht mehr fliehen. Er wehrte sich mit den Händen gegen die Messerstiche, bedeckte seinen Körper mit den Fingern und sah erstaunt an sich kein Blut herabrinnen. Es war bei ihm wie bei Dr. Bunn. Er spürte die Stiche, sah klaffende Wunden, doch sie bluteten nicht und verschmolzen wieder.

Olga hatte sich zu einem Baum geflüchtet und schwang sich ins Geäst. Niemand verfolgte sie. Sie wandte die Blitz-Hypnose an sich selbst an und versetzte ihren Geist in die Zeit ihres Vorfahren Rasputin. Wenn Rasputin in ihr war, dann hatte sie unheimliche Kräfte in sich. Sie rief seine Seele zu Hilfe.

Dann spürte sie, daß sie es nicht mehr notwendig hatte. Denn sie war Rasputin selbst, wie er seinerzeit lebte und magisch wirkte.

Sie starrte auf Joe und beschwor ihn: »Deine Gedanken sollen die wilden Wesenheiten treffen.«

Immer wieder übermittelte sie diesen Satz Baxters Gehirn. Er spürte plötzlich Kraft in sich aufsteigen. Empörung breitete sich in seinen Sinnen aus. Und dann hatte Rasputin ihm die nötige magische Hilfe gegeben, sich über die Attacke der verstorbenen Mädchen hinwegzusetzen, die ihn aus dem Weg räumen wollten.

Er starrte sie an. Sie zuckten zurück und stimmten ein unsicheres Wehklagen

an. Dann waren plötzlich die Messer verschwunden, und die wachsgesichtigen Toten erhoben sich gleich einer Lichtsäule gegen den Himmel.

Joe Baxter aber spürte nur noch einen jähen schmerzhaften Stich im Kopf, drehte sich um und fiel auf die Stufen vor dem Haus.

Doch er war hellwach. Er fühlte sich nur wie gelähmt von überirdischer Müdigkeit.

Ein Krachen und Donnern echote in seinem Kopf.

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Es barst im Dachgestühl. Meterhohe Flammen schossen aus dem Schornstein und von

der Holzverschalung des Hauses. Balken stürzten ein. Im Inneren ertönten Schreie. Binnen weniger Sekunden stand der ganze Bau in Flammen und drohte in sich zusammenzustürzen.

Ein Dachsparren, der wie eine einzige glühende Stange aussah, löste sich und stürzte vor die Haustür in die Nähe des bewegungslosen Joe Baxter.

Er fühlte sich im letzten Augenblick von Olga weggerissen. Sie richtete ihn auf. Er fühlte wieder Kräfte in sich. Mühsam eilten sie über den Rasen bis an die Mauer. Sie wandten sich um, geblendet vom Feuerschein. Wieder stürzte eine Mauer ein.

»Weg von hier«, keuchte Joe Baxter. »Wir müssen die Polizei und die Feuerwehr alarmieren. Das Haus darf nicht ganz niederbrennen. Vielleicht könnten wir noch etwas finden, was auf Dr. Bunns Schuld hinweist.«

Olga nickte. Sie hatten jetzt das Mauertor erreicht und warfen sich

dagegen. Es rührte sich nicht. Da trat Olga zurück, magnetisierte mit Konzentrationsstrahlen das Schloß. Sie drangen zwischen das Tor und den Torrahmen. Ein Klick und ein Metalldunst: Das Schloß war durchgeschmolzen.

Joe riß das Tor auf. Er lief zum Wagen, der irgendwo an der Mauer parkte. Plötzlich aber besann er sich, wartete auf Olga, packte sie am Arm, überquerte die Fahrbahn und drückte auf die Klingel eines Hauses. Als die Besitzerin das Fenster aufriß, sah sie schon das Feuer von der Villa gegenüber.

»Rufen Sie Feuerwehr und Polizei. Es brennt«, rief Joe Baxter. Olga und Joe hasteten zum Wagen. Überall roch es nach

Qualm und Rauch. Nach etwa zehn Minuten kam der erste Streifenwagen.

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Joe taumelte zu dem Polizeifahrzeug hinüber. Als er sich zum Fenster beugte, sah er im Fond Kommissar Vandooren sitzen. Erleichtert sagte er: »Sie haben also gleich gewußt, um welches Haus es sich handelt?«

Vandooren nickte: »Sie waren es also, der uns benachrichtigen ließ? Wir wollen versuchen, nach den Löscharbeiten im Haus Spuren von Dr. Bunn wahrzunehmen. Wo ist der Doktor?«

»Im Haus. Ich befürchte, daß er verbrannt ist, denn als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er ohne Bewußtsein.«

»Hat er das Feuer selbst gelegt, um der irdischen Gerechtigkeit zu entgehen?« wollte Vandooren wissen.

Joe Baxter schüttelte den Kopf: »Keine Spur. Das Feuer haben die Wesenheiten aus dem Jenseits gelegt, um ihn zu vernichten. Er wurde vorher schon fast eine halbe Stunde lang bedroht …«

Vandooren machte große Augen und musterte Joe Baxter: »Von wem wurde er bedroht?«

Baxter antwortete mit selbstverständlicher Stimme: »Von Wesenheiten aus dem Jenseits. Ich sagte es ja schon. Die haben dann auch das Feuer gelegt. Es waren die Geister von acht ermordeten Mädchen!«

»Mr. Baxter«, erkundigte sich Kommissar Vandooren eingehend und schluckte beklommen. »Fühlen Sie sich auch wirklich wohl? Ich ehre Ihre Arbeit beim Parapsychologic Department, doch hat alles seine Grenzen. Was soll diese Gespenster-Geschichte, die Sie mir auftischen wollen?«

Baxter sah es an der Zeit, den Kommissar aufzuklären: »Vandooren, hören Sie mir zu: Die Toten im Jenseits planten schon seit einiger Zeit, an Doktor Bunn Rache zu nehmen. Wir waren darüber informiert. Sogar unsere Zentrale in Paris wußte das. Aber jetzt sollten wir zum brennenden Haus eilen, sonst ist nur mehr ein Aschenhaufen vorhanden!«

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Der Polizeiwagen raste in Richtung Villa. Überall ringsum hörte man die Sirenen und Heultöne der Feuerwehreinsatzfahrzeuge.

Der Polizeieinsatzwagen fuhr vor Dr. Bunns Villa vor. Mit rotierendem Blaulicht warteten schon an die 20 Löschfahrzeuge.

Erstaunt stieg Kommissar Vandooren aus. Einer der Feuerwehrhauptleute salutierte und erkundigte

sich: »Bitte, wo ist das Feuer, das wir löschen sollen?« Vandooren sah zum Tor hinüber, das angelehnt stand, da

kam auch schon Baxter angelaufen. Er ging ihm entgegen, drehte sich um und sah ihm fest in die Augen.

»Mr. Baxter, was soll der Unsinn?« Joe Baxter wandte sich zu Dr. Bunns Villa. Er traute seinen Augen nicht: Sie stand unversehrt da. Kein

Rauch. Kein Feuer. Kein Geruch von Qualm. Die einzige Erinnerung an die schrecklichen Minuten: Das

zerschmolzene Schloß am Mauertor. Joe Baxter schnappte nach Luft. Also hatten die Mächte aus

dem Jenseits mit ihrem Terrorkommando nur ein Trugbild abrollen lassen! Alles nur, um Dr. Bunn zu schrecken und vielleicht sogar zu töten.

Baxter fluchte, weil er merkte, daß ihm Kommissar Vandooren kein Wort glaubte. Er stieß den Kriminalbeamten zur Seite und hastete den Kiesweg entlang zum Haus. Er sprang die Stufen hoch und läutete.

Er wartete nicht lange. Ein kleiner Mann mit dunklen Augen öffnete und fragte: »Sie wünschen?«

»Hat es hier vorhin gebrannt?« Der andere schüttelte den Kopf. Doch in seinen Augen war

noch eine Spur von Angst. Joe Baxter erkundigte sich weiter: »Wie geht es Doktor

Bunn?«

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»Danke, mein Herr, was wollen Sie?« »Ich möchte Dr. Bunn sprechen, aber sofort!« Der Dunkelhaarige verneigte sich entschuldigend: »Dr. Bunn

ist gerade vorhin weggefahren, weil ihm nicht sonderlich wohl war. Er kommt erst morgen abend wieder zu seiner nächsten Sitzung …!«

*

Viola Oggi drückte sich in eine Mauernische und überlegte, wie sie wohl in den exklusiven »Orient-Club« hineinkommen konnte, ohne Verdacht und Aufsehen zu erregen. Sie wußte ganz genau, daß sie hier die Spur der verschwundenen Liza Reynolds aufnehmen konnte. Nach alledem, was Joe, Olga und sie herausbekommen hatten, gab es nahezu gar keine andere Möglichkeit, außer hier anzusetzen. Und von hier aus mußte unverweigerlich die Spur zu Dr. Bunn führen.

»Hallo, Puppe! Suchst du einen Kavalier? Was solls denn kosten?« Ein eleganter Herr öffnete seinen Wagenschlag und sprach die hübsche Viola an.

Sie sah zu ihm hinüber und sagte kaltschnäuzig: »Sie irren sich, mein Herr, ich bin keine Dirne!«

Er fuhr enttäuscht weiter. Die einzige Lösung, unbemerkt in den Klub zu gelangen,

war: Sie mußte plötzlich drinnen sein, ohne jemals hineingegangen zu sein. Sie hatte eine schwere Arbeit vor sich, von der sie noch nicht wußte, ob sie sich lohnen würde. Sie mußte sich entmaterialisieren, ihre Moleküle ins Innere des Klubs transferieren und dann eine sofortige Rematerialisation durchführen. Dann war sie einfach da, ohne, daß sie jemand hereinkommen gesehen hatte.

Viola Oggi entspannte sich und drückte sich flach gegen die Hausmauer. Sie dachte nur noch an ihre Millionen und

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Abermillionen Bestandteile. Sie zerteilte sich selbst, löste sich nach und nach auf, bis sie spürte, daß sie nur mehr ein Bündel von Sinnen war, die in das Innere des Orient-Klubs strebten. Sie fühlte sich wie auf unsichtbaren Flügeln angehoben.

Etwa zehn Minuten dauerte dieser Zustand an. Danach war Viola an dem Ort, den sie angestrebt hatte. Sie sammelte ihre Körperlichkeit, obwohl sie sich entmaterialisiert besonders entlastet und glücklich fühlte.

Die Moleküle sammelten sich rasch an. Viola Oggi spürte eine bleierne Schwere in sich. Ein Beweis, daß sie wieder wie ein normaler Mensch reagierte.

Sie empfand wieder Tast-, Hör- und Sehgefühl. Sie fand sich an der Bar im Orient-Klub. Sie saß da und sah hinüber zu dem Hammondorgelspieler, der seinem Instrument unfaßbare Effekte entlockte und damit ein ganzes Orchester ersetzte.

»Einen Wodka, bitte!« hörte sich Viola Oggi leise sagen. Der Barkeeper erfüllte ihr sofort den Wunsch.

Sie sah sich um: Vornehme, reiche Leute, überaus hübsche Barmädchen und hier verschwand Liza Reynolds. Da gab es bestimmt hintere Räumlichkeiten, in denen sich unter Umständen mit Liza eine Tragödie abgespielt hatte.

Es gab für Viola Oggi wieder nur eine Lösung. Sie mußte sich dort hinten umsehen. Langsam glitt sie von ihrem Barhocker. Sie ging Richtung Bühnenausgang, gleich neben den Musikern, dort verschwand ab und zu ein Barmädchen.

Viola Oggi kam der Türe immer näher. Vorsichtig sah sie nach allen Richtungen, ob sie wohl beobachtet würde.

»Was wollen Sie an dieser Tür?« fuhr sie plötzlich scharf ein kleiner dicker Mann an und drängte sie bestimmt und grob zurück. »Das sind private Räume. Bitte, gehen Sie an Ihren Platz zurück. Oder haben Sie einen bestimmten Wunsch?«

Viola schüttelte den Kopf: »Ich bin nur ganz zufällig an die Tür gekommen. Entschuldigen Sie bitte!«

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Sie ging zurück an die Bar, setzte sich und bestellte noch einen Wodka. Ihr war klar: Mit normalen menschlichen Mitteln gelangte sie niemals hinter die Kulissen des Klubs. Da mußte sie schon einen Trick anwenden. Und einer der beliebtesten Tricks des Parapsychologic Department hieß: Den Körper von der Seele trennen. Den Körper zurücklassen: Die Seele und den Geist auf Recherchen schicken. Wie ein Mensch mit einer Tarnkappe auf dem Kopf.

Viola Oggi versuchte telepathischen Kontakt mit Joe Baxter aufzunehmen! Sie peilte ihn im Hotel an. Keine Reaktion. Sie suchte ihn im Amsterdamer Stadtviertel von Sloterdjik. Wieder keine Reaktion. Auch Olga Dussowa schien nicht auf die übersinnliche Methode anzusprechen.

Dafür gab es nur eine Antwort: Sie waren im Einsatz, wie Viola auch.

Sie stützte den Kopf in beide Hände, starrte in das Wodka-Glas und peilte mit ihren Sinnen Paris an. Ihr Hilferuf ging an Direktor Duvaleux.

Er war sofort zur Stelle: »Hallo, Viola, was kann ich für Sie tun?«

»Ich kann nicht weiterarbeiten, wenn ich nicht sofort meine Seele vom Körper trenne. Ich habe zu wenig Speicherkraft für diese Substraktion. Ich habe mich bei der Ent- und Rematerialisation vorhin zu sehr verausgabt.«

»Bravo«, lobte Dr. Leon Duvaleux. »Du bist im Großeinsatz. Und auch die anderen beiden sind fest an der Sache dran. Ich bin zufrieden. Ich würde dir vorschlagen, daß ich dich telepathisch mit Guru Jogami verbinde. Er soll dir die nötige Kraft geben.«

»Danke, Chef«, reagierte Viola Oggi und konzentrierte sich auf Guru Jogamis Zelle, in der er immer einsatzbereit ausharrte. Sie tauschten keine Worte. Doch sie verstanden sich sofort. Der alte Mann mit dem weißen Bart starrte auf einen

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Punkt im Fußboden. Dabei vergaß er sich selbst und weilte in Gedanken ganz bei Viola Oggi. Er hatte sich aufgegeben und seine ganze seelische Kraft der Mitarbeiterin des Parapsychologic Department zur Verfügung gestellt.

Viola Oggi spürte jetzt große Reserven in sich. Es war, als wäre sie plötzlich über sich selbst

hinausgewachsen. Sie fixierte ihren Körper an der Bar. Sie wußte, er würde jetzt für einige Zeit hier sitzen bleiben, als wäre sie eingeschlafen.

Langsam und zielsicher hoben sich ihre Sinne aus ihrem materiellen Sein empor, wirbelten gegen die Decke und fanden sich dann als Konzentrationsballung inmitten des Raumes wieder.

Alles drehte sich um sie. Sie sah plötzlich nichts mehr, merkte aber zugleich, daß sie Augen, Ohren und Mund gar nicht mehr brauchte. Plötzlich schwebte sie über ihrem Körper, der an der Bar saß und schlief.

Auf einmal war ihr die Person, die dort vor dem Wodkaglas saß, fast fremd.

Viola schwebte als unkörperliches Sein der Bühnentür zu. Niemand öffnete sie. Doch Viola durchschritt sie ohne Hindernis. Sie gelangte in einen schmalen Korridor, an den sich kleine Zimmer reihten, zumeist die Garderoben der Musiker, der auftretenden Sänger und Artisten sowie die Umkleideräume für die Barmädchen und das leitende Personal.

Durch eine Metalltür kam sie in einen Raum, der mit Kacheln ausgelegt war. Von hier führte eine niedrige Tür zu einer Kammer, die moderig roch.

Auf zwei Tischen lagen wild durcheinandergeworfene Frauenkleider:

Eine Ecke war durch einen Vorhang abgetrennt. Viola Oggi fühlte instinktiv, daß sie jetzt der Lösung ihrer

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Aufgabe näher war. Sie wußte, daß all die Mädchen, die sich auf ein Inserat als Bardamen gemeldet hatten und den Machenschaften des Dr. Bunn für seine Sitzungen genehm waren, hier gelandet sein mußten. Hier waren sie qualvollen Todes gestorben.

Viola näherte sich dem Plastikvorhang: und schwebte über einer Stätte des Grauens.

Da stand ein Tisch. Darauf lag die Leiche eines Mädchens: schlank, blondes,

schulterlanges Haar, leicht schräge Augen, grünes Kleid. Kein Zweifel: Liza Reynolds. In der Mitte ihrer Stirne klaffte ein Loch, die Einschußstelle

einer Pistole. Das Blut rundum war noch frisch. Viola erschauerte. Sie war zu spät gekommen. Liza mußte schon einige Stunden tot sein.

Neben ihr war eine Reproduktion von dem vergilbten Photo der ermordeten Juliana aufgestellt. Nach dem Gesicht der Verstorbenen zu schließen war Liza ein wenig nachgeschminkt worden.

Liza Reynolds war für eine Sitzung des Grauens bereit … *

Der Barkeeper fegte mit einem weichen Lappen über die Bar. Er hielt inne, als er vor Viola Oggi stand. »Hallo, junge Dame! Fühlen Sie sich nicht wohl?« Er beugte sich vor. Sie schien zu schlafen. Er schüttelte den Kopf: »Wie kann man im Orient-Klub nur

schlafen?« Leise stieß er die junge Frau an. Sie reagierte nicht darauf. Der Barkeeper verließ seinen Platz und eilte ins Büro des

Geschäftsführers. Aufgeregt berichtete er: »Chef, da draußen

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die schlanke Biene mit den blonden Haaren, die Sie vorhin zurückgewiesen haben, weil sie sich der Bühnentür genähert hatte …!«

»Was ist mir ihr?« fragte der Dicke unwillig. »Eigentlich macht sie nichts, aber gerade das ist so

verdächtig. Sie sitzt an der Bar und rührt sich nicht. Selbst, wenn man mit ihr spricht.«

Ohne ein Wort zu erwidern, erhob sich der Geschäftsführer und ging in das Lokal hinaus.

»Meine Dame, wir sehen es nicht gern, wenn unsere Gäste schlafen!« sagte er laut und bestimmt.

Der Geschäftsführer trat jetzt ganz nahe auf Viola Oggi zu und stieß sie an. Ihr Körper schwankte hin und her, dann verlor er das Gleichgewicht und fiel zur Erde.

Erschrocken sahen sich Barkeeper und Geschäftsführer an. »Verdammt, was ist mit der?« wollte der Dicke wissen. Dann

eilte er ins Büro und wählte eine Nummer: »Doktor, kommen Sie sofort her. Sie müssen eine ohnmächtige Frau untersuchen!«

Dann begab er sich wieder ins Lokal und flüsterte dem Barkeeper zu: »Willem, schaffen Sie die Frau in mein Büro. Und machen Sie bitte kein Aufsehen!«

Willem Studevand winkte zwei Kellnern und einem Barmädchen zu. Gemeinsam schleppten sie Viola Oggi aus dem Lokal und legten sie auf ein Sofa im Zimmer des Geschäftsführers.

Der Geschäftsführer blickte den Barkeeper fragend an. Der zuckte mit den Schultern: »Wenn Sie mich fragen, ist die Frau tot!«

Im selben Moment trat Dr. Zögden ein. Er reichte dem Dicken die Hand und setzte sich zu Viola Oggi. Während er sie untersuchte, fragte er: »Was ist passiert?«

Der Barkeeper antwortete: »Gar nichts. Plötzlich ist eine Frau

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am Tresen gesessen und ist scheinbar eingeschlafen. Als wir sie anfaßten, ist sie umgekippt.«

»Kein Herzschlag, kein Puls. Keine körperliche und nervliche Reaktion. Die Frau ist seit einigen Minuten tot ….!«

Er wartete keine Antwort ab, drehte sich um und ging. Dem Dicken traten Schweißperlen auf die Stirn: »Eine Tote

hat uns noch gefehlt. Wir brauchen hier alles, nur nicht die Polizei am Hals. Willem, ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Schaffen Sie die Tote sofort unbemerkt aus dem Lokal. Sollte draußen jemand nach ihr fragen: Sie war unpäßlich und ist weggefahren.«

»Was soll ich mit ihr tun?« »Sie muß weg von hier. Am besten, es sieht auf der Straße

nach einem Unfall aus. Laß dir da etwas einfallen …!« Willem Studevand hatte eine Idee. Er nahm Viola Oggi unter

den Armen und zog sie durch den Hintereingang auf die Straße. Es herrschte kaum Verkehr. Niemand ging auf den Bürgersteigen.

Der Barkeeper wartete im Schatten eines Hauses in einer Kurve. Er hörte von weitem einen Personenwagen näher kommen. Mit ganzer Kraft stieß er den Körper der Frau von sich auf die Straße.

Der Autofahrer gab Gas. Sein Gesicht erbleichte, als er direkt in seinen Scheinwerfern

die in sich zusammenstürzende Gestalt einer Frau erkannte. Er verlor die Herrschaft über seinen Wagen und konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Nachdem der Wagen gestoppt hatte, sah er die Frau auf der Fahrbahn liegen.

»Mein Gott«, stammelte er. »Sie blutet stark und bewegt sich nicht mehr, vielleicht ist sie tot …!«

Sein einziger Gedanke war jetzt: nichts wie weg. Er raste davon.

Regungslos lag Viola Oggi im Rinnsal.

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Aus einem Haus kam eine Frau gelaufen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen: »Da hat einer eine Frau totgefahren. Wir müssen sofort die Polizei rufen!«

Violas Wesenheit war genau informiert, daß sich ihr Körper in Gefahr befand. Und sie wußte im Augenblick nicht, ob sie diesen Körper noch einmal benützen könnte.

Doch die Aufgabe, die sie vor sich hatte, nahm sie so gefangen, daß sie die Frage nach ihrem körperlichen Sein einfach beiseiteschob.

Sie schwebte noch immer über dem Tisch, auf dem die erschossene Liza Reynolds lag. Jetzt erst bemerkte sie, daß die Tote Beine und Arme stark abgewinkelt hatte. Irgend jemand mußte die Gliedmaßen vor Eintritt der Totenstarre in diese Stellung gebracht haben.

Die Türe neben dem Plastikvorhang öffnete sich. Ein junger, hochgewachsener Mann trat ein, zog den

Vorhang beiseite und ging an den Tisch. Er verglich die Tote mit dem Photo und nickte zufrieden. Er griff in die Tischlade und holte Schminkfarbe hervor. Damit modellierte er das Gesicht der Ermordeten.

Die Tür an der Stirnfront des Raumes wurde aufgestoßen. Der dicke Geschäftsführer trat stöhnend ein. Er schob einen

Rollstuhl vor sich her und herrschte den jungen Mann an: »Beeil dich. Der Chef wartet schon. Er hat gerade vorhin anrufen lassen. Wir haben keine Zeit mehr.«

Der andere nickte und zog den Rollstuhl an sich heran. Mit einem raschen Griff brachte er die tote Liza Reynolds in sitzende Stellung und gab ihr in dem Gefährt einen neuen Platz. Der Dicke nickte: »Gute Arbeit, aber jetzt los.«

Viola Oggi hatte alle ihre Sinne angespannt: Liza Reynolds war für eine Sitzung präpariert worden. Und zwar hier in Diemerbrug. Die Sitzung aber fand in der Villa in Sloterdijk statt. Dazwischen lag die ganze Amsterdamer Altstadt. Wie

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wollten sie die Leiche ungesehen dorthin schaffen? Der junge Mann gab dem Dicken ein Zeichen. Der öffnete das

breite Tor. Der Schminkmeister schob die Tote im Rollstuhl in einen düsteren, schmalen und abschüssigen Gang.

Viola Oggi schwebte hinterher. Der Korridor war nur spärlich beleuchtet. An den Wänden

lief Wasser herunter. Dann gab es plötzlich wieder eine Tür, die nach Eisen klang

und sich quietschend öffnen ließ. Das Tor führte direkt aus einer Kaimauer in eine Gracht. Und

davor lag ein Motorboot vor Anker. Sechs starke Arme griffen nach dem Rollstuhl. Die Tote

wurde mit ihrem fahrbaren Untersatz ins Boot gehoben und sofort unter Deck gebracht. Der junge Mann gab ein Zeichen, schloß das Tor und ging langsam zum Orientklub zurück.

Einer der drei Männer im Boot warf den Motor an. Das Wasserfahrzeug tuckerte in Richtung Altstadt davon. Viola Oggi wußte nicht, in welcher Gracht sie sich befanden. Doch es mußte eine sehr vornehme Gracht sein, weil die Häuser aus alter Zeit stammten und sehr vornehm aussahen.

Endlich bog das Boot in eine kleine und schmale Gracht ein, bis es schließlich wieder vor einem Tor in der Kaimauer anhielt. Der Motor wurde gedrosselt. Das Tor öffnete sich. Die drei Männer schoben die Tote mit dem Rollstuhl aus dem Boot. Einer von ihnen sprang aus dem Fahrzeug. Viola Oggi war natürlich schon in dem dunklen Gang. Sie schwebte hinter zwei bärtigen Männern her, die den Rollstuhl etwa zehn Minuten im Laufschritt bergauf schoben. Dann befanden sie sich in einem kleinen quadratischen Raum, transportierten die Tote zu einem Lift und fuhren hoch.

Mit einem Summton hielt der Lift an. Die Tür öffnete sich automatisch. Alles war sehr eng. Der

Rollstuhl und die beiden Männer hatten kaum Platz.

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Die Leiche für die Sitzung befand sich nun in einer hohlen Mauer, die unterirdisch und nicht von der Villa selbst zugänglich war. Und dann erkannte Viola die Maschinerie. Die Wand zum großen Salon ließ sich durch einen leichten Hebeldruck nur von innen öffnen.

Alle hielten den Atem an. Man konnte aus dem Salon deutlich die beschwörenden Worte Dr. Bunns hören: »Gretje und Beatrix Norweig, ich frage euch noch einmal: Seid Ihr gewillt, eure Nichte Juliana wieder zu sehen und mit ihr zu reden? Bringt Ihr den nötigen Ernst dafür mit?«

Ein Schluchzen war zu hören. Dann murmelte Beatrix Norweig: »Natürlich sind wir gewillt, Doktor Bunn. Spannen Sie uns doch nicht auf die Folter. Wir haben Ihnen ein Vermögen dafür bezahlt. Also lassen Sie unsere liebe Juliana erscheinen. Wir sind nicht furchtsam.«

Der Doktor begann etwas zu murmeln und rief Shang Fu an. »Jetzt!« flüsterte einer der beiden Männer in der hohlen

Mauer. Der andere drückte den Hebel und stieß zugleich den Rollstuhl mit einer Eisenstange durch den sich öffnenden Mauerspalt in den Raum. Derjenige, der den Befehl gegeben hatte, betätigte durch Knopfdruck einen bläulich schimmernden Scheinwerfer.

Über der ganzen Szene lagen die Worte Dr. Geoffrey Bunns: »Juliana erscheine. Deine Tanten wollen noch einmal deine sterbliche Hülle sehen, deine Stimme hören …!«

Beatrix und Gretje Norweig kreischten auf. Beatrix Norweig würgte den Satz heraus: »Meine geliebte Juliana. Daß wir dich nur wieder sehen können!«

Einer der beiden Männer in der hohlen Mauer drückte wieder einen Schalter. Ein Tonband lief: »Tante Beatrix, Tante Gretje. Ich liebe euch und werde euch niemals vergessen. Denkt, bitte, oft an mich. Es geht mir gut, wo ich jetzt bin …!«

Blitzartig durchzuckte Viola Oggi der Gedanke, dem

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skrupellosen Dr. Bunn einen Schrecken einzujagen und an Seinen Nerven zu nagen.

Sie murmelte eine Transparentformel für eine lebendige Wesenheit und ergriff von dem Leichnam Liza Reynolds-Besitz. Viola Oggi saß nun in der Toten als Wesenheit.

Schon gab Dr. Bunn ein geheimes Zeichen zur Mauer, den Rollstuhl wieder zurückzuziehen, da zog Viola Oggi ihre Show ab. Sie konzentrierte all ihre geistigen Fähigkeiten auf die Tote. Und sie gab ihr plötzlich Bewegung. Der Rollstuhl wurde voll in die Mauer zurückgezogen, doch Liza Reynolds, die hier als Juliana gezeigt wurde erhob sich und schritt durch den Raum.

Dr. Bunn schrie entsetzt auf und wich zurück. Das hatte er nicht erwartet. Gretje und Beatrix Norweig wußten nicht, was geschah. Sie weinten und riefen immer wieder: »Juliana, komm doch zu uns her!«

Viola ließ die Leiche Liza Reynolds umhergehen und auf Dr. Bunn zusteuern. Dabei sprach sie laut und deutlich: »Ich bin nicht Juliana. Dr. Bunn ist ein ganz gemeiner und gefährlicher Betrüger. Ich bin die Schauspielerin Liza Reynolds, die für Julianas Rückkehr zur Erde ihr Leben lassen mußte. Dr. Bunn, sie sollen keine ruhige Minute mehr haben.«

Der Doktor taumelte zurück und wehrte die lebende Leiche mit beiden Händen ab. Viola wollte ihm die Kapuze vom Gesicht reißen, um ihn zu sehen.

Doch sie kam nicht dazu. Sie spürte, wie Dr. Bunns Gehilfen Lizas Leiche packten und

in die geöffnete Mauer stießen. Sie verschwanden mit ihr darin und schlugen mit Eisenstöcken auf die Tote ein. Sie verunstalteten Lizas Antlitz grauenhaft. Dann betätigten sie den Geheimhebel. Die Mauer schloß sich.

Viola Oggi hatte in ihrer Situation zu wenig Macht über den Körper der Toten. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie entzog

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sich daher der Leiche und schwebte wieder frei im Raum. Dr. Bunn faßte sich wieder. Für ihn war alles ein

unheimlicher Spuk gewesen, mit dem er nie gerechnet hatte. »Was soll dieser Auftritt aus dem Jenseits bedeuten?« fragte

Beatrix Norweig verwirrt, aber tief beeindruckt. Dr. Bunn log: »Ich weiß es selbst nicht. Aber es passiert oft,

daß Tote ihr eigenes Ich verleugnen. Oft wissen sie selbst nicht mehr, wer sie sind. So muß es auch bei Juliana gewesen sein. Doch jetzt entschuldigen Sie mich bitte, meine Damen. Ich brauche jetzt Ruhe.«

Die beiden Frauen hatten plötzlich Angst. Sie waren froh, als sie das Haus verlassen hatten und endlich wieder auf der Straße standen, wo ihr Taxi wartete.

Dr. Bunn aber lehnte sich schwer atmend an die Wand. Sein Mitarbeiter Harry trat ein: »Chef, das war ein Ding. Ich

dachte, ich müßte den Verstand verlieren …!« Er zuckte zusammen. Draußen vom Garten her hörte man

helle Mädchenstimmen. Sie kamen immer näher. Man vernahm ein Röcheln und ein wildes Geschrei.

Dr. Bunn ging selbst öffnen. Viola Oggi hörte nur, wie er aufschrie und Harry bat, ihm die Schreckgespenster vom Leib zu schaffen. Eine Maschinenpistole ratterte auf. Die Schüsse hallten knapp hintereinander durch den Park. Die ermordeten Mädchen waren gekommen, ihre erste Rache zu nehmen. Viola sah es nicht: Aber sie ahnte, daß sie auf Dr. Bunn einstachen. Daß sie das Haus in Flammen setzten. Daß Joe Baxter mit Olga Dussowa ganz in der Nähe war und Gefahr lief, getötet zu werden.

Als die beiden Männer in der hohlen Mauer die Leiche Liza Reynolds in den unterirdischen Korridor schoben, hörte Viola Oggi oben im Salon die dumpfe Stimme Dr. Bunns: »Die Flammen sind spurlos verschwunden. Der Spuk ist vorbei. Ich glaube, ich stehe das nicht mehr durch!«

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Harry fragte: »Was sollen wir tun?« Dr. Bunn konterte. »Wir können nichts tun. Wir müssen nur

genug Standhaftigkeit haben. Wenn heute jemand nach mir fragt, so sage, ich bin weggefahren. Und kein Wort über all das, was hier vorgefallen ist. Wir haben keine toten Mädchen und kein Feuer gesehen und erlebt.«

Er durchmaß das Zimmer mit langsamen Schritten. Dann sagte er leise vor sich hin: »Harry, ich habe entsetzliche Angst! Ich habe Angst vor den Toten. Sie sind die schrecklicheren Feinde. Sie wollen uns vernichten …!«

Viola Oggi versuchte mit Joe Baxter Kontakt aufzunehmen. Es mißlang ihr. Ihre Wesenheit war zu sehr mit sich

beschäftigt. Das unkörperliche Sein bereitete Viola plötzlich Schmerzen. Sie zog sich in den düsteren Korridor zurück. Es hätte sie interessiert, wo man die Leiche Lizas hinschaffen würde. Doch sie hatte nicht mehr die Kraft, daran zu denken. Sie hatte nur einen Wunsch: so rasch wie möglich in ihren Körper zurückzuschlüpfen. Sie sammelte ihre geistigen Kräfte zum Rückzug in ihren Körper. Da erinnerte sie sich, daß etwas Entsetzliches mit ihrem Körper geschehen sein mußte, und daß sie es in Anbetracht ihrer Mission nicht ernst genug genommen hatte.

Mehrmals nahm Viola Oggi einen seelischen Anlauf, in ihren Körper zu gelangen.

Dann war sie sich sicher, daß sie für ewig eine Wesenheit bleiben mußte, wenn nicht ein Wunder geschah. Sie wurde von der Furcht gequält, daß sie ihren gesunden Leib für immer verloren hätte …

*

Joe Baxter stand am Fenster des Hotelzimmers und wippte ungeduldig mit den Füßen auf und ab.

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Olga Dussowa erhob sich und seufzte: »Wieder nichts, Joe. Weder ich noch Dr. Duvaleux in Paris können mit Viola Kontakt aufnehmen. Sie scheint verschollen zu sein. Wenn Sie nur nicht in eine Falle geraten ist. Fragt sich nur, in welche Falle: Entweder hat sie Dr. Bunn in seine Fänge bekommen, oder sie ist den Wesenheiten aus dem Totenreich in die Quere gekommen.«

»Warum meldet sie sich nicht?« donnerte Joe Baxter los. Das Telephon schrillte. Joe und Olga griffen beide zugleich zum Hörer. Sie wären

dabei fast mit ihren Köpfen zusammengestoßen. Baxter hob ab und meldete sich. »Hier David Haamsdog. Spreche ich mit Mr. Baxter vom

Parapsychologic Department?« ließ sich die Stimme am anderen Ende der Leitung vernehmen.

»Ja? Was ist?« »Hier spricht ein Beamter aus dem Amsterdamer

Leichenschauhaus.« Joe Baxter zuckte zusammen: »Leichenschauhaus? Was habe

ich mit dem Leichenschauhaus zu tun?« Der Mann am Draht räusperte sich verlegen: »Ich muß Ihnen

eine sehr betrübliche Mitteilung machen. Wir haben vor einigen Stunden im Stadtteil Diemerbrug in der Nähe des Orient-Klubs eine Frauenleiche gefunden. Sie scheint von einem Auto überfahren worden zu sein.«

»Na, und? Wer ist die Tote!« »Sie trug Papiere bei sich, die sie als Mitarbeiterin des

Parapsychologic Department auswiesen. Sie hieß Viola Oggi! Wir müssen Sie leider bitten, sofort zu uns zu kommen und die Dame zu identifizieren, damit wir den Fall abschließen können!«

»Ja«, sagte Joe Baxter tonlos. Dann legte er auf. Er sah zu Olga Dussowa hinüber: »Ich weiß, ich habe es mit dir gefühlt.

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Viola ist tot. Ich frage mich nur, wie das passieren konnte.« »Komm, Olga. Wir fahren ins Leichenschauhaus. Ich weiß

nicht recht: Ich habe nicht das Gefühl, daß Viola tot ist. Vielleicht spielt man uns zur Drohung nur einen makabren Scherz vor. Vielleicht hat nur eine andere Tote die Papiere Viola Oggis zugesteckt bekommen.«

Minuten später fuhren sie in einem gemieteten Sportwagen vom Hotel weg. Nach einer halben Stunde erreichten sie das Leichenschauhaus.

David Haamsdog wartete schon. Er nickte stumm, gab Baxter ein Zeichen und führte die beiden durch lange Korridore in einen großen Saal, in dem sich Steintisch an Steintisch reihte. Auf jedem lag, mit einer Plastikfolie abgedeckt, eine Leiche.

Endlich blieben sie vor einem der Tische stehen. Der Bedienstete des Leichenschauhauses sagte: »Das ist sie!« und schlug die Folie vom Gesicht der Leiche weg.

Joe Baxter erstarrte: Kein Zweifel: Die Tote war Viola Oggi. Ihr Gesicht war

blutigverschmiert. Die Augen starr ins Nichts gerichtet … *

Müde und deprimiert ließ sich Baxter im Hotelzimmer in einen Sessel fallen. Olga begann mit ihren entspannenden Yoga-Übungen.

Als das Telefon läutete, hob Baxter ab. Das Fräulein von der Zentrale meldete sich: »Mr. Baxter,

während Sie weg waren, sind Sie ein paarmal von einer gewissen Gretje Norweig verlangt worden. Ich stelle Ihnen das Gespräch jetzt durch.«

Gretje Norweig war am Apparat. Ihre Stimme zitterte, als sie Baxter berichtete: »Sie sagten, ich sollte Sie wieder anrufen. Wir waren bei Dr. Bunn. Und stellen Sie sich vor. Unsere Juliana ist

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wirklich erschienen. Sie ist vor uns gesessen und hat mit uns gesprochen. Doch dann hat die Erscheinung verworrene Worte geredet, und der wunderbare Spuk war schnell zu Ende. Ich wollte Ihnen nur sagen, ich glaube, daß Dr. Bunn Kontakt zum Reich der Toten hat.«

Joe Baxter spitzte die Ohren: »Sie waren also tatsächlich dort? Und die Erscheinung sah genauso aus wie Juliana?«

»Genauso. Aber, Mr. Baxter, Sie sagen, sie sah so aus. Ich sage Ihnen: Sie war es. Warum hegen Sie Zweifel?«

»Ich habe meine Gründe. Aber ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Hinweis!«

Baxter legte auf und riß Olga aus ihren Yoga-Übungen. »Wir müssen Kommissar Vandooren verständigen und das Haus des Dr. Bunn auf den Kopf stellen. Die alten Norweigs waren bei ihm. Er präsentierte ihnen eine Erscheinung, von der sie überzeugt sind, daß es Juliana war. Mit einem Wort: Die tote Liza Reynolds mußte für diese makabre Szene herhalten. Wenn die beiden alten Damen gestern eine Leiche präsentiert bekommen haben, so muß das vor unserem gespensterhaften Erlebnis mit den toten Mädchen und mit dem irrealen Feuer gewesen sein, von dem dann nichts zu sehen war. Also befindet sich die ermordete Liza Reynolds noch im Haus. Dr. Bunn wird es kaum gewagt haben, die Tote irgendwo in der Stadt abzusetzen. Das wäre für ihn zu gefährlich. Also müßten wir ihn jetzt endlich überführen können!«

Joe Baxter ließ sich mit der Polizeizentrale verbinden und bekam Kommissar Vandooren persönlich an den Apparat. Vandooren war begeistert: »Ich stelle sofort eine Einsatzmannschaft zusammen. Doch wir werden uns an die Villa heranmachen und sie umstellen. Gewaltsames Eindringen hätte keinen Sinn. Wer weiß, was diesem Dr. Bunn dann alles einfallen würde. Wir müssen ihn überrumpeln.«

»Haben Sie schon einen Plan?« fragte Baxter.

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Optimistisch meinte Vandooren: »Das wird sich finden.« Joe Baxter warf ein: »Ich denke, wir könnten ihn hereinlegen.

Sagten Sie mir nicht, daß John Reynolds, der Vater der verschwundenen Schauspielerin, mit ihm Kontakt aufgenommen hat? Er ist vom Können des Dr. Bunn überzeugt. Darum wird er unter unserer Obhut in die Villa fahren. Die Leute im Haus dürfen uns vorerst nicht sehen. Reynolds soll ins Haus gehen, Dr. Bunn nach seiner Tochter fragen und ihn bitten, daß er sie bald lebendig zu sehen bekommt. Ich bin neugierig, wie Bunn darauf reagiert.«

»Also, fahren wir los. Verständigen Sie Reynolds. Der brennt ohnehin schon darauf, zu Dr. Bunn zu gehen, weil er sich von ihm die Lösung des Rätsels um seine Tochter erwartet. Wenn der wüßte, wie recht er dabei hat …!«

*

Alles klappte wie am Schnürchen. John Reynolds war zwar schwer zu überreden gewesen, die Polizei bei seinem Besuch in der Villa Dr. Bunns im Schlepptau mitzunehmen. Doch Joe Baxter hatte ihn überzeugt, daß es da einige Verdachtsmomente gäbe. Darum beugte sich John Reynolds seinem Wunsch. Er mietete sich ein Taxi und ließ sich nach Sloterdijk hinausfahren. Als er ausstieg, sah er nirgends etwas von dem Polizeiaufgebot. Kommissar Vandooren hatte seine Leute hinter Häusern, zum Teil aber auch im Park der Villa versteckt, um in Sekundenschnelle das Haus einnehmen zu können. Es galt immerhin, einen vielfachen Mörder seiner Taten zu überführen.

John Reynolds ging zum Tor und versuchte die Klinke herabzudrücken. Es war nicht abgesperrt. Sie gab nach. Langsam begab er sich über den Kiesweg zum Eingang der Villa und läutete. Ein in Schwarz gekleideter Mann öffnete,

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verneigte sich und ließ ihn ein. »Ich möchte bitte Dr. Bunn dringend sprechen!« verlangte er. Er wurde in den Salon geführt, in dem das Kaminfeuer

knisterte. Der Bedienstete bat ihn Platz zu nehmen und deutete ihm an, daß er warten möge, dann verschwand er.

John Reynolds starrte ins Feuer des Kamins. Plötzlich stand die Kapuzengestalt Dr. Bunns vor ihm. »Was führt Sie zu mir, Mr. Reynolds?« fragte er. John Reynolds blickte bittend auf: »Ich kenne Sie, Dr. Bunn.

Sie haben in Europa einen hervorragenden Ruf als Hellseher. Ich bin derzeit der unglücklichste Mensch auf Erden. Meine Tochter ist hier vor einigen Tagen verschwunden und es ist keine Spur von ihr zu finden. Die Polizei weiß nicht mehr weiter, daher sind Sie meine letzte Hoffnung. Dr. Bunn, bitte könnten Sie mir sagen, wo meine Tochter ist? Weisen Sie mir bitte den Weg zu Liza. Ich muß das Mädchen wieder finden.«

Die Gestalt räusperte sich: »Warum kommen Sie gerade zu mir?«

»Weil Sie meines Erachtens der beste Hellseher sind. Sie haben schon vielen Menschen geholfen. Geld spielt keine Rolle. Ich zahle jeden Preis.«

»Gut, ich werde für Sie nach Ihrer Tochter forschen. Geben Sie mir ein wenig Zeit. Sprechen Sie nicht auf mich ein …!«

Neugierig blickte John Reynolds auf die Gestalt, die sich vor dem Kaminfeuer flach auf die Erde legte und dann die Hände über der Brust kreuzte. Hier lag Dr. Bunn nun etwa eine Viertelstunde. Dann fuhr er hoch und verkündete: »John Reynolds. Die Nachricht, die ich dir mitteilen möchte, ist erschütternd. Doch ich kann dich nicht belügen. Deine Tochter Liza – ist tot.«

»Tot, um Gottes willen?« John Reynolds brach in heftiges Schluchzen aus und warf sich zu Boden.

Als ihn die Gestalt hochrichtete und in den Sessel drückte,

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sah er erst wieder auf. »Warum ist sie ermordet worden?« Dr. Bunns sagte kurz: »Das konnte ich nicht

herausbekommen.« Reynolds sprang auf und verkrampfte seine Finger in der

Kutte seines Gegenübers: »Dr. Bunn, Sie sind der einzige, der mir helfen kann. Sie könnten Tote wieder erscheinen und reden lassen. Schaffen Sie mir sofort meine tote Tochter her. Vielleicht kann sie uns den Namen ihres Mörders nennen. Bitte, Doktor …«

Die Kapuzengestalt winkte ab: »Dazu fehlt es mir an der nötigen Konzentration. Ich bin im Augenblick nicht imstande, deine tote Tochter zu rufen. Und da sie so kurz verstorben ist, weiß ich gar nicht, ob sie der Aufforderung einer Sitzung beizuwohnen, schon Folge leisten könnte.«

»Ich bezahle jeden Preis!« warf Reynolds ein. In diesem Augenblick flog die Tür zum Salon in weitem

Bogen auf. Dr. Bunn wandte sich schnell um und fluchte. John Reynolds wurde blaß. Er sprang auf, als er Kommissar Vandooren und Joe Baxter nebeneinander hereinkommen sah: »Meine Herren, so war das nicht ausgemacht: Lassen Sie mich mit Dr. Bunn allein. Es geht um meine Tochter!«

»Auch uns geht es um Ihre Tochter«, ergänzte Joe Baxter und schrie empört: »John Reynolds, wachen Sie endlich auf. Sie befinden sich nicht im Haus eines Hellsehers, sondern eines Mädchenmörders. Wir werden heute den Beweis erbringen. Dr. Bunn, Sie sind verhaftet. Den Grund für diese Verhaftung werden wir Ihnen in den nächsten Minuten präsentieren. Nämlich die Leiche von Liza Reynolds …!«

Ein Lachen erklang hinter der Kapuze. »Sie werden in diesem Haus nichts finden!« Die Worte

klangen triumphierend. Kommissar Vandooren, rot vor Zorn, vergaß seine

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Höflichkeit und brüllte seinen Beamten zu: »Los, legen Sie an jede der vier Wände im Salon Sprengkörper. Ich wünsche, daß die Wände aufgerissen werden. Dahinter werden wir schon des Rätsels Lösung finden. Oder, Dr. Bunn, Sie öffnen uns freiwillig Ihre Zauberwand. Denn ich möchte mein Leben darauf verwetten, daß sich eine Mädchenleiche dahinter befindet, die vor allem Mr. John Reynolds schockieren wird.«

Die Kapuzengestalt richtete sich hoch: »In diesem Haus werden Sie keine Zauberwände und keine Leichen finden.«

Vandooren hob die Hand: »Meine Herren, dann wird sofort gesprengt!«

Im Laufschritt drängten sechs Männer vom Sprengkommando ins Zimmer. Mit kleinen Bohrern legten Sie Kanäle in die Mauern und legten die Sprengkapseln ein.

Alle liefen in den Park und warfen sich nieder. Eine ohrenbetäubende Detonation hallte durchs Haus.

Wände stürzten zusammen und Deckengehölz knirschte. Weißer Mauerstaub zog durch die Eingangstür ins Freie. Kommissar Vandooren und Joe Baxter eilten in den zertrümmerten Saloon. Genau gegenüber dem Sessel, auf dem Reynolds gesessen hatte, erhielt die Mauer einen gewaltigen Riß. Dahinter war deutlich der Hohlraum in der Mauer zu erkennen.

Von Mauerwerk überschüttet stand ein Rollstuhl. Darauf die Leiche von Liza Reynolds. Kommissar Vandooren rieb sich die Hände: »Endlich, haben

wir diesen Schurken. Jetzt ist er reif für einen Mordprozeß!« Er machte kehrt und eilte in den Garten hinaus. Als er die Schwelle der Tür überschritt, blieb er jäh stehen.

Einer der Polizeibeamten stieß einen gellenden Schrei aus und sank, mit einem Messer in der Brust zu Boden. Dr. Bunn hingegen war bereits bei der hinteren Mauer des Parks, erklomm einen Baum, kletterte daran hoch und schwang sich

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über die Mauer. Kommissar Vandooren keuchte vor Erregung. Er schrie

seinen Leuten zu: »Los, ihm nach, er darf uns nicht entkommen.«

Baxter drängte sich aus dem Haus und rief Vandooren zu: »Ich mache mit, auch Olga wird sich das nicht entgehen lassen. Wir nehmen die Verfolgung ebenfalls auf …!«

Vandooren nickte. Sie hasteten auf die Straße zu den Polizeiautos. Mit heulenden Sirenen fuhren Sie um den Park herum. Doch Dr. Bunn hatte kein Auto bestiegen. Er hatte nur die Fahrbahn überquert und war in eines der Häuser gerannt. Dort stolperte er die Treppe hoch. Joe und Olga waren die ersten, die ihn einholten.

Sie sahen die Kapuzengestalt die Tür zum Dachboden im vierten Stock auftreten und unter dem Dachgestühl verschwinden. Er sprang über morsche Bretter hinweg und erreichte ziemlich rasch ein Dachfenster. Mit der bloßen Faust schlug er es auf und zwängte sich durch die Öffnung.

Olga rief Joe zu: »Der muß in seinem früheren Leben Akrobat gewesen sein. Der schafft uns noch!«

Sie standen an dem offenen Dachfenster und waren Zeuge, wie sich der Flüchtende mit einem kurzen Anlauf zum Dach des Nachbarhauses hinüberschwang. Geschickt turnte er nach dem Aufsprung die Ziegelsteine hoch und drehte sich mit einem boshaften Lachen um.

»Dann müssen wir eben andere Saiten aufziehen«, brummte Joe, hielt Olga zurück und umarmte sie fest: »Strenge deinen Willen an und hebe mich über das Dach hinweg, wie einen schwerelosen Gegenstand«, flüsterte er. »Ich tue dasselbe mit dir. Dann werden wir fliegen. Aber denk an nichts anderes, sonst stürzen wir ab.«

Olga lächelte überlegen. Sie wäre eine schlechte Nachkommin Rasputins gewesen,

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hätte sie in diesem Augenblick mit ihren Kräften versagt. Sie packte Joe um die Brust und hämmerte sich eisern ein:

»Er ist ganz leicht. Ich trage ihn durch die Luft davon. Es geht ganz einfach.«

Ein Ruck nach oben und es war ihr, als würde sie ihren Vorgesetzten zwischen zwei Dächern hinübertragen. Sie war sich im Augenblick nicht bewußt, daß Joe dasselbe mit ihr tat, und daß sie hinüberschwebten.

»Was ist denn das?« brüllte der Mann im Kapuzenkleid fassungslos und starrte die beiden an.

Dann schrie er: »Hilfe, rettet mich. Die Toten sind hinter mir her!«

Joe und Olga waren inzwischen auf dem nächsten Dach gelandet. Sie fanden sich wieder, lachten und hörten die Schreie. Joe schmunzelte: »Der glaubt, so etwas können nur Wesenheiten aus dem Jenseits. Der wird seine Wunder erleben!«

Mit mutigen Schritten hastete Joe hinter dem Flüchtenden her, der sichtlich an Zuversicht verloren hatte.

Tollkühn balancierte er den Dachfirst entlang. Jetzt hatte er das andere Ende erreicht. Wieder setzte er zu einem Sprung zum nächsten Dach an. Doch er schaffte es nicht. Der Anblick der fliegenden Verfolger hatte ihm alle Hoffnung auf eine gelungene Flucht genommen.

Als er dann Joe ganz nahe an sich herankommen sah, glitt er mit einem Fuß aus. Er rutschte, brüllte auf, griff mit beiden Händen hoch und hing nun mit seinen Fingern an einem Dachsparren. Unter ihm gähnte die Tiefe der Straße, auf der Autos in beiden Richtungen dahinfuhren.

»Laßt mich in Frieden! Ich habe doch nichts getan. Ich bin unschuldig«, begann er zu flehen. »Helft mir lieber, mich aus dieser Lage zu befreien.«

»Natürlich helfen wir«, gab ihm Joe zu verstehen. »Aber

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damit ist dein Spiel aus, Dr. Bunn. Wir haben dein letztes Mordopfer im Haus gefunden. Liza Reynolds wird dich deiner Taten überführen. Und jetzt will ich vorerst wissen, wer du wirklich bist!«

Baxter kniete sich aufs Dach, schob seinen Körper bis zu der Kapuzengestalt vor, streckte die Hand aus und riß dem Mann die Kapuze vom Gesicht.

Ein dicker, aufgeschwemmter Holländer sah ihm entgegen. Das war nicht Dr. Geoffrey Bunn, es war der Geschäftsführer vom Orient-Klub.

»Wo ist Dr. Bunn? Es hat keinen Sinn, es zu verschweigen. Wir finden ihn trotzdem!« Joe Baxters Stimme klang barsch und fordernd.

Der Dicke gab darauf keine Antwort. Er wimmerte nur: »So laßt mich endlich von hier weg. Zieht mich hoch. Ich kann mich nicht mehr in der Luft halten!«

Joe Baxter streckte die Hand aus. Er wollte den Mann packen. In dieser Sekunde ließ der andere los, seine Kräfte versagten.

Mit einem gellenden Schrei stürzte er in die Tiefe. Sein Körper klatschte auf der Straße auf und blieb dort als zerfetztes Bündel liegen …

*

Filmproduzent Leek betrat den Konferenzraum des Hotels. Die Herren des Filmstabes, an der Spitze Regisseur Conny Crash, warteten schon auf ihn. Sie erhoben sich und nahmen auf ein Zeichen von ihm ihre Plätze wieder ein.

Ohne ein Wort der Begrüßung begann der Produzent. »Meine Herren, Sie haben es Mr. Crash und seinem Leichtsinn zu verdanken, daß ich die Absicht habe, nie mehr mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich habe heute vormittag der Bank von

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London die Anweisung gegeben, meine sämtlichen Gelder, die für das geplante Filmprojekt zur Verfügung standen, unverzüglich zurückzuziehen. Mit unfähigen Menschen arbeite ich nicht.«

Conny Crash versuchte einzulenken: »Mr. Leek, das kann doch jedem passieren. Wer konnte denn wissen, daß ein Mörder in Amsterdam ist!«

»Alles Quatsch«, brüllte David Leek. »Eine Schauspielerin, die die Hauptrolle spielt, schickt man nicht einfach auf ein paar Tage in die Unterwelt. Mr. Crash, Sie sind ein Trottel. Nehmen Sie das anläßlich unseres Abschiedes zur Kenntnis. Ich verlasse heute noch Amsterdam …!«

Er drehte sich um, verneigte sich kurz und schritt zur Tür. Dort öffnete er seinen Aktenkoffer, entnahm ihm die Vertragskopie, die ihn an den Regisseur und sein Team gebunden hatte. Er zerriß das Papier in der Luft und warf die Stücke weit von sich. Dann eilte er aus dem Hotel, bestieg ein Taxi und ließ sich zum Flugplatz fahren.

Der Chauffeur des Wagens erkannte David Leek aus den Zeitungsberichten. Er räusperte sich und fragte: »Sie sind doch Mr. Leek, der Filmproduzent?«

»Ja«, antwortete David Leek. »Eine schreckliche Sache, die da mit Ihrer Hauptdarstellerin

passiert ist.« »Das kann man wohl sagen!« »Wie ist denn das geschehen?« wollte der Fahrer wissen. David Leek wurde blaß, starrte vor sich hin, verkrampfte

seine Hände und murmelte abwesend: »Mein Regisseur ist schuld. Er hat Liza Reynolds von den Dreharbeiten weggeschickt, ohne sie im Auge zu behalten und ohne mich darüber zu informieren. Er ahnt nicht, was er mir damit angetan hat.«

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*

Laut tickte die Uhr des Portiers. Der Zeiger rückte gegen Mitternacht. Gustaf Hafe hatte seinen Kopf auf den Schreibtisch gebettet

und machte ein Nickerchen. Er hatte den kleinen Wecker neben sich auf 1 Uhr gestellt. Da mußte er dann wieder seinen Rundgang durch das Leichenschauhaus von Amsterdam machen.

Ein lautes Stöhnen riß ihn aus dem Schlaf. Gustaf Hafe starrte zur Tür, die ihn vom Korridor der Leichenräume trennte. Da war es wieder. Ganz deutlich. Eine Frauenstimme.

Schlaftrunken erhob sich der Portier, steckte seine Dienstpistole ein, angelte die Schlüssel vom Wandbrett, setzte seine Uniformkappe auf und verließ sein Büro. Er stand auf dem Gang und horchte in die Dunkelheit hinein.

Sekunden später zuckte er zusammen. Da war die stöhnende Stimme wieder. Er hörte sie ganz deutlich. Sie kam aus dem Leichenraum II. Zögernd schlurfte er hin und steckte den Schlüssel ins Schloß. Bevor er die Tür aufstieß, horchte er.

Ein Wimmern echote durch den Raum. Mit einem Ruck öffnete Gustaf Hafe die Tür und trat ein. Er

tastete zitternd nach dem Wandschalter. Im Nu flammten 50 Deckenleuchten auf.

Vorsichtig ging der Portier zwischen den Steintischen durch. Er überlegte, welche Leichen am Abend zuvor eingeliefert

worden waren. Hatten sich die Polizeiärzte vielleicht geirrt? War ein Lebender irrtümlich eingeliefert worden? Geschah ein Verbrechen?

Gustaf Hafe zückte seine Pistole, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß jemand auf ihn schoß oder über ihn herfiel.

Schritt für Schritt suchte er alle Steintische ab. Dann kam er in Reihe 3.

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Er fuhr zusammen, als er – dicht neben sich – ein Stöhnen hörte. Der Portier drehte sich zur Seite. Seine Augen waren auf die Plastikdecke eines Tisches gerichtet. Sie bewegte sich.

Und dann wieder ein Schrei, der sich einer Frauenkehle entrang, diesmal lauter als der vorherige.

Gustaf Hafe prallte zur Wand. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Seine Knie zitterten.

Das Plastiklaken wurde zurückgeworfen. Eine junge Frau bewegte sich auf dem Steintisch, stöhnte noch einmal, öffnete die Augen und setzte sich hoch.

Die Tote war dem Portier schon den ganzen Tag unheimlich gewesen. Bei der routinemäßigen Kontrolle der angelieferten Leichen hatte Gustaf Hafe nämlich bemerkt, daß sich die frische Haut der Frau nicht im geringsten verändert hatte. Sie sah aus, als würde sie schlafen. Doch war sie physisch nicht mehr am Leben.

Und jetzt richtete sie sich auf. Gustaf Hafe wußte nicht, ob er das alles nur träumte.

Langsam kam er näher. Viola Oggi hatte nach langem Ringen zwischen Jenseits und

Erde wieder Anschluß an ihren Körper gefunden. Einige Zauberformeln hatten ihr den Weg zu sich zurück erleichtert. Aus der vorübergehenden Wesenheit war wieder eine Person aus Fleisch und Blut geworden.

»Verdammt noch mal, was soll denn das?« entfuhr es Viola, als sie sich umsah und nicht wußte, wo sie sich befand. Sie stellte nur fest, daß sie nackt auf einem kalten Steintisch gelegen hatte und mit einer Plastikhülle bedeckt war.

Sie entdeckte um ihr rechtes Bein ein Band, an dem ein Kärtchen hing. Sie befand sich also im Leichenschauhaus, und zwar als ordnungsgemäß registrierte Leiche. Alle Achtung, das war ihr bisher noch niemals passiert.

Jetzt erst gewahrte sie den Portier, der mit offenem Mund

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dastand und sie anstarrte. Allmählich erholte er sich von dem Schreck.

»Unverschämter Lümmel«, rief Viola Oggi aus, hüpfte vom Steintisch und bedeckte ihren Körper mit dem Plastiktuch.

»Nein, nein, um Gottes willen, Madame!« stammelte der Portier. »Nicht dieses Leichentuch! Kommen Sie, ich gebe Ihnen Kleider von mir zum Anziehen. – Sie erkälten sich.«

Er kam näher und betastete sie: »Leben Sie wirklich?« Er schaute sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt an: »Das

ist uns noch nie passiert, daß wir eine Scheintote hier liegen hatten. Ich versteh nicht, daß die Ärzte das nicht erkannten.«

Viola Oggi lachte: »Ich bin auch ein ganz besonders schwieriger Fall gewesen. Meine Seele war nur auf Spazierfahrt und hatte den Körper zurückgelassen …!«

Gustaf Hafe verstand diese Worte nicht: »Ich begreife das alles nicht.«

Viola folgte ihm in sein Büro und streifte sich seine Kleider über. Dann gab sie ihm ein Küßchen auf die Stirn und bedankte sich: »War schön, daß Sie mich sofort gehört haben. Wären Sie nicht dagewesen, hätte ich mir in den Gewölben sicher einen gründlichen Schnupfen geholt.«

Der Portier war noch immer wortkarg, als er Viola zum Tor hinausließ. Das Taxi, das er telephonisch gerufen hatte, wartete schon. Der Fahrer staunte über die seltsam gekleidete Frau und rief Gustaf Hafe lachend zu: »Du alter Gauner. Das werde ich deiner Frau sagen. Du läßt dir verkleidete hübsche junge Damen ins Leichenschauhaus kommen. Das hätt ich nicht von dir gedacht …!«

Gustaf Hafe stieg Schweiß auf die Stirn. Wie sollte er dem Mann sein unglaubliches Erlebnis erklären?

Viola erfaßte die Situation, tippte dem Chauffeur, als sie im Auto saß, auf die Schulter und meinte hintergründig: »Was denken Sie, wer ich bin? Ich bin eine seiner Leichen. Ich habe

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ihn bestochen und habe dafür Ausgang bekommen. Um eins, wenn die Geisterstunde vorbei ist, muß ich wieder brav auf dem Steintisch liegen …!«

*

Joe Baxter hatte keinen Schlaf gefunden. Er war aus seinem Bett gekrochen, hatte es sich im Sessel des Salons bequem gemacht und döste.

»Olga«, flüsterte er. »Ich schlafe nicht und träume dennoch.« Als Olga Dussowa nicht aus ihrem Zimmer antwortete, rief

er lauter: »Olga, ich habe eine seltsame Vision. Viola erscheint mir und ist ganz eigenartig gekleidet. Sie hat abgetragene, viel zu große Männerkleider an. Sie will mir etwas sagen!«

»Dummkopf, du hast keine Vision, Joe. Das sollte einem Mann vom Parapsychologic Department nicht passieren.«

Joe sprang auf: »Viola! Wie soll ich das verstehen?« Sie lachte auf: »Jedenfalls bin ich keine Vision. Ich lebe und

bin durch die Tür in unser Apartment gekommen.« »Viola, du hast doch einwandfrei im Leichenschauhaus

gelegen. Wir haben dich identifiziert …!« »Ich weiß, daß ich dort gelegen habe. Es war ja auch höchst

unbequem. Doch der Portier hat sich schließlich meiner erbarmt.«

Viola streifte ihre Männerkleider ab. Olga war inzwischen aus dem Schlafzimmer gekommen. Die beiden Kolleginnen umarmten sich, dann ging Viola unter die Dusche. Joe und Olga belagerten sie dabei. Sie mußte alles erzählen.

Sie berichtete von dem jungen Mann, der unter dem Orient-Klub für Dr. Bunn die Leichen schminkte, von der rasanten Motorboot-Fahrt mit der toten Liza Reynolds und von den Vorgängen in der hohlen Mauer in der Villa in Sloterdijk. Joe las ihr die Worte von den Lippen. Jeder Satz formte sich zu

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einem weiteren Steinchen seines Mosaiks. Viola Oggi hatte kaum ausgesprochen und sich aufs Bett

geworfen, da berichtete ihr Joe von seinen Erlebnissen mit dem falschen Doktor Bunn.

»So«, meinte er dann und küßte Viola auf die Stirn. »Und jetzt schlaf dich aus. Morgen müssen wir ganze Arbeit leisten. Dr. Bunn ist uns entkommen. Doch er kann sich nicht in Luft auflösen. Wir müssen ihn finden. Auch die Wesenheiten aus dem Jenseits werden ihn finden und kommen sie uns zuvor, so wird Dr. Bunn ein qualvolles Ende nehmen. Er wird aber der irdischen Justiz ein für allemal entzogen sein. Meine einzige Hoffnung ist, daß die Mächte aus dem Totenreich den Verbrecher quälen, damit er zittern muß, und diese Zeit müssen wir nutzen.«

»Lieber Joe«, fragte Olga. »Wie sollen wir Dr. Bunn jetzt finden? Hast du einen Plan?«

Joe antwortete spontan: »Wir müssen uns in die Höhle des Löwen wagen. Ich werde mich auf Reisen begeben.«

»Wohin denn?« erkundigte sich Olga. Joe sah sie überzeugt an: »Ins Reich der Toten. Ich werde die Ermordeten besuchen und versuchen, einen Kompromiß zu schließen. Da erfahre ich dann, wie weit sie sind und ob sie schon wissen, wo Dr. Bunn zu finden ist. Ich könnte mir vorstellen, daß wir gemeinsam dem Mann eine Lektion erteilen. Unsere Aufgabe ist es dann, im letzten Augenblick dafür zu sorgen, daß er nicht der Rache des Jenseits zum Opfer fällt, sondern unser Gefangener wird, damit Kommissar Vandooren ihn zur Verantwortung ziehen kann.«

»Und du glaubst, daß es dir gelingen wird, gemeinsame Sache mit den Wesenheiten machen zu können? Wo sie uns gewarnt und bereits tätlich angegriffen haben? Ist dir überhaupt klar, wie schwer es derzeit für Menschen ist, eine Reise ins Jenseits zu unternehmen? Kein Sterbender wird uns

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um die österlichen Tage mitnehmen.« »Ich weiß«, nickte Baxter. »Es ist mir klar. Ich muß mich eben

zu einem Toten in den Sarg legen lassen …!« *

Dr. Leon Duvaleux stieg von einer Pfütze in die andere und tastete sich die Häuserfront bis zur Villa seiner Mutter entlang. Das Tor war offen. Auf dem Weg über die knarrenden, ausgetretenen Stufen stolperte er.

Madame Therese Duvaleux erwartete ihren Sohn schon in der Tür. Sie umarmte ihn und flüsterte: »Ach, lieber Leon. Ist das nicht herrlich? Endlich wie früher: Kein elektrisches Licht und nur Kerzenschimmer.«

Dr. Duvaleux küßte seine Mutter und meinte: »Also, auf der Straße habe ich unsere Beleuchtung viel lieber. Ich sehe aus wie ein Schwein. Du solltest meine Hosen ansehen, nachdem ich durch die Pfützen gewatet bin, weil ich nichts gesehen habe.«

Die weißhaarige alte Dame lachte und führte den Sohn zu ihrem Tisch.

Sie sagte lange nichts, legte dann ihre hagere Hand auf die seine und sagte: »Nostradamus, dein geistiger Vater, war bei mir. Wir haben uns lange unterhalten. Er hat mir neue Nachrichten eingegeben.«

»Was hast du denn erfahren?« »Dein Mr. Baxter ist doch mit den beiden Damen in

Amsterdam hinter einem gewissen Dr. Geoffrey Bunn her. Das ist nicht sein echter Name, doch er trägt ihn seit langem. Der Mann führt ein Doppelleben. Wer er ist, konnte ich noch nicht erfahren. Aber ich weiß, daß er aus Amsterdam geflüchtet ist …!«

Dr. Leon Duvaleux nickte höflich: »Danke, Mutter, das weiß ich bereits von Joe Baxter. Der aber hat es nicht von

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Nostradamus, sondern er hat es erlebt, wie sich der Verbrecher abseilte.«

»Ich weiß aber, wohin dieser Dr. Bunn sich wendet. Er ist derzeit auf der Flucht mit dem Ziel Schottland. Und er wird dort seine verbrecherischen Geschäfte weiterführen. Denn er ist nicht normal; er ist geisteskrank.«

Dr. Duvaleux war beeindruckt: »Das ist wunderbar, Mutter, daß du mir mit dieser neuen Information aufwarten konntest. Ich muß das noch heute nacht an Baxter weitergeben. Ich werde die drei nach London kommen lassen. In Amsterdam können Sie nichts mehr ausrichten.«

Therese Duvaleux räusperte sich und faßte ihren Sohn am Arm: »Sage Mr. Baxter aber auch, daß er sich vorsehen soll. Dr. Bunn wird von den Wesenheiten aus dem Jenseits gehetzt. Sie sind voller Haß und Rache. Wer in das Fahrwasser dieser Rache gerät, ist verloren …!«

*

Dichter Nebel über dem Londoner Flughafen. Die Maschine aus Amsterdam war gerade noch zu Boden gekommen. Danach wurde der gesamte Flugverkehr gesperrt.

Ein eleganter Herr mit breiten Schultern und hochaufgerichteter Gestalt strebte dem Auskunftsschalter zu.

Das Fräulein lächelte ihn unverbindlich an: »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?«

»Das ist doch nicht möglich, daß die Maschine nach Edinburgh nicht abfliegt?«

»Alle Maschinen müssen warten, bis sich der Nebel gelichtet hat, mein Herr!«

»Ich muß aber sofort nach Edinburgh: Wie steht es mit den Zügen vom Londoner Hauptbahnhof?«

Die Auskunftsdame schlug in einem Buch nach. Dann

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schüttelte sie den Kopf: »Tut mir leid. Den Zug erreichen Sie nicht mehr. Er fährt in wenigen Minuten ab.«

»Verdammt, wie komme ich jetzt nach Edinburgh …?« Er fuhr herum, als ihm jemand auf den Rücken klopfte.

Hinter ihm stand eine dicke, häßliche Frau mit riesigen Augen und einem weiten Mund. Ihr Körper war wabblig und unappetitlich. Sie lachte ordinär: »Ich muß geschäftlich ebenfalls nach Edinburgh. Ich habe von meiner Firma einen Dienstwagen, ein tolles Auto, komfortabler als jeder Zug. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit. Sie müssen mir folgen und einsteigen. Sonst halte ich meine Zeit nicht ein. Ich muß ebenfalls dringend nach Schottland …!«

Die Frau wirkte sehr abstoßend auf den eleganten Engländer. Doch es war seine einzige Chance, mitten in der Nacht in Richtung Edinburgh fahren zu können.

»Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, meine Dame. Ich nehme Ihre Einladung gerne an!«

Er folgte der dicken Frau zur Auffahrtsrampe des Flughafengebäudes. Draußen stand ein amerikanischer Superschlitten, eingerichtet mit Bar, Klimaanlage und Stereoanlage.

Der Chauffeur riß zur Begrüßung seine Kappe vom Kopf und öffnete die Türen. Die dicke Frau wälzte sich ächzend in den Wagen. Der hochgewachsene Brite stieg ebenfalls ein und setzte sich neben sie. Die Türen schlossen sich automatisch. Die Verriegelungen klickten ein. Sie waren in das Gefährt eingeschlossen. Der Fahrer gab Gas.

Zuerst führten sie belanglose Konversation und hatten London bald hinter sich.

Plötzlich meinte die wohlbeleibte Dame: »Ken, es ist soweit!« Der Chauffeur nickte und betätigte einen Knopf. Zwischen

ihm und den Fahrgästen schob sich eine schallundurchlässige und undurchsichtige Glaswand hoch.

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»Was hat das zu bedeuten?« fragte der Brite hastig. Das Gesicht der Frau wurde noch riesiger und dicker. Ihre

Augen glänzten: »So, mein Lieber. Jetzt können wir uns einmal ungestört unterhalten. Ich weiß, daß Sie Dr. Bunn sind. Ich weiß auch, daß Sie sich gegenwärtig auf der Flucht vor drei wichtigen Institutionen befinden: der Polizei, dem Parapsychologic Department und den Toten, die Sie auf dem Gewissen haben.«

»Wer sind Sie?« keuchte Dr. Bunn. »Lassen Sie mich sofort aussteigen!«

Die Frau lachte und schüttelte den Kopf: »Aber, lieber Dr. Bunn. Sie müssen schleunigst nach Edinburgh, weil Sie dort Ihre letzten Freunde haben, die bereit sind, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Aussteigen können Sie aus meinem Wagen erst dann, wenn ich es will. Und ich will im Augenblick nicht.«

Dr. Bunn rückte von dem Monster weg. Sie aber drückte sich an ihn: »Dr. Bunn, du bist mir ausgeliefert. Nichts auf dieser Welt ist umsonst. Auch diese Fahrt nach Edinburgh nicht. Ich liebe die Männer und du gefällst mir. Ich weiß, daß ich kein Typ für einen Mann bin. Doch darum bin ich besonders scharf auf deine Bekanntschaft und du wirst mir das ersehnte Glück schenken. Du wirst mich auf der ganzen Fahrt nach Edinburgh verwöhnen und lieben; Und wenn du mich nicht glücklich machst, so erwürge ich dich.«

Nachdem sie geendet hatte, blitzte in der rechten Hand Dr. Bunns ein kleiner Revolver auf.

»Luder«, zischte er. »Wer bist du?« Dann drückte er ab. Sechsmal bellte die Schußwaffe in seiner

Hand auf. Sechsmal zuckte der wabbelige dicke Körper der häßlichen Frau zusammen.

Danach aber ertönte ihr dröhnendes Lachen. Die Kugeln waren durch ihren Leib hindurchgedrungen und

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hatten keine Spuren hinterlassen. »Du Idiot«, meckerte sie. »Ich bin unverletzbar.« Er schrie auf, als plötzlich ihre fetten Hände nach ihm faßten,

ihn gegen die Sitze drängten und ihn festhielten. Er starrte sie an wie ein Ungeheuer. Ihr Mund erschien ihm wie der Sauger eines Tintenfisches. Er kam immer näher und zwang ihn zu einem langen Kuß, der Dr. Bunn das Gefühl von Grausen gab.

Als die Frau von ihm zurückwich, sagte sie höhnisch: »Du hast mich gefragt, wer ich bin. Vielleicht bin ich die Göttin der Liebe …!«

Sie lachte und riß sich ihr Kleid vom Leib. Ein häßlicher, faltiger Körper wurde darunter sichtbar. Drohend wie ein Ungetüm wälzte sie sich auf den Engländer, dabei hatte sie Bärenkräfte und zerrte ihn zu sich hin. Er wehrte sich zwar, doch sie setzte ihren Willen durch.

Wilde Angst fuhr in seine Knochen. Er wußte genau, daß er nach diesem Erlebnis immer an diesen Alptraum würde denken müssen.

Ihre Finger umklammerten ihn wie eiserne Spangen. Sie starrte ihn wie eine Maske an: »Das war erst der Anfang,

Doktor Bunn. Du sollst noch viel Schrecklicheres auf dieser Erde erleben, bevor du sterben wirst. Den Tod jedes Mädchens, das du umgebracht hast, sollst du tausendfach büßen.«

Sie sah zum Fenster hinaus. Dr. Bunn bemerkte, daß der Wagen nicht fuhr, nicht raste,

sondern dahinflog. »Wir kommen bald nach Edinburgh und du mußt wissen,

daß ich immer in deiner Nähe sein werde und mir neue Rachepläne für dich ausdenke. Du wirst meinen Anblick kaum mehr ertragen können.«

Er stotterte: »Wir können doch nicht jetzt schon nach Edinburgh kommen. Wir sind doch erst von London weggefahren.«

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»Es war eben eine Höllenreise mit einem Teufel«, lachte sie: »Wir sind tatsächlich bereits auf der Einfahrtsstraße nach Edinburgh.«

»Laß mich raus aus diesem Wagen. Ich sterbe sonst!« schrie er und rüttelte an der Tür.

Drohend sagte sie: »Du kannst gleich aussteigen, Dr. Bunn. Aber vorher sei dir im klaren, daß dein Untergang beschlossen ist. Du wirst stückweise sterben. Du wirst nach und nach zugrunde gehen. Und wir werden uns daran weiden. Den Anfang mache ich.«

Ihre Stimme war schrill geworden. Sie richtete sich neben Dr. Bunn auf und hob die Hand. Dr.

Bunn schrak hoch, als er ihre Finger sah. Sie hatten sich in Blitzesschnelle verwandelt. Sie waren zu glühenden Eisen geworden. Und ehe er etwas sagen konnte, schlug diese Hand zu und traf seinen linken Arm. Er heulte auf. Schmerz drang ihm durch Mark und Bein. Er roch die verbrannte Haut seines Armes.

Sekunden später wußte er, daß er seinen linken Arm nie mehr sehen lassen konnte. Er war bis zu den Knochen verbrannt und glich der Pranke eines Krüppels, wenn er ihn auch noch bewegen konnte.

»So wirst du Stück für Stück verstümmelt werden«, flüsterte sie eindringlich.

Die Tür des Wagens schwang auf. Dr. Bunn hörte den pfeifenden Fahrtwind. Dann spürte er einen Stoß.

Er flog in weitem Bogen aus dem Auto und landete im Straßengraben. Sein Arm schmerzte höllisch und in seinem Gehirn saß die nackte Angst um sein Leben. Er hatte nur noch einen Wunsch: So schnell wie möglich: weg von hier! Erst dann fühlte er sich wieder sicher. Der Anblick dieser Frau hätte ihm den Verstand geraubt …

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*

Morgensonne blendete Baxter, als er durch die intensive Telepathie seines Chefs in Paris geweckt wurde.

Unermüdlich hatte sich Dr. Leon Duvaleux auf ihn konzentriert, und als er sich endlich verschlafen meldete, stöhnte dieser erleichtert: »Na endlich, Baxter. Warum geben Sie denn kein Zeichen, wenn ich Sie anpeile? Da könnte ich gleich anrufen. Das ginge ebenso schnell.«

Baxter gähnte: »Das wäre auch um diese frühe Morgenstunde der vernünftigere Weg. Sie ließen mir dann wenigstens die Chance, nicht abzuheben. Aber Ihre Teleanpeilungen würden mir ja den Verstand rauben, wenn ich sie ignorieren würde.«

Dr. Duvaleux kam zur Sache: »Also auf, lieber Baxter.« »Was gibt's, Chef?« erkundigte sich Baxter und setzte sich im

Bett hoch, um klarere Gedankenverbindungen schaffen zu können.

»Meine Mutter erhielt Informationen von Nostradamus und läßt euch sagen, daß Dr. Bunn auf dem Weg nach Schottland ist. Er wird von Wesenheiten aus dem Jenseits gehetzt. Und Ihr sollt euch in acht nehmen. Es geht jetzt hart auf hart.«

Joe Baxter fragte gedehnt: »Sollen wir dranbleiben, Chef? Oder setzen Sie andere Leute in Schottland ein?«

»Nein, nein«, wehrte Dr. Duvaleux ab. »Mir ist schon lieber, wenn ihr diesen Fall zu Ende führt. Baxter, informieren Sie sofort Olga und Viola. Sie fliegen heute hoch nach London. Dort erhalten Sie dann von mir weitere Anweisungen. Und – grüßen Sie mir vor allem Viola. Sagen Sie ihr, daß ich mich freue, daß wir sie wieder gesund in unserer Mitte haben.«

Joe Baxter bereitete den Chef langsam auf seinen Plan vor: »Sobald ich in London bin, habe ich vor, mit den Wesenheiten des Jenseits Kontakt aufzunehmen. Wir müssen im Fall Dr.

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Bunn mit ihnen zusammenarbeiten, sonst bleiben wir auf der Strecke. Ich habe da einen Plan, der für beide Teile akzeptabel wäre, uns aber den Erfolg bringen könnte, wenn wir auf Draht bleiben …!«

»Jetzt um Ostern wollen Sie ins Jenseits reisen?« gab Duvaleux zu bedenken.

»Ich weiß, auch Olga hat mich schon daran erinnert, aber ich muß es wagen. Warum sollte ich mich nicht in einen Sarg einnageln und begraben lassen?«

»Viel Glück. Meinen Segen haben Sie, Baxter, wenn Sie sich doch nicht von der Sache abhalten lassen wollen.«

*

Tee dampfte in den Tassen. Die Stube am Trafalgar Square war gemütlich. Baxters Augen leuchteten. Genußvoll tat er die ersten Schlucke aus der Tasse.

Olga meinte lächelnd: »Ich merke es dir direkt an, Joe, daß du glücklich bist, wieder einmal in deiner Heimatstadt zu sein. Hoffentlich können wir ein paar Tage in London bleiben, damit du vertraute Luft atmen kannst.«

Er nickte und lehnte sich zurück. Sie fuhr fort: »Also, wenn ihr mich fragt: Ich weiß nicht, was

Ihr Engländer an diesem Gesöff findet. Kein Vergleich mit einem starken Kaffee …!«

Joe hatte am Nebentisch eine Zeitung liegen sehen. Rasch erhob er sich und holte sich das Blatt herüber.

Immer wieder überflog er den Text. »Meine Damen, denken Sie daran, daß wir dienstlich in

London sind, und nicht, um etwa den Tee in England abzuschaffen«, stellte er zufrieden fest.

Sie sahen ihn beide an. Er las die Zeitungsmeldung vor: »Der berühmte Dr. Bunn in

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Edinburgh eingetroffen! Wie wir aus gut informierten Kreisen erfahren, hat sich der bekannte britische Parapsychologe Dr. Geoffrey Bunn, der lange Zeit im Ausland arbeitete, in Edinburgh etabliert. Er soll eine Villa gemietet haben und plant, regelmäßig spiritistische Sitzungen abzuhalten. Dr. Bunn hat sich international einen Namen gemacht, weil er nicht nur übliche Sitzungen durchführt, sondern infolge seiner überdimensionalen Geisteskräfte mehr zu bieten weiß. Es gelingt ihm sehr häufig, Verstorbene für Sekunden körperlich in Erscheinung treten zu lassen und dadurch den Effekt zur Sensation zu steigern. Es gibt Fanatiker, die für eine Erscheinung ungeheure Summen bezahlen. Dr. Bunn soll die Absicht geäußert haben, auch in Edinburgh solche Sitzungen durchzuführen …!«

Viola hielt den Atem an. »Donnerwetter, der Kerl hat Nerven. Wird in Amsterdam

von der Polizei wegen neunfachen Mordes gesucht und läßt sich in Schottland groß ankündigen. Der wird doch nicht wieder zu morden beginnen, um das große Geld zu machen?«

Joe Baxter dachte nach: »Wenn es stimmt, daß er nicht ganz normal ist, dann traue ich es ihm ohne weiteres zu. Das bedeutet, daß wir uns beeilen müssen, ihm das Handwerk zu legen. Er mordet sonst bedenkenlos hier auf der Britischen Insel weiter.«

Er überflog noch einmal die Zeitungsmeldung. Dann erhellte sich sein Gesicht. Er musterte Olga und Viola. Dann tat er einen kräftigen Schluck aus seiner Teetasse.

»Ich hab's, meine Damen. Ich glaub', ich hab's.« »Was hast du?« wollte Olga wissen. »Ich weiß, wie wir diesen Dr. Bunn unschädlich machen und

fassen können. Wir stellen ihm eine Falle. Doch dazu brauchen wir Hilfe aus dem Jenseits …!«

Page 103: Seance des Grauens

*

Reverend Bailey hustete, als er im Nachthemd die Tür seines Pfarrhauses öffnete und Baxter vor sich sah.

»Na, das muß ja wohl wieder eine geheime Mission sein, die Sie da vorhaben, mein lieber Hauptkommissar!« brummte er und bat den späten Gast herein.

Baxter entschuldigte sich für seine nächtliche Störung: »Reverend, ich weiß, wie unhöflich es von mir ist, Sie jetzt aufzusuchen. Aber die Zeit drängt. Es geht darum, daß das Parapsychologic Department einen mehrfachen Mörder zur Strecke bringt. Fast hätten wir ihn in Amsterdam schon gehabt. Er ist uns aber entkommen. Jetzt haben wir wieder keine Handhabe, denn er könnte glatt leugnen, daß er der Mann im Kapuzenanzug war. Wir haben ja auch einen anderen an seiner Stelle verhaftet. Es gilt, ihm ein Geständnis abzulocken. Und dazu brauchen wir die Hilfe aus dem Jenseits.«

»Und wie kann ich Ihnen dabei helfen, lieber Baxter?« »Sie haben mir in Grenzfragen des Glaubens und des

Aberglaubens schon so oft helfen können, Reverend. Ich weiß, daß nur Sie so verständnisvoll meiner Arbeit zusehen. Diesmal ist es etwas sehr Ausgefallenes. Es ist derzeit sehr schwer, eine Reise ins Jenseits anzutreten. Ich muß schwere Prozeduren durchstehen. Um die Osterzeit gibt es nur eine Möglichkeit, mit Wesenheiten in Verbindung zu treten. Ich muß den Weg aller irdischen Vergänglichkeit nehmen, mich zu einem Verstorbenen in den Sarg legen und mich mit ihm beerdigen lassen.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!« Der Reverend starrte Baxter an. »Wie soll ich Ihnen dabei helfen?«

»Sie können sich vorstellen, daß ich mich nicht gern unerlaubt in einen Sarg schmuggle. Das muß abgesprochen sein. Außerdem könnte ich da mit dem Gesetz in Konflikt

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kommen. Nur Sie können mir dabei helfen, daß ich einen Sarg besteigen und beerdigt werden kann.«

»Was geschieht aber weiter?« fragte der Reverend. »Wie kommen Sie denn aus dem Sarg wieder heraus? Der liegt doch dann mit Ihnen unter der Erde.«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Wir können uns entmaterialisieren und unsere Körper durch Erde, Wände und Wasser transferieren. Ich komme nach getaner Arbeit wieder aus dem Grab. Sie müssen es nicht wieder aufschaufeln lassen.«

Der Reverend stand am Fenster: »Gern mache ich das nicht, Baxter. Aber wenn Sie sagen, daß es um die Klärung einer Mordserie geht, so kann ich mich wohl nicht ausschließen. Gut, ich helfe Ihnen.«

Sie drückten sich die Hände. »Und wann wollen Sie begraben werden?« fragte der

Reverend. »Möglichst heute oder morgen!«

*

Vom Aufbahrungshaus klang eine alte Orgel herüber zu den Gräbern und spielte monotone Trauermusik. Auf den Kieswegen knirschten die Schritte der Trauergäste. Die Sargträger bewegten sich in eintönigem Gleichschritt voraus. Vor dem Grab blieben sie stehen und ließen den Toten mit Hilfe von Abrollgurten in die aufgeschaufelte Graböffnung sinken.

Baxter hatte sich recht eng machen müssen. Er lag neben einem toten Kaufmann, der in seinem Leben eine recht üppige Erscheinung gewesen war. Jetzt war er in einen Plastiksack eingebunden und hatte die Augen geschlossen.

Baxter hörte zwar draußen die Worte des Reverenden, der

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den Verstorbenen lobte. Er hörte das Weinen der Frauen. Aber er versuchte, es abzuschütteln. Denn er war eben dabei, einen Kontakt zu dem Toten zu finden.

Die Wesenheit des Kaufmannes hatte den Körper noch nicht restlos verlassen. Joe Baxter nahm mit ihr Verbindung auf und vollzog gleichzeitig die Trennung zwischen seinem Körper und seinem Geist.

»Was willst du von mir?« fragte die Seinskraft des Kaufmannes. »Du kannst mich nicht hindern, ins Reich der Jenseitigen aufzusteigen.«

»Ich will dich auch nicht daran hindern. Ich bitte dich nur, mich mitzunehmen. Als Lebendem ist mir mit dem Beistand eines Toten der Zutritt nicht verwehrt. Es geht darum, entsetzliches Unrecht und eine Verbrechenskette zu beenden!«

»Dann trenne dich ganz von deinem Körper und komm mit!« Der Sarg sank in die Tiefe und polterte auf der Erde auf. Die

Gurte wurden leer zurückgerollt. Eine kurze Ansprache, dann fielen die ersten Schaufeln Erde herab.

Baxter hörte es wohl, aber er fühlte die Situation nicht mehr. Er war seinem eigenen Leib, der darin lag, schon fern.

Er hatte den toten Kaufmann nie im Leben gekannt. Und doch war er ihm jetzt plötzlich so vertraut, als wären sie Brüder gewesen. Sein Sein war Baxter ein Anliegen geworden. Sie schwangen ihre Gedanken empor, einer neuen Welt entgegen, in der der eine von ihnen für ewig bleiben mußte.

Baxter fühlte sich leicht und glücklich. Wie würde man im Jenseits seinen Besuch aufnehmen? Würde er ebenso glücklich zurückkommen?

*

Es war ein Nichts. Keine Grenze nach oben und unten.

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Joe Baxter hatte das Jenseits erreicht. Er versuchte, die Situation, in der er sich befand, nach menschlichen Aspekten zu begrenzen. Er sah in dem Nichts einen großen Palast mit transparenten Wänden.

Die Seele des verstorbenen Kaufmanns hatte ihn schon verlassen.

Baxter aber war ein Ausnahmefall. Die Wesenheit eines Lebenden.

Er wurde gemieden und mußte warten, bis er von Wesenheiten dieses Daseins angesprochen wurde.

Zuerst meldete sich die Seele Liza Reynolds bei ihm. Baxter war erstaunt über sich selbst. Es war ihm, als hätte er

niemals etwas anderes getan, als sich mit Wesenheiten Verstorbener zu unterhalten.

»Warum bist du gekommen?« Joe Baxter spürte die Frage. »Ich habe mit euch zu reden. Wir verfolgen dasselbe Ziel.

Wir wollen Dr. Bunn zur Strecke bringen.« »Ihr auf Erden bringt es nicht zuwege. Außerdem gehört Dr.

Bunn uns. Wir müssen ihn vernichten, weil er auch uns vernichtet hat.«

»Ich weiß aber auch, daß ihr bald in eine vollendete Stufe der Wesenheiten aufgenommen werdet, in der ihr keinen Haß und keine Rache mehr kennt.«

Keine Antwort. Baxter wußte, daß er recht hatte. »Ich mache euch einen Vorschlag«, begann er nun. »Wir

können zusammenarbeiten, um Dr. Bunn zu einem Geständnis zu zwingen. Wir werden ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Doch da könnt nur Ihr helfen.«

»Was meinst du?« »Dr. Bunn arbeitet wieder in Edinburgh. Er wird vor einem

neuen Mord nicht zurückschrecken, wenn es ihm nur genug Geld einbringt, eine makabre Sitzung abrollen zu lassen. Wir

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müssen ihm ein Mädchen in die Hand spielen, das ihn an den Rand des Wahnsinns bringt. Es muß eine Tote sein, die er einfach nicht mehr ermorden kann. Ich habe schon Vorarbeit geleistet. Es gibt in Edinburgh einen Kinobesitzer, einen gewissen Brad McHarald. Er glaubt an okkulte Dinge. Meine Mitarbeiterin Olga Dussowa könnte ihn geistig so präparieren, daß er zu Dr. Bunn kommt und ihn bittet, seine Tochter sprechen und sehen zu dürfen …«

Eine der Wesenheiten blockierte Baxters Gedankenfluß und mengte sich ein: »Wir kennen seine Tochter. Es ist Clair McHarald. Sie hat sich vor einem Jahr auf dem Dachboden des elterlichen Hauses erhängt. Sie befindet sich bei uns.«

Joe Baxter fuhr fort: »Ihr müßt dafür sorgen, daß Clair rematerialisiert zur Erde geschickt wird. Sie muß Dr. Bunn über den Weg laufen. Er muß denken, er hat ein Mädchen gefunden, das der Selbstmörderin ähnlich sieht. Dann wird er Jagd auf es machen. Eine Jagd, die böse enden wird.«

»Wir sind mit deinem Vorschlag einverstanden. Es ist ein guter Vorschlag«, fühlte Baxter die Antwort der Wesenheiten. »Doch nach Dr. Bunns bösem Erwachen gehört er uns ganz allein.«

Joe Baxter gab keine Antwort. Die Wesenheiten erwarteten auch keine, denn sie verflüchtigten sich.

Baxter aber fühlte sich müde und abgekämpft. Er versuchte, sich wieder an seinen Körper zu erinnern. Alles drehte sich. Er fühlte sich wie in einer rotierenden Spirale. Dann stürzte er in eine unendliche Tiefe.

Minutenlang wußte er nichts von sich. Dann starrte er in modrige Dunkelheit. Er lag wieder in dem

Sarg neben dem begrabenen Kaufmann. Panik überkam ihn. Ein schreckliches Gefühl, lebendig

begraben zu sein. Schnell begann er die Entmaterialisierung an sich vorzunehmen, um sich dann im Büro des Reverenden

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wieder zu rematerialisieren. Als er vor dem Schreibtisch des Geistlichen stand, wankte

und sich setzen mußte, weil er sich kraftlos fühlte, bekreuzigte sich dieser: »Himmel sei Dank, daß das gut ausgegangen ist.«

*

Die Villa am Stadtrand von Edinburgh war klein und nur von einem schmalen Garten umgeben. Dr. Bunn hatte nichts anderes gefunden.

Das große Zimmer aber glich dem Salon in Amsterdam mit einer Ausnahme: Es gab aus baulichen Gründen keine Möglichkeit, eine hohle Wand zu installieren.

Der Kinobesitzer McHarald hatte die Hände gefaltet und sah Dr. Bunn fasziniert an: »Meister, ich habe soviel von Ihnen gehört. Ich mußte sofort zu Ihnen kommen. Sie können von mir verlangen, was Sie wollen. Aber bitte, vermitteln Sie mir ein Zusammentreffen mit meiner verstorbenen Tochter. Sie hat sich vor einem Jahr erhängt.«

»Wie hatte sie ausgesehen?« Zitternd holte McHarald ein Photo von dem Mädchen aus

der Tasche. »Ein sehr hübsches Mädchen!« stellte Dr. Bunn fest und fuhr

fort: »Sie müssen mir das Photo dalassen, damit ich mich auf die Tote einstellen kann. Wenn ich Kontakt mit ihr habe, lasse ich Sie es wissen und verständige Sie. Lassen Sie mir bitte Ihre Adresse da. Ich denke, daß ich die Sache übernehmen kann. Wir werden uns sicher über die Gesamtsumme einig werden. Aber ich muß mich jetzt empfehlen, bitte entschuldigen Sie!«

»Dr. Bunn, Sie sind ein Genie«, murmelte McHarald beeindruckt und verabschiedete sich, nachdem er noch einiges über seine verstorbene Tochter erzählt hatte. Als er glücklich nach Hause kam, umarmte er seine Frau: »Wir werden unsere

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Tochter sehen dürfen. Sie wird uns erscheinen!« »Das ist doch alles Unsinn«, konterte Mrs. McHarald. »Dr.

Bunn lockt dir nur Geld aus der Tasche. Aber wenn es dir Freude macht, dann geh hin. Ich komme zu dieser Sitzung nicht mit!«

Zur selben Zeit ließ Dr. Bunn seinen neuen Mitarbeiter kommen, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband. Er schob ihm das Photo von Clair McHarald mit den Worten hin: »Es wird dir hoffentlich nicht schwerfallen, ein Mädchen zu finden, das so aussieht. Ich brauche es schnell. Am besten, du gibst ein Inserat in der Zeitung auf. Das Mädchen soll sich in deiner Privatwohnung melden. Du machst sie unschädlich, am besten mit Schlafmittel, dann bring Sie zu mir. Wir werden Sie wie Clair herrichten. Dann können wir zur Sitzung einladen …!«

Ängstlich fragte Swithy: »Müssen wir sie töten?« Dr. Bunn schüttelte den Kopf: »Ich glaube, im Augenblick ist

es besser, das nicht zu tun. Wir werden versuchen, sie ständig mit Drogen bewußtlos zu halten. Wenn sie überlebt und wir sie dann irgendwo ablegen können, wäre es mir lieber …!«

*

Swithy traute seinen Augen nicht. Er verließ seine Wohnung, um das Inserat für ein

Stubenmädchen aufzugeben. Fassungslos starrte er auf die Studentin, die da vor dem Haus

kleine Zettel auf Lichtmaste klebte. Swithy holte das Photo aus der Tasche, es war direkt unheimlich: Die Selbstmörderin hatte eine Doppelgängerin. Das Mädchen hier sah der Toten sprechend ähnlich.

Swithy konnte seine Blicke nicht von der Studentin lassen. Er ging auf sie zu und musterte ihre schlanke Figur: »Na, schönes

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Kind, bist du eine Revolutionärin?« Sie schüttelte den Kopf: »Nicht die Bohne, ich suche einen

Job!« Jetzt erst sah Swithy einen der Zettel. Da stand es groß und

deutlich mit Kugelschreiber hingezeichnet: »Junge Studentin sucht einträglichen Job …!«

»Ich hätte da etwas für Sie, meine Liebe«, begann Swithy. »Ich wollte gerade ein Inserat in der Zeitung aufgeben. Ich habe da einen sehr wohlhabenden Chef, der braucht ein junges Mädchen.«

Sie lachte: »Aber ich sage Ihnen, ich schlafe nur mit Männern, die mir gefallen …!«

Swithy war verwirrt: »Nein, aber nein. Ich habe das anders gemeint. Er braucht ein Stubenmädchen und will es gut bezahlen. Kommen Sie mit mir. Da können wir bei einem Whisky alles besprechen. Und wenn Sie einverstanden sind, bringe ich Sie heute noch zu meinem Chef.«

»Jetzt hab ich ganz umsonst die Zettel geklebt. Gut, ich komme mit. Aber, keine faulen Tricks. Ich kann Karate und lege jeden Mann aufs Kreuz, wenn er zudringlich wird …!«

Swithy ging voraus. Er überlegte: Man mußte sie vielleicht doch töten …

*

»Ja, wer ist da?« »Swithy! Ich hab eine Doppelgängerin von Clair gefunden.

Tolle Sache. Ich brauchte erst gar nicht zu inserieren. Sie lief mir über den Weg. Sie werden staunen, Chef. Sie sieht aus wie die Selbstmörderin!«

»Wo ist sie jetzt?« »Ich habe Ihr ein Mittel in den Whisky geschüttet. Sie liegt in

meiner Wohnung. Ich bringe Sie bei Einbruch der Dunkelheit

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zu Ihnen herüber.« »Gut, und dann fahre zu McHarald und bestell ihn für heute

abend. Sage ihm, daß ich Kontakt zum Jenseits aufgenommen habe. Er kann seine Tochter heute nacht sehen …!«

*

Baxter, Olga und Viola stürmten die Gangway herab. Der zuständige Polizeioffizier von Edinburgh hatte schon einen Wagen bereitstellen lassen, mit dem die drei abgeholt und in ihr Hotel gebracht werden sollten.

Auf der Fahrt informierte Baxter den Polizisten über die Lage: »Der Mann ist ein Massenmörder. Er hat es vor allem auf junge Mädchen abgesehen. Warum das so ist, werden wir herausbekommen. Jedenfalls müssen wir schnell arbeiten.«

Der Polizist erklärte: »Wir wissen inzwischen, wo dieser Dr. Bunn ein Haus gemietet hat. Er hat bereits einen Kunden empfangen.«

Olga lächelte: »Den haben wir ihm geschickt. Der gehört zum Köder.«

Der Polizist sah Baxter an: »Wieviel Mann von uns brauchen Sie? Haben Sie lieber Kriminalbeamte oder uniformierte Polizisten?«

Baxter lächelte verbindlich: »Das ist sehr nett. Aber wir brauchen niemanden, außer ein paar Leuten, die in unserer Nähe bleiben, wenn wir im Haus sind!«

»Dann stimmt es also, was man über die Leute vom Parapsychologic Department sagt? Sie arbeiten fast immer allein. Und sagen Sie: Sie tragen tatsächlich keine Waffen bei sich?«

Joe Baxter schüttelte den Kopf: »Niemals. Und ich denke, wir sind auf diese Weise immer bestens weitergekommen. Nicht wahr, meine Damen?«

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»Unsere stärksten Waffen sind im Kopf: Konzentration, Hypnose und Selbstbeherrschung des Geistes.«

Er hielt inne, sah plötzlich Olgas Augen an: Sie waren ohne jeden Glanz. Die Pupillen richteten sich nach oben. Man sah nur noch das Weiße der Augen.

»Olga, was ist mit dir?« Sie gab keine Antwort. Viola flüsterte: »Das macht sie in letzter Zeit öfter. Keine

Sorge, Joe. Sie besucht ihren derzeitigen Partner, den Kinobesitzer McHarald. Sie tastet dann sein Gehirn ab, um zu erfahren, was sich in der Affäre Dr. Bunn tut.«

In diesem Augenblick schlug Olga die Augen auf und sah Joe an: »Jetzt hättest du mich beinahe bei der Arbeit gestört. Ich war bei McHarald. Stellt euch vor. Die Sache hat prächtig geklappt. Er ist für heute nacht zu einer Sitzung gebeten worden.«

»Das bedeutet«, setzte Joe fort, »daß uns Dr. Bunn mit seinen Leuten in die Falle gegangen ist. Sie haben Clair bereits in ihre Gewalt bekommen.«

Viola fragte schnell: »Ob Sie schon versucht haben, die Tote nochmals zu töten …?«

*

Dr. Leon Duvaleux hatte Guru Jogami vor sich sitzen. »Verehrter Guru«, begann er. »Ich muß sie bitten, sich in den

nächsten Stunden ganz auf meine drei Mitarbeiter in Edinburgh zu konzentrieren. Ich mache mir Sorgen um Baxter und seine beiden Assistentinnen. Die drei haben sich ein wenig verausgabt. Schließlich sind es nur menschliche Wesen mit begrenzten überirdischen Fähigkeiten trotz des jahrelangen Trainings. Baxter, Viola und Olga haben ein bißchen zuviel Entmaterialisation und Rematerialisation betrieben. Ich sehe

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ein, es war notwendig. Doch sie haben ein Maximum an Konzentrationskraft aufgebraucht. Gerade jetzt strebt die Affäre Bunn ihrem Höhepunkt zu. Die drei brauchen ihre Hilfe, Guru. Die mußt du ihnen gewähren.«

Guru Jogami nickte leicht und strich sich über seinen Bart. Er erhob sich und verließ das Büro Dr. Duvaleux', um sich wieder in seine Meditationsklause zurückzuziehen.

Er war ein Mann weniger Worte. Und wenn er mit etwas einverstanden war, genügte ihm ein

kurzes Nicken. Dr. Duvaleux wußte, daß der Guru jetzt hinging und seine

ganze Kraft nach Edinburgh sandte, um Baxter, Olga und Viola zu unterstützen.

*

Baxter blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt genau 23 Uhr!« Viola und Olga saßen im Fond des Wagens und starrten zu

der Villa hinüber. Ein Auto fuhr vor. Ein kleiner Mann stieg aus, holte eine

dicke Teppichrolle aus seinem Kofferraum und schleppte sie durch den Garten ins Haus.

»Jetzt hat er Clair zu Dr. Bunn geschafft. Reichlich spät. Wenn McHarald wirklich um Mitternacht zur Sitzung kommen soll, dann werden die beiden sich beeilen müssen, um alles vorzubereiten. Ich glaube, wir transferieren uns gemeinsam in ein ruhiges Zimmer in der Villa, von dem aus wir ungestört alles miterleben können, was sich im Salon abspielt. Ich habe das Gefühl, die Aktion strebt ihrem Höhepunkt zu. Und Dr. Bunn ahnt nichts davon. Er weiß, daß er gesucht wird, und daß es für ihn in nächster Zeit gefährlich wird. Doch eines weiß er nicht: Daß ihm die größte Gefahr von

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jenem Mädchen droht, das er sich da im Teppich ins Haus bringen ließ!«

»Also dann«, ließ sich Olga vernehmen. »Wir trennen uns, lösen uns auf und finden uns im Haus wieder. Ich frage mich, ob es notwendig ist, unsere Kräfte so zu vergeuden. Vielleicht würde es uns gelingen, uns einfach wie jeder andere Mensch einzuschleichen.«

»Das dürfen wir jetzt nicht riskieren«, korrigierte Joe Baxter. »Jeder geringste Lärm würde alles zerstören und Dr. Bunn vorzeitig in die Flucht schlagen. Wir müssen uns wie Geister einschleichen. Wenn man mit überirdischen Wesen zusammenarbeitet, ist das eine Verpflichtung!«

Sie lehnten sich im Autositz zurück und murmelten ihre Entmaterialisierungsformeln.

Sie saßen nur mehr wie Schatten da. Dann war das Auto leer. In einem kleinen Zimmer neben dem Salon in Dr. Bunns Villa

befanden sie sich nach der Rematerialisierung wieder. *

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte Dr. Geoffrey Bunn zu Swithy und befahl ihm: »Trag sie in das Nebenzimmer, roll sie aus und setz Sie in den vorbereiteten Rollstuhl.«

Swithy erkundigte sich: »Wie holen Sie sie bei der Sitzung herein?«

»Das wirst du machen! Auf ein Zeichen mit den Händen öffnest du die Tür und stößt den Rollstuhl mit der Eisenstange in den Raum. Wenn ich dann beschwörend die Hände hebe, ziehst du das Mädchen wieder zurück, schließt die Tür und bringst sie sofort in den Keller. In Amsterdam gab es eine hohle Mauer, in die wir eine geräuschlose Tapetentür installierten. Aber vielleicht, wenn die Geschäfte hier gutgehen, können wir uns auch etwas Besonderes und Effektvolles einfallen lassen.«

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Swithy hatte die bewußtlose Clair auf den Rollstuhl gesetzt und festgebunden. Er hatte einen Schminkkasten geöffnet und begann, ihr Gesicht zu schminken. Dabei strahlte er: »Wie ich gesagt habe, an der brauchen wir nicht viel zu arbeiten. Die sieht aus wie die Tote. Ich dachte nie, daß es solche Ähnlichkeiten gibt.«

Dann trat Dr. Bunn näher: »Du mußt ihren Hals bläulichgrün bemalen. So sieht die Haut aus, wenn man sich mit einem Strick erhängt und länger daran gehangen hat. Ich will meinem guten McHarald seine Clair so präsentieren, wie er sie damals auf dem Dachboden gefunden hat.«

Swithy begann am Hals die Farben aufzutragen; danach legte er einen Hanfstrick um den Hals des Mädchens, knüpfte eine Schlinge und franste ein Ende aus.

»Sieht verdammt gut aus«, meinte er dann. »Jetzt geb ich ihr noch eine Spritze, damit sie weiterschläft …!«

Dr. Bunn schaute sich das Mädchen an und lobte Swithy: »Gute Arbeit, mein Bester. Früher habe ich die Mädchen immer getötet, um kein Risiko einzugehen. Aber deine Methode ist sehr gut …!«

Er fuhr zurück. Das Mädchen im Rollstuhl bewegte sich, hob den Kopf,

öffnete die Augen, streckte die Arme nach Dr. Bunn aus und lachte: »Keine Methode ist gut bei mir. Ich werde mit jeder Situation fertig. Ich werde dir deine Sitzung tüchtig versalzen, lieber Doktor. Ich habe alles mitangehört.« Sie strengte sich an und riß die Fesseln, die sie an den Rollstuhl banden, mit einem Ruck auseinander.

»Swithy, du Idiot, was hast du injiziert?« schrie Dr. Bunn. Er stürzte sich auf das Mädchen: »Swithy, das mußt du

gutmachen. Ich befehle dir: Töte sie auf der Stelle. Sonst bring ich dich um. Sie kann alles zerstören, was wir hier aufgebaut haben.«

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Das Mädchen lachte. Swithy stand starr im Zimmer: »Chef, ich vergreife mich

nicht an einem Menschenleben. Sie können alles von mir haben. Aber töten, das tue ich nicht.«

Dr. Bunn richtete sich drohend in seinem Kapuzenkleid auf: »Dann muß ich es selbst tun.«

Er sprang auf Clair zu und schob sie mit dem Rollstuhl gegen die Wand. Dann drückte er sie zurück, griff nach der Hanfschlinge, weil sie sich wehrte, und spürte plötzlich ein Stechen im Arm. »Ah, … Es ist doch besser, wenn sie stirbt«, keuchte Dr. Bunn.

Bei diesen Worten zog er die Seilschlinge zusammen, und zwar so, daß auf dem Hals des Mädchens rote Striemen entstanden. Ciaire sah aus wie ein wildes Tier. Die Augen quollen hervor und Dr. Bunn zog immer weiter zusammen.

Doch Clair lachte, lachte, lachte … »Geht dir denn niemals die Luft aus?« Er hatte mit dem Hanfseil bereits den Hals fast durchtrennt.

Doch das Mädchen bewegte sich noch immer, lachte ihn aus und fuhr ihm mit den Händen ins Gesicht. Sie waren eiskalt.

Ein Ruck. Dr. Bunn taumelte zurück. Er hatte das zusammengeknotete Seil in beiden Händen. Eigentlich mußte jetzt der Kopf vom Hals des Mädchens getrennt sein.

Er blickte Clair an. Sie grinste boshaft zurück. Ihr Kopf schwebte getrennt vom Hals, einige Zentimeter

über dem Rumpf. Mit einem Ruck erhob sich Clair aus dem Rollstuhl und

sprach laut: »Dr. Bunn, du bist ein Idiot. Du bist bei mir an die Falsche geraten. Du kannst mich gar nicht töten!«

»Das werden wir sehen, ob ich dich nicht töten kann, du Luder!« brüllte Dr. Bunn, griff unter seine Verkleidung, zog eine Pistole hervor und ballerte gegen Clair. Sie bewegte sich nicht. Die Kugeln pfiffen durch sie durch und schlugen

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splitternd in die Holztäfelung der Wand ein. Das Mädchen kam näher. Jetzt stand sie ganz dicht vor ihm:

»Ich werde dir sagen, warum du mich nicht töten kannst. Weil ich schon tot bin. Ich bin nicht das Double für Clair McHarald. Ich bin sie selbst. Und ich bin aus dem Jenseits gekommen, um mitzuhelfen, dich zu vernichten. Deine erste Lektion hast du bei deiner Höllenfahrt nach Edinburgh erhalten. Aber es kommt noch ärger.«

Sie hob die Hand. Dr. Bunn schrie gellend und qualvoll auf: Es war eine glühende Eisenhand. Dr. Bunn dachte an die häßliche dicke Frau mit ihrer Feuerpranke.

Die Hand des Mädchens fuhr ihm übers Gesicht und krallte sich in seine Augenhöhlen. Ein Brennen und Stechen zuckte Dr. Bunn durch den Kopf. Es war, als würden Flammen in seinem Gehirn lodern.

Als der Schmerz nachließ, wollte er Clair erneut entgegentreten und sie töten, aber es war nicht mehr möglich:

Sie hatte ihm mit ihrer glühenden Hand die Sehkraft genommen.

Er war blind. Er schrie heulend auf. Er warf sich herum und rannte gegen

die Wand. Er rannte immer wieder gegen die Wand und schlug mit dem Kopf dagegen. Endlich hatte er eine Tür erreicht, riß an der Klinke und stürzte ins Nebenzimmer.

»Keinen Schritt weiter, Dr. Bunn!« hörte er eine Stimme, die er kannte.

Es war die Stimme Joe Baxters. Da mischte sich Clair ein: »Verschwinde, Joe Baxter. Was

machst du mit deinen Leuten hier? Er gehört uns allein. Was jetzt geschieht, ist Sache des Jenseits. Das geht euch nichts an …!«

»Nein, macht ein Ende mit mir. Ich kann nicht mehr!« schluchzte Dr. Bunn und warf sich vor Baxter in die Knie.

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Viola und Olga lehnten an der Tür und murmelten Bannsprüche gegen die Wesenheiten aus dem Jenseits.

Clair wollte zu Baxter stürzen. Aber sie prallte an der Tür zurück. Die Sprüche der beiden Frauen machten sie aktionsunfähig. Sie wurde allmählich unsichtbar. Der Spuk aus dem Jenseits hatte ein Ende gefunden. Die Rechnung Baxters war aufgegangen: Er hatte bei der Jagd nach Dr. Bunn den Sieg davongetragen.

Er schritt ruhig auf Dr. Bunn zu: »Endlich haben wir dich! Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen, und ich möchte der Welt zeigen, wer sich hinter der Kapuze des Dr. Bunn verbirgt.«

Mit einer raschen Bewegung riß Joe Baxter ihm die Kapuze vom Kopf.

Er sah schrecklich aus. Die glühende Hand Clairs hatte ihm beide Augen versengt.

Dennoch aber konnte man ihn erkennen: Es war David Leek, der Filmproduzent …

*

Rauher Wind fegte über die Küste. Joe, Viola und Olga saßen auf der Terrasse des Pub, tranken

Bier und verspeisten Ham and Eggs. »Das haben wir uns wohlverdient, jetzt, wo dieser Dr. Bunn

alias David Leek hinter Schloß und Riegel sitzt!« seufzte Viola. Olga wandte sich an Joe: »Du warst ja beim Verhör dabei.

Was hat denn diesen Menschen bewogen, ein Doppelleben zu führen und solche schrecklichen Taten auszuführen?«

»Er ist natürlich nicht ganz normal gewesen. Er wird in eine Heilanstalt kommen. Er arbeitete schon vor vielen Jahren als Dr. Belmouth in England als Magier. Schon damals brüstete er sich, Tote erscheinen lassen zu können. Auch damals waren es

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nur Mädchen. Doch seine Methode war damals eine andere. Er hatte eine Partnerin, die er jeweils nach Bedarf umschminkte. Doch die brannte ihm eines Tages mit einem anderen durch. Als er ihr nachstellte und sie bedrohte, ließ sie seinen Schwindel auffliegen. Das ließ ihm keine Ruhe mehr. Jahrelang dachte er nach, wie er sich rächen könne. Dann fiel ihm die Methode mit den echten Leichen ein. Jedesmal, wenn er ein Mädchen umbringen ließ, um es als Double zu verwenden, hatte er die Genugtuung, daß er sich an seiner Partnerin gerächt hätte. Darum wollte er junge Mädchen als Opfer haben. Er veranstaltete nur Sitzungen, in denen er Mädchen aus dem Totenreich erscheinen lassen sollte. Und er kassierte Riesensummen dafür!«

Viola trank einen Schluck und fragte rasch: »Und wie ist er dann Film-Produzent geworden?«

»Ganz einfach«, lachte Joe Baxter. »Weil er viel Geld hatte. Und jeder Regisseur braucht einen reichen Mann, der seine Filme finanziert. Vielleicht wäre die ganze Affäre niemals geklärt worden, wenn nicht Conny Crash Liza Reynolds als Barmädchen hätte schulen lassen wollen. Sie lief nämlich, ohne daß David Leek davon wußte, in die Hände seiner Mörder, weil sie ein gutes Double für die nächste Sitzung war. Als Leek erfuhr, daß seine Hauptdarstellerin getötet worden war, verlor er fast den Verstand vor Zorn. Doch dann versuchte er, das Beste aus der Situation zu machen. Gelungen ist es ihm allerdings nicht …!«

Joe Baxter hatte sein Bierglas schon beim Mund. Er setzte es zurück, weil er seinen Chef aus Paris spürte. »Hallo, Baxter. Ihr sitzt ja gerade recht zusammen. Ihr habt es

euch auch verdient!« Joe meinte spitz: »Du meine Güte. Sie melden sich bei uns!

Das bedeutet, daß wir einen neuen Fall übernehmen müssen.« »Aber, Baxter«, gab Dr. Duvaleux humorig zurück. »Wie

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kann man nur so schlecht von einem Vorgesetzten denken. Ich bitte euch, in aller Ruhe hierzubleiben. Schottland ist doch so ein schönes Land. Genießt euer Bier, schlemmt ein wenig …«

»He, he, Chef. Wenn ich Sie so reden höre, so ist doch da etwas faul. Warum sollen wir unbedingt in Schottland bleiben …?«

»Baxter, Sie ahnen alles voraus. Bleiben Sie in Schottland mit Viola und Olga. Schauen Sie doch auf den Kalender.«

Baxter tat es und schüttelte den Kopf. »Na, noch nicht erraten?« fragte Duvaleux. »In einer Woche

tut sich an der Westküste einiges. Englands Hexenklubs treffen sich zu ihrer alljährlichen Tagung. Man sagt, daß ein neuer Hexenmeister gewählt werden soll. Und daß die Hexen Schottlands dabei einiges mitreden wollen. Mit einem Wort: Es wird bei diesem okkulten Kongreß Blut und Tränen geben.«

Baxter knurrte: »Chef, von einem Urlaub für uns halten Sie wohl nichts?«

»Sie und Ihre Damen sind eben tüchtig. Ich kann Sie bei derartigen Geschichten nicht entbehren!«

Das Gespräch war beendet. Viola und Olga sahen Joe fragend an. Gleichzeitig

erkundigten sie sich: »Was will der Chef?« Joe schüttelte den Kopf: »Wir dürfen bleiben und sitzen

schon mitten in Teufels Küche …!«

ENDE

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Vorschau

Der Mörder aus dem Jenseits

von Henry Ghost

Mit angstverzerrtem Gesicht taumelt eine nicht mehr junge, aber attraktive Frau zurück. Gespreizt stemmt sie die Finger gegen die Wand. Das wirre Haar hängt auf allen Seiten herab. Die Augen fixieren weit aufgerissen ein langes Messer, das auf sie herabzustechen droht … Der Vollmond sorgt für die scharfen Konturen des blinkenden Mordwerkzeuges, doch die Frau sieht nur den Dolch – und keinen Täter! Ist er unsichtbar? Oder wo hält sich sonst die gespensterhafte Figur auf?

Die Szene erinnert an Jack the Ripper – und wiederholt sich mit allen blutigen Details. Scotland Yard steht vor einem Rätsel, und Olga Dussowa, Viola Oggi und Joe Baxter vom Parapsychologic Department in Paris sind wieder mal die einzigen, die Licht in diese dunkle Affäre bringen …


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