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Schulmathematik Analysis - mat.univie.ac.at · matische) Analysis k onnte in etwa wie folgt lauten...

Date post: 26-Aug-2019
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Schulmathematik Analysis Wintersemester 2018/19 14. Februar 2019 Roland Steinbauer Universit¨ at Wien, Fakult¨ at f¨ ur Mathematik Oskar-Morgenstern-Platz 1 A-1090 Wien Evelyn S¨ uss-Stepancik adagogische Hochschule Nieder¨ osterreich uhlgasse 67 A-2500 Baden
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Schulmathematik Analysis

Wintersemester 2018/19

14. Februar 2019

Roland SteinbauerUniversitat Wien, Fakultat fur Mathematik

Oskar-Morgenstern-Platz 1A-1090 Wien

Evelyn Suss-StepancikPadagogische Hochschule Niederosterreich

Muhlgasse 67A-2500 Baden

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Disclaimer

Beim vorliegenden Skriptum handelt es sich um eine Rohversion, die den Stand vom Endedes Wintersemesters 2018/19 abbildet.

Wir haben die uns bisher bekannten gewordenen Fehler ausgebessert1, allerdings ist dasSkriptum ab Kapitel E weniger ausgereift als die fruheren Abschnitte. Die entsprechen-den Teile sind dennoch eine ausfuhrliche Darstellung des Vorlesungsinhalts und sind fur diePrufungsvorbereitung jedenfalls geeignet.Allerdings fehlen die Abschnitte E§4, E§5 und F§1. An den entsprechenden Stellen in die-ser Rohversion verlinken wir auf die Vortragsfolien aus der Vorlesung. Der Abschnitt F§2ist eine etwas ausfuhrlichere Ausarbeitung der Vorlesung vom 30.1.2019, aber sicher nochkeine endgultige Abhandlung zur Integralrechung. Schließlich ist Abschnitt F§3 (der keinPrufungsstoff ist) nur eine rohe Aufzahlung einiger Aspekte und Grundvorstellungen zumIntegralbegriff.Schließlich fehlen ab dem Abschnitt D§2 einige (aufwandigere) Graphiken, fur die wir auf dieVorlesung(smitschrift) verweisen.

E.S. & R.S. im Feburar 2019

1Herzlichen Dank an die Studierenden, die uns diesbezugliche Ruckmeldungen gegeben haben!

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

Inhaltsverzeichnis

A Einleitung 1

§1 Analysis zwischen Schule und Universitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

§1.1 Was soll und was will die Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

§1.2 Was soll und was will die Schulanalysis? . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

§2 Ausblick auf die Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

B Fachdidaktischer Bezugsrahmen 11

§1 Grundvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

§1.1 Aspekte und Grundvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

§1.2 Verfeinerung des Grundvorstellungskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . 13

§2 Grunderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

§2.1 Warum Analysis schwierig zu unterrichten ist . . . . . . . . . . . . . . 14

§2.2 Grunderfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

C Der Funktionsbegriff 19

§1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

§1.1 Zur Entstehung des Funktionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

§2 Zum Lehren und Lernen des Funktionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

§2.1 Fachdidaktische Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

§2.2 Funktionales Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

§2.3 Zum Technologieeinsatz bei Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

§3 Die Mathematik des Funktionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

§3.1 Der Kern des Funktionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

§3.2 Wichtige Eigenschaften von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

§3.3 Weiterfuhrende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

§4 Aspkete und Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff . . . . . . . . . . . . . 35

§4.1 Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 35

§4.2 Aspekte des Funktionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

§4.3 Die Zusammenschau von Aspekten und Grundvorstellungen zum Funk-tionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

D Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit 39

§1 Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

§1.1 Fachliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

§1.2 Rekursive Prozesse und ihre Modellierung . . . . . . . . . . . . . . . . 43

§1.3 Folgen in der Schule — Zugange im Unterricht . . . . . . . . . . . . . 45

iii

iv INHALTSVERZEICHNIS

§1.4 Aspekte und Grundvorstellungen zum Folgenbegriff . . . . . . . . . . 61§2 Der Grenzwertbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

§2.1 Von der Iteration zum Grenzwertbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 65§2.2 Der Grenzwertbegriff: Fachliche Grundlagen und Formulierungen . . . 69§2.3 Aspekte und Grundvorstellungen zum Grenzwertbegriff . . . . . . . . 76§2.4 Der Grenzwert in der Schule - Zugange im Unterricht . . . . . . . . . 80§2.5 Historisch-philosophischer Exkurs: Uber das Unendliche . . . . . . . . 86§2.6 Ruckblick, Reihen und eine tiefsinnige Frage . . . . . . . . . . . . . . 93

§3 Die Vollstandigkeit der reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

E Differentialrechnung 105§1 Zugange zum Ableitungsbegriff in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

§1.1 Zugang uber das Tangentenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105§1.2 Zugang uber Momentangeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

§2 Fachliche Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115§2.1 Ein fachmathematischer Zugang zur Differenzierbarkeit . . . . . . . . 115§2.2 Die Ableitung als lineare Bestapproximation . . . . . . . . . . . . . . 125

§3 Kleines historisch-philosophisches Intermezzo . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129§4 Aspekte und Grundvorstellungen zur Differentialrechnung . . . . . . . . . . . 133§5 Kurvendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

F Integralrechnung 135§1 Ein kurzer Blick in die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135§2 Fachmathematische Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

§2.1 Integrieren ist Rekonstruieren von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . 136§2.2 Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung . . . . . . . . . 142§2.3 Die Analytische Prazisierung des Integralbegriffs . . . . . . . . . . . . 146

§3 Aspekte und Grundvorstellungen zum Integralbegriff . . . . . . . . . . . . . . 151§3.1 Aspekte des Integralbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151§3.2 Grundvorstellungen zum Integralbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 151§3.3 Die Zusammenschau von Aspekten und Grundvorstellungen zum Inte-

gralbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

Kapitel A

Einleitung

Am Anfang dieser Vorlesung nehmen wir eine Begriffsbestimmung vor: Was ist die Analysisals mathematische Disziplin? Was ist ihr Wesen und was sind ihre zentralen Begriffe undMethoden? Warum ist das so (und nicht anders)? Dabei blicken wir in strukturierte Weiseauf die Fachvorlesung

”Analysis” aus dem vergangenen Semester zuruck.

Darauf aufbauend nehmen wir eine weitere Begriffsbestimmung vor: Was ist die”Schulanaly-

sis”? Welchen Platz hat die Analysis im Mathematikunterricht in der Sekundarstufe? Warumist das so (und nicht anders)? Dabei geben wir einen Ausblick auf die kommende Vorlesung.

§1 Analysis zwischen Schule und Universitat

§1.1 Was soll und was will die Analysis1

1.1.1. Analysis - Eine erste Begriffsbestimmung. Ein Enzyklopadieeintrag fur (mathe-matische) Analysis konnte in etwa wie folgt lauten2:

Die Analysis ist jenes Teilgebiet der Mathematik, in dem Funktionen (und ihreVerallgemeinerungen) mit den Methoden des Grenzwertbegriffs studiert werden.

Ihre Grundlagen wurden von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und IsaacNewton (1643–1726) als Infinitesimalrechnung unabhangig voneinander entwi-ckelt. Als eigenstandiges Teilgebiet der Mathematik neben den klassischen Teilge-bieten der Geometrie und der Algebra existiert die Analysis seit Leonhard Euler(1707–83).

Grundlegend fur die gesamte Analysis ist der Korper R der reellen Zahlen (undauch der Korper C der komplexen Zahlen) mitsamt seinen geometrischen, arith-metischen, algebraischen und topologischen Eigenschaften. Die Untersuchung vonreellen und komplexen Funktionen hinsichtlich Stetigkeit, Differenzierbarkeit und

1Dieser Text stammt weitgehend aus der Vorlesung”Einfuhrung in die Analysis” von R.S. im Sommer-

semester 2012 und nimmt starke Anleihen bei einem gleichnamigen Text von Michael Grosser, der anlasslichseines Analysiszyklus 1990–91 entstanden ist sowie dem Vorwort von (Heuser, 2003) und der Einleitung in(Behrends, 2003).

2vgl. z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Analysis

1

2 Kapitel A. Einleitung

Integrierbarkeit zahlt zu den Hauptgegenstanden der Analysis. Die hierzu entwi-ckelten Methoden sind in allen Natur- und Ingenieurwissenschaften von großerBedeutung.

Wir wollen im Folgenden aber etwas mehr in die Breite und Tiefe gehen.

1.1.2. Analysis - Eine Inhaltsbestimmung. Inhaltlich beschaftigt sich die Analysis vorallem mit Funktionen, und zwar zunachst mit solchen von R nach R. Ganz allgemein die-nen Funktionen dazu, den Zusammenhang zwischen verschiedenen Großen zu beschreiben.Hier meint

”beschreiben” nicht

”erklaren” - das Wort Zusammenhang ist also nicht kausal

zu verstehen, sondern es geht darum, welche Werte einer Große zusammen mit welchen Wer-ten einer anderen Große auftreten. Alltagliche Beispiele sind etwa Verzinsung (Hohe einesGuthabens oder auch eines Schuldenstands zum einem bestimmten Zeitpunkt), Bremsweg(Lage des Bremswegs in Abhangigkeit von der Geschwindigkeit), Radiokativitat (Anzahl derstrahlenden Isotope zu einem bestimmten Zeitpunkt) etc, siehe AbbildungA.1.

Abb. A.1: Bremsweg in Abhangigkeit von der Geschwindigkeit

Ein wichtiger Kunstgriff der Mathematik ist die Abstraktion: Es wird von der konkreten Si-tuation bewusst abgesehen und statt mit Bremsweg, Zeit, Energieverbrauch, etc. beschaftigenwir uns mit

”anonymen”, universell verwendbaren Großen, den Variablen. Alles was wir uber

Funktionen herausfinden, ist also universell (in jedem Beispiel) gultig, wobei naturlich eineexakte mathematische Erklarung (sprich Definition), was eine Funktion sein soll, zugrundegelegt werden muss.Darauf und auf der Definition der reellen Zahlen aufbauend ist es der rote Faden der Analysis,das Anderungsverhalten von Funktionen zu verstehen, zu beschreiben und zu beherrschen.Etwas technischer formuliert sind die zentralen Fragestellungen beim Studium des Anderungs-verhalten von Funktionen:

• Welche Begriffe eignen sich am besten dazu das Verhalten von Funktionen”im Kleinen”

zu erfassen?• Wie kann man aus dieser Kenntnis einer Funktion

”im kleinen” Aussagen uber die

Funktion im Ganzen gewinnen?

1.1.3. Beispiel (Radfahren). Wie kann aus der Kenntnis der Momentangeschwindigkeit(der Anderung im Kleinen) zu jedem Zeitpunkt der Gesamtverlauf der Fahrt (zuruckgelegteStrecke, die Funktion im Großen) rekonstruiert werden?Bei einem Fahrrad werden diese Großen durch den Tachometer bzw Tageskilometerzahlerangezeigt, aber was bedeuten diese Begriffe wirklich und wie kann obige Frage systematisch

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§1. ANALYSIS ZWISCHEN SCHULE UND UNIVERSITAT 3

beantwortet werden. Solche Frage zu beantworten, benotigen wir einen geeigneten Begriffs-apparat.

1.1.4. Der analytische Begriffsapparat. Jede ernsthafte Untersuchung obiger Fragen fuhrtnotwendigerweise auf den Begriff des Grenzwerts (Limes). Dieser Grenzwertbegriff in seinenzahlreichen Erscheinungsform ist das Herzstuck der Analysis und liegt gleichermaßen derDifferential- und der Integralrechnung zugrunde.Die Analysis ist jedoch weit mehr als ein Lehrsystem indem diese abstrakten Begriffe zuabstrakten Resultaten verwoben werden. Sie bringt in schier unglaublicher Methodenvielfalteine Fulle konkreter mathematischer Resultate hervor. Dabei steht oft der Gedanke der Ap-proximation im Zentrum, es ergeben sich eine Unzahl

”schoner” Formeln und Identitaten und

immer wieder konnen uberraschende Beziehungen zwischen Begriffen hergestellt werden, diezunachst (scheinbar) nichts miteinander zu tun haben.

1.1.5. Und wozu das Ganze?Was hat diese zunachst vielleicht etwas trocken erscheinende Materie mit der echten Welt zutun? Sehr viel!Das Studium von funktionellem Anderungsverhalten ist, wie schon oben angedeutet, keines-wegs ein rein

”akademisches Vergnugen”, sondern ist eng verbunden mit dem Bestreben der

Menschen, die uns umgebende Welt zu verstehen und zu gestalten. Das zeigt insbesonderedie Geschichte der Analysis, deren Entstehen und Meilensteine Hand in Hand gehen mit derEntwicklung der neuzeitlichen Physik durch Newton (1643–1726), Euler (1707–83), Lagrange(1736–1813) und Laplace (1749–1827), um nur die großen Denker des Anfangs zu nennen.Damit steht die Analysis im Zentrum der naturwissenschaftlich-technischen Revolution, dieunsere Welt und Gesellschaft in den letzten vier Jahrhunderten so tiefgreifend und beispiellosverandert hat. Insofern ist die Differential- und Integralrechnung eine elementare Kulturtech-nik sowie die Schrift und nimmt meines Erachtens (R.S.) ganz zu recht viel Platz in derSchulmathematik ein.

1.1.6. Ja schon aber wie? Methodik & Axiomatik.Sie hatten in der Fachausbildung das Gluck, die Grundbegriffe der Analysis in einer ver-gleichsweise verstandlichen Form kennen lernen zu konnen. Das war nicht immer so, dennbis weit ins 19. Jahrhundert waren die Mathematiker/innen auf eine mehr oder weniger gutfunktionierende Intuition beim Umgang mit

”unendlich kleinen Großen“ angewiesen. Die his-

torische Entwicklung hat jedoch gezeigt, dass es unbedingt notwendig ist - und es ist in derMathematik als Wissenschaft selbstverstandlich - dass die Analysis wie jedes andere mathe-matische Gebiet nach der axiomatische Methode (Vorgehen nach dem Definition-Satz-BeweisSchema) gelehrt wird. Das trifft weitgehend auch fur die Fachausbildung im Lehramt zu.Die ganze Theorie und alle ihre Aussagen mussen in streng logischem Aufbau aus den Grund-eigenschaften der reellen Zahlen aufgebaut werden. Jede mathematische Disziplin verdanktihre Sicherheit aber oft auch ihre Schonheit dieser Methode. Konkret fur die Analysis bedeutetdie axiomatische Methode:

Die gesamte Welt der Analysis muss deduktiv aus den Grundeigenschaften derreellen Zahlen hergeleitet werden.

Warum ist das so?

(1) Nur so erreicht die Mathematik eine Sicherheit, die von ihr erwartet wird.(2) Sie macht sie das Erlernen eines Gebietes leichter!

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

4 Kapitel A. Einleitung

Punkt (2) ist kein Witz! Statt in”druidischer” Weise von einem Meister im geheimnisvol-

len Handwerk des intuitiv richtigen Hantieren mit unendlich kleinen Großen unterwiesen zuwerden, weist die axiomatische Methode einen klaren Weg.Alle Begriffe werden durch wenige grundlegende Eigenschaften exakt definiert, allgemeineAussagen uber diese Begriffe werden in mathematischen Satzen formuliert, diese werden durchlogische Schlussfolgerungen bewiesen.Ja, aber naturlich bereitet diese Herangehensweise am Anfang große Schwierigkeiten! Es isteine große Herausforderung den deduktiven Aufbau mit dem eigenen Vorwissen der Fantasieund Intuition und der Kreativitat in Einklang zu bringen.Von den damit verbundenen Schwierigkeiten beim Lernen und Lehren der Analysis wird indieser Vorlesung noch ausfuhrlich die Rede sein.

1.1.7. Eine personliche Bemerkung (R.S.).Zu sehen, wie aus den wenigen Axiome der reellen Zahlen die gesamte Welt der Analysis auf-gebaut wird, ist eine geistige und asthetische Erfahrung: das Ineinandergreifen der verschie-denen Begriffe zu verstehen und die vielen uberraschenden Querverbindungen zu entdeckenkann viel Freude machen und wird nicht ganz ohne Folgen fur das eigene Denken bleiben(konnen). Ahnliches gilt fur die Kraft der Anwendungen: Durch reines Denken gewonneneErkenntnisse der Analysis haben weitreichende Anwendungen in der Physik, anderen Natur-wissenschaften, der Okonomie etc. sind also hochst relevant fur unser Verstandnis von Naturund Gesellschaft.

Ubungsaufgaben.

1 Analysis’ Top-Three3. Ziel dieser Aufgabe ist es, in den folgenden Kategorien Ranglis-ten (Platz 1–3) in Bezug auf die Inhalte Ihrer Fachvorlesung

”Analysis” zu erstellen und zu

begrunden. Dabei konnen inhaltliche und asthetische Argumente oder auch Argumente ausder individuellen Lerngeschichte gewahlt werden.

a) Wichtige Begriffe/Definitionenb) Wichtige Resultate/Beweisec) Unsympathische Begriffe/Definitionend) Unsympathische Resultate/Beweisee) Uberraschungen

In den Ubungen soll dann versucht werden in einer”Plenardiskussion” auf eine konsensuale

Gesamtwertung zu kommen.

2 Schulanalysis. Reflektieren Sie Ihre schulischen Erfahrungen mit der Analysis undbereiten Sie begrundete Antworten auf die folgenden Fragen vor:

a) Welche analytischen Begriffe standen im Zentrum?b) Welche Ziele verfolgte Ihre Schulanalysis? Wurden diese transparent gemacht?

3 Schulanalysis vs. Fachvorlesung. Reflektieren Sie Ihre Schulerfahrungen und dieaus Ihrer Fachvorlesung

”Analysis” und bereiten Sie begrundete Antworten auf die folgenden

Fragen vor:

a) Welche begrifflichen Unterschiede haben Sie am starksten erlebt?b) Welche methodischen Unterschiede haben Sie am starksten erlebt?

3In Anlehnung an Rob’s Top-Five Split-Ups, ect. in”High Fidelity“ von Nick Hornby.

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§1. ANALYSIS ZWISCHEN SCHULE UND UNIVERSITAT 5

4 Was ist Analysis? Reflektieren Sie Ihre schulischen Erfahrungen und die aus IhrerFachvorlesung

”Analysis” und bereiten Sie begrundete Antworten auf die folgenden Fragen

vor:

a) Wie hatten Sie nach der Matura auf die Frage”Was ist Analysis?” geantwortet?

b) Wie hatten Sie nach ihrer Fachvorlesung bzw. nach der Prufungsvorbereitung auf dieFrage

”Was ist Analysis?” geantwortet?

c) Enthalt die Diskussion in der Vorlesung A§1 fur Sie neue bzw. uberraschende Aspekte?Welche?

§1.2 Was soll und was will die Schulanalysis?

Um eine Antwort auf diese – zugegebenermaßen nicht ganz einfache – Frage zu geben, lohntes sich, einen (intensiven) Blick in die verschiedenen Bereiche zu tun, die regeln und erlautern,was die Schulmathematik an sich soll und will. Das waren zum einen der Lehrplan mitsamtdem Konzept der Reifeprufung und zum anderen die fachdidaktische Literatur mit ihrenaktuellen Forschungsergebnissen.

1.2.1. (Schul-)Analysis im Lehrplan und im Konzept der standardisierten schrift-lichen Reifeprufung. Es mag erstaunen, aber es ist eine Tatsache, dass im osterreichischenMathematiklehrplan der AHS-Oberstufe das Wort

”Analysis“ selbst nicht zu finden ist. Den-

noch sind typische Themenbereiche der Analysis fest im Lehrplan verankert.Nach dem Lehrplantext der 7. Klasse (AHS) werden im ersten Semester die Grundlagen derDifferentialrechnung anhand von Polynomfunktionen erarbeitet (Differenzen-, Differentialquo-tient, mittlere/momentane Anderungsrate, Sekanten-/Tangentensteigung, Ableitungsfunkti-on, Ableitungsregeln fur Potenz- und Polynomfunktion, Monotonie, Krummung, ... Unter-suchung von Polynomfunktionen in inner-/außermathematischen Bereichen) und im zweitenSemester eine Erweiterung und Exaktifizierung der Differentialrechnung vorgenommen (Ab-leitungsregeln fur Exponential- und Winkelfunktionen, Kettenregel, weitere Anwendungen,Stetigkeit, Differenzierbarkeit, Zusammenhang zwischen Differenzierbarkeit und Stetigkeit).In der 8. Klasse (AHS) wird ebenso zweischrittig vorgegangen, zuerst werden wieder dieGrundlagen der Integralrechnung erarbeitet (Ober-, Untersumme, bestimmtes Integral, Stamm-funktion, elementare Integrationsregeln), spater dann die Anwendungen und Exaktifizierun-gen der Integralrechnung vorgenommen (das bestimmte Integral in verschiedenen Kontexten,Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, das unbestimmte Integral).

Das allein gibt aber noch keine Antwort auf die eingangs gestellt Frage, was die Schulanalysissoll und will.Nun halt der Lehrplan neben der Auflistung der Inhalte auch einen allgemeineren Teil bereitund spricht dort die Bildungs- und Lehraufgaben des gesamten Faches Mathematik an. Diesesind zwar nicht explizit fur die Analysis ausformuliert, geben aber einen Hinweis darauf, wasdie Schulmathematik an sich will. So sollen die Schulerinnen und Schuler zum Beispiel erfah-ren, dass die Mathematik eine spezifische Art ist, die Erscheinungen der Welt wahrzunehmenund durch Abstraktion zu verstehen. Im Zusammenhang mit der Schulanalysis werden wir indieser Lehrveranstaltung noch klaren, ob und wie diese Bildungsaufgabe erfullt werden kann.

Nachdem der allgemeine Teil des Lernplans und die Auflistung der Lehrplaninhalte bisherkeine befriedigende Antwort auf die oben gestellte Frage geben, kann die Handreichung zumLehrplan herangezogen werden. Endlich — dort findet sich erstmals der Terminus Analysis.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

6 Kapitel A. Einleitung

In Teil B: Erweiterter Grundkompetenzkatalog, der die Grundkompetenzen der standardi-sierten schriftlichen Reifeprufung (SRP) und jene Lehrplankompetenzen, die neben Reife-prufungskompetenzen noch wesentlich sind, zusammenfasst, ist dann namlich vom Inhaltsbe-reich Analysis die Rede. Dort wird auch die sogenannte

”Bildungstheoretische Orientierung“

aus dem SRP-Konzept angefuhrt. Diese halt fest, dass die Analysis Begriffe und Konzeptezur Beschreibung von diskreten und stetigen Anderungsverhalten bereitstellt, die sowohl inder Mathematik als auch in vielen Anwendungen sehr bedeutend sind. Fur die Schulanalysisbedeutet dies: Dass die Schulerinnen und Schuler

• diese mathematischen Begriffe erwerben mussen,• sie in diversen Anwendungsfallen nutzen und deuten sollen, sowie• die Zusammenhange der Fachbegriffe erkennen sollen.

Zusatzlich zu den damit verbundenen Kompetenzen werden in der bildungstheoretischen Ori-entierung noch die unterschiedlichen mathematischen Darstellungsarten sowie die symboli-schen Schreibweisen und Formalismen der Analysis erwahnt — auch diese sollen von denSchulerinnen und Schulern eigenstandig genutzt werden konnen. Dem

”Rechnen“ an sich wird

in der bildungstheoretischen Orientierung weniger Bedeutung beigemessen, es genugt, sich imRahmen der SRP auf die einfachsten Regeln (z. B. des Differenzierens) zu beschranken.Da die SRP aber nur eine Teilmenge des gesamten Lehrplans abpruft, sind im Lehrplangelegentlich weitere Kompetenzen (z. B. die Kettenregel kennen und anwenden konnen) auf-gelistet.Um den Zusammenhang zwischen Lehrplan und SRP-Konzept deutlich zu machen, enthaltder Lehrplan noch einen dritten Teil. In Teil C: Lehrplan mit Hinweisen auf Grundkompeten-zen werden die Lehrplanformulierungen dann mit den Grundkompetenzen der SRP vernetzt,konkretisiert und durch Hinweise erganzt (s. Tabelle A.1). Auch dort findet sich der TerminusAnalysis wieder.

Zusammenfassend lasst sich an dieser Stelle also resumieren, dass der Lehrplan vorgibt, welcheInhalte und Kompetenzen die Schulanalysis vermitteln und erreichen will.

1.2.2. Schulanalysis im fachdidaktischen Diskurs. Eine Diskussion der Frage, was sollund will die Schulanalysis aus Sicht der Mathematikdidaktik, kann hier in der ihr gebuhrendenBreite nicht erfolgen. Daher beschranken wir uns im Folgenden auf zentrale Grundpositionendieses Diskurses und raumen gleich zu Beginn ein, dass es keine einfache Aufgabe ist, dieSchulanalysis befriedigend zu unterrichten. In der fachdidaktischen Diskussion zur Schulana-lysis kristallisieren sich im Wesentlich zwei unterschiedliche Positionen und Ansatze heraus.Vertreterinnen und Vertreter des einen Ansatzes pladieren dafur, die Anwendungen der Ana-lysis im Unterricht in den Vordergrund zu stellen und auf einen kanonischen Aufbau derAnalysis zu verzichten. Dabei stehen echte Anwendungsbeispiele im Zentrum des Unterrichtsund es werden nur die dafur notigen Begriffe entwickelt.Dem gegenuber steht die Position, dass die Begriffe, Zusammenhange und Beweise den Kerneines verstandnisvollen Umgangs mit Mathematik ausmachen und daher in der Schulanalysisnicht als lastiges und gegebenenfalls zu vernachlassigendes Ubel zu betrachten sind.

Zum Einsatz des Computers meinen die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter:

• Gut, dass es ihn gibt! Er erleichtert einen anwendungsbezogenen Unterricht.• Der Computer vermag zwar gedankliche Prozesse sichtbar zu machen, damit werden

sie moglicherweise leichter verstehbar. Huten wir uns aber davor, die Gedanken dabeiselbst zu vergessen!

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§1. ANALYSIS ZWISCHEN SCHULE UND UNIVERSITAT 7

Kompetenzbereich Lehrplanformulierung Konkretisierung und Hinweiseauf Grundkompetenzen

Funktionale Abhangigkeiten, Analysis

Folgen Zahlenfolgen als auf N bzw.N∗ definierte reelle Funk-tionen kennen (insbesonderearithmetische Folgen als linea-re Funktionen und geometri-sche Folgen als Exponential-funktionen); sie durch expli-zite und rekursive Bildungs-gesetze darstellen und in au-ßermathematischen Bereichenanwenden konnen

2 Zahlenfolgen (insbesondere

arithmetische und geometri-

sche Folgen) durch explizite

und rekursive Bildungsgesetze

beschreiben und graphisch

darstellen konnen (FA-L 7.1)

2 Zahlenfolgen als Funktio-

nen uber N bzw. N∗ auffassen

konnen, insbesondere arith-

metische Folgen als lineare

Funktionen und geometrische

Folgen als Exponentialfunktio-

nen (FA-L 7.2)

2 Folgen zur Beschreibung von

Prozessen in anwendungsori-

entierten Bereichen einsetzen

konnen (FA-L 8.4); (z. B.

Kapitalentwicklungen durch

geometrische Folgen darstellen

konnen)

2 Diskrete und kontinuierliche

Modelle vergleichen konnen (z.

B. anhand von Wachstumsmo-

dellen)

Tabelle A.1: Ausschnitt aus dem Lehrplan, Teil C, S. 32

Fur den Unterricht im Bereich der Schulanalysis steht man also vor dem Dilemma”

An-schaulichkeit versus Strenge“. D.h. ein Mehr an Anschaulichkeit kann oft auf Kosten derStrenge gehen und umgekehrt. Zusatzlich zu diesem Dilemma zeigt sich in der schulischenPraxis, die dem deduktiven Aufbau der Analysis gerecht werden will, ein enormer Mangelan heuristischen Denk- und Arbeitsweisen. D.h. den Schulerinnen und Schulern wird seltenGelegenheit gegeben Losungen, Begriffe o. A. in der Schulanalysis selbst zu entdecken bzw.selbst zu entwickeln. Zu guter Letzt ist die Schulanalysis oft auch von einer sehr einseitigenKalkulorientierung gepragt und vernachlassigt dabei eine Verstandnisorientierung. Und gera-de diese Kalkulorientierung in der Analysis lasst Schulerinnen und Schuler straucheln, wennihre algebraischen Fertigkeiten aus den Jahren davor mangelhaft sind.

1.2.3. Nun — was also soll und will die Schulanalysis wirklich?

(1) Sie soll und will die fur Analysis fundamentalen Ideen und deren Bedeutung verstand-nisorientiert vermitteln. Dazu zahlen die reellen Zahlen, der Ableitungs- und Integral-begriff, der funktionale Zusammenhang, die Idee der Anderungsrate, die Idee des Ap-

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

8 Kapitel A. Einleitung

proximierens und die Idee des Optimierens.(2) Sie soll und will inhaltliche Vernetzungen anbieten. Dafur bietet sich besonders die

Idee der Anderung an. Sie ist den Schulerinnen und Schulern als absolute und relativeAnderung seit der Bruch- und Prozentrechnung vertraut, setzt sich uber die mittlereund momentane Anderungsrate bis zum Ableitungsbegriff fort. Daruberhinaus bietetsich aber auch die Vernetzung zu anderen Teilgebieten der Mathematik an. Ein Beispielhierfur ergibt sich bei der Stochastik, sobald die Normalverteilung behandelt wird.

(3) Sie soll und will anwendungsorientiert sein. D.h. sie soll Problemstellungen aus unter-schiedlichsten Kontexten (Wirtschaft, Physik, Kinematik, ...) aufgreifen und bei derModellbildung besonders sorgfaltig mit der Interpretation und Validierung der Ergeb-nisse umgehen.

§2 Ausblick auf die Vorlesung

In diesem Abschnitt geben wir nun einen Ausblick auf die Inhalte und die Methodik derVorlesung. Zuerst definieren wir aber die Ziele der Schulmathematik-LehrveranstaltungenAnalysis.

2.0.1. Ziele der Schulmathematik-Lehrveranstaltungen Analysis. Als Ziel der Vor-lesung und der zugehorigen Ubungen formuliert das Curriculum (Universitat Wien, 2016):

Die Studierenden erkennen die Relevanz der fachmathematischen Konzepte furden Schulunterricht und konnen diese dort angemessen verwenden. Sie kennenverschiedene Moglichkeiten fur Zugange zu grundlegenden Themen des Analysis-Schulunterrichts (und ihrer Anwendungen) und konnen diese bewerten. Die Stu-dierenden konnen in diesem Gebiet fachdidaktische Konzepte anwenden und Com-puter in angemessener Weise einsetzen, sie kennen typische Fehlvorstellungen undpassende Interventionsmoglichkeiten.

2.0.2. Schulanalysis vom Hoheren Standpunkt. Um diese Ziele zu erreichen, werdenwir in der Vorlesung die Schulanalysis von einem hoheren Standpunkt aus betrachten. Das be-deutet, dass der Hauptstrang der Vorlesung die zentralen Inhalte der Schulanalysis behandelt,aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und ein umfassendes Verstandnis der analytischenKernbegriffe und ihrer Zusammenhange herstellt.

Diese Kerninhalte sind wenig uberraschend ident mit dem Kanon sowohl der Fachvorlesung

”Analysis“ als auch der Schulanalysis:

• Funktionsbegriff• Folgen, Grenzwert und Vollstandigkeit der reellen Zahlen• Differentialrechnung & Integralrechung plus Anwendungen• Spezielle Funktionen

2.0.3. Unsere zwei Anknupfungs- und Bezugspunkte.

Der Hauptstrang der Vorlesung also”unsere“Schulanalysis von einem hoheren Standpunkt

hat zwei Anknupfungs- bzw. Bezugspunkte, namlich

(1) einerseits die Inhalte und (mathematischen) Methoden der Fachvorlesung ,,Analysis ineiner Variable fur das Lehramt” an die wir direkt anknupfen und

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§2. AUSBLICK AUF DIE VORLESUNG 9

(2) andererseits ausfuhrlich Bezuge zur Unterrichtspraxis herstellen.

Um letzteres bewerkstellugen zu konnen, stellen wir in Kapitel B einen fachdidaktischenBegriffsrahmen zur Verfugung, der es erlaubt, das mathematisches Fachwissen zu reflektie-ren und mathematikdidaktisches Professionswissen aufzubauen. Damit sollen die Horer/innenbefahigt werden, einen qualitatsvollen Analysis-Unterricht zu gestalten, der fachlich und fach-didaktisch fundiert ist und sich durch eine reflektierte Unterrichtspraxis ausgezeichnet.

Um diese beiden Bezugspunkte auch fest in diesem Skriptum zu verankern, wird er Haupttextvon zwei Sorten von Boxen unterbrochen: mathematischen Faktenboxen und Boxen zum Fach-didaktischen Professionswissen, die sowohl wichtige fachdidaktische Begriffsbildungen undInhalte erklaren, wie auch unterrichtspraktische Hinweise geben.

2.0.4. Hochschuldidaktischer Hintergrund. : Es gibt eine umfangreiche Literatur zumsog. Lehrerprofessionswissen (siehe etwa Baumert and Kunter (2006); Krauss et al. (2008)).Durch große empirische Studien ist belegt, dass sich das mathematische Lehrerwissen validein die beiden Teilbereiche mathematical content knowledge (MCK) und paedagogical contextknowledge (PCK) unterteilen lasst. Letzteres konnte man auch kurz

”fachdidaktisches Hand-

lungswissen“ nennen und ist Hauptpradiktor fur den Lernerfolg von Schulern/innen. MCKder Lehrkraft hat zwar auch einen positiven Einfluss auf die Unterrichtsqualitat, reicht aberalleine nicht aus. Allerdings beruht PCK immer auf einer soliden Basis von MCK.

Daruber hinaus sind typische unterrichtliche Handlungsanforderungen an Lehrkrafte ebenfallsgut empirisch erforscht (Bass and Ball (2004); Prediger (2013). Es ergeben sich z.B. folgen-de mathematischen Kernaufgaben, die Lehrer/innen in ihrer taglichen Praxis zu bewaltigenhaben:

• Anforderungen an Schuler/innen (aus Schulbuchern, Tafelbildern oder Tests) selbstbewaltigen und auf verschiedenen Niveaus bearbeiten konnen• Lernziele setzen und ausscharfen• Zugange (in Schulbuchern, Tafelbildern o.a.) analysieren und bewerten• Aufgaben und Lernanlasse auswahlen, verandern oder konstruieren• Tests entwickeln und re-skalieren• geeignete Darstellungen und Exaktheitsstufen auswahlen und nutzen sowie zwischen

ihnen vermitteln• Außerungen von Lernenden analysieren, bewerten und darauf lernforderlich reagieren• Fehler von Lernenden analysieren und darauf lernforderlich reagieren fachlich substan-

tielle, produktive Diskussionen moderieren• zwischen verschiedenen Sprachebenen (Alltagssprache, Fachsprache,Symbolsprache) fle-

xibel hin-und herwechseln• Lernstande, Lernprozesse und Lernerfolge erfassen• Begriffe und Konzepte erklaren und Bezuge herstellen

Ebenso wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass fachliche Inhalte im Bewusstsein derLehrkrafte geeignet reprasentiert sein mussen, damit diese fahig sind, Aufgaben des obigenAnforderungskatalogs effektiv zu bewaltigen.Die Orientierung an obigen Punkten liefert uns ein leitendes Prinzip, um die Inhalte und ihrekonkrete Ausgestaltung, die Methoden und den Geist der Vorlesung praxisnahe zu gestalten.In der Vorlesung aber vor allem in den Ubungen werden wir diese Kernaufgaben trainierenund ein Bewusstsein fur die mathematischen Tatigkeiten schaffen, die die Unterrichtspraxisbestimmen.

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10 Kapitel A. Einleitung

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Kapitel B

Fachdidaktischer Bezugsrahmen

In diesem Kapitel stellen wir einige fachdidaktische Konzepte vor, um einen Uberbau undBezugsrahmen zu schaffen, in dem eine differenzierte Diskussion der Inhalte der Schulanalysiserfolgen kann.

Wir beginnen mit den Konzepten der Grundvorstellungen und Aspekte mathematischer Be-griffe, die uns im Weiteren als Analysewerkzeuge wichtige Dienste leisten werden.

Danach wenden wir uns den Grunderfahrungen im Mathematikunterricht zu. Wir beginnenmit einer Analyse der Schwierigkeiten, denen der Analysisunterricht in der Schule begegnet.Diese liegen in der inhaltlichen Komplexitat des Gegenstandes begrundet und wir skizzierenden fachdidaktischen Diskurs, der sich mit Strategien zur Uberwindung dieser Schwierigkeitenbefasst. So werden wir zu den drei Winter’schen Grunderfahrungen gefuhrt, die den allgemein-bildenden Charakter des Mathematikunterricht fassen. Wir spezialisieren sie fur das Gebietder Analysis, wobei wir insbesondere auf die Verschrankung der Grunderfahrungen eingehen.

§1 Grundvorstellungen

Im Mathematikunterricht sollen Schuler/innen neue Inhalte tiefgreifend verstehen und in-ternalisieren und diese nicht nur auf einer oberflachlichen und unverstandenen symbolischenoder verbalen Ebene wiedergeben konnen. Guter Unterricht zielt daher darauf ab, dass dieSchuler/innen

• tragfahige Vorstellungen zu neuen Begriffen aufbauen und• diesen eine inhaltliche Bedeutung geben, um• mit den Inhalten verstandnisvoll umgehen zu konnen.

In der Mathematikdidaktik wird diese Problematik oft aus dem Blickpunkt des sogenanntenGrundvorstellungskonzepts theoretisch beleuchtet. Das Konzept der Grundvorstellungen hatseinen Ursprung in der deutschen Rechendidaktik des 19. Jahrhunderts und wurde in seinermodernen Fassung vor allem von Rudolf vom Hofe in seiner Dissertation (vom Hofe, 1995) indie fachdidaktische Diskussion eingebracht. Der Kern dieser Betrachtungsweise ist es, Bezie-hungen zwischen mathematischen Inhalten und der individuellen Begriffsbildung Lernenderherzustellen.

11

12 Kapitel B. Fachdidaktischer Bezugsrahmen

§1.1 Aspekte und Grundvorstellungen

Allgemein liefert das Grundvorstellungskonzept ein didaktisches Modell, das mathematischesVerstandnis an inhaltlichen Vorstellungen festmacht. Wir wollen das zunachst an einem Bei-spiel erlautern, das auch zeigt wie verschiedene Grundvorstellungen Verstandnis erleichtern(vgl. (Weber, 2013))

1.1.1. Beispiel (Dividieren). In der Grundschule kommen beim (ganzzahligen) Dividieren(ohne Rest) unter anderem die folgenden beiden Grundvorstellungen zum Tragen.

(1) Vorstellung des Verteilens Gummibarchen auf 7 Kinder.(2) Vorstellung des Enthaltenseins herausgenommen werden?

Die Aufgabenstellung 21 : 7 kann mittels beider Grundvorstellungen problemlos gelost werden.

Aber schon an diesem einfachen Beispiel kann man sehen, dass verschiedene Grundvorstel-lungen verschieden weit tragen und, dass fur eine Erweiterung von Begriffen ein Wechsel vonGrundvorstellungen hilfreich sein kann. Z. B. kann man die Aufgabe 20 : 1

2 schlecht mit (1)losen. Mit (2) hingegen funktioniert es ganz einfach: 1

2 ist in 20 klarerweise 40-mal enthalten.

Daruber hinaus kann man auch begrunden, weshalb diese Division nicht — wie von dennaturlichen Zahlen her gewohnt — verkleinert, sondern vergroßert: Das Ergebnis 40 bezeichnetnicht vierzig Ganze, sondern vierzig Halbe.

und

In Bezug auf komplexerer mathematischer Inhalte lohnt es sich neben dem Grundvorstel-lungsbegriff auch noch die Terminologie der Aspekte eines mathematischen Begriffs in dieReflexion mit einzubeziehen, siehe (Greefrath et al., 2016, Abschn. 1.1.5). Diese Terminologieentspricht durchaus der alltagssprachlichen Bedeutung, genauer1:

FdPw-Box 1: Aspekte math. Begriffe

Ein Aspekt eines mathematischen Begriffs ist eine Facette dieses Begriffs, mit dem dieserfachlich beschrieben wird (werden kann).

Beispiele fur Aspekte etwa des Funktionsbegriffs sind der Zuordnungsaspekt und der Paar-mengenaspekt, die wir in Kapitel C besprechen werden. ♣ genaueres Zitat; Besseres

Beispiel? ♣Wichtig ist jedenfalls, dass ein Aspekte ein fachinhaltlicher Begriff ist. Die Aspekte einesBegriffs sind durch mathematische Fakten gegeben — sie bilden den Kern seiner fachlichenDefinition oder Charakterisierung.

Dazu im Gegensatz sind Grundvorstellungen ein Konzept fachdidaktischer Art.

FdPw-Box 2: Grundvorstellung

Eine Grundvorstellung zu einem mathematischen Begriff ist eine inhaltliche Deutung desBegriffs, die diesem Sinn gibt.

1Die Terminologie in (Greefrath et al., 2016, p. 17) ist etwas unglucklich. Das Wesen eines Aspektes istes, dass er nicht notwendigerweise den ganzen Begriff erfasst. Genau das wird aber durch Verwenden desWortes

”charakterisiert“ suggeriert, weil in der mathematischen Fachsprache unter einer Charakterisierung

eine aquivalente Umformulierung verstanden wird, die ja dann den ganzen Begriff umfasst.

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§1. GRUNDVORSTELLUNGEN 13

Die Beziehung zwischen Grundvorstellungen und Aspekten ist nun die folgende: Grundvor-stellungen erlauben es, Aspekte eines mathematischen Begriffs mit Bedeutung zu versehenund so in einen sinnhaltigen Kontext zu setzen. Das wiederum ist eine Voraussetzung fur eineverstandnisvolles Hantieren mit dem Begriff.Grundvorstellungen entwickeln sich, wenn Lernende sich mit Phanomenen befassen, durchdie Aspekte des Begriffs erfahrbar werden. Dabei konnen verschiedene Grundvorstellungenzu einem Aspekt entwickelt werden, aber auch eine Grundvorstellung verschiedene Aspektedes Begriffs beruhren.

Wir werden in den folgenden Kapiteln die Terminologie der Aspekte und Grundvorstellungenverwenden, um einen entsprechend differenzierten Blick auf die Kernbegriffe der Schulanalysiswerfen zu konnen.Unmittelbar werden wir aber noch einige notwendige Details dieser Terminologie diskutieren.Eine umfassende Darstellung, die insbesondere den Nutzen dieser Begriffsbildungen betont,findet sich in (Greefrath et al., 2016, Abschn. 1.5).

§1.2 Verfeinerung des Grundvorstellungskonzepts

Der Begriff der Grundvorstellung kann sowohl in einem normativen Kontext, wie auch in ei-nem individuell Kontext verwendet werden. Genauer unterscheiden wir zwischen universellenund individuellen Grundvorstellungen.

1.2.1. Universelle Grundvorstellungen haben normativen Charakter. Sie sind das Ergeb-nis einer fachdidaktischen Reflexion und geben Antwort auf die Frage, was sich Lernende gene-rell bzw. idealerweise unter einem mathematischen Begriff vorstellen soll(t)en. Das Ausbildenbestimmter universeller Grundvorstellungen ist also ein Ziel des Mathematikunterrichts, dasLehrer/innen Orientierungshilfen zu Gestaltung des Unterrichts.

1.2.2. Individuelle Grundvorstellungen sind Grundvorstellungen, die Lernende zu einembestimmten Begriff tatsachlich entwickelt haben. Sie sind ebenfalls Ergebnis einer fachdidakti-schen Reflexion und/oder Beobachtungen und beantworten die Frage, was sich Lernende untereinem bestimmten Begriff vorstellen. Sie geben somit ebenfalls Orientierung fur den Mathema-tikunterricht, indem sie Ausgangspunkt fur eine Unterrichtsplanung bzw. Fordermaßnahmesein konnen, die zum Ziel hat die Lernenden in Richtung universeller Grundvorstellungen zufuhren.

Im Folgenden werden wir meist (und falls nicht anders angegeben) Grundvorstellungen inihrer normativen Form verwenden, also immer von den universellen Grundvorstellungen imZusammenhang mit (Aspekten) analytischer Begriffe sprechen. Zusammengefasst haben wir:

FdPw-Box 3: Universelle vs. Individuelle Grundv.

Universelle Grundvorstellungen haben normativen Charakter und ihre Ausbildungist Ziel des Unterrichts.

Individuelle Grundvorstellungen sind tatsachlich ausgebildete Vorstellungen Lernen-der und konnen Ausgangspunkt des Unterrichts sein.

Eine weitere Ausdifferenzierung der Grundvorstellungsbegriffs ist vor allem im Kontext derSchulanalysis hilfreich. Grundvorstellungen wurden ursprunglich vor allem in der Didaktik derPrimar- und Sekundarstufe 1 verwendet und meinten wirklich sehr konkrete Vorstellungen,

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14 Kapitel B. Fachdidaktischer Bezugsrahmen

die sich auf alltagliche und anschauliche Dinge bezogen, z. B. im Kontext von Beispiel 1.1.1(1)das gerechte(!) Aufteilen von Gummibarchen unter einer bestimmten Anzahl von Kindern.

Im Kontext der Schulanalysis sind aufgrund des hoheren Abstraktionsgrades oft keine adaquatenan das Alltagsdenken anknupfende Grundvorstellungen moglich oder sinnvoll. Daher wurdeder Begriff der sekundaren Grundvorstellungen kreiert, die sich nicht auf Alltagliches beziehen(diese werden in diesem Kontext dann primare Grundvorstellungen genannt), sondern solche,die sich auf andere, einfachere mathematische Begriffe beziehen. Zusammengefasst ergibt sichalso:

FdPw-Box 4: Primare vs. sekundare Grundvorst.

Primare Grundvorstellungen verbinden (Aspekte) mathematischer Begriffe mit kon-kreten Alltagserfahrungen an realen Gegenstanden.

Sekundare Grundvorstellungen verbinden (Aspekte) mathematischer Begriffe mitbestehenden Vorstellungen einfacherer mathematischer Begriffe.

§2 Grunderfahrungen

In diesem Abschnitt erweitern wir unseren fachdidaktischen Referenzrahmen und diskutierendie sogenannten Winter’schen Grunderfahrungen des Mathematikunterrichts (Winter, 1996).Damit erweitern wir unsere didaktischen Analyse- und Konstruktionsinstrumente.

Dabei nehmen wir zunachst die Diskussion aus Abschnitt A.§1.2 wieder auf und diskutierendie Schwierigkeiten, die beim Unterrichten analytischer Inhalte in der Schule auftreten.

§2.1 Warum Analysis schwierig zu unterrichten ist

Der fachdidaktische Diskurs zur Schulanalysis kommt im Wesentlichen zu dem Schluss, dassdie Schwierigkeiten beim Unterrichten von Analysis inharent mit der inhaltlichen Schwierig-keit des Gebiets verbunden ist, vgl. (Danckwerts and Vogel, 2006, Abschn. 1.1). Es wird auchvon der Sonderrolle der Analysis innerhalb der Schulmathematik gesprochen. Diese außerstsich in den folgenden drei Spannungsfeldern, vgl. (Gotz, 2013).

2.1.1. Anschauung vs. Strenge. Die Analysis als mathematische Teildisziplin verfugt ubereinen kanonischen, strengen und deduktiven Aufbau, vgl. A.§1.1.6, der zum Wissensstand derLehrer/innen gehort. Andererseits muss der Unterricht viel mehr auf Anschaulichkeit beruhen,der dann auf Kosten der Strenge geht/gehen muss. Der Kern des Problem ist dabei:

Das Alltagsdenken findet keine bruchlose Fortsetzung in der Analysis.

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§2. GRUNDERFAHRUNGEN 15

Zum Beispiel garantiert erst die Vollstandigkeit der re-ellen Zahlen die Gultigkeit des Nullstellensatzes (Zwi-schenwertsatzes), vgl. (Forster, 2016, §11, Satz 1): DieFunktion

f : Q→ Q, f(x) = x2 − 2, (B.1)

hat auf dem Intervall I = {x ∈ Q : 0 ≤ x ≤ 2} keineNullstelle, obwohl f(0) = −2 < 0 und f(2) = 2 > 0 gilt.In nebenstehendem Graph sieht man das nicht unmit-telbar.

Abb. B.1: Der Graph von f(x) =x2 − 2.

Ubungsaufgabe.

5 Zwischenwertsatz: nicht auf Q! In dieser Aufgabe soll genauer untersucht werden,warum der Nullstellen-/Zwischenwertsatz der Analysis gilt, welche Voraussetzungen wesent-lich sind und was das mit der Vollstandigkeit der reellen Zahlen zu tun hat. Bearbeiten Siedazu die folgenden Punkte:

a) Geben Sie eine exakte Formulierung des Zwischenwertsatzes.b) Werden die Voraussetzungen (1) Stetigkeit der Funktion und (2) Vollstandigkeit des

Definitionsbereichs wirklich benotigt? Warum (nicht)?(Freiwilliger und schwieriger Zusatz: Wo im Beweis gehen diese Voraussetzungen ein?)

c) Geben Sie eine schuler/innengerechte Erklarung des Sachverhalts, evtl. unter Verwen-dung des Beispiels (B.1).

2.1.2. Normative Stoffbilder vs. individuelle Sinnkonstruktionen der Lernenden.Die obige Problematik tritt auch klar in den Differenzen zwischen den normativen Stoffbil-dern zu zentralen analytischen Begriffsbildungen und den individuelle Sinnkonstruktionender Lernenden zu Tage. Mit unserer Terminologie aus Abschnitt B.§1.2 konnen wir das soausdrucken:

Es besteht oft eine große Differenz zwischen den universellen und den individuellenGrundvorstellungen zu zentralen (Aspekten) analytischer Begriffe.

Ein Beispiel dafur ware etwa im Kontext des Stetigkeitsbegriffs fur reelle Funktionen dasSpannungsverhaltnis zwischen der ε-δ-Definition und der Vorstellung, dass der Graph einerstetigen Funktion keine Sprunge hat.

Ubungsaufgabe.

6 Stetigkeit in verschiedenen Gewandern. Ziel dieser Aufgabe ist es den Stetigkeits-begriff fur reelle Funktionen zu reflektieren. Bearbeiten Sie die folgenden Punkte:

a) Formulieren Sie den Begriff der Umgebungsstetigkeit, d.h. formulieren Sie die ε-δ-Definition fur die Stetigkeit.

b) Geben Sie eine verbale Formulierung dieser Definition.c) Was stellen Sie sich unter einer stetigen Funktion vor? Was ware eine adaquate Vorstel-

lung fur Schuler/innen etwa in der 7. Klasse?d) Was ist an dieser Vorstellung problematisch:

”Eine Funktion ist stetig, wenn ihr Graph

keine Sprunge hat“?

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16 Kapitel B. Fachdidaktischer Bezugsrahmen

e) Was ist an dieser Vorstellung problematisch:”Eine Funktion ist stetig, wenn ihr Graph

ohne abzusetzen durchgezeichnet werden kann“?

2.1.3. Systematik vs. Heuristik. Die hochentwickelte Systematik des Analysisunterrichtsweist eine große Kalkullastigkeit auf. Diese geht naturgemaß zu Lasten der Heuristik, was ofteine Sinnstiftung erschwert oder verhindert. Kurz formuliert:

Kalkul ist nicht sinnstiftend.

Insbesondere ist der analytische Kalkul sehr Algebra-intensiv. Schuler/innen scheitern oftschon vor der eigentlichen analytischen Begriffsbildung. Wird z. B. die Differenzierbarkeit ei-ner Funktion mittels Differentialkoeffizienten erklart, muss sichergestellt sein, dass die Schuler/-innen ausreichende Fahigkeiten aus der Sekundarstufe 1 mitbringen, um zunachst den Diffe-renzenquotienten in seiner Bedeutung erfassen konnen.

In diesem Kontext konnen dann auch Fragen wie die folgende auftreten.

Ubungsaufgabe.

7 Was ist hier passiert? Betrachten Sie die folgenden beiden Wege eine Stammfunktionfur sin(2x) zu berechnen:

a)

∫sin(2x)dx =

∫sin(z)

1

2dz = −1

2cos(2x) + C, wobei z = 2x substituiert wurde.

b)

∫sin(2x)dx =

∫2 sin(x) cos(x)dx =

∫2z cos(x)

dz

cos(x)= sin2(x) + C ′, wobei der

Doppelwinkelsatz und die Substitution z = sin(x) verwendet wurde.

Was ist hier passiert? Stehen diese beiden Rechnungen im Widerspruch zueinander? Sindbeide richtig? Wie mussen diese Ergebnisse richtig interpretiert werden?

2.1.4. Die normative Kraft des Faktischen. Schließlich geht mit dem traditionellenUnterricht eine hoch entwickelte und oft unhinterfragte Aufgaben- und Prufungskultur einher,der sich die einzelne Lehrkraft schwer entziehen kann. Auch diese Kultur ist von einer hohenKalkullastigkeit gepragt und verkurzt oft echte Anwendungen.

2.1.5. Fazit: Tendenzen des Analysisunterrichts sind es

(1) heuristisches Arbeiten und echte Anwendungen zugunsten der entwickelten Theorie zuvernachlassigen und

(2) die Theorie sehr auf den Kalkulaspekt zu verkurzen.

Diese Defizite sind in erster Linie nicht den Umstanden, den Lehrer/innen oder Schuler/innenanzulasten, sondern liegen in der Schwierigkeit des mathematischen Gebiets Analysis be-grundet.

§2.2 Grunderfahrungen

Um die oben beschriebene Problematik besser einordnen zu konnen, betten wir sie in einenbreiteren Rahmen ein: den allgemeinbildenden Auftrag des Mathematikunterrichts insgesamt.

Ein entsprechender Bezugsrahmen geht auf (Winter, 1996) und die 1990-er Jahre zuruck undwird seither im fachdidaktischen Diskurs breit verwendet.

2.2.1. Die drei Winterschen Grunderfahrungen. Der Mathematikunterricht ist dadurchallgemeinbildend, dass er drei Grunderfahrungen ermoglicht:

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§2. GRUNDERFAHRUNGEN 17

FdPw-Box 5: Grunderfahrungen

(G1) Erscheinungen der Welt um uns, die uns alle angehen oder angehen sollten, ausNatur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art wahrzunehmen und zuverstehen (mathematischer Blick),

(G2) mathematische Gegenstande und Sachverhalte, reprasentiert in Sprache, Symbolen,Bildern und Formeln, als geistige Schopfungen, als eine deduktiv geordnete Welteigener Art kennen zu lernen und zu begreifen (mathematische Welt),

(G3) in der Auseinandersetzung mit Aufgaben Problemlosefahigkeiten, die uber die Ma-thematik hinaus gehen, zu erwerben (heuristische Fahigkeiten).

Die Position der Mathematikdidaktik zum Bildungsauftrag der gymnasialen Oberstufe, dernach breitem Konsens darin besteht, einer vertiefte Allgemeinbildung mit Wissenschaftspro-padeutik und Studierfahigkeit zu verbinden ist (Danckwerts and Vogel, 2006, p. 7):

Erst in der wechselseitigen Integration aller drei Grunderfahrungen kann der Ma-thematikunterricht in der Sekundarstufe 2 seine spezifische bildende Kraft entfal-ten.

2.2.2. Die Grunderfahrungen im Bereich der Analysis. Im Kontext dieser Vorlesungsind wir primar an der Ausgestaltung der Grunderfahrungen in der Analysis interessiert, diewir hier vornehmen.

(G1) Der mathematische Blick wird ermoglicht durch einen Blick auf außermathematischeProbleme, die sich mit analytischen Begriffen fassen lassen, z. B. Modellierungen mitHilfe des Ableitungsbegriffs (lokale Anderungsrate) und des Integralbegriffs (als Rekon-struieren), wie wir in den entsprechenden Kapiteln sehen werden.♣ Verweise einfugen

♣(G2) Die Analysis als eigene mathematische Welt kann durch zwei Aspekte erfahrbar gemacht

werden. Erstens im Blick auf Begriffsentwicklungen, an deren Ende analytische Begriffestehen, z. B. Grenzwert, Ableitungs- und Integralbegriff, aber auch die Vollstandigkeitvon R. Zweitens durch die Entwicklung analytischer Kalkule, etwa der Ableitungsregelnoder der Grenzwertsatze. ♣ Verweise einfugen ♣

(G3) Heuristische Fahigkeiten konnen in der Analysis z. B. durch intuitives Argumentierenmit Grenzwerten erlernt werden. Statt zum Grenzwert uberzugehen, kann mit hinrei-chend kleinen Großen operiert werden. ♣ Verweise einfugen ♣

2.2.3. Integration der drei Grunderfahrungen: Aber wie? Um das in 2.2.1 geforderteIneinandergreifen der drei Grunderfahrungen fur Schuler/innen erlebbar zu machen, werdenin der fachdidaktischen Diskussion folgende Punkte vorgeschlagen und diskutiert, die wir hierbereits fur den Inhaltbereich Analysis konkretisieren. ♣ Ziatate! ♣

(1) Mathematik als Prozess und als Produkt: Es sollte moglichst eine Balance zwischen denbeiden gleichermaßen wichtigen Gesichtspunkten zur Mathematik gewahrt werden, der

Mathematik als Prozess (G1) und (G3) und der Mathematik als Produkt (G2).

Zwei analytische Beispiele waren hier etwa die Idee der Ableitung als Ubergang vonder mittleren zur momentanen Anderung vs. dem Berechnen von Ableitungsfunktionennach syntaktischen Regeln und die Idee des Integrals als Rekonstruktion einer Funktionaus ihren Anderungsraten vs. dem Berechnen von Stammfunktionen nach syntaktischenRegeln.

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18 Kapitel B. Fachdidaktischer Bezugsrahmen

(2) Orientierung an fundamentalen Ideen: Das ist ein immer wieder betontes fachdidak-tisches Prinzip. Dabei haben fundamentale Ideen die drei folgenden charakteristischenMerkmale (vgl. Schweiger (1992)):

• Weite: Sie durchziehen den Schulstoff wie ein roter Faden und bieten sich im Sinnedes Spiralprinzips auf verschiedenen Schwierigkeitsniveaus zur Konkretisierung an.• Tiefe: Sie geben zumindest teilweise Aufschluss uber das Wesen der Mathematik.• Sinn: Sie sind im Alltagsdenken verankert oder lassen eine solche Verankerung

zumindest erkennen.

Fundamentale Ideen der Analysis sind etwa

• die Idee des funktionalen Zusammenhangs, der die gesamte Analysis durchzieht,• die Idee des Messens, der vom Begriff der reellen Zahl bis zum Differential- und

Integralbegriff tragt,• die Idee der Approximierens, die mit dem Grenzwertbegriff einhergeht,• die Idee der Anderungsrate, die sowohl die Differential- als auch die Integralrech-

nung dominiert, und• die Idee des Optimierens, die im Rahmen des Extremwertkalkuls einen zentralen

Stellenwert hat.

(3) Tragfahige Grundvorstellungen: Wie in Abschnitt B.§1 erklart, ist der Aufbau vonGrundvorstellungen der Kern eines verstandnisorientierten Mathematikunterrichts. Da-ruberhinaus ist es ebenso wichtig, zwischen Grundvorstellungen also Ideen eines ma-thematischen Begriffs und seiner kalkulhaften Umsetzung zu unterscheiden und diesenbeiden Polen zu vermitteln. Wir werden im Verlauf der Vorlesung Grundvorstellungenzu den zentralen analytischen Begriffen ausfuhrlich diskutieren, hier nennen wir nurexemplarisch die Idee der Ableitung als lokale Anderungsrate.

(4) Inhaltliche Vernetzung: In einem kumulativen Lerngeschehen wie in der Mathematik istdie Vernetzung von neuen Inhalten mit schon Bekanntem essentiell. Dabei unterschei-det man zwischen vertikaler Vernetzung im Sinne des Spiralprinzips und fundamenta-ler Ideen innerhalb eines mathematischen Teilgebiets und horizontaler Vernetzung, dieBrucken zwischen verschiedenen Teilgebieten meint.Ein analytisches Beispiel fur eine vertikale Vernetzung ist etwa die Idee der Anderung,die von absoluten und relativen Anderungen uber die Prozentrechnung bis zum Ablei-tungsbegriff tragt. Ein Beispiel fur eine horizontale Vernetzung zur Stochastik ist etwadie Behandlung der Normalverteilung.

(5) Anwendungsorientierung ist zentral fur (G1) und (G3). Um aber eine gute Verbindungmit (G2) zu erreichen, ist ein Behandeln

”echter“ Anwendungen und das Durchlaufen

des gesamten Modellierungskreislaufs (Problembeschreibung, Modellierung, Modellbe-rechnung, Interpretation und Validierung) essentiell.Im Bereich der Analysis bieten sich Modellierungen im kinematischen oder geometri-schen Kontext an. Schwieriger wird es, wenn diskrete Probleme in ein kontinuierlichesSetting ubertragen werden mussen, um sie uberhaupt den Werkzeugen der Analysiszuganglich zu machen.

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Kapitel C

Der Funktionsbegriff

In diesem Abschnitt behandeln wir den Funktionsbegriff. Im Kanon der SchulmathematikVorlesungen und im Curriculum (Studienplan) ist das Thema

”funktionale Abhangigkeiten“

der Schulmathematik Arithmetik und Algebra (Modul: UF MA 08) zugeordnet. Da aber derFunktionsbegriff allen Themen der Schulanalysis zugrunde liegt und daher in der Vorlesungeine tragende Rolle spielt, gehen wir hier in gebotener Kurze auf ihn ein, wobei wir seineanalytischen Aspekte betonen.

§1 Einleitung

Der Begriff der Funktion bzw. der Abbildung1 ist zentral fur die gesamte Mathematik. Erist ein sehr allgemeiner Begriff und gerade, weil er so allgemein ist, ist es schwierig, seineSubstanz zu verstehen und zu vermitteln. Darauf fokussieren wir in unserer Darstellung.

§1.1 Zur Entstehung des Funktionsbegriffs

Obwohl der Begriff der Abbildung einer der wichtigsten Begriffe der modernen Mathema-tik ist, wurde er erst sehr spat, namlich im zwanzigsten Jahrhundert formalisiert. Naturlichwussten die Mathematiker/innen schon lange davor, was eine Funktion ist. Der Begriff wurdeallerdings in verschiednen Gebieten in verschiedenen speziellen Ausformungen verwendet undseine abstrakte Definition hat sich erst sehr spat herausgebildet.Diese Tatsache spiegelt sich auch in der Vielzahl von Bezeichnungne wider, mit der (Spezi-alfalle von) Funktionen in den verschiedenen Teilgebieten der Mathematik verwendet werden,vgl. etwa (Schichl and Steinbauer, 2018, p. 165, graue Box).

1.1.1. Zur Geschichte des Funktionsbegriffs. Es gibt aufgrund der oben angedeute-ten langen Geschichte der Begriffsentwicklung auch eine Fulle von mathematisch-historischerLiteratur zum Funktionsbegriff, seiner Entstehungsgeschichte, seinen Vorformen und seinerVerwendung in den Werken einflussreicher Mathematiker. Einen ersten Uberblick bietet etwa(Greefrath et al., 2016, Aschn. 2.1) und wir belassen es hier mit diesem Hinweis.

1.1.2. Didaktische Phanomenologie. Die Entwicklung des Funktionsbegriffs in der Ma-thematik eignet sich aufgrund ihrer Geschichte besonders gut fur einen speziellen didak-

1Die beiden Bezeichnungen werden meist synonym verwendet, wir werden aber, weil das in der Schulma-thematik weiter verbreitet ist, meist von Funktionen sprechen.

19

20 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

tischen Zugang, der didaktischen Phanomenologie mathematischer Strukturen genannt wirdund auf (Freudenthal, 1983) zuruckgeht. Aufbauend auf fachwissenschaftlichen und historisch-genetischen Uberlegungen sowie der Beziehung der Mathematik zur realen Welt besteht die-ses Konzept darin, den historischen Weg im Unterricht gewissermaßen (zumindest teilweise)nachzuvollziehen:

Phenomenology of a mathematical concept, structure, or idea means describingit in its relation to the phenomena for which it was created, and to which it hasbeen extended in the learning process of mankind. (Freudenthal, 1983, S. IX)

Dieser Zugang kann insbesodere gut verwendet werden, um tragfahige Grundvorstellungen zuentwickeln.

vorhandenen das wird Jahrgangsstufen eine

§2 Zum Lehren und Lernen des Funktionsbegriffs

§2.1 Fachdidaktische Bestandsaufnahme

Das Lehren des Funktionsbegriffs im Mathematikunterricht hat sich im vergangenen Jahr-hundert immer wieder verandert. Oft waren die didaktischen Diskussionen dazu von Mathe-matikern ausgelost, die in den Anfangervorlesungen zur Analysis viel Kritik am mangelndenVerstandnis der Studierenden außerten. Fachdidaktische Untersuchungen zum Lehren undLernen von Funktionen lieferten zahlreiche Erkenntnisse. Die wesentlichen davon seien hierim Folgenden skizziert (vgl. etwa Vollrath and Weigand (2007)).

(1) Haufig werden das Formale und dieAnspruche an Exaktheit und Strengeuberbetont sowie oft auch zu fruh mit un-verstandenen Begrifflichkeiten gearbei-tet. Dies fuhrt nicht zum gewunschtenBegriffsverstandnis.

(2) In den 1990er Jahren zeigte sich, dassfur das Verstandnis von Funktionen dieVorstellungen (concept image) entschei-dend sind. D.h. Funktionen sind beiSchulerinnen und Schulern vorwiegenddurch Beispiele und ihre Darstellungenbestimmt — nicht durch eine formale De-finition. Abb. C.1: Concept image

(3) Weiters zeigte sich, dass viele Schulerinnen und Schuler Schwierigkeiten beim Lesen vonFunktionsgraphen haben. Ungewohnte Darstellungen wie die nachfolgende AbbildungC.2 sowie das zusammenhangende Betrachten und Erfassen des dargestellten Zusam-menhangs stellen zusatzliche Herausforderungen dar.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. ZUM LEHREN UND LERNEN DES FUNKTIONSBEGRIFFS 21

Das untenstehende Diagramm zeigt einen Ausschnitt aus einer Trainingsaufzeichnungeines Radfahrers.

a) Wie lang ist die erste Abfahrt vom Berg?b) Wie viele Serpentinen (enge Kurven) kamen auf der Abfahrt vom ersten Berg vor?c) Wie groß war die ungefahre Durchschnittsgeschwindigkeit des Raderennfahrers.

Abb. C.2: Ausschnitt aus der Aufgabe Trainingsanalyse (Quelle: Blum et al. (2006))

(4) Die unterschiedlichen Darstellungen Term, Tabelle und Graph einer Funktion eigenensich unterschiedlich gut, Eigenschaften von Funktionen einsehbar zu machen. So ist bei-spielweise fur Schulerinnen und Schuler anhand einer Tabelle (siehe Abbildung C.3)direkte Proportionalitat (zum r-fachen gehort das r-fache) besser ersichtlich als beimGraphen (siehe Abbildung C.4). Dort wird fur sie vorwiegend die

”Geradlinigkeit“ sicht-

bar.

Abb. C.3: Direkte Proportiona-litat — Wertetabelle Abb. C.4: Direkte Proportionalitat — Funktions-

graph

(5) Zu guter Letzt konnten auch erhebliche Schwierigkeiten beim Wechsel zwischen denDarstellungsformen (Text — Funktionsgleichung — Tabelle — Graph) festgestellt wer-

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

22 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

den.

§2.2 Funktionales Denken

In der fachdidaktischen Literatur wird im Allgemeinen2 unter”Funktionalem Denken“ der

gedankliche Umgang mit Funktionen verstanden. Dabei gilt es, den Mathematikunterricht sozu gestalten, dass die Schulerinnen und Schuler die drei nachstehenden Grundvorstellungenzum Funktionsbegriff entwickeln konnen. An vielen Stellen des Unterrichts konnen im The-menbereich der Funktionen die sekundaren Grundvorstellungen aus den primaren Grundvor-stellungen entwickelt werden.

2.2.1. Grundvorstellung 1: Zuordnungscharakter bzw. Zuordnungsvorstellung. Da-zu finden sich in der Literatur folgende Charakterisierungen:

Durch Funktionen beschreibt oder stiftet man Zusammenhange zwischen Großen:einer Große ist dann einer andere zugeordnet, so dass die Große als abhangig vonder anderen gesehen wird. (Vollrath and Weigand, 2007)

Eine Funktion ordnet jedem Wert einer Große genau einen Wert einer zweitenGroße zu. Mit dem Mengenbegriff formuliert bedeutet dies: Eine Funktion ordnetjedem Element einer Definitionsmenge genau ein Element einer Zielmenge zu.(Greefrath et al., 2016, Abschn. 2.4.2)

Im Unterricht konnen Experimente, bei denen Schulerinnen und Schuler selbststandig Mes-sungen vornehmen und diese aufzeichnen, zur Ausbildung dieser Grundvorstellung beitragen.Wir besprechen zwei Beispiele.

Abkuhlvorgang von Tee. Miss im Minutentakt die Temperatur eines frisch gekochten Teesund halte in einer Tabelle die Messzeitpunkte und die Temperatur fest. Stelle anschließenddie Wertepaare (t| ◦C) im Koordinatensystem dar.

Tee ist bei etwa 60◦ trinkbar. Nach welcher Zeit ist der frisch gekochte Tee soweit abgekuhlt,dass er ohne Verbrennen trinkbar ist?

Eine exemplarische Losung dazu kann wie folgt aussehen:

Abb. C.5: Meßwerte zum Abkuhlvorgangs

Nach 5 Minuten ist der Tee trinkbar, da die Temperatur zwischen der vierten und funftenSekunde auf unter 60◦ absinkt.

2In der mathematikdidaktischen Genderforschung erhalt das”Funktionales Denken“ ei-

ne weitere Bedeutung. Dort steht es im Gegensatz zum”Pradikativen Denken“. Siehe z.B.

http://subs.emis.de/journals/ZDM/zdm033a2.pdf

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. ZUM LEHREN UND LERNEN DES FUNKTIONSBEGRIFFS 23

Abb. C.6: Grafische Darstellung des Abkuhlvorgangs

In diesem Fall erfahren die Schulerinnenund Schuler, dass jedem Messzeitpunkt(genau) eine Temperatur zugeordnet wird.Das Protokollieren der Temperaturmes-sung in Form einer Tabelle stutztdie Grundvorstellung

”Zuordnungscharak-

ter“.

Dynamische Darstellung. Um denZuordnungscharakter an der grafischenDarstellung deutlich zu machen, eignensich dynamische Lernobjekte, die den Zu-sammenhang zwischen der x- und y-Koordinate deutlich sichtbar machen (sie-he Abbildung C.7).

Abb. C.7: Zuordnungscharakter — Quel-le: http://www.realmath.de/Neues/Klasse6/-proportion/fahrrad.html

Abb. C.8: Zuordnungsvorstel-lung und Wertetabelle.

Entscheidend ist, dass mit der Zuordnungsvorstellungein funktionaler Zusammenhang punktuell betrach-tet wird. Dabei werden Wertepaare der Wertetabelle(wenn sie senkrecht angeschrieben ist) in horizontalerRichtung gelesen.Von Interesse sind z.B. bei der Aufgabenstellung zumAbkuhlvorgang von Tee die einzelnen Wertepaare —also einzelne Zeitpunkte und die ihnen zugeordneteTemperatur (siehe Abbildung C.8).

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

24 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

2.2.2. Grundvorstellung 2: Anderungsverhalten/Kovariation bzw. Kovariations-vorstellung. Diese Grundvorstellung wird in der Literatur wie folgt beschrieben:

Mit Funktionen wird erfasst, wie sich Anderungen einer Große auf eine zwei-te Große auswirken bzw. wie die zweite Große durch die erste beeinflusst wird.(Greefrath et al., 2016, Abschn. 2.4.2)

Als Fortsetzung der Aufgabenstellung”Abkuhlvorgang von Tee“ bieten sich im Sinne der

zweiten Grundvorstellung folgende Fragen an:

Abkuhlvorgang von Tee (Fortsetzung).

(1) Wie andert sich die Temperatur des Tees in gleichen Zeitschritten?(2) Andert sich die Temperatur gleichmaßig oder zunachst schneller und dann langsamer?(3) Belege deine Aussagen zur Temperaturanderung mit Werten aus der Tabelle bzw. Ab-

schnitten des Graphen.

Eine exemplarische Losung dazu kann wie folgt aussehen:

(1) Die Temperatur andert sich in gleichen Zeitschritten unterschiedlich schnell.

Im Zeitintervall [0; 1] sinkt die Temperatur um 7 ◦CIn [1; 2] sinkt die Temperatur um 7 ◦CIn [2; 3] sinkt die Temperatur um 6 ◦CIn [3; 4] sinkt die Temperatur um 5 ◦CIn [4; 5] sinkt die Temperatur um 4 ◦CIn [5; 6] sinkt die Temperatur um 4 ◦CIn [6; 7] sinkt die Temperatur um 3 ◦CIn [7; 8] sinkt die Temperatur um 3 ◦C

(2) Die Temperatur andert sich immer langsamer. Zu Beginn sinkt sie rasch, danach lang-samer.

(3) Am Graphen zeigt sich das bei der unterschiedlichen Abnahme der Funktionswerte ingleichen Zeitintervallen.

Abb. C.9: Graphische Darstellung — Abkuhlvorgang von Tee

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§2. ZUM LEHREN UND LERNEN DES FUNKTIONSBEGRIFFS 25

Sowohl in der Tabelle (Abbildung C.10) als auch am Graphen (Abbildung C.12) wird dieKovariationsvorstellung sichtbar.

Abb. C.10: Kovariationsvorst. — Tabelle♣ Korrektur: Der rote Pfeil sollte

senkrecht neben der Tabelle stehen

Abb. C.11: Kovariationsvorst. — Werteta-belle

Abb. C.12: Kovariationsvorstellung — Graph

Das Entscheidende beim Kovariationsaspekt ist, dass es nicht mehr genugt, einzelne Wer-tepaare zu betrachten. Viel mehr mussen jeweils mehrere benachbarte Werte zueinander inBeziehung gesetzt werden. Bei der Kovariationsvorstellung wird also der Blick darauf gerich-tet, wie die Anderung von x mit der Anderung von y zusammenhangt. Hierbei wird also dieWertetabelle (wenn sie senkrecht angeschrieben ist) in vertikaler Richtung betrachtet, sieheAbbildung C.11.

2.2.3. Grundvorstellung 3: Sicht als Ganzes bzw. Objektvorstellung. Diese dritteGrundvorstellung im Zusammenhang mit Funktionen wird wie folgt beschrieben:

Mit Funktionen betrachtet man einen gegebenen oder gestifteten Zusammenhangals Ganzes. (Vollrath & Weigand, 2007)

Eine Funktion ist ein einziges Objekt, das einen Zusammenhang als Ganzes be-schreibt. (Greefrath et al., 2016, Abschn. 2.4.2)

Wird auf diese dritte Grundvorstellung im Unterricht abgezielt, dann werden jetzt nichtmehr einzelne Wertpaare, sondern die Menge aller Wertepaare betrachtet. Der Graph wirdals Ganzes betrachtet und somit sind Aussagen uber den gesamten Verlauf moglich.Als weitere Fortsetzung der Aufgabenstellung

”Abkuhlvorgang von Tee“ bietet sich im Sinne

der dritten Grundvorstellung ein Vergleich mit einem ahnlichen Abkuhlvorgang an (AbbildungC.13)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

26 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

Abb. C.13: Vergleich zweier Abkuhlvorgange

Ubungsaufgabe.

Sie, werden.

8 Weltbevolkerung und Getreideproduktion. Die Entwicklung der Weltbevolkerungfur den Zeitraum 1970 bis 2010 kann naherungsweise durch die Funktion

w(t) = 3691 e0,0156985 t (w(t) in Millionen, t in Jahren)

beschrieben werden. Die Entwicklung der weltweiten Getreideproduktion in Tonnen kann imgleichen Zeitraum naherungsweise mit der folgenden Funktion beschrieben werden:

g(t) = 0, 004 t4–0, 281 t3 + 6, 04 t2–0, 3 t+ 1193.

Formulieren sie je zwei Aufgabenstellungen fur den Unterricht, die auf die Vorstellung von(a) Wertepaaren, (b) Anderungsverhalten und (c) das Verhalten der Funktionen im Ganzenfokussieren. Arbeiten Sie jeweils entsprechende Losungserwartungen aus.

§2.3 Zum Technologieeinsatz bei Funktionen

Moderne Softwarepaket — wie zum Beispiel GeoGebra3 — bieten die Moglichkeit, die dreizentralen Darstellungsformen einer Funktion (Funktionsgleichung, Tabelle, Graph) gleichzei-tig zu verwenden (s. Abbildung C.14). Damit lassen einerseits die unterschiedlichen Darstel-lungsformen auf Knopfdruck erzeugen, andererseits konnen damit aber auch Eigenschaftenvon Funktionen, die Auswirkungen von Parametervariationen, etc. in allen drei Darstellungs-formen studiert und erfasst werden.

3Andere auch wissenschaftlich genutzte Systeme sind z. B. Mathematica und Maple

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§2. ZUM LEHREN UND LERNEN DES FUNKTIONSBEGRIFFS 27

Abb. C.14: GeoGebra mit Grafik-, Tabellen- und CAS-Fenster

Des Weiteren kann der Computer — vor allem Computeralgebrasysteme — aber auch denAufwand bei schematischen Ablaufen wie z.B. dem Ermitteln von Nullstellen erheblich re-duzieren. In solchen Fallen muss der Interpretation der Losung dann großere Bedeutungzukommen.Daruberhinaus erleichtert der Computer das Entdecken mathematischer Zusammenhange so-wie das Bearbeiten von Modellierungsaufgaben. Zu guter Letzt macht es der Computer auchmoglich, erhaltene Losungen zu uberprufen oder zu kontrollieren.

Ubungsaufgabe.

9 Parametervariation bei Exponentialfunktionen. Untersuchen Sie (mithilfe vonTechnologie) wie sich bei den Funktionen

f1(x) = eλx, f2(x) = eλx + c, f3(x) = eλ(x+c) und f(x) = eλcx

die Variation der Parameter λ und c auf den Graphen der Funktion auswirken. Arbeiten Siemit entsprechenden Wertetabellen und Graphen.

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28 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

§3 Die Mathematik des Funktionsbegriffs

Hier wollen wir nun die wichtigsten mathematisch/inhaltlichen Facetten des Funktionsbegriffsdiskutieren.

§3.1 Der Kern des Funktionsbegriffs

3.1.1. Erste Begriffsbestimmung. Kolloquial formuliert ist eine Funktion eine Beziehungzwischen zwei Mengen, die jedem Element der einen Menge (Argument, unabhangige Variable)genau ein Element der anderen Menge (Funktionswert, abhangige Variable) zuordnet. In derLiteratur finden sich unterschiedlich abstrakte Definitionen des Funktionsbegriffs, die aberalle aquivalent sind. Der Kern des Begriffs ist das

”Jedem“ und das

”Genau-Ein“ in der

Zuordnung.

3.1.2. Die fundamentale Bedeutung des Funktionsbegriffs in der (Struktur-)Ma-thematik. Abstrakt gesprochen, besteht ein großer Teil der modernen Mathematik aus derAnalyse von abstrakten Strukturen. Diese Strukturen bestehen aus Objekten und den Bezie-hungen zwischen diesen Objekten. Diese Objekte werden meist zu Mengen zusammengefasst,sodass Mengen fur die allermeisten Strukturen die Basis bilden. Funktionen sind nun die ma-thematische Formalisierung fur die Beziehungen zwischen diesen Objekten. Daher bildet derBegriff einer Funktion zwischen Mengen das Fundament der gesamten Strukturmathematik.

Wir geben nun die mathematische Definition, mit der wir im folgenden arbeiten werden, siehedazu auch (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn. 4.3). Wir werden — als Erganzung — aneinigen Stellen Verweise (mittels QR-Code bzw. Link) auf die Erklarvideos anbringen, die imZusammenhang mit der 3. Auflage von Schichl and Steinbauer (2018) produziert wurden.

Mathematische Faktenbox 1: Funktion

3.1.3. Definition (Funktion). Seien A und B Mengen. Eine Funktion f von A nach Bist eine Vorschrift, die jedem a ∈ A genau ein b ∈ B zuordnet.

ä Video Funktionen, Teil I

3.1.4. Ubliche Sprech- und Schreibweisen sind:

(1) Die Menge A wird als Definitionsmenge oder Definitionsbereich von f bezeichnetund B als Zielmenge oder Zielbereich von f .

(2) Das einem a ∈ A zugeordnete Element b bezeichnen wir mit f(a) und nennen esden Wert der Funktion f an der Stelle a oder das Bild von a unter f ; a wird als einUrbild von b unter f bezeichnet.

(3) Die Menge von geordneten Paaren

G(f) := {(a, f(a))| a ∈ A} ⊆ A×B (C.1)

heißt Graph von f und ist die abstrakte Version der Zusammenstellung der a-Werteund der zugehorigen Funktionswerte f(a) in einer Wertetabelle, siehe AbschnittC.§2.2.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§3. DIE MATHEMATIK DES FUNKTIONSBEGRIFFS 29

Mathematische Faktenbox 1 – Fortsetzung

(4) Das Symbol”a 7→ f(a)“ (lies

”a geht uber (in) f(a)“) druckt aus, dass die Funktion

f dem Element a des Definitionsbereichs das Bild f(a) im Zielbereich zuordnet. Oftwird dieses Symbol auch zur Bezeichnung der Funktion selbst verwendet und manspricht von

”der Funktion a 7→ f(a)“ . Die ausfuhrlichste und genaueste Darstellung

einer Funktion erfolgt durch die Notation

f : A → Ba 7→ . . .

bzw.f : A → Bf(a) = . . .

3.1.5. Beispiel (Funktionen). Einfache Funktionen sind etwa(1) f : A → B mit A = {1, 2, 3} und

B = {a, b} gegeben durch f : 1 7→ a,f : 2 7→ b und f : 3 7→ a. Der Graphvon f ist dann die Menge G(f) ={(1, a), (2, b), (3, a)}.

(2) Sei A = R = B. Wir betrachten dieFunktion f : x 7→ x2. Dann gilt

G(f) = {(x, x2) | x ∈ R} ⊆ R2, (C.2)

d.h. z.B. (0, 0) ∈ G, (1, 1) ∈ G,(−1, 1) ∈ G, (2, 4) ∈ G.

-3 -2 -1 1 2 3A

2

4

6

8

B

Abb. C.15: Graph der Funktionf : R→ R, x 7→ x2.

3.1.6. Funktionen auf R und ihr Graph. Allgemein ist es ublich und sehr anschaulich(vgl. Abschnitt C.§2.2) die Graphen reeller Funktionen der Form

f : I → J (I, J Intervalle oder andere”schone“ Teilmengen von R), (C.3)

die ja Teilemengen von R × R = R2 sind,”in kartischen Koordinaten darzustellen“, siehe

Abbildung C.15. Bedenken Sie aber, dass fur allgemeine Definitions- und Zielmengen einesolche Darstellung nicht moglich ist, vgl. auch Abschnitt C.§3.3, unten.

3.1.7. Der Kern der Funktionsbegriffs. Wie schon oben angedeutet, besteht der inhalt-lich Kern des Funktionsbegriffs im

”jeden“ und im

”genau ein“, etwas ausfuhrlicher in der

Tatsache, dass

(F1) jedem Element der Definitionsmenge genau ein Element der Zielmenge zuge-ordnet wird.

Das ist gewissermaßen das hochverdichtete Konzentrat einer sehr lange andauernden Begriffs-bildung und so allgemein und abstrakt, dass gerade darin die Schwierigkeit liegt, den Begriffzu erfassen und zu verstehen.

Wir werden uns dem anhand von sog. Pfeildiagrammen annahern, mit denen sich Funktionenzwischen endlichen Mengen sehr bequem darstellen lassen, siehe Abbildung C.16. In diesemDiagramm bezeichnen die Punkte die verschiedenen Elemente der Mengen A bzw. B, und diePfeile symbolisieren die Zuordnung durch die Funktion f .Die Tatsache, dass nach Definition 3.1.3 jedem a ∈ A genau ein b ∈ B zugeordnet wird,bedeutet, dass von jedem Element von A genau ein Pfeil wegfuhrt. Das bedeutet, dass

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

30 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

A B

f

Abb. C.16: Pfeildiagramm einer Funktion f : A→ B zwischen endlichen Mengen..

(1) von keinem a ∈ A mehr als ein Pfeil startet und(2) von keinem a ∈ A gar kein Pfeil startet.

Andererseits konnen die Elemente von B von mehreren Pfeilen getroffen werden, oder auchvon gar keinem. Ob das tatsachlich auftritt oder nicht, hat nichts mit dem Funktionsbegriffzu tun, sondern mit der Frage, ob die Funktion die Eigenschaften injektiv, surjektiv oderbijektiv hat, die wir unten genauer besprechen werden. An dieser Stelle ist es aber essentiellzu bemerken, dass beim Funktionsbegriff Definitions- und Zielmenge nicht

”gleichrangig“

behandelt werden und daher ihre Rollen nicht einfach vertauscht werden konnen.

Ubungsaufgaben.

10 Funktionsdefinition. Wir haben in 3.1.7 fur den Fall einer Funktion zwischen end-lichen Mengen herausgearbeitet, wie sich der Kern des Funktionsbegriffs (jedem Elementder Definitionsmenge wird genau ein Element der Zielmenge zugeordnet) im Pfeildiagrammaußert.

Wir betrachten nun eine Funktion f : I → R, wobei I ein Intervall in R ist. Wie außert sichder Kern des Funktionsbegriffs in diesem Fall, d. h. wie muss der Graph von f aussehen, bzw.was kann nicht passieren?

11 Eine Schulaufgabe. Wir betrachten die folgende Schul(buch)aufgabe:

Gegeben ist die Funktion f =x

x2 + 1. Bestimme den Definitionsbereich.

(a) Diskutieren/kritisieren Sie diese Aufgabe.(b) Bringen Sie die Aufgabe in eine sinnvollere Form.

§3.2 Wichtige Eigenschaften von Funktionen

Wir diskutieren zunachst die grundlegenden Eigenschaften injektiv, surjektiv, bijektiv, vorallem, um sie klar vom Kern des Funktionsbegriffs (F1) abzugrenzen und etwaige Miss-verstandnisse aufzuklaren.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§3. DIE MATHEMATIK DES FUNKTIONSBEGRIFFS 31

Mathematische Faktenbox 2: Injektiv, surjektiv, bijektiv

3.2.1. Definition (Injektiv, surjektiv, bijektiv). Eine Funktion f : A→ B heißt

(1) injektiv wenn jedes Element b ∈ B hochstens ein Urbild hat (kolloquial: von fhochstens einmal getroffen wird),

(2) surjektiv wenn jedes Element b ∈ B (mindestens) ein Urbild hat (kolloquial:(uberhaupt) von f getroffen wird),

(3) bijektiv, falls sie injektiv und surjektiv ist.

ä Video Injektiv, surjektiv, bijektiv, I Injektiv, surjektiv, bijektiv, II

3.2.2. Bijektive Funktionen haben also die Eigenschaft, dass jedes b in der Zielmengegenau einmal getroffen wird. Daher sind bijektive Funktionen in gewisser Weise

”fad“, weil

sie eine Eins-zu-eins Zuordnung der Elemente von A und B sind: Die Funktion ordnet alleElemente von A und alle Element von B einander in eindeutiger Weise zu. Im Falle endlicherMengen A und B ist eine bijektive Abbildung

”nur“ eine Umbenennung der Elemente.

C D

h

Abb. C.17: Das”fade“ Pfeildiagramm einer bijektiven Funktion.

.

Schließlich sind bijektive Funktionen auch umkehrbar, d. h. es gibt eine Umkehrfunktionf−1 : B → A mit

f−1(f(a)) = a und f(f−1(b)) = b (C.4)

fur alle a ∈ A und alle b ∈ B.

Ubungsaufgaben.

hat und bijektiv

12 Funktion, injektiv, surjektiv, bijektiv im Pfeildiagramm. Gegeben ist die Zu-ordnungsvorschrift f zwischen den endlichen Mengen A und B im Pfeildiagramm.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

32 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

(a) Handelt es sich um eine Funkti-on? Warum bzw. warum nicht?

Modifizieren Sie das Pfeildiagramm so,dass eine

(b) injektive aber nicht bijektive,(c) surjektive aber nicht bijektive,(d) bijektive.

Funktion entsteht.(Hinweis: Uberlegen Sie, wieviele Elemente die Zielmenge in (a) haben darf, bzw. in (b) habenmuss, bzw. wieviele Elemeneten in (c) Definitions- bzw. Zielmenge haben mussen.)

13 Injektiv, surjektiv, bijektiv fur reelle Funktionen. Beschreiben Sie in Wortenbzw. graphisch, wie die Graphen von Funktionen f : I → R (I ein beliebiges Intervall)aussehen, falls sie (a) injektiv, (b) surjektiv, bzw. (c) bijektiv sind. Wie konnen Graphensolcher Funktionen (nicht) aussehen? Betrachten Sie auch nicht stetige Funktionen.

3.2.3. Funktionsdefinition: Haufige Fehler. Folgende Fallgruben im Zusammenhang mitdem Funktionsbegriff heben wir besonders hervor:

(1) Zur Festlegung einer Funktion muss man ausdrucklich Definitions- und Zielmenge an-geben. Die Angabe der Zuordnungsvorschrift alleine ist keinesfalls ausreichend, weil dieEigenschaften der Funktion wesentlich von Definitions- und Zielmenge abhangen!

(2) Es ist wichtig, zwischen der Funktion f und den Werten f(x) einer Funktion zu unter-scheiden. Falsch ist etwa

Die Abbildung f��(x) . . .

Dafur hat man die 7→ –Notation. Die Formulierung

Die Abbildung f : x 7→ f(x) . . .

ist in Ordnung.

Ubungsaufgaben.

14 Definitions- und Zielbereich sind wichtig. Betrachten Sie die Zuordnungsvor-schrift/Funktionsgleichung f(x) = x2 und finden Sie Intervalle I und J sodass die Funktionf : I → J die folgenden Eigenschaften hat:

a) injektiv (aber nicht bijektiv),b) surjektiv (aber nicht bijektiv),c) bijektiv.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§3. DIE MATHEMATIK DES FUNKTIONSBEGRIFFS 33

§3.3 Weiterfuhrende Bemerkungen

Obwohl in der Schulmathematik hauptsachlich Funktionen von (Intervallen in) R nach Rauftreten, ist es wichtig im Blick zu behalten, dass der Funktionsbegriff viel allgemeinerist. Wir diskutieren zwei Beispiele, die in der klassischen Analysis wichtig sind und eine

”Anwendung“ des Funktionsbegriffs

”auf hoherer Ebene“.

3.3.1. Ebene Kurven sind Abbildungen von (Intervallen in) R in den R2. Das Erzbeispielist der Kreis, mathematisch auch S1 genannt,

k : [0, 2π)→ R2, k(t) =

(cos(t)sin(t)

). (C.5)

Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Parameterdarstellung#/

media/File:Parametric-representation-of-unit-circle.svg

Von .gs8 (talk) — Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, htt-

ps://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18961072

Abb. C.18: Der Kreis

Fur derartige Funktionen ist es nicht moglich den Graphen im R2 darzustellen; er ist ja perDefinition eine Teilmenge des R3. Eine gute Veranschaulichung von Kurven gelingt, indemman ihr Bild (vgl. (Schichl and Steinbauer, 2018, 4.3.11 f.)) als Teilmenge des R2 darstellt.Im obigen Beispiel (C.8) erhalten wir fur das Bild k([0, 2π)) den Einheitskreis in der Ebene,siehe Abbildung C.18.

Die klassische Theorie der Kurven ist sehr reichhaltig und kennt viele”schone“ Beispiele, etwa

die Kardioide (Herzkurve) c : [0, 2π)→ R2

c(ϕ) =

(2a(1− cos(ϕ)) cos(ϕ)2a(1− cos(ϕ)) sin(ϕ)

),

die durch das Abrollen eines Kreises aufeinem Kreis mit demselben Radius entsteht,siehe Abbildung C.19.

Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kardi-

oide#/media/File:Kardioide.svg von Ag2gaeh —

Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.

wikimedia.org/w/index.php?curid=46189703

Abb. C.19: Die Kardioide

3.3.2. Flachen, Landschaften. Der Graph von Funktionen f : R2 → R kann als eine Flacheim Raum dargestellt werden, siehe Abbildung C.20.

Ein praktisches Beispiel einer solchen Funktion ware etwa die Temperaturfunktion, die jedemPunkt in Wien (das wir der Einfachheit halber als Teil der Ebene R2 ansehen) die (vorherge-sagte) Tiefsttemperatur der kommenden Nacht zuordnet.

Verstandnisfrage: Was wurde es in diesem Kontext bedeuten, falls Teile des Graphen”unter-

halb“ der (x, y)-Ebene liegen?

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

34 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

Ein weiteres einfaches Beispiel ist dieFunktion

f : R2 → R (C.6)

f(x, y) = sin(2x) cos(x),

deren Graph links dargestellt ist.

Abb. C.20: Graph der Funktion (C.6).

3.3.3. Ableitungsoperator. Eine außerst interessante Begriffsbildung sind auch Funktionen,die Funktionen neue Funktionen zuordnen; man spricht dann meist von Operatoren. Eininstruktives Beispiel ist der Ableitungsoperator etwa in der folgenden Form:

D : C1(R) → C(R), f 7→ f ′. (C.7)

Hier bezeichnet C1(R) die Menge (sogar den Vektorraum) der stetig differenzierbaren Funk-tionen auf R und C(R) die Menge (ebenfalls Vektorraum) der stetigen Funktionen auf R. DerOperator D ordnet dann jeder C1-Funktion ihre (stetige) Ableitungsfunktion zu. Mit dieserBegriffsbildung kann man nun Tatsachen/Satze der Analysis in Termen der Eigenschaften desOperators D kodieren, aber das fuhrt uns hier zu weit . . .Es sei aber angemerkt, dass man die aus dem Hauptsatzes der Differential- und Integralrech-nung abgeleitetet Aussage, dass Differenzieren und Integrieren zueinander

”im wesentlichen“

inverse Operationen sind, in Termen des Ableitungs- und des Integraloperators prazise ma-chen kann, siehe etwa (Steinbauer, 2013a, 4 Bem. 2.8).

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§4. ASPKETE UND GRUNDVORSTELLUNGEN ZUM FUNKTIONSBEGRIFF 35

§4 Aspkete und Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff

In diesem letzten Abschnitt von Kapitel C werfen wir einen informierten Blick zuruck undverwenden die Terminologie der Aspekte und Grundvorstellungen (siehe Abschnitt B.§1) umvor allem unsere fachdidaktische Diskussion des Funktionsbegriffs abzurunden.

§4.1 Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff

Wir haben in Abschnitt C.§2.2 bereits die drei Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff

(1) Zuordnungsvorstellung,(2) Kovariationsvorstellung und(3) Objektvorstellung

kennengelernt und im schulpraktischen Kontext beschrieben. Wir fassen sie hier im Folgendennoch einmal kurz zusammen.

4.1.1. Zuordnungsvorstellung zum Funktionsbegriff. Dieser ersten Grundvorstellungsind wir in 2.2.1 begegenet. Sie kann pragnant wie folgt formuliert werden.

FdPw-Box 6: Zuordnungsvorstellung zum Funktionsbegriff

Eine Funktion ordnet jedem Wert einer Große genau einen Wert einer zweiten Große zu.

Diese Vorstellung spielt also unmittelbar auf den Kern des Funktionsbegriffs (F1) an.

In dieser Vorstellung konnen wir den durch eine Funktion f : A→ B gegebenen Zusammen-hang zwischen Großen in der Definitionsmenge A und der Zielmenge B aus zwei Perspektivenbetrachten. Um das auch konkret zu diskutieren, betrachten wir als Beispiel die Funktion

f : [0,∞)→ R, f(r) = 2πr, (C.8)

die jeder Zahl r den Umfang des Kreises vom Radius r zuordnet.

(1) Perspektive der Definitionsmenge: Gegeben ist ein a ∈ A. Welches b ∈ B wird diesemA zu geordnet? Im Kontext von Beispiel (C.8) bedeutet das: Welchen Umfang hat einKreis vom Radius r?Bemerke, dass diese Frage immer genau eine Antwort hat!

(2) Perspektive der Zielmenge: Gegeben ist ein b ∈ B. Welche a in A werden diesem b zuge-ordnet? Im Kontext von (C.8): Welchen Radius hat ein Kreis bei gegebenem Umfang?Bemerke, dass im Beispiel die Antwort zwar eindeutig ausfallt; das muss aber nicht sosein — außer die Funktion ist injektiv. Ebenfalls muss es uberhaupt nicht immer eineAntwort geben — außer die Funktion ist surjektiv.

4.1.2. Kovariationsvorstellung zum Funktionsbegriff. Etwas weniger prazise bzw. for-mal ist die zweite Grundvorstellung aus 2.2.2.

FdPw-Box 7: Kovariationsvorstellung zum Funktionsbegriff

Mit Funktionen wird erfasst, wie sich Anderungen einer Große auf eine zweite Großeauswirken bzw. wie die zweite Große durch die erste beeinflusst wird.

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36 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

Hier steht also das”Miteinander-Variieren“ der beiden Großen im Zentrum. Beispielsweise

nimmt der Umfang eines Kreises mit wachsendem Radius zu, die Funktion ist also monotonwachsend. Umgekehrt verhalt es sich etwa beim Abkuhlen des Tees.

Um Fehlvorstellungen zu vermeiden, ist es wichtig drauf hinzuweisen, dass”beeinflusst“ nicht

im kausalen Sinne zu verstehen ist, sondern lediglich deskriptiv, vgl. auch 1.1.2.

Auch hier konnen wir wieder die beiden Perspektiven aus 4.1.1 einnehmen.

(1) Perspektive der Definitionsmenge: Variiert wird a ∈ A. Wie verhalt sich dann die

”abhangige Variable“ b = f(a)? Im Kontext von Beispiel (C.8): Wie verandert sich

der Umfang eins Kreises wenn der Radius variiert?(2) Perspektive der Zielmenge: Betrachtet wird die die

”abhangige Variable“ b = f(a). Wie

muss sich a ∈ A verandern, dass sich b = f(a) in einer bestimmten Weise verhalt, z. B.einen bestimmten Wert erreicht, oder einen oder Extremwert annimmt?

4.1.3. Objektivorstellung des Funktionsbegriffs. Die abstrakteste (und auch sekundare)Grundvorstellung zum Funktionsbegriff ist die Objektvorstellung, die neben dem schulprakti-schen Kontext vorallem in hoheren Jahrgangsstufen (vgl. Abschnitt 2.2.3) auch in der Analysisan sich eine tragende Rolle spielt.

FdPw-Box 8: Objektvorstellung zum Funktionsbegriff

Eine Funktion ist ein einziges Objekt, das einen Zusammenhang als Ganzes beschreibt.

Betrachtet man Funktionen als Objekte, dann konnen ihnen in naturlicher Weise Eigenschaf-ten zugeschrieben werden, wie z. B. Monotonie, Stetigkeit, Differenzierbarkeit, etc. Außerdemerlaubt es die Objektvorstellung in naturlicher Weise, mit Funktionen als ganzes Operationendurchzufuhren, etwa eine Funktion f : R→ R zu skalieren oder zwei Funktionen f, g : R→ Rzu addieren:

(λf)(x) := λf(x), und (f + g)(x) := f(x) + g(x). (C.9)

Diese Sichtweise erlaubt es auch das mathematische Gebaude weiter aufzubauen und”hohere“

Begriffsbildungen vorzunehmen, wie etwa den Ableitungsoperator 3.3.3. In diesem Fall spielenreelle Funktionen dann die Rolle von Punkten in einer Menge (von Funktionen), auf denender Operator definiert ist.

§4.2 Aspekte des Funktionsbegriffs

Beim Funktionsbegriff lassen sich zwei fachliche Aspekte unterscheiden. Einen davon habenwir in der obigen Darstellung besonders hervorgehoben und insbesondere in 3.1.3 verwendet,um den Funktionsbegriff zu definieren.

4.2.1. Der Zuordnungsaspekt ist genau das, was wir als Kern des Funktionsbegriffs (F1)identifiziert und schon ausfuhrlich thematisiert haben.

FdPw-Box 9: Zuordnungsaspekt des Funktionsbegriffs

Eine Funktion ist eine Zuordnung zwischen den Elementen zweier Mengen A und B,wobei jedem Element von A genau ein Element von B zugeordnet wird.

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§4. ASPKETE UND GRUNDVORSTELLUNGEN ZUM FUNKTIONSBEGRIFF 37

4.2.2. Der Paarmengenaspekt. Der zweite Aspekt des Funktionsbegriffs ist ebenfalls obenbereits angeklungen, wurde aber nicht in der Weise ins Zentrum geruckt wie der Zuordnungs-aspekt. Der Paarmengenaspekt tritt in der Definition des Graphen einer Funktion 3.1.4(3) zuTage: Der Graph G(f) einer Funktion f : A→ B ist die Menge von geordneten Paaren

G(f) = {(a, f(a)) : a ∈ A} (C.10)

und daher Teilmenge des kartesischen Produkts A × B (das ja die Menge aller geordnetenPaare (a, b) mit a ∈ A und b ∈ B ist, vgl. (Schichl and Steinbauer, 2018, 4.1.38 f.)).Dieser Aspekt kann und wird im fachmathematischen Kontext auch oft als alternative (aberaquivalente) Definition herangezogen, was dann etwa die folgende Form annimmt (vgl. (Schichl

and Steinbauer, 2018, 4.3.4 f.), ä Video Funktionen, Teil 2 )

4.2.3. Definition (Funktion mengentheoretisch). Eine Funktion ist ein Tripel f =(A,B,G) bestehend aus einer Menge A, genannt Definitionsbereich, einer Menge B, genanntZielbereich und einer Teilmenge G des Produkts A×B mit den Eigenschaften:

(1) Jedes a ∈ A tritt als erste Komponente eines Paares in G auf.(2) Stimmen die ersten Komponenten eines Paares in G uberein, dann auch die zweiten.

Die beiden Eigenschaften in dieser Definition kodieren zusammen genau den Kern des Funk-tionsbegriffs (F1) und G ist naturlich dieselbe Menge wie (in der Terminologie von Definition3.1.3) der Graph G(f). Daher sind die beiden Definitionen 3.1.3 und 4.2.3 mathematischaquivalent.Außerdem konnen wir den Paarmengenaspekt des Funktionsbegriffs nun wie folgt herausde-stillieren:

FdPw-Box 10: Paarmengenaspekt des Funktionsbegriffs

Eine Funktion ist gegeben durch Teilmenge G des kartesischen Produkts zweier MengenA und B mit der Eigenschaft, dass fur jedes a ∈ A genau ein b ∈ B existiert, sodass(a, b) ∈ G.

4.2.4. Die Rolle der beiden Aspekte des Funktionsbegriffs. Gemaß unsere Darstellungin Abschnitt B.§1.1 ist ein Aspekt eines mathematischen Begriffs eine seiner Facetten, mitder er fachlich beschrieben wird. Im Falle des Funktionsbegriffs konnen beide Aspekte sogarherangezogen werden um den Begriff vollstandig zu charakterisieren, vgl. die Definitionen3.1.3, und 4.2.3, die jeweils einen Aspekt benutzen, um den (gesamten) Begriff zu definieren.Wie wir in Abschnitt C.§2 gesehen haben steht in der schulischen Praxis, die ja bevorzugtsich auf Phanomenen basierend dem Funktionsbegriff nahert, der Zuordnungsaspekt im Vor-dergrund. Der Paarmengenaspekt wird aber in den hoheren Jahrgangsstufen an Relevanzgewinnen.

§4.3 Die Zusammenschau von Aspekten und Grundvorstellungen zum Funk-tionsbegriff

Wie sieht es nun mit den Bezugen zwischen Aspekten und Grundvorstellungen zum Funkti-onsbegriff aus? Wie in Abschnitt C.§2 dargestellt lernen Schuler/innen das funktionale Denkenin der Sekundarstufe 1 uber Phanomene kennen und bauen so die Grundvorstellungen zum

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

38 Kapitel C. Der Funktionsbegriff

Funktionsbegriff allmahlich auf. Bis etwa zum Ende der Sekundarstufe 1 ist dabei eine formaleDefinition des Funktionsbegriffs nicht zwingend notig. Wird dann eine formale Definition ge-geben, so baut sie meist auf dem Zuordnungsaspekt auf, der sich wesentlich unmittelbarer vorallem aus den ersten beiden Grundvorstellungen ergibt und auch weniger formalen Aufwanderfordert, z. B. kann der Begriff des geordneten Paares vermieden werden.Allerdings eignen sich beide Aspekte, den gesamten Begriff zu erfassen (vgl. 4.2.4) und insbe-sondere dazu alle drei Grundvorstellungen weiterzuentwickeln. Schematisch stellt AbbildungF.11 diese Bezuge zwischen den beiden Aspekten und den drei Grundvorstellungen dar.

Zuordnunsaspekt

Paarmengenaspekt

Zuordnungsvorstellung

Kovariationsvorstellung

Objektvorstellung

Abb. C.21: Aspekte und Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff und ihre wechselweisenBeziehungen

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Kapitel D

Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

In diesem Kapitel befassen wir uns mit den”Herzstuck“ der Analysis, dem Grenzwertbegriff,

vgl. A1.1.4. Genauer werden wir ihm uns in seiner analytisch am einfachsten zu fassendenForm nahern, namlich dem Grenzwert reeller Folgen.

Dazu diskutieren wir zunachst den Folgenbegriff, wobei wir den Schwerpunkt auf den Itera-tionsaspekt von Folgen legen, d.h. die Rolle von Folgen in der diskreten Modellierung iterativerProzesse betonen. Wir stellen aber alle Aspekte und Grundvorstellungen zum Folgenbegriffvor und diskutieren Zugange zu Folgen im Unterricht.

Danach lassen wir uns in naturlicher Weise vom Iterationsaspekt zum Konvergenzbegrifffuhren und diskutieren seine Mathematik sowie Zugange zum Grenzwert im Unterricht in-klusive des propadeutischen Grenzwertbegriffs. In einem historisch-philosophischen Exkursdiskutieren wir dynamische und statische Vorstellungen zum Grenzwertbegriff und auch diedamit zusammenhangenden Vorstellungen vom

”Unendlichen”. Schließlich diskutieren wir

konkret die tiefsinnige Frage: Ist 0.9 = 1? Sie wird uns auch mit dem Begriff konvergenterReihen in Beruhrung bringen.

Schließlich wenden wir uns einem weiteren eng mit dem Konvergenzbegriff verbundenen Eck-stein der gesamten Analysis zu: Der Vollstandigkeit der reellen Zahlen, vgl. B2.1.1.

§1 Folgen

In diesem Abschnitt widmen wir uns dem Begriff der (unendlichen) Folgen. Wir diskutie-ren seine Mathematik, seine Aspekte und die damit verbundenen Grundvorstellungen sowieZugange im Unterricht. Hauptsachlich verwenden wir Folgen aber als Werkzeug, das uns zumzentralen Begriff der Grenzwerts fuhrt.

§1.1 Fachliche Grundlagen

1.1.1. Was sind Folgen? Ein Enzyklopadieeintrag konnte etwa so aussehen:

Eine Folge ist eine Auflistung von unendlich vielen1 fortlaufend nummeriertenObjekten.

1Es gibt auch endlich Folgen, wir werden uns aber hier nur mit sogenannten unendlichen Folgen beschaftigenund nennen sie einfach Folgen.

39

40 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Die wesentliche Eigenschaft einer Folge ist, dass die Objekte, genannt Folgenglieder, durch-nummeriert sind. Das steht im Gegensatz zu Objekten, die zu einer bloßen Menge zusam-mengefasst werden: Die Elemente einer Menge sind nicht nummeriert oder sonst irgendwiegeordnet. (Das einzige charakteristische am Begriff einer Menge ist, dass es sich um eine An-sammlung von Objekten handelt, wobei eindeutig feststeht, weleche Objekte dazugehoren undwelche nicht, vgl. (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn. 4.1).) Wir konnen also salopp sagen,dass eine Menge ein

”Sauhaufen“ von Objekten ist, eine Folge aber aus durchnummerierten

Objekten besteht.

Abb. D.1: Eine Menge ist ein”Sauhaufen“

von Objekten.

Abb. D.2: Eine Folge besteht aus einer ge-ordneten Liste von Objekten.

Ein weiterer Wesenszug einer Folge ist, dass es sich um eine Auflistung von unendlich vielenfortlaufend nummerierten Objekten handelt. Das bedeutet mathematisch ausgedruckt, dasses sich um abzahlbar viele Objekte handelt, also genau um

”genau so viele” Objekte, wie die

naturlichen Zahlen N Elemente haben. Fur Details zur Machtigkeit von N und dem Begriffabzahlbar (unendliche) Menge siehe (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn. 4.4).

ä Video Machtigkeit, Teil I (Gleichmachtigkeit von Mengen)

Hier wiederholen wir nur das Wichtigste und insbesondere die mathematische Terminologie,die namlich nicht selbsterklarend ist und das Potential hat, Verwirrung zu stiften. EndlicheMengen sind Mengen, die n Elemente besitzen, wobei n eine (beliebige) naturliche Zahl ist.Unendliche Mengen sind Mengen, die nicht endlich sind. Es ist eine wesentliche Tatsache derMengenlehre, dass es

”verschieden große“ unendliche Mengen gibt. Die kleinste solche ist die

Menge N der naturlichen Zahlen und alle Mengen, die”gleich groß“ im Sinne der Machtigkeit

sind, heißen abzahlbar. Diese Terminologie ist an die Idee angelehnt, dass man die naturlichenZahlen abzahlen konnte (wenn man nur genugend Zeit dafur hatte). Genauer, jede naturlicheZahl ist in endlich vielen Abzahlschritten erreichbar.

Wir haben also endliche Mengen und die kleinste”Klasse“ unendlicher Mengen, die abzahlbaren

Mengen. Leider werden erstere auch oft abzahlbar endlich genannt und zweitere abzahlbar un-endlich, sodass man mit der Bezeichnung

”abzhahlbar“ vorsichtig sein muss. Meistens (und

so werden wir das immer halten) bedeutet abzahlbar ohne Zusatz abzahlbar undendlich.

Eine mathematische Prazisierung der obigen Beschreibung von Folgen erfolgt am bequemstenuber den Funktionsbegriff. Eine Folge ist eine spezielle Funktion, namlich eine solche mitDefinitionsmenge N: Die Folgenglieder werden mit den naturlichen Zahlen durchnummeriert.Wir wiederholen die formale Definition und auch die ublichen Schreibweisen fur Folgen.

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§1. FOLGEN 41

Mathematische Faktenbox 3: Folgen

1.1.2. Definition (Folge). Sei M eine Menge. Eine Folge in M ist eine Abbildung

a : N→M . (D.1)

Meist werden wir den Fall M = R betrachten; man sagt dann, a ist eine reelle Folge.

1.1.3. Terminologie (Lastiges zur Definition von N). In weiten Teilen der mathe-matischen Literatur herrscht Uneinigkeit daruber, ob 0 Element der naturliche Zahlen istoder nicht. Letztlich ist das eine Geschmacksfrage und wir verwenden in diesem Skrip-tum N := {0, 1, 2, . . . }, was auch mit der DIN-Norm 5473 konform geht. Fur die positivennaturlichen Zahlen schreiben wir dann N∗ oder N+.

1.1.4. Terminologie (Folgen). Zunachst ist eine Folge eine Funktion mit einem spezi-ellen Definitionsbereich, namlich N. Daher ist alles, was wir uber Funktionen wissen auchfur Folgen gultig!Insbesondere wird (vgl. Abschnitt C.§3.1) jeder naturlichen Zahl genau ein Folgengliedzugeordnet; also liegt es am

”Kern“ des Funtionsbegriffs, dass eine Folge wirklich aus

abzahlbare vielen durchnummerierten Objekten besteht.Wegen des speziellen Definitionsbereichs haben sich allerdings auch spezielle Schreibwei-sen eingeburgert:

(1) Statt a(0), a(1), a(2), usw. schreibt man fur die Funktionswerte von a meista0, a1, a2, usw. und spricht von Folgengliedern.

(2) Die gesamte Folge wird in der mathematischen Literatur meist mit (an)n∈N oder(an)∞n=0 oder kurzer (an)n bzw. nur mit (an) bezeichnet. In der Schulliteratur wer-den stattdessen meist Spitzklammern verwendet und Folgen meist mit 〈a0, a1, . . . 〉bezeichnet. Außerdem kann man auch 〈an〉∞n=1, 〈an〉n bzw. 〈an〉 schreiben. Wir wer-den im Folgenden alle diese Schreibweisen synonym verwenden.

(3) Hin und wieder treten Folgen auf, die erst mit n = 1 oder”noch spater” beginnen.

Fur diese schreiben wir dann z.B. (an)∞n=1 oder 〈an〉∞n=7.(Ja durfen die das uberhaupt? - soll heißen sind das dann uberhaupt Folgen imSinne der Definition? Ja klar, weil sei z.B. (an)∞n=7, dann ist (bn)n∈N mit bn =an−7 eine

”echte” Folge und es zahlt sich nicht aus, zwischen (an)n und (bn)n zu

unterscheiden).

1.1.5. Beispiel (Folgen). Ganz einfache Beispiele von reellen Folgen sind etwa

(1) (an)n = (2n)n = (0, 2, 4, 6, . . . ), die Folge der geraden naturlichen Zahlen.(2) (bn)n = (x)n = 〈x, x, x, . . . 〉 fur ein x in R, die konstante Folge.(3) (cn)∞n=1 = ( 1

n)n≥1 = (1, 12 ,13 , . . . )

Ubungsaufgabe.

15 Zur Folgendefinition. Suchen Sie aus zwei unterschiedlichen Schulbuchern Ihrer Wahldie Definition einer Folge heraus. Vergleichen Sie diese mit Definition 1.1.2. Welche Facettenwerden betont? Arbeiten Sie wesentliche Unterschiede heraus. Konnen Sie schon Aspekte (imtechnischen Sinn von B.§1.1) des Folgenbegriffs erkennen? Welche?

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42 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

1.1.6. Veranschaulichung von Folgen. Eine instruktive Art, Folgen zu veranschaulichen,ergibt sich direkt aus ihrer Definition 1.1.2. Eine Folge (an) kann als Spaziergang in einerMenge M aufgefasst werden. Jedem Schritt entspricht ein Folgenglied: a0 bzw. a1 entsprichtdem nullten bzw. ersten Schritt oder auch dem nullten bzw. ersten Fußabdruck usw. sieheAbbildung D.3.

Abb. D.3: Eine Folge als Spaziergang in einerMenge.

Abb. D.4: Eine reelle Folge als Spaziergangauf der Zahlengeraden.

Im Falle einer reellen Folge (an) ergibt sich in diesem Bild also ein Spaziergang auf derZahlengeraden, vgl. Abbildung D.4, den wir veranschaulichen, in dem wir die

”Schritte” a0,

a1, usw. einzeichnen. Mathematisch gesprochen werden die Werte der Folgenglieder auf derZahlengeraden aufgetragen, also das Bild (vgl. (Schichl and Steinbauer, 2018, 4.3.11 f.) ä

Video ) der Folge in R eingezeichnet, siehe Abbildung D.5. Alternativ konnen wir

auch den Graphen der Abbildung a zeichnen. Dabei wird das n-te Folgenglied als Punkt mitden Koordinaten (n, an) im R2 dargestellt, wie wir das von Funktionen schon gewohnt sind(vgl. 3.1.4(3)), siehe Abbildung D.6.

Abb. D.5: Das Bild einer reellen Folge (an).

Abb. D.6: Graph einer reellen Folge (an).

Offensichtlich hangen die beiden Darstellungen zusammen. Aus dem Graphen in AbbildungD.6 erhalt man den Spaziergang in Abbildung D.5 durch Projektion auf die y-Achse. Genauer,nimmt man diese Projektion und legt sie auf die x-Achse, so ehalt man den Spaziergang, sieheAbbildung D.7

Abb. D.7: Zusammenhang der Darstellungen reeller Folgen.

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§1. FOLGEN 43

Ubungsaufgaben.

16 Darstellung von Folgen, 1. Stellen Sie (mit Technologieeinsatz) die folgenden Folgeneinmal als

”Spaziergang in R“ und einmal durch ihren Graphen dar (siehe Vorlesung D 1.1.6).

(a) an = (−1)n (”Vorzeichenmaschine“)

(b) bn =n

n+ 1

(c) cn =nk

2nfur ein fixes k ∈ N.

Wie andert sich das Aussehen der Fol-ge in Abhangigkeit vom Wert von k?

(d) dn =n!

2n

(e) en =n!

nn

(f) Die Fibonacci-Folge: f0 = 0, f1 = 1und fn = fn−2 + fn−1 (n ≥ 2)

17 Darstellung von Folgen, 2. Stellen Sie (wieder mit Technologieeinsatz) die folgendenFolgen durch ihren Graphen dar (n ≥ 1):

an =√n+ 103 −

√n, bn =

√n+√n−√n, cn =

√n+

n

103−√n.

Gilt an > bn > cn fur alle n ≥ 1?

§1.2 Rekursive Prozesse und ihre Modellierung

Wir beginnen nun den Folgenbegriff als analytisches Werkzeug zu nutzen, namlich im Kontextder Modellierung rekursiver Prozesse. Zuvor beantworten wir aber eine Frage zur Schulana-lysis.

1.2.1. Wo gehoren Folgen hin? In der Schulmathematik gab es lange die Tradition denGrenzwertbegriff systematisch auf dem Folgenbegriff aufzubauen und so eine solide Basis furdie Differential- und Integralrechnung zu legen, in der der Grenzwertbegriff ja die zentraleRolle spielt. Das ist sicherlich ein mathematisch fundierter Zugang, der allerdings den Nach-teil hat, dass ein

”langer Marsch durch das Reich der Folgen” (vgl. (Danckwerts and Vogel,

2006, Abschn. 2.1)) angetreten werden muss. In einem solchen Zugang haben Folgen ihren ka-nonischen Platz im Curriculum. Neben dem offensichtlichen Nachteil, dass ein solcher Zugangviel Zeit in Anspruch nimmt, haben Blum und Kirsch in fachdidaktischen Arbeiten (Blumand Kirsch (1979); Blum (1979)) schon fruh aufgezeigt, dass die Diferential- und Integral-rechnung in

”intellektuell ehrlicher Weise” (Danckwerts and Vogel, 2006, Abschn. 2.1) auf auf

einem intuitiven Grenzwertbegriff aufgebaut werden und zugleich”der Weg fur einen spatere

analytische Prazisierung offen gehalten werden kann” (ebd.).

Damit ist der traditionelle Zugang nicht (mehr) alternativlos und es stellt sich die Frage, obund wie sich Folgen als eigenstandiges Thema der Schulanalysis legitimieren lassen. In dieserFrage propagieren wir im Einklang mit Danckwerts and Vogel (2006) den Standpunkt, dass

Folgen als naturliches Instrument zur Beschreibung iterativer Prozesse

einen Platz im Unterricht haben konnen und sollen. Damit gelingt namlich in naturlicherWeise die Modellierung von Wachstumsprozessen (die wir im nachsten Abschnitt konkretmathematisch behandeln werden), sondern auch eine ebenso naturliche Hinfuhrung zu Grenz-wertbegriff.

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44 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Im Folgenden behandeln wir nun die Modellierung iterativer Prozesse anhand eines Beispiels,danach nehmen wir den Faden der gegenwartigen Diskussion in 1.2.1 in informierter(er) Weisewieder auf.

1.2.2. Beispiel (Medikamentenspiegel im Korper, vgl. (Danckwerts and Vogel,2006, Abschn. 2.1.1)). Die wirksame Anfangsdosis einem Schmerzmittels betragt d =400 mg und wird alle 6 Stunden erneut verabreicht. Innerhalb dieser 6 Stunden werden 25%des Wirkstoffs vom Korper abgebaut. Wie entwickelt sich im Lauf der Zeit der Wirkstoffspiegelim Korper?

Losungsvorschlag. Wir legen zunachst die Notation fur unsere rekursive Beschreibung fest.Mit mn bezeichnen wir die nach n Perioden zu 6 Stunden im Korper vorhandene Menge desWirkstoffs in mg. Der Anfangswert ist mit

m0 = d = 400 (D.2)

festgelegt. Fur m1, also die Wirkstoffmenge nach 6 Stunden gilt

m1 =3

4m0 + d = 300 + 400 = 700. (D.3)

Bezeichnen wir mit r = 34 die Rate des nach 6 Stunden noch im Korper vorhandenen Wirk-

stoffs, so gilt des weiteren

m2 = rm1 + d, m3 = rm2 + d und allgemein (D.4)

mn+1 = rmn + d (n = 0, 1, . . . ). (D.5)

Die rekursiv definierte Folge (mn) = (m0,m1, . . . ) aus (D.5) mit m0 = d = 400 stellt also dengesuchten zeitlichen Verlauf des Medikamentenspiegels im Korper dar. Eine Folge (mn) heißtdabei rekursiv oder rekursiv definiert, falls die Folgenglieder mn mit Hilfe ihres Vorgangersmn−1 (oder manchmal auch mit Hilfe mehrere oder aller ihrer Vorganger mk, 0 ≤ k ≤ n− 1)definiert sind.

1.2.3. Darstellung des Prozesses — Langzeitverhalten. In naturlicher Weise ergibtsich nun die Frage nach der langfristigen Entwicklung des oben beschrieben Prozesses. Dazukonnen wir mittels Tabellenkalkulationsproramms eine Wertetabelle der Folge (mn) erstellenoder sie durch ihren Graphen illustrieren. Das fuhrt auf:

Abb. D.8: Wertetabelle der Folge (mn)

Abb. D.9: Graph der Folge (mn)

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§1. FOLGEN 45

1.2.4. Explizite Darstellung. Aus theoretischer Sicht ist es wunschenswert, neben derrekursiven Darstellung der Folge (mn) aus Gleichung (D.5) eine explizite Darstellung zurVerfugung zu haben. Schließlich ermoglicht eine solche das direkte Ausrechnen des Medika-mentenspiegels mn nach n Perioden zu 6 Stunden, ohne den oben betriebenen Aufwand.Um eine solche Darstellung zu gewinnen, starten wir mit der Rekursionsformel (D.5)

mn+1 = rmn + d (n = 0, 1, . . . ) (D.6)

und setzen sukzessive ein wie folgt

m1 = rm0 + d (D.7)

m2 = rm1 + d = r(rm0 + d) + d = r2m0 + d(r + 1) (D.8)

m3 = rm2 + d = r(r2m0 + d(r + 1)

)+ d = r3m0 + d(r2 + r + 1). (D.9)

Daraus konnen wir die folgende Darstellung fur mn ablesen

mn = rnm0 + d(rn−1 + rn−2 + · · ·+ 1). (D.10)

Jetzt konnen wir noch die Summenformel fur die endliche geometrische Reihe2 (siehe etwa(Forster, 2016, §1, Satz 6))

n∑k=0

rk =1− rn+1

1− r(r 6= 1) (D.11)

verwenden, um die rechte Seite zu vereinfachen. Die Einschrankung r 6= 1 spielt fur unsereUberlegungen keine Rolle; das wurde ja dem Fall entsprechen, dass das Medikament garnicht abgebaut wird. Dieser Fall ist im Anwendungszusammenhang sinnlos und im Ubrigenmathematisch ganz einfach zu losen: dann gilt offensichtlich

mn = m0 + nd = (n+ 1)d. (D.12)

Da ein negatives r im gegenwartigen Anwendungskontext ebenso sinnlos ist, wie ein r > 1,legen wir im Folgenden fest, dass 0 < r < 1 gilt.Schließlich ergibt sich die folgende explizite Darstellung fur die Folge (mn)

mn = rnm0 + d1− rn

1− r. (D.13)

Gehen wir nun zum obigen Beispiel zuruck und setzen entsprechenden ein, d.h. r = 3/4,m0 = d = 400, so ergibt sich fur den Wirkstoffspiegel

mn = 400(3

4

)n+ 1600

(1−

(3

4

)n)= 400

(4− 3

(3

4

)n). (D.14)

1.2.5. Diskussion des Kontexts. Zum Schluss dieses Abschnitts kommen wir zuruck zurDiskussion von 1.2.1 und greifen sie im Licht der obigen Uberlegungen wieder auf. Zunachstsehen wir, dass im Kontext der diskreten Modellierung der Folgenbegriff in naturlicher Weiseauftritt. Weiters haben wir folgende Aspekte ebenfalls in naturlicher Weise angetroffen:

2Die Summenformel konnen wir an dieser Stelle im Kontext unserer”Schulanalysis vom hoheren Stand-

punkt“ verwenden; im Schulkontext ware das in geeigneter Form zu behandeln.

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46 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

• Vor- und Nachteile der rekursiven und der expliziten Darstellung von Folgen,• Umschreiben von rekursiver in explizite Darstellung von Folgen,• die endliche geometrische Reihe im Anwendungskontext.

Außerdem tritt die Frage nach dem Langzeitverhalten bzw. dem Grenzwert von Folgen (undReihen!) in prominenter und naturlicher Weise auf. Wir werden diese aber erst im nachstenKapitel aufgreifen und uns im folgenden mit der Unterrichtspraxis zum Folgenbegriff beschaf-tigen. Auch hier werden wir an mehreren Stellen den Grenzwertbegriff am Horizont auftauchensehen.

Schließlich werden wir in D.§1.3.2 sehen, dass die in der Schule prominenten Beispiele derarithmetischen und der geometrischen Folge sich als Spezialfalle obiger Rekursion ergeben.

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§1. FOLGEN 45

§1.3 Folgen in der Schule — Zugange im Unterricht

Im folgenden Abschnitt gehen wir konkret auf Folgen im Schulunterricht ein. An den Beginnstellen wir Formalia, d.h. die Vorgaben des Lehrplans und des Katalogs der Grundkompeten-zen.

1.3.1. Folgen in Lehrplan und Grundkompetenzkatalog. Der Lehrplan AHS 20163

sieht Folgen in der 6. Klasse vor (1. Semester, Kompetenzmodul 3). Folgende zwei Punktewerden gelistet:

• Zahlenfolgen als auf N bzw. N∗ definierte reelle Funktionen kennen (insbesondere arith-metische Folgen als lineare Funktionen und geometrische Folgen als Exponentialfunk-tionen); sie durch explizite und rekursive Bildungsgesetze darstellen und in außerma-thematischen Bereichen anwenden konnen• Eigenschaften von Folgen kennen und untersuchen konnen (Monotonie, Beschranktheit,

Grenzwert)

Im Gundkompetenzkatalog der Handreichung zum Lehrplan 20164 treten Folgen im Rahmender Grundkompetenzen aus dem Inhaltbereich Funktionale Abhangigkeiten (FA) auf, konkretals PunktFA 7 Folgen, mit den Unterpunkten:

• FA-L 7.1 Zahlenfolgen (insbesondere arithmetische und geometrische Folgen) durch ex-plizite und rekursive Bildungsgesetze beschreiben und graphisch darstellen konnen• FA-L 7.2 Zahlenfolgen als Funktionen uber N bzw. N∗ auffassen konnen, insbesondere

arithmetische Folgen als lineare Funktionen und geometrische Folgen als Exponential-funktionen• FA-L 7.3 Definitionen monotoner und beschrankter Folgen kennen und anwenden konnen• FA-L 7.4 Grenzwerte von einfachen Folgen ermitteln konnen

In der Folge diskutieren wir einige konkrete Zugange zum Folgenbegriff fur den Unterricht.

1.3.2. Allgemeines. Wenn in der 10. Schulstufe (AHS) Folgen behandelt werden, dannlernen die Schulerinnen und Schuler damit einen neuen mathematischen Begriff kennen, beidessen Einfuhrung das Durchlaufen von vier Phasen zielfuhrend ist. Mathematische Begriffeund die Bedeutung eines Begriffs erschließen sich den Lernen nicht durch eine bloße Mitteilungoder Definition des Begriffs. Ein tieferes Verstandnis eines mathematischen Begriffs wird erstdurch eine sorgfaltige Erarbeitung des Begriffs, bei der gleichzeitig angemessene Vorstellungenaufgebaut werden konnen, erreicht. Die vier Phasen sind:

(1) Einstieg ; (2) Erarbeitung ; (3) Sicherung ; (4) Vertiefung

§1.3.1 Einstieg (Phase 1)

Bei der ersten Phase – dem Einstieg zum Themenfeld Folgen – geht es darum, dass dieSchulerinnen und Schuler erste Vorstellungen des Begriffs aufbauen, den Namen und wichtigeMerkmale des neuen Begriffs kennen lernen. Dabei arbeiten die Lernenden mit entsprechen-den Reprasentanten (Beispielen) und Darstellungen dieses neuen Begriffs. Die nachfolgendenAusfuhrungen zeigen mogliche Ausgestaltungen der Einstiegsphase. Charakteristisch ist fur

3https://argemathematikooe.files.wordpress.com/2016/11/bgbla 2016 ii 219 mathematik.pdf4https://argemathematikooe.files.wordpress.com/2016/11/handreichung lehrplan mathematik 201

6 bmb.pdf

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46 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

alle drei, dass der Folgenbegriff in ganz naturlicher Weise auftritt und die Frage nach derKonvergenz in den Aufgabenstellungen bereits angelegt ist.

1.3.3. Einstieg im Kontext — Folgen als diskrete Modellierung rekursiver Pro-zesse. In Analogie zum Beispiel Medikamentenspiegel im Korper kann in der Schule zumEinstieg in die Begriffserarbeitung ebenfalls ein

”praktisches“ (Alltags-)Problem herangezo-

gen werden. Damit wird signalisiert, dass die Mathematik aus einem praktischem Problemerwachsen ist und Alltagsbezug hat.Gleichzeitig wird damit die Grunderfahrung (G1) Erscheinungen der Welt um uns, die unsalle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Gesellschaft und Kultur, in einer spezischenArt wahrzunehmen und zu verstehen (mathematischer Blick) angesprochen.

Aufgabenstellung: Koffeingehalt einer Kaffeeliebhaberin. Angenommen eine Kaf-feeliebhaberin trinkt an einem langen 12-Stunden-Arbeitstag gleich nach dem Betreten desArbeitsplatzes eine Tasse Kaffee und dann jede weitere Stunde wieder eine Tasse Kaffee. ProStunde werden etwa 7% des Koffeingehaltes abgebaut und eine Tasse Kaffee enthalt rund40mg Koffein. Wie entwickelt sich der Koffeingehalt im Laufe des Arbeitstages?

Losungserwartung. Dieser Prozess lasst sich rekursiv sehr gut in einer Tabelle beschreiben.

Zu Beginn des Arbeitstages wird eine Tasse Kaffee ge-trunken.

Anfangswert: k0 = 40

Nach einer Stunde sind 7% der 40mg Koffein abgebautalso noch 93% vorhanden. Also sind von der erstenTasse Kaffe noch 0, 93 · 40mg im Korper vorhanden,aber es werden auch wieder 40mg Koffein zugefuhrt.

Wert nach einer Stunde:

k1 = 0, 93 · k0 + 40

= 0, 93 · 40 + 40

= 77, 2

Nach einer weiteren Stunde sind nun 7% von 77, 2mgabgebaut, also noch 0, 93 · 77, 2mg vorhanden. Außer-dem werden auch wieder 40mg Koffein zugefuhrt.

Wert nach zwei Stunden:

k2 = 0, 93 · k1 + 40

= 0, 93 · 77, 2 + 40

= 111, 796

Noch eine weitere Stunde spater sind noch 0, 93 ·111, 796mg vorhanden, und es werden wiederum 40mgKoffein zugefuhrt.

Wert nach drei Stunden:

k3 = 0, 93 · k2 + 40

= 0, 93 · 111, 796 + 40

= 143, 97028

Allgemein lasst sich die Entwicklung des Koffeingehalt mit

k0 = 40 und

kn+1 = 0, 93 · kn + 40 fur n = 0, 1, 2, . . . (D.15)

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§1. FOLGEN 47

angeben. Die Folge (kn) = k0, k1, k2, . . . beschreibt also die zeitliche Entwicklung des Koffe-ingehalts.Mit Hilfe eines Tabellenkalkulations-Programms kann die Entwicklung des Koffeingehalts sehrrasch dargestellt werden.

Abb. D.10: Kaffegehalt: tabellarische Darstellung

Abb. D.11: Kaffegehalt: Graph der Folge (kn)

Sowohl die Tabelle als auch die grafische Darstellung lassen erkennen, dass sich der Koffein-gehalt bei etwas mehr als 571mg einpendelt.

FdPw-Box 11: Losungserwartung

Unter einer Losungserwartung verstehen wir eine Musterlosung einer Aufgabe im Sinneeiner Ausarbeitung wie sie im Idealfall von der besten Schulerin/dem besten Schuler einerKlasse erwartet werden konnte. Dementsprechend sollte eine Ausarbeitung der Lehrkraftim Rahmen der Unterrichstvorbereitung etwa dieselbe Form haben.Vergleichen Sie diese im vorliegenden Fall mit der knapperen Beschreibung der Rekursion,die wir im fachmathematischen Kontext in Abschnitt D.§1.2 gegeben haben! Dabei wirddeutlich, wie derselbe Inhalt auf verschiedenen Verstandnisniveaus (hier: SchulerInnender Schulstufe 10 vs. Lehramtsstudierende im 5. Semester) sinnvoll dargestellt werdenkann.

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48 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Ubungsaufgabe.

18 Dauertropfinfusion. Einem Patienten wird durch eine Dauertropfinfusion eine gleich-bleibende Menge eines Medikaments verabreicht, das bis dahin nicht in seinem Korper vor-handen war. Bei diesem Vorgang wird einerseits das Medikament im Blut angereichert, ande-rerseits wird ein Teil wieder uber die Nieren ausgeschieden. Pro Minute wird uber die Infusioneine Menge von 3,8 mg des Medikaments zugefuhrt, wahrend im gleichen Zeitraum 5 Prozentdes zugefuhrten Medikaments wieder uber die Nieren ausgeschieden werden. Wie entwickeltsich der Wirkstoffspiegel dieser Infusion innerhalb einer Stunde?

(a) Erstellen Sie eine mathematisch”knackige“ Losung.

(b) Arbeiten Sie eine Losungserwartung fur den schulischen Kontext aus!

19 Explizite und rekursive Darstellung — Kontext gesucht. In der Vorlesung wurdeim Zusammenhang mit dem Beispiel

”Medikamentenspiegel im Korper“ aus einer rekursiv

definierten Folge die explizite Darstellung (D.13) hergeleitet. Betrachten Sie nun eine solcheexplizite Darstellung mit

m0 = 1240, r = 0, 6 und d = 20.

(a) Berechnen Sie die ersten sieben Folgenglieder und geben Sie eine rekursive Darstellungder Folge an!

(b) Entwickeln Sie aus der gegebenen Folge eine Aufgabenstellung fur den Schulunterrichtmit außermathematischen Bezug, die mindestens drei Fragestellungen enthalt! Erarbei-ten Sie eine entsprechende Losungserwartung!

1.3.4. Einstieg mit Experimenten. Fur den Einstieg in den Begriffsbildungsprozess zuFolgen eignet sich aber auch ein experimenteller Zugang. Dazu konnen beispielsweise ver-schiedene Experimente in Form eines Gruppenpuzzles (Expertenmodell https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppenpuzzle) bearbeitet werden.

Aufgabenstellung: Immer kurzer — und doch kein Ende in Sicht. Beginnend miteinem Papierstreifen der Lange 100 cm werden Papierstreifen, die jeweils die halbe Lange desvorhergehenden Streifens haben, auf ein Plakat geklebt.

(1) Wie lange lasst sich dieses Experiment theoretisch fortsetzen?(2) Wie entwickeln sich die Langen der Papierstreifen?(3) Was lasst sich uber die Gesamtlange aller aufgeklebten Papierstreifen sagen, selbst wenn

das Experiment sehr lange fortgesetzt wird?

20 Experimente zu Zahlenfolgen. Arbeiten Sie fur die oben stehende Aufgabenstellungeine Losungserwartung aus und diskutieren Sie die Aufgabenstellung vor dem Hintergrundder Grunderfahrungen nach Winter sowie den Aspekten und Grundvorstellungen zum Fol-genbegriff.

1.3.5. Einstieg mit Mustern und Strukturen. Das Arbeiten mit Mustern und Strukturenist vielen Schulerinnen und Schulern bereits aus der Volksschule bekannt. Dort werden bereitserste Gesetzmaßigkeiten anhand von Zahlenmustern (siehe Abbildung D.12) untersucht.

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§1. FOLGEN 49

Abb. D.12: Zahlenmuster aus Wittmann et al. (2004)

In den deutschen, englischen und amerikanischen Bildungsstandards wird das auch explizitdeutlich gemacht.

• Deutschland, Primarstufe5:

– Gesetzmaßigkeiten in geometrischen und arithmetischen Mustern (z. B. in Zahlen-folgen oder strukturierten Aufgabenfolgen) erkennen, beschreiben und fortsetzen,

– arithmetische und geometrische Muster selbst entwickeln, systematisch verandernund beschreiben.

• US, Grade 3-56 :

– describe, extend, and make generalizations about geometric and numeric patterns;– represent and analyze patterns and functions, using words, tables, and graphs.

• UK, Primary School7:

– Pupils recognise and describe number patterns, and relationships including multi-ple, factor and square. They begin to use simple formulae expressed in words.

In der Unterstufe haben die Schulerinnen und Schuler eventuell Pythagorasbaume und kreis-formige Muster konstruiert und untersucht – dies kann hier erneut aufgegriffen und fortgesetztwerden, siehe Abbildung D.13, D.14 und D.15.

5https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen beschluesse/2004/2004 10 15-Bildungsstan

dards-Mathe-Primar.pdf6https://www.nctm.org/Standards-and-Positions/Principles-and-Standards/Algebra/7http://www.cliftonprimary.bham.sch.uk/pdfs/ageexpectations/maths-l45.pdf

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50 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Abb. D.13: Pythagorasbaum Abb. D.14: Kreismuster

Aufgabenstellung: Schlangenlinie. Kon-struiere mit Zirkel und Lineal oder mit ei-nem elektronischen Tool die abgebildete Fi-gur. Beginne mit einem Halbkreis oberhalbeiner Hilfslinie. Hange daran einen Halbkreismit halb so großem Radius unterhalb derHilfslinie. Setze die Konstruktion so langewie moglich fort. Wie viel Platz benotigst dufur die Konstruktion maximal? Abb. D.15: Schlangenlinien

Ubungsaufgabe.

21 Zahlenfolgen aus geometrischen Konstruktionen. In der Vorlesung wurde kurz dieAufgabenstellung Schlangenlinie thematisiert. Entwickeln Sie eine analoge Aufgabenstellungund arbeiten Sie eine Losungserwartung aus.

§1.3.2 Erarbeitung (Phase 2)

Bei der Erarbeitungsphase werden Umfang und Inhalt des Begriffs herausgearbeitet. Dazuzahlen:

• Explizite und rekursive Darstellung von Folgen• Grafische Darstellung von Folgen auf der Zahlengeraden und im Koordinatensystem• Arithmetische und geometrische Folge• Eigenschaften von Folgen (Monotonie und Beschranktheit)

1.3.6. Explizite und rekursive Darstellung von Folgen.

Beim Erarbeiten der expliziten und rekursiven Darstellung von Folgen kann auf aufwendigeaußermathematische Kontexte verzichtet werden, da das algebraische Beschreiben von Folgenim Vordergrund steht. Zuerst allerdings mussen die fur Folgen typischen Schreibweisen undBegriffe (Glied einer Folge, Bedeutung der Indizes, endliche/unendliche Folge, ...) eingefuhrtwerden.

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§1. FOLGEN 51

Aufgabenstellung. Ein unendliche Folge ist durch 〈1, 4, 9, 16, ...〉 gegeben.

• Beschreibe das Bildungsgesetz der Zahlenfolge mit Worten.Losungserwartung:

”Es handelt sich um Quadratzahlen.” oder

”Ausgehend vom ersten

Folgenglied mit dem Wert 1 entstehen die weiteren Folgenglieder durch Addition derungeraden Zahlen 3, 5, 7, . . . .”• Gib zwei mogliche Bildungsgesetze an.

Losungserwartung:”Explizite Darstellung: an = n2” oder

”Rekursive Darstellung: a1 =

1, an+1 = an + (2n+ 1)”

1.3.7. Grafische Darstellung von Folgen. Zur grafischen Darstellung von Folgen bietensich (wie in 1.1.6 erklart) die Zahlengerade und das zweidimensionale Koordinatensystem an.

Abb. D.16: Bild einer Folge, Spaziergang

Abb. D.17: Graph einer Folge

Beide Formen der Darstellung sind den Schulerinnen und Schulern bereits bekannt. Die Zah-lengerade wird von der Volksschule bis zur 9. Schulstufe zur Darstellung von Zahlen genutzt.Die zweidimensionale Darstellung von Folgen wird Schulerinnen und Schulern vom Arbeitenmit Funktionen her vertraut sein. Insgesamt konnen die rekursive und explizite Darstellungmit der grafischen Darstellung gemeinsam erarbeitet werden.

1.3.8. Arithmetische und geometrische Folge. Beim Erarbeiten der Begriffe arithme-tische und geometrische Folge geht es einerseits um das Entdecken gewisser Merkmale vonFolgen sowie um das Erkunden dieser beiden Folgenarten. Wir klaren zuerst die mathemati-schen Fakten.

Mathematische Faktenbox 4: Arithmetische und geometrische Folge

1.3.9. Definition (Arithmetische Folge). Eine arithmetische Folge ist eine reelle Fol-ge (an) mit der Eigenschaft, dass die Differenz zweier benachbarter Folgenglieder konstantist.

Aus der Definition gewinnt man sofort die rekursive Darstellung (n ∈ N)

an+1 = an + d, (D.16)

wobei wir die konstante Differenz zwischen je zwei benachbarten Folgengliedern d genannthaben. Daraus ergibt sich wiederum muhelos die explizite Darstellung, wobei wir dasAnfangsglied mit a0 bezeichnen

an = a0 + n · d. (D.17)

Eine arithmetische Folge ist also durch Angabe des Anfangsglieds a0 und der konstantenDifferenz benachbarter Folgenglieder d eindeutig festgelegt.

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52 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Mathematische Faktenbox 4 – Fortsetzung

Beachte, dass die beiden Darstellungen Spezialfalle der rekursiven Darstellung (D.5) bzw.der expliziten Darstellung (D.13) aus Abschnitt D.§1.2 fur r = 1 sind.

1.3.10. Definition (Geometrische Folge). Eine geometrische Folge ist eine reelle Fol-ge (an) mit der Eigenschaft, dass der Quotient zweier benachbarter Folgenglieder konstantist.

Wiederum ergibt sich muhelos die rekursive sowie die explizite Darstellung zu (n ∈ N)

an+1 = an · r, und an = a0 · rn (D.18)

und eine geometrische Folge ist eindeutig bestimmt durch Angabe ihres Anfangsglieds a0und des konstanten Quotienten benachbarter Folgenglieder r.Wiederum sind die beiden Darstellungen Spezialfalle von (D.5) bzw. (D.13), nun mitd = 0.

Ubungsaufgabe.

22 Arithmetische und geometrische Folge. Wahlen Sie aus zwei verschiedenen Schul-buchern die Definitionen fur arithmetische und geometrische Folge sowie fur deren rekursiveund explizite Darstellung aus. Vergleichen Sie schulmathematische und hochschulmathemati-sche Schreibweisen. Zeigen Sie Gemeinsamkeiten/Unterschiede auf.

Zum Erfassen der Merkmale arithmetischer und geometrischer Folgen im Unterricht bietet sichdas sogenannte entdeckende Lernen an, siehe (Bruner, 1981). Dabei wird den Schulerinnenund Schulern eine Vielfalt von Objekten dargeboten, die bestimmte Merkmale gemeinsamhaben bzw. sich in bestimmten Merkmalen unterscheiden. Fragen nach Gemeinsamkeitenund Unterschieden lenken die Aufmerksamkeit auf die Merkmale. Dabei kann nach folgendenbeiden Prinzipien vorgegangen werden, in Anlehnung an Dienes and Golding (1970):

FdPw-Box 12: Prinzip der Variation

Beim Lehren von Begriffen nach dem Prinzip der Variation sind genugend viele verschie-dene Objekte vorzulegen, die das charakteristische Merkmal des Begriffs gemeinsam ha-ben und das Wesentliche dieses Begriffs herauszuarbeiten. Dabei sollten die Schulerinnenund Schuler zumindest zu zweit zusammenarbeiten, um ihre Entdeckungen auszutau-schen. Mit Plakaten oder auch im Plenum sind abschließend die entdeckten Merkmalezu sammeln und von der Lehrperson gegebenenfalls zu erganzen. (ICH-DU-WIR bzw.Think-Pair-Share: http://www.sinus-transfer.de/module/modul 8kooperatives l

ernen/methoden/ich du wir.html)

Die nachstehende Aufgabenstellung kann z.B. gemaß diesem Prinzip fur die Erarbeitungarithmetischer Folgen herangezogen werden. Fur geometrische Folgen konnen analoge Auf-gabenstellungen formuliert oder den Schulbuchern entnommen werden. Entscheidend ist, dieLeitfragen so zu stellen, dass die Lernenden zu den entdeckenden Merkmalen geleitet werden.

Aufgabenstellung. Gegeben sind die drei Zahlenfolgen an = 〈−7,−3, 1, 5, 9, . . . 〉, bn =〈2; 2, 5; 3; 3, 5; 4; . . . 〉 und cn = 16–2n.

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§1. FOLGEN 53

• Stelle die drei Folgen auf der Zahlengeraden und im Koordinatensystem dar.• Gib sowohl rekursive als auch explizite Darstellungen an.• Beschreibe, wodurch sich zwei aufeinander folgende Glieder unterscheiden und vergleiche

mit der rekursiven und expliziten Darstellung.

Losungserwartung.

an bn cn

a1 = −7, an+1 = an + 4 b1 = 2, bn+1 = bn + 0, 5 c1 = 12, cn+1 = cn–2

an = −11 + 4n bn = 1, 5 + 0, 5n cn = 16–2n

Die Differenz zweier aufein-anderfolgender Glieder ist 4.

Die Differenz zweier aufein-anderfolgender Glieder ist0,5.

Die Differenz zweier aufein-anderfolgender Glieder ist -2.

Dieser Wert findet sich inder rekursiven und explizi-ten Darstellung.

Dieser Wert findet sich inder rekursiven und explizi-ten Darstellung.

Dieser Wert findet sich inder rekursiven und explizi-ten Darstellung.

Bei der Darstellung dieser Folgen im Koordinatensystem wird fur die Schulerinnen undSchuler, die ja bereits mit linearen Funktionen vertraut sind, sichtbar, dass die Folgenglieder

”gleichmaßig” wachsen/fallen. Auch die Analogie der expliziten Darstellungen zur linearen

Funktion werden die Lernenden entdecken. Die dort schon kennen gelernten Parameter k undd, finden sich auch in der expliziten Darstellung wieder und sind nun im Zusammenhang vonFolgen zu interpretieren.

Ubungsaufgabe.

23 Geometrische Folge nach dem Prinzip der Variation. In der Vorlesung wurdeanhand einer Aufgabenstellung gezeigt, wie nach dem Prinzip der Variation arithmetischeFolgen erarbeitet werden konnen. Arbeiten Sie in Analogie dazu eine Aufgabe zur Erarbeitunggeometrischer Folgen sowie eine Losungserwartung aus.

Sobald die Schulerinnen und Schuler die charakteristischen Eigenschaften von arithmetischenFolgen erkennen und formulieren konnen, ist es ihnen auch moglich arithmetische Folgen

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54 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

selbststandig zu definieren. Dazu benotigen die Lernenden ein wenig Ubung und mussenwissen, dass sie Oberbegriffe (z.B. Zahlenfolge) zur Definition (hier arithmetische Folge) ver-wenden sollen. Auch Signalworter (

”. . . nennt man . . . ”,

”. . . bezeichnet man als . . . ”,

”. . . so

sagt man . . . ”,”. . . wird als ... bezeichnet.”) helfen den Schulerinnen und Schulern beim

selbststandigen Definieren.In der Erarbeitsungsphase von Begriffen bietet sich aber neben dem Prinzip der Variation auchdas Prinzip des Kontrasts an. Es setzt, wie der Name schon sagt, an den kontrastierendenMerkmalen der Begriffe an.

FdPw-Box 13: Prinzip des Kontrasts

Beim Lehren von Begriffen gemaß dem Prinzip des Kontrasts sind ebenso ausreichend vie-le Objekte vorzulegen, bei denen das charakteristische Merkmal nun eben nicht gegebenist. Zum Begriff, der erarbeitet werden soll, sind also geeignete Beispiele und Gegen-beispiele (Kontrastmaterial) vorzulegen. Die Gegenbeispiele sollen sich hierbei vom zuerarbeitenden Begriff nur in einem wesentlichen Merkmal unterscheiden.

Fur die Unterrichtsplanung und -gestaltung gilt es die beiden Prinzipien (Variation/Kontrast)abwechselnd zu nutzen. Fur die Erarbeitung der Begriffe arithmetische und geometrische Folgegemaß dem Prinzip des Kontrasts konnten beispielsweise in einer Aufgabenstellung wie oben

• arithmetische und geometrische Folgen oder• arithmetische/geometrische und alternierende (die Folgenglieder sind abwechselnd po-

sitiv und negativ) Folgen angegeben werden.

Auch hier es wichtig, dass von der Lehrperson Fragestellungen fur die Schulerinnen undSchuler formuliert werden, die deren Aufmerksam auf die charakteristischen Merkmale (undderen Unterschiede) lenken.

Nach der Erarbeitung der Definition von arithmetischen und geometrischen Folgen (gemaßeinem der oben ausgefuhrten Prinzipien) ist es wichtig, die arithmetische und geometrischeFolge in unterschiedlichen Aufgabenstellungen (inner- und außermathematisch) anzuwendenund somit weitere Grunderfahrungen zu ermoglichen.

Ubungsaufgabe.

24 Geometrische Folge nach dem Prinzip des Kontrasts. Arbeiten Sie eine Auf-gabenstellung zur Erarbeitung geometrischer Folgen aus, die auf dem Prinzip des Kontrastsberuht. Erstellen Sie weiters eine Losungserwartung.

1.3.11. Eigenschaften von Folgen — Monotonie und Beschranktheit. Ein weite-re Aspekt der Erarbeitungsphase (Phase 2) ist das Ausloten (einfacher) Eigenschaften vonFolgen, die naturlich im Kontext etwa von Beispielen auftreten. Wir wiederholen zuerst diemathematischen Begriffe.

Mathematische Faktenbox 5: Monotone Folgen

1.3.12. Definition (Monotonie). Eine reelle Folge (an) heißt

(1) (streng) monoton wachsend oder steigend, falls fur alle n ∈ N

an ≤ an+1 (an < an+1) gilt. (D.19)

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§1. FOLGEN 55

Mathematische Faktenbox 5 – Fortsetzung

(2) (streng) monoton fallend, falls fur alle n ∈ N

an ≥ an+1 (an > an+1) gilt. (D.20)

(3) Falls es ein N ∈ N gibt, sodass (D.19) oder (D.20) nur fur alle n ≥ N gilt, so sagenwir (an) hat die entsprechende Eigenschaft ab N .

1.3.13. Beispiel (nicht-monotone Folgen).

(1) an = n ist streng monoton wachsend. Jede konstante Folge, d.h. an = c fur einc ∈ R ist monoton wachsend und monoton fallend; keine der beiden Eigenschaftenist aber streng erfullt.

(2) an = 1n (n ≥ 1) ist streng monoton fallend. Die Folge a0 = 17, a1 = 27, an = 1

n(n ≥ 2) ist streng monoton fallend ab n = 2.

(3) Die”Vorzeichenmaschine” an = (−1)n ist weder monoton wachsend noch monoton

fallend.

Ubungsaufgaben.

25 Monotone Folgen 1. Stelle alle Folgen in Beispiel 1.3.13 graphisch auf beide Artendar und argumentiere die behaupteten Monotonieeigenschaften.

26 Monotone Folgen 2. Finde je eine reelle Folge, die monoton wachsend, monoton fal-lend ab N = 5, monoton wachsend aber nicht streng monoton wachsend, und weder monotonwachsend noch fallend ist.

Mathematische Faktenbox 6: Beschrankte Folgen

1.3.14. Definition (Beschrankte Folge). Sei (an) eine reelle Folge.

(1) (an) heißt nach oben (bzw. nach unten) beschrankt, falls es eine reelle Zahl K gibt,sodass fur alle n ∈ N

an ≤ K (bzw. an ≥ K ) gilt. (D.21)

Jedes solche K heißt obere (bzw. untere ) Schranke von (an).(2) Ist eine Folge nicht nach oben (bzw. unten) beschrankt (gibt es also kein solches

K), dann heißt sie nach oben (bzw. unten) unbeschrankt.(3) Ist eine Folge (an) sowohl nach oben als auch nach unten beschrankt, so heißt sie

beschrankt.

Eine beschrankte Folge (an) ist”eingesperrt”; es gilt ja nach Definition, dass es ein C

gibt, sodass fur alle n

− C ≤ an ≤ C, also |an| ≤ C gilt. (D.22)

So ein C erhalt man z.B. als C = max{|K1|, |K2|} wobeiK1 untere undK2 obere Schrankevon (an) ist.

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56 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Mathematische Faktenbox 6 – Fortsetzung

Abbildung D.18 zeigt die graphische Darstellung einer beschrankte Folge in den beidenVeranschaulichungen von 1.1.6.

1.3.15. Beispiel (un-beschrankte Folgen).

(1) an = n ist nach unten durch K = 0 beschrankt (aber etwa auch durch −5, nichtaber durch 1) und nach oben unbeschrankt.

(2) an = 1n (n > 0) ist beschrankt. Nach oben ist die durch 1 beschrankt (aber auch

durch 7 oder 17), nach unten durch 0.

1.3.16. Bemerkung (Monotonie und Schranken). Eine monoton wachsende Folge(an), die zusatzlich nach oben beschrankt ist, ist schon beschrankt. Klar, denn sei Kobere Schranke, dann gilt mit der Monotonie

a0 ≤ a1 ≤ · · · ≤ K. (D.23)

Es ist eine fundamental wichtige Tatsache, dass solche Folgen sogar konvergieren, wie wirspater diskutieren werden.

Der Begriff der Monotonie sowie das Untersuchen von Funktionen hinsichtlich ihres Monoto-nieverhaltens ist den Schulerinnen und Schulern der 10. Schulstufe bereits bekannt. Ein kurzesAuffrischen der damit verbundenen Vorkenntnisse und Fahigkeiten ist empfehlenswert.

Auch die Monotonie und Beschranktheit kann mit dem Prinzip der Variation bzw. dem Prinzipdes Kontrasts erarbeitet und eine Definition vorgenommen werden.

Abb. D.18: Bild (oben) und Graph(links) einer beschrankten Folge

Die Prazisierung der Begriffe”kleinste obere Schranke“ und

”großte untere Schranke“ muss

von der Lehrperson angeleitet werden. Tatsachlich handelt es sich dabei um mathematischnicht ganz einfache Begriffe!

Mathematische Faktenbox 7: Supremum und Infimum

In naturlicher Weise stellt sich die Frage nach der”besten” oberen bzw. unteren Schranke

einer Folge. Das fuhrt auf die Begriffe Supremum und Infimum, die praktischer Weisegleich allgemein fur Teilmengen von R (statt spezielle fur die Menge der Folgenglieder

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§1. FOLGEN 57

Mathematische Faktenbox 7 – Fortsetzung

{an : n ∈ N} einer Folge (an)) definiert werden.

1.3.17. Definition (Supremum und Infimum). Sei M ⊆ R. Eine Zahl s ∈ R heißtSupremum oder kleinste obere Schranke von von M , falls

(1) s obere Schranke von M ist (d.h. s ≥ x ∀x ∈M), und(2) keine Zahl r < s obere Schranke von M ist.

Wir schreiben dann s = supM . Der Begriff des Infimums ist analog definiert und wirschreiben inf M .

Das Supremum einer reellen Folge (an) ist definiert als

sup(an) := sup{an : n ∈ N}, (D.24)

also als das Supremum der Menge der Folgenglieder. Das Infimum einer reellen Folgeist analog definiert. Graphisch konnen wir Supremum und Infimum einer Menge wie inAbbildung D.18 (links) darstellen.

1.3.18. Beispiel (Supremum und Infimum).

(1) inf N = 0 und N hat kein sup.(2) inf((0, 1]) = 0 = inf([0, 1]) und sup((0, 1]) = 1 sup([0, 1])(3) sup((1/n)n≥1) = 1, inf((1/n)n≥1) = 0

1.3.19. Bemerkung (Supremum und Infimum).

(1) Offensichtlich muss eine Menge M ⊆ R nach oben beschrankt sein, um ein Su-premum besitzen zu konnen. Die Tatsache, dass jede nichtleere und nach obenbeschrankte Menge ein Supremum besitzt (also die sogenannte Supremumsei-genschaft) ist fundamental fur die ganze Analysis und wir werden noch daraufzuruckkommen.

(2) Zunachst einmal halten wir fest, dass Suprema und Infima, falls sie existieren, ein-deutig bestimmt sind. (Das folgt leicht aus der Definition: Seien s und s′ Supremavon M , dann folgt aus 1.3.17(1), dass beide obere Schranken sind. Daher kann nach1.3.17(2) weder s′ < s noch s < s′ gelten, also folgt s = s′.) Daher ist es immerlegitim von dem Supremum oder dem Infimum einer Menge zu sprechen.

(3) Bei allem oben Gesagten ist es vollig egal, ob supM oder inf M Elemente der MengeM sind oder nicht! Ist dies der Fall, d.h. gilt s = supM ∈ M (s = inf M ∈ M) sosagt man s ist Maximum (Minimum) von M und schreibt s = maxM (s = minM).

1.3.20. Beispiel (Maximum und Minimum).

(1) minN = 0 und N hat kein max.(2) max((0, 1]) = 1 = max([0, 1]), min([0, 1]) = 0 aber (0, 1] hat kein min.(3) max((1/n)n≥1) = 1, aber (1/n)n≥1) hat kein min.

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58 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Ubungsaufgaben.

27 Zum Infimum.

(a) Formulieren Sie eine Definition des Infimums einer Teilmenge M von R.(b) Geben Sie eine moglichst anschauliche Erklarung, was inf(M) ist.(c) Kommentieren Sie die folgende Aussage und belegen Sie sie mit Beispielen:

”Supremum

und Infimum beschrankter Mengen M ⊆ R sind der immer verfugbare Ersatz fur dasnur allzu haufig fehlende Maximum und Minumum.“

28 Supremum, Maximum, Infimum, Minimum. Stellen Sie die obigen Beispiele 1.3.18und 1.3.20 graphisch dar, d.h. falls existent, stellen Sie Supremum, Maximum, Infimum bzw.Minimum von N, (0, 1], [0, 1] und (1/n)n≥1 graphisch dar. Erfinden Sie zwei weitere Aufgaben,eine leicht und eine schwierige.

Fur die algebraischen Umformungen zum Nachweis der Monotonie und Beschranktheit wirddas Losen von Ungleichungen benotigt. Diese Fertigkeiten sollten die Schulerinnen und Schulerschon vorher (ebenfalls in der 10. Schulstufe) erworben haben.

Fur die verstehensorientierte Erarbeitung von Verfahren im Allgemeinen bzw. Losungsverfahrenim Konkreten halt die Mathematikdidaktik ein Schema bereit. Denn grundsatzlich gilt, dass(Losungs-)Verfahren mit den Lernenden zu erarbeiten sind. D. h. es braucht im Unterrichtan solchen Stellen mehr als das bloße Vorzeigen der einzelnen Abarbeitungsschritte. Das Er-arbeiten von Losungsverfahren erfolgt also am besten gemaß der nachstehenden Schrittfolge.

FdPw-Box 14: Erarbeitung von Losungsverfahren

Beim Erarbeiten von Losungsverfahren gilt es,

• die Schrittfolgen, die abzuarbeiten sind, zu begrunden und deutlich zu machen,• die Beitrage der einzelnen Losungsschritte auf das Ziel hin deutlich zu machen,• mit zunehmendem Alter die Losungsschritte so zu notieren, dass sie als Algorithmen

durch einen Computer ausgefuhrt werden konnen,• die Lernenden anzuhalten, uber alternative Verfahren/Weg nachzudenken.

Zu guter Letzt mussen die so einsichtig gemachten Verfahren von den Schulerinnen undSchulern angewendet und gelernt werden.

Das folgende Beispiel D.19 zeigt, wie im Schulbuch (Bleier et al., 2018) versucht wird, dasLosungsverfahren zumindest ein stuckweit fur Schulerinnen und Schuler einsichtig zu machen.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§1. FOLGEN 59

Abb. D.19: Losungsverfahren - Dimensionen Mathematik 6, 2018

Auch hier - also nach der Erarbeitung des Verfahrens - empfiehlt es sich auch diese Begriffedies wiederum in inner- und außermathematischen Aufgabenstellungen anzuwenden.

1.3.21. Bemerkung (Umformungen — Stil und Fallen). Formulierungen wie im Beweisin D.19 sind in der Schul(buch)literatur ublich, aber nicht optimal. Fuhrt man den Beweisgemaß der obigen Fußnote aus, ergibt sich etwa folgende Darstellung:

Um die vermutetet Monotonie, also an < an+1 fur alle n ∈ N∗ zu zeigen, mussenwir

2n− 1

n<

2(n+ 1)− 1

n+ 1fur alle n ∈ N∗ (D.25)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

60 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

nachweisen. Wir schreiben also

2n− 1

n

?<

2(n+ 1)− 1

n+ 1| · n · (n+ 1)

(2n− 1)(n+ 1)?< (2n+ 1)n | ausmultiplizieren

2n2 + n− 1?< 2n2 + n | − 2n2

n− 1?< n.

Die letzte Aussage ist offensichtlich korrekt und weil alle Umformungen in unse-rer Rechnung Aquivalenzumformungen sind, konnen wir aus der korrekten letztenZeile auf die Gultigkeit der ersten Zeile schließen. Damit ist die behauptete Mo-notonie nachgewiesen.

Der mathematische Hintergrund ist hier der folgende: Nach den Regeln der Logik, implizierenfalsche Aussagen durchaus wahre Aussagen (naturlich auch falsche, aber um das geht es unshier nicht). Man sagt

”Ex falso [sequitur] quodlibet“ — Lateinisch fur:

”aus Falschem [folgt]

Beliebiges“, siehe etwa (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn. 3.2.2.1). Daher konnen wir imobigen Beispiel die Monotonie nicht dadurch nachweisen, dass wir aus der vermuteten undzu zeigenden Ungleichung eine wahre Aussage herleiten: Das ware ja auch moglich, falls dievermutetet Aussagen falsch ist!Im obigen Beispiel geht alles gut, da tatsachlich nur Aquivalenzumformungen verwendet wer-den und daher aus der offensichtlich korrekten Aussage in der letzten Zeile die zu beweisendeUngleichung in der ersten Zeile folgt und diese damit ebenfalls korrekt ist.

Es muss aber nicht immer alles gut ausgehen! Beispiele von Fallgruben finden sich etwa in denfolgenden Ubungsaufgaben oder in (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn. 2.4), siehe auch

ä Video Gleichungsumformungen: Stil und Fallen .

Ubungsaufgabe.

29 Umformungen: Stil und Fallen. Kommentieren Sie die folgenden Beweise. Sindsie korrekt? Sind die behaupteten Aussagen korrekt? Stellen Sie gegebenenfalls die Aussagerichtig und beweisen Sie diese in gutem Stil.

(a) Behauptung: Fur alle n ∈ N gilt n2 − 3n− 4 > n2 − 4n.Beweis:

n2 − 3n− 4 > n2 − 4n

(n+ 1)(n− 4) > n(n− 4)

n+ 1 > n w.A.

(b) Behauptung: Fur n ≥ 1 gilt 1− n2 ≥ n(n− 1)Beweis:

1− n2 ≥ n(n− 1) |2

A1− 2n2 +��n4 ≥ n2(n2 − 2n+ 1) = n4 − 2n3 + n2 ≥ ��n4 − 2n3 + A1 weil n2 ≥ 1

−2n2 ≥ −2n3

n2 ≤ n3

1 ≤ n w.A.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§1. FOLGEN 61

§1.3.3 Sicherung (Phase 3)

Auch wenn bereits wie oben ausgefuhrt die unterschiedlichen Begriffe nach ihrer Einfuhrungangewendet wurden, gilt es, eine explizite Phase der Sicherung im Unterricht zu implemen-tieren. Diese Phase der Sicherung beginnt mit dem Sammeln, Ordnen und Strukturieren derneu erworbenen Begriffe z. B. in Form einer Mindmap, Conceptmap (siehe beispielsweise:http://www.ahs-vwa.at/pluginfile.php/2981/mod page/content/106/Concept%20

Map NEU.pdf) oder Begriffslandkarte (siehe beispielsweise: http://www.pfm.ehb-schweiz1.ch/fileadmin/Schienen/CAS PFM 3 BL/Concept Map-2 01.pdf). Nach dem Sammeln,Ordnen und Strukturieren werden Beispiele und Gegenbeispiele behandelt, so dass der Begriff(auch) gegen andere Begriffe abgegrenzt wird.

§1.3.4 Vertiefung (Phase 4)

In der Vertiefungsphase werden Querverbindungen zu anderen Begriffen hergestellt und eskonnen auch Spezialfalle betrachtet werden.

1.3.22. Querverbindung – Folgen als Funktionen uber N bzw. N∗. Im Sinne der Quer-verbindung zu anderen Begriffen konnen nun Folgen als Funktionen uber IN bzw. IN* behan-delt werden. Gemaß dem oben beschriebenen Unterrichtsgang ergibt sich der Zusammenhangzwischen arithmetischen Folgen und linearen Funktionen sowie der zwischen geometrischenFolgen und Exponentialfunktionen ganz naturlich.

1.3.23. Spezialfall — n!. Als Spezialfall kann die Folge a0 = 1, an+1 = an(n + 1) furn = 0, 1, 2, . . . betrachtet und mit der expliziten Darstellung an = 1 · 2 · 3... · (n − 1) · n vonn! erarbeitet werden.

§1.4 Aspekte und Grundvorstellungen zum Folgenbegriff

Auch in diesem letzten Abschnitt werfen wir einen informierten Blick zuruck und verwen-den die Terminologie der Aspekte und Grundvorstellungen (siehe Abschnitt B), um unserefachdidaktische Diskussion des Folgenbegriffs abzurunden.

§1.4.1 Aspekte des Folgenbegriffs

Beim Folgenbegriff lassen sich drei verschiedene Aspekte unterscheiden. Es sind dies derAufzahlungsaspekt, der Zuordnungsaspekt und der Iterationsaspekt.

1.4.1. Der Iterationsaspekt bzw. Rekursionsaspekt. Wie bereits in 1.2.2 erklart,spricht man von einer rekursiven Darstellung einer Folge (an), wenn die einzelnen Folgen-glieder mit Hilfe ihres Vorgangers (oder auch mehrerer Vorganger) angegeben werden. DerEinfachheit halber besprechen wir hier nur ersteren Fall und formulieren genauer: Gegebenist ein Startwert a0 und eine Vorschrift, wie aus an sein Nachfolger an+1 konstruiert werdenkann. Diese

”Vorschrift“ konnen wir mit Hilfe einer Funktion f : R → R weiter formalisie-

ren. Dann sind fur alle n ≥ 1 die Folgenglieder mittels an+1 = f(an) gegeben und die ganzeIterationsfolge nimmt die Form

a0, a1 = f(a0), a2 = f(a1), a3 = f(a2), ...

an. Weniger formal halten wir fest:

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

62 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

FdPw-Box 15: Iterationsaspekt bzw. Rekursionsaspekt des Folgenbegriffs

Jedes Folgenglied (außer dem ersten) wird sukzessive aus seinem Vorganger (seinenVorgangern) konstruiert.

Mit digitalen Werkzeugen lasst sich die Idee der Iteration besonders gut im Mathematikun-terricht zeigen, da aus dem Anfangsglied und der Iterationsvorschrift die rekursiv definierteFolge erzeugt werden kann.

Der Iterationsaspekt kann den Schulerinnen und Schulern durchaus bereits vertraut, z.B. ausder Zinseszinsberechnung und der Bearbeitung von Dreieckszahlen. Besonders wichtig ist beimIterationsaspekt, dass die Schulerinnen und Schuler eine funktionale Beziehung zwischen zweiFolgengliedern gesehen wird.

1.4.2. Der Aufzahlungsaspekt.

FdPw-Box 16: Aufzahlungsaspekt des Folgenbegriffs

Eine Folge wird als sukzessive Auflistung, Aneinanderreihung, Reihenfolge oderAufzahlung von Zahlen oder Objekten betrachtet.

Beim Aufzahlungsaspekt handelt sich um einen Aspekt des Folgenbegriffs, der Schulerinnenund Schulern aus vielfaltigen (Alltags-)Erfahrungen bereits seit langem vertraut ist. Wichtigist im Zusammenhang mit dem Aufzahlungsaspekt, dass die Objekte nicht in einer beliebigenReihenfolge aufgezahlt werden, sondern dass das Ordnen und Auflisten in Form einer Rei-henfolge erfolgt. So konnen Spielkarten beispielsweise nach ihrer Wertigkeit geordnet werden:Herz-Bube, Herz-Dame, Herz-Konig, Herz-As. Wahrend geometrische Figuren beispielsweisenach ihrer Eckenanzahl geordnet werden konnen: Dreieck, Viereck, Funfeck, Sechseck, ... Dasgeordnet Auflisten dient dem Erkennen von Eigenschaften.

1.4.3. Der Zuordnungsaspekt.

FdPw-Box 17: Zuordnungsaspekt des Folgenbegriffs

Eine Folge ist eine Funktion, die jeder naturlichen Zahl einen Funktionswert zuordnet.

Dieser Aspekt wird in Anbetracht der mathematischen Faktenbox 3: Folgen wenig uberraschen,Folgen lassen sich ja als (spezielle) Funktionen interpretieren, ja wir haben sie sogar als solchedefiniert: Jeder naturlichen Zahl k wird ein Wert ak Element aus R zugeordnet. Der Zuord-nungsaspekt lasst sich wie schon bei Funktionen an Tabellen und Graphen veranschaulichen.

Mathematisch gesprochen ist der Zuordnungsaspekt charaktersisierend und wird in der Ana-lysis verwendet, um den Folgenbegriff zu definieren. Der Aufzahlungsaspekt ist eine etwasweniger formale Beschreibung desselben Inhalts. Der Rekursionsaspekt hingegen ist nicht cha-raktersisierend — nicht jede Folge kann rekursiv angegeben werden, z.B. die Folge der Prim-zahlen. Nichtsdestotrotz sind rekursive Folgen fundamental wichtige mathematische Objekteund die Formulierung von (diskreten) Iterationsprozessen mittels des Folgenbegriffs drangtsich in naturlicher Weise auf und ist eine zentrale Maotivation fur den Folgenbegriff, vgl. 1.2.1.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§1. FOLGEN 63

§1.4.2 Grundvorstellungen zum Folgenbegriff

Wir haben bereits in Abschnitt C.§4.1 Grundvorstellungen zum Funktionsbegriff erlautert.Alle drei (Zuordnungs-, Kovariations- und Objektvorstellung) konnen auf den Folgenbegriffubertragen werden und eine weitere – vierte – Grundvorstellung kommt hinzu.

1.4.4. Reihenvorstellung zum Folgenbegriff. Dieser ersten Grundvorstellung begeg-nen wir bereits in der Aufgabenstellung Koffeingehalt einer Kaffeeliebhaberin, dort wird dieEntwicklung des Koffeingehalts durch eine Aneinanderreihung der zunehmenden Koffeinge-halte beschrieben. Aus der anfanglich zugenommen Koffeinmenge ergeben sich sukzessive dienachfolgenden. Und jeder vollen Stunde wird genau ein bestimmter Koffeingehalt zugeord-net. Damit wird deutlich, dass diese Grundvorstellung auf dem Iterations-, Aufzahlungs- undZuordnungsaspekt beruht. Sie wird wie folgt formuliert.

FdPw-Box 18: Reihenvorstellung zum Folgenbegriff

Eine Folge wird als Aneinanderreihung von Objekten in einer bestimmten Reihenfolgeangesehen.

1.4.5. Kovariationsvorstellung zum Folgenbegriff. Auch die Kovariationsvorstellungbaut auf dem Funktionsbegriff auf, beim Folgenbegriff liegt allerdings eine lokale Zuordnungvon einem Folgenglied zum nachsten zugrunde.

FdPw-Box 19: Kovariationsvorstellung zum Folgenbegriff

Eine Folge erfasst, wie sich Werte von einem Folgenglied zum nachsten andern.

Besonders gut sichtbar wird die Kovariation (Anderung) im Unterricht in der rekursiven Dar-stellung von arithmetischen geometrischen Folgen. Arithmetische Folge: a1 und an+1 = an+d;Geometrische Folge: a1 und an+1 = an · q. Damit wird auch deutlich, dass die Kovariations-vorstellung eng auf den Iterationsaspekt bezogen ist.

Die Kovariationsvorstellung zeigt sich aber auch schon bei der Aufzahlung von Folgengliedern.Z.B. 〈1, 2, 4, 8, 16, 32, . . . 〉. D. h. die Kovariationsvorstellung steht auch in Zusammenhang mitdem Aufzahlungsaspekt.

1.4.6. Zuordnungsvorstellung zum Folgenbegriff. Die Zuordnungsvorstellung baut un-mittelbar auf dem Zuordnungsaspekt auf. Wie schon bei Funktionen wird sie besonders gutan grafischen Darstellungen und Wertetabellen sichtbar. Sie wird wie folgt formuliert.

FdPw-Box 20: Zuordnungsvorstellung zum Folgenbegriff

Eine Folge ordnet jeder naturlichen Zahl ein Folgenglied zu.

1.4.7. Objektvorstellung zum Folgenbegriff. Auch diese Grundvorstellung wurde bereitsfur Funktionen erlautert und dort schon als die abstrakteste Grundvorstellung bezeichnet.Analoges gilt fur die Objektvorstellung des Folgenbegriffs. Sie wird wie folgt formuliert.

FdPw-Box 21: Objektvorstellung zum Folgenbegriff

Eine Folge wird als Ganzes betrachtet.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

64 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Insgesamt also kann der Zusammenhang zwischen den Aspekten und Grundvorstellungen desFolgenbegriffs wie folgt D.20 dargestellt werden.

Iterationsaspekt

Aufzahlungsaspekt

Zuordnunsaspekt

Reihenfolgenvorstellung

Kovariationsvorstellung

Zuordnungsvorstellung

Objektvorstellung

Abb. D.20: Aspekte und Grundvorstellungen zum Folgenbegriff und ihre wechselweisen Be-ziehungen

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 65

§2 Der Grenzwertbegriff8

In diesem Abschnitt besprechen wir den zentralen Begriff der Analysis, den Grenzwertbegriff.Wie angekundigt nahern wir uns dem Begriff uber eine Iteration.

§2.1 Von der Iteration zum Grenzwertbegriff

Wie versprochen, werden wir in diesem Abschnitt uber das Betrachten eines Iterationsprozes-ses, genauer der naherungsweisen Berechnung von Quadratwurzeln in ganz naturlicher Weiseauf den Grenzwertbegriff gefuhrt. Tatsachlich ist im Abschnitt D.§1 der Grenzwertbegriffschon mehrmals am Horizont aufgetaucht. Hier machen wir das explizit; aber nicht nur das!Wir werden sogar in ganz naturlicher Weise auf die formale Definition des Grenzwerts mitihrer

”Epsilontik“ gefuhrt.

2.1.1. Babylonisches Wurzelziehen konkret, vgl. (Danckwerts and Vogel, 2006,Abschn. 2.1.2). Das folgende Verfahren zum naherungsweisen Berechnen von Quadratwur-zeln geht historisch auf die Babilonier zuruck und ist damit ca. 3000 Jahre alt!Stellen wir uns die Aufgabe

√30 zu berechnen. In der Nahe der gesuchten Zahl liegt sicherlich

(als erste Naherung) die Zahl x1 = 5, denn 5 · 5 = 25. Es bleibt aber noch ein Rest r und wirkonnen schreiben √

30 = 5 + r. (D.26)

Jetzt wollen wir naturlich r naher bestimmen. Dazu quadrieren wir (D.26) und erhalten

30 = 25 + 10r + r2. (D.27)

Das ist eine quadratische Gleichung fur r, die aber nicht dazu taugt, r tatsachlich zu berech-nen. Tasachlich ergibt sich durch Umformung

r2 + 10r − 5 = 0 also r = 5±√

30, (D.28)

was uns also nicht weiterbringt — um r aus (D.28) zu bestimmen, mussten wir√

30 bereitskennen!Wir mussen daher einen anderen Weg einschlagen, um r zumindest naherungsweise zu berech-nen. Der Schlussel ist es, den quadratischen Term in (D.27) los zu werden. Dazu uberlegenwir: Es gilt sicherlich r < 1, denn ware der Rest 1 dann hatten wir 5 + r = 6 und 62 = 36und bereits großer als 30. Wenn aber r < 1 gilt, dann ist r2 noch kleiner und wir lassen denquadratischen Term einfach unter den Tisch fallen. Die ultimative und a-posteriori Rechtfer-tigung fur diesen Schritt ist naturlich, dass das Verfahren (trotzdem) gut funktioniert, wiewir gleich sehen werden.Unsere Uberlegung fuhrt also auf folgende ungefahre Gleichung 30 ≈ 25 + 10 r als

”Ersatz“

fur (D.27). Um den Rest r naherungsweise durch ein Iterationsschema zu bestimmen, machenwir den folgenden Ansatz fur die erste Naherung r1 and r.

30 = 25 + 10 r1, woraus sich ohne Muhe r1 =5

10= 0.5 (D.29)

ergibt. Damit haben wir aber nach x1 = 5 einen neuen, besseren Naherungswert

x2 = x1 + r1 = 5 + 0.5 = 5.5 (D.30)

8In diesem Paragraphen fehlen in dieser Version des Skriptums noch einige Grafiken, die aber alle in derVorlesung besprochen wurden. Die entsprechenden Stellen sind mit ♣ ♣ gekennzeichnet.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

66 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

gefunden. Nun gilt aber x22 = 5.52 = 30.25 und wir haben offensichtlich uber das Ziel hinaus-geschossen. Um noch besser an

√30 heranzukommen, wiederholen wir unseren obige Vorge-

hensweise mit x2 = 5.5 statt x1 = 5 und nennen den”neuen Rest“ r′. Wir schreiben erhalten

√30 = x2 + r′, also 30 = x22 + 2x2 r

′ + (r′)2 ≈ x22 + 2x2 r′, (D.31)

woraus sich analog zu (D.29) fur die 2. Naherung r2 fur den Rest

30 = x22 + 2x2r2, also r2 =30− x22

2x2(D.32)

ergibt. Damit erhalten wir fur den nachsten Naherungswert

x3 = x2 + r2 =30 + x22

2x2(D.33)

Setzen wir x2 = 5.5 ein, so ergibt sich numerisch r2 = −0.125/5.5 ≈ −0, 022 727 273 (also wieerwartet ein negativer Wert) und x3 ≈ 5.5− 0, 022 727 273 ≈ 5, 477 272 727.Im nachsten Schritt erhalten wir (vgl. (D.33))

x4 =30 + x23

2x3(D.34)

mit dem numerischen Wert x4 ≈ 5, 477 225 575 25.Die babylonische Methode erweist sich als sehr effektiv, denn dass Quadrat von x4 hat dennumersichen Wert x24 ≈ 30, 000 000 002 2, ist also schon auf 8 Nachkommastellen nahe am Wert30. Außerdem ist der nachste Naherungswert x5 = 5, 477 225 575 05 und also die Naherungbereits in der 9. Nachkommastelle stabil.

2.1.2. Babylonisches Wurzelziehen abstrakt — Das Heron Verfahren. Nun wollenwir obiges Verfahren etwas genauer analysieren. Zunachst lasst sich aus (D.34) die allgemeineFormel fur die Iteration zu

xn+1 =30 + x2n

2xn(D.35)

ablesen. Wennn wir uns nun noch vom konkreten Wert√

30 losen und allgemein die Quadrat-wurzel aus einer beliebigen positiven Zahl a annahern wollen, so erhalten wir offensichtlichdie folgende Naherungsfolge (xn) in rekursiver Darstellung

xn+1 =a+ x2n

2xn(n ∈ N \ {0}). (D.36)

Wenn wir diese Darstellung geringfugig umformen zu

xn+1 =1

2

(xn +

a

xn

), (D.37)

erkennen wir ubrigens einen alten Bekannten: das Heron-Verfahren, siehe z.B. (Forster, 2016,§6).Mit der Formel (D.37) ist auch eine klare und einpragsame geometrische Veranschaulichungverbunden: Wir interpretieren die Zahl a, deren Wurzel wir ja suchen, als die Flache einesRechtecks R1 mit den Seitenlangen

x1 (also dem Startwert) und y1 =a

x1. (D.38)

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 67

Die Aufgabe ist es nun das zu R1 flachengleiche Quadrat Q zu finden, dass dann naturlichdie Seitenlange

√a haben muss. Die Iteration funktioniert nun so (siehe auch ♣ Abbildung

♣), dass die neue Seitenlange x2 als Mittelwert zwischen x1 und y1 angesetzt wird, also als

x2 =1

2(x1 + y1) =

1

2

(x1 +

a

x1

). (D.39)

Das liefert uns ein zu R1 flachengleiches Rechteck R2 mit den Seitenlangen

x2 und y2 =a

x2, (D.40)

dessen Seitenlangen bereits naher beieinander liegen, d.h. das naher an einem Quadrat ist.Weitere Iteration fuhrt dann auf Rechtecke Rn mit Seitenlangen

xn+1 =1

2(xn + yn) =

1

2

(xn +

a

xn

)und yn+1 =

a

xn+1, (D.41)

also genau auf die Iteration (D.37).

Ubungsaufgabe.

30 Heron-Verfahren explizit. Berechnen Sie mittels des Heron-Verfahrens

(a)√

30 und (b)√

17

auf 20 Nachkommastellen genau. Verwenden Sie dazu Technologie!

2.1.3. Eine naturliche Fragestellung. Nun stellt sich mit einiger Dringlichkeit die Frage:Funktioniert das Verfahren immer? Praziser formuliert: Kommt die Naherungsfolge (xn) derZahl

√a mit wachsendem n immer naher und was heißt das genau?

2.1.4. Fehlerabschatzung. Um eine erste Antwort zu finden untersuchen wir das Verhaltendes Fehlers zn in jedem Schritt der Iteration, also von

zn =√a− xn (n ≥ 1). (D.42)

Aus (D.36) ergibt sich sofort

zn+1 =√a− xn+1 =

√a− a+ x2n

2xn= −x

2n − 2

√axn + a

2xn= −(xn −

√a)2

2xn= − z2n

2xn. (D.43)

Diese Gleichung besagt im ubrigen, dass alle Fehler zn negativ sind, weil ja alle Naherungenxn positiv sind; letztere sind also (fur n ≥ 2) immer großer als

√a.

Nun werden wir mit Hilfe der Gleichung (D.43) zeigen, dass sich der Fehler in jedem Schrittmindestens halbiert. Tatsachlich folgt aus (D.43) zunachst

zn+1 = − zn2xn

zn =xn −

√a

2xnzn =

(1

2−√a

2xn

)zn. (D.44)

Nun gilt, wie oben bemerkt xn >√a fur n ≥ 2, also 0 <

√a/(2xn) < 1/2 und daher

|zn+1| =∣∣∣∣12 −

√a

2xn

∣∣∣∣ |zn| < 1

2|zn|. (D.45)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

68 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Wenn wir diese Ungleichung iterieren, dann erhalten wir die Abschatzung

|zn+1| <1

2|zn| <

1

2

1

2|zn−1| < · · · <

1

2n|z1|, (D.46)

und somit

|zn| <1

2n−1|z1| (n ≥ 2). (D.47)

Diese Formel besagt, dass sich in jedem Schritt der Approximation die Anzahl der gultigenDezimalstellen verdoppelt — eine Tatsache, die empirisch erfahrbar ist, wenn man das Ver-fahern explizit durchfuhrt und die uns im folgenden zur Grenzwertdefinition fuhren wird.

Ubungsaufgabe.

31 Heron reloaded. Implementieren Sie das Heron-Verfahren z.B. mit Geogebra (odereinem Werkzeug Ihrer Wahl) und berechenen Sie fur

(a)√

212 und (b)√

313 (c)√

417

und fur n ≤ 15 nicht nur die Naherung xn sondern auch explizit den Rest rn und den Fehlerzn. Wie wirkt sich der gewahlte Startwert x1 auf den Approximationsprozess aus?

2.1.5. Approximationsgute. Angenommen wir wollen mit dem Heron-Verfahren die Qua-dratwurzel

√a bis auf 7 Dezimalstellen genau berechnen. Das bedeutet, das wir eine Fehler-

schranke von 10−7 unterschreiten mussen in dem Sinn, dass wir ein xn0 finden, fur das

|√a− xn0 | < 10−7 (D.48)

gilt. Die Fehlerabschatzung (D.47) hilft uns dabei, denn es gilt

|√a− xn| = |zn| < |z1|

1

2n−1(D.49)

und wir mussen also nur einen Index n0 finden, sodass

|z1|1

2n0−1 < 10−7 also 2n0−1 > 107 |z1| gilt. (D.50)

Das konnen wir leicht erreichen, indem wir z.B. n0 > 2 · 107 |z1| wahlen, denn wegen 2k ≥ k(k ∈ N)9 gilt dann

2n0−1 =1

22n0 ≥ 1

2n0 >

1

22 · 107 |z1| = 107 |z1|. (D.51)

Wegen der Ursprunglichen Fehlerabschatzung (D.47) ist dann im ubrigen auch sichergestellt,dass fur alle n0 nachfolgenden Indizes, also fur alle n > n0 die gewunschte Fehlerschranke(D.48) gilt.Mehr noch, auf diese Weise konnen wir

zu jeder beliebig vorgegebene Fehlerschranke einen (von ihr abhangigen) Index n0angeben, ab dem die Naherungsfolge (xn) die Fehlerschranke unterschreitet, d.h.im geforderten

”Toleranzintervall” um

√a liegt.

9Wenn nicht offensichtlich, lasst sich das mit Induktion in einer Zeile zeigen:20 = 1 ≥ 0, 21 = 2 ≥ 2; k 7→ k + 1 : 2k+1 = 2 2k ≥ 2k ≥ k + 1 fur k ≥ 1.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 69

Genau diese Vorstellung liegt aber der Grenzwertdefinition zugrunde, die wir im Lichte derobigen Diskussion wie folgt formulieren:

Eine relle Folge (xn) konvergiert gegen x ∈ R, wenn es zu jeder (noch so kleinen)Toleranz ε > 0 einen (i.a. von ε abhangigen) Index n0 gibt, sodass alle Folgen-glieder xn mit n ≥ n0 im entsprechenden Toleranzintervall (x − ε, x + ε) liegen,also

|xn − x| < ε (D.52)

gilt.

Bevor wir im nachsten Abschnitt genauer auf den Grenzwertbegriff eingehen machen wir eine

2.1.6. Mathematische Zwischenbemerkung.

(1) Dass die Wahl n0 > 2 ·107 |z1| (unter Gleichung (D.50)) tatsachlich moglich ist, folgt imdeduktiven Aufbau der Analysis aus dem Archimedischen Axiom, siehe z.B. (Steinbauer,2013b, 0 1.11(i)). Dieses besagt ja gerade, dass es zu jeder (beliebig großen) reellen Zahleine naturlich Zahl gibt, die diese ubertrifft. Daraus folgt im Ubrigen auch, dass 1/neine Nullfolge ist, vgl. (Steinbauer, 2013b, 1 1.3(i)). Dass dieser fundamentalste alleGrenzwerte im deduktiven Aufbau der Analysis im Archimedischen Axiom kodiert ist,ist naturlich kein Thema fur den Unterricht; zu wissen lohnt es sich fur Lehrer/innenaber allemal.

(2) Tatsachlich ist fur die Konvergenz des Heron-Verfahrens der Startwert irrelevant. Ge-nauer, die Approximationsfolge (xn) konvergiert fur jeden positiven Startwert x1 gegen√a. Das sieht man aus der Fehlerabschatzung (D.47), denn der Fehler zn wird beliebig

klein, egal, wie groß der”Start-Fehler“ |z1| = |

√a− x1| ist.

Ubungsaufgabe.

32 Grenzwert vorweggenommen. Durchforsten Sie Abschnitt D§1 der Vorlesung undfinden Sie alle Stellen an denen ihrer Meinung nach der Grenzwertbegriff in der Luft liegt,soll heißen in naturlicher Weise auftritt oder zumindest zum Greifen nahe ist. Geben Sieentsprechende Begrundungen.

§2.2 Der Grenzwertbegriff: Fachliche Grundlagen und Formulierungen

Wir beginnen mit einer mathematsichen Prazisierung und der komprimierten Form der Defi-nition der Grenzwerts von Folgen.

Mathematische Faktenbox 8: Grenzwert von Folgen

2.2.1. Definition (Limes). Eine relle Folge (xn) konvergiert gegen ein x ∈ R, falls

∀ε > 0 ∃n0 ∈ N : ∀n ≥ n0 : |x− xn| < ε. (D.53)

In diesem Fall heisst x Grenzwert oder Limes der Folge (xn) und wir sagen (xn) konveriertgegen x. Hat eine Folge (xn) einen Grenzwert, so nennen wir sie konvergent, andernfallsheißt sie divergent.

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70 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Mathematische Faktenbox 8 – Fortsetzung

2.2.2. Schreib- und Sprechweisen. Die folgenden Schreib- und Sprechweisen sindublich:

xn → x (n→∞) oder kurzer xn → x

”(xn) geht/konvergiert gegen x (fur n gegen unendlich)”,

limn→∞

xn = x oder kurzer limxn = x

”Limes von xn ist x” oder

”x ist Limes von (xn)”.

Falsch hingegen ist : limxn → x,”Limes (xn) geht gegen x”. sind ublich:

2.2.3. Beispiel (Konvergente und divergente Folgen).

(1) Konstante Folgen konvergieren trivialerweise, xn = a → a; dafur hatten wir denGrenzwertbegriff aber nicht erfinden mussen!

(2) Das Erzbeispiel einer (nicht-trivial) konvergenten Folge ist ( 1n)n≥1. Sie ist eine Null-

folge, d.h. sie konvergiert gegen 0, 1n → 0, was wie oben gesagt aus dem Archimedi-

schen Axiom folgt.(3) Weitere prominente Nullfolgen sind 1

np und 1p√n fur jedes (fixe) p ∈ N und qn fur

jedes feste q ∈ R mit |q| < 1.(4) Weitere Prominente konvergente Folgen sind: n

√a fur jedes feste a ∈ R und sogar

n√n gehen gegen 1,

(1 + 1

n

)n → e, 1 + q + q2 + · · ·+ qn → 11−q fur jedes feste q ∈ R

mit |q| < 1.(5) Folgen konnen aus zwei Grunden divergieren: entweder sind sie unbeschrankt wie

xn = n oder sie haben (mindestens) zwei Haufungswerte wie die”Vorzeichenma-

schine“ xn = (−1)n.

2.2.4. Grenzwert und Haufungswert. Ein gutes Verstandnis des Grenzwertbegriffs ergibtsich auch in seiner Abgrenzung zum Begriff Haufungswert (manchmal auch Haufungspunkt10)einer Folge. Dabei ist ein Haufungswert intuitiv ein Punkt, dem die Folge immer wiederbeliebig nahe kommt, aber sich dazwischen wieder von ihm entfernen kann. Die Folge mussalso nicht ab einem bestimmten Index immer nahe dem Haufungswert sein, sondern es sind

”Ausreißer“ erlaubt. Wir geben unten eine mathematische Prazisierung dieser Beschreibung.

Alternativ werden Haufungswerte einer Folge auch oft als Grenzwerte von Teilfolgen definiert,vgl. etwa (Steinbauer, 2013b, 1 3.6).

Mathematische Faktenbox 9: Haufungswert

2.2.5. Definition(Haufungswert). Ein Punkt x ∈ R heißt Haufungswert der reellenFolge (xn), falls

∀ε > 0 ∀n0 ∈ N ∃n′ ≥ n0 : |x− xn′ | < ε. (D.54)

2.2.6. Beispiele & Bemerkung (Haufungswert). Neben dem obigen einfachen Bei-spiel der

”Vorzeichenmaschine” hat etwa auch die Folge xn = (−1)n + 1

n die beiden

10Es gibt einen mathematischen Grund, der gegen diese Bezeichnung spricht: Ein Haufungswert einer Folgeist nicht immer auch Haufungspunkt der Menge der Folgenglieder, z.B. fur konstante Folgen, vgl. (Forster,2016, p. 85, Bemerkung 4)).

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 71

Mathematische Faktenbox 9 – Fortsetzung

Haufungswerte ±1. Uberdies ist naturlich der Grenzwert einer Folge immer auch einHaufungswert. Die Umkehrung ist offensichtlich falsch. (Es gilt sogar: Eine Folge ist ge-nau dann konvergent, wenn sie beschrankt ist und genau einen Haufungswert hat. Dieserist dann auch der Grenzwert, vgl. (Heuser, 2003, Satz 28.5).)

2.2.7. Grenzwert: Formulierungen, Sprechweisen & Veranschaulichungen. Es ha-ben sich noch viele weitere Sprechweisen eingeburgert, die besonders griffige bzw. anschaulicheFormulierungen der Grenzwertbedingung 2.2.1 ermoglichen. Wir besprechen die wichtigstendavon und beginnen mit den folgenden Redeweisen:

(1) Fur x ∈ R und jedes ε > 0 bezeichnen wir das offene Intervall Uε(x) = (x− ε, x+ ε) alsε-Umgebung von x, siehe ♣ Abbildung ♣.

(2) Wir sagen, dass fast alle Glieder der Folge (xn) in einer Menge M liegen, wenn xn ∈Mfur alle Indizes n mit hochstens endlich vielen Ausnahmen gilt, d.h. wenn xn 6∈ M furhochstens endlich viele n gilt.Wenn es aber nur endlich viele solcher

”Ausnahme-Folgenglieder“ gibt, die nicht in M

liegen, dann gibt es auch ein”spatestes“ (d.h. mit hochstem Index) unter ihnen, sagen

wir an0 . Alle”spateren“ Folgenglieder, d.h. alle xn mit n > n0 liegen dann in M .

Wenn wir diese beiden Sprechweisen kombinieren, konnen wir die Konvergenzbedingung 2.2.1wie folgt umformulieren:

(F2) Eine Folge (xn) konvergiert gegen x ∈ R, falls in jeder (noch so kleinen)ε-Umgebung von x fast alle Folgenglieder von (xn) liegen.

Mit dieser Formulierung ist das Bild des”Hineinzoomens“ verbunden: Egal wir stark man in

die Nahe von x (etwa mit einem Mikroskop) hineinzoomt, man sieht immer fast alle Folgen-glieder (d.h. nur endlich viele liegen außerhalb des Bildausschnitts des Mikroskops).

Warnung: Fast alle Folgenglieder sind”mehr” als nur unendlich viele. Liegen bloß unendlich

viele Folgenglieder einer Folge (xn) in jeder ε-Umgebung eines Punktes x ∈ R, dann ist x zwarHaufungswert von (xn), aber nicht notwendiger Weise Grenzwert. Ein Beispiel ist wieder die

”Vorzeichenmaschine” xn = (−1)n mit ihren beiden Haufungswerten 1 und −1. In jeder ε-

Umgebung von 1 liegen unendlich viele Folgenglieder, namlich alle mit geradem Index, dax2n = (−1)2n = 1 fur alle n ∈ N. Ebenso liegen unendlich viele Glieder in jeder ε-Umgebungvon −1, namlich alle mit ungeradem Index, denn x2n+1 = (−1)2n+1 = −1 fur alle n ∈ N.Richtig ist die folgende Formulierung

(F3) Ein x ∈ R ist Haufungswert einer Folge (xn), falls in jeder (noch so kleinen)ε-Umgebung von x unendlich viele Folgenglieder von (xn) liegen.

Eine weitere gute und anschauliche Formulierung der Grenzwertbedingung macht sich dieSprechweise des

”Schließlich“ zu Nutze. Sie ist eine

”dynamische“ Umformulierung des

”fast

alle“ von oben.

(3) Wir sagen eine Folge (xn) bleibt schließlich in einer Menge M , wenn alle Folgengliederab einem bestimmten Index, sagen wir n0 in M liegen, also wiederum xn ∈ M fur allen ≥ n0 gilt.

Damit ergibt sich nun klarerweise die Formulierung:

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72 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

(F4) Eine Folge (xn) konvergiert gegen x ∈ R, falls sie schließlich in jeder ε-Umgebung von x bleibt.

Zu den Formulierung (F2) und (F4) passen die folgenden unmittelbaren Veranschaulichungenim Bilde der Folge als

”Spaziergang” in R ♣ Graphik ♣ und am Graphen der Folge ♣ Grafik

♣.

Dabei ist zu beachten, dass ein wesentlicher Aspekt der Definition in den Veranschaulichungennicht unmittelbar ersichtlich ist. Es muss ja fur alle (noch so kleinen) ε > 0 ein entsprechenderFolgenindex n0 existieren, sodass alle spateren Folgenglieder (also alle xn mit n > n0) in derε-Umgebung liegen.Dieser wichtige Punkt kann besonders anschaulich in Form eines Spiels ausgedruckt werden:Die erste Spielerin gibt beliebig ein ε bzw. eine ε-Umgebung um den vermuteten Grenzwert xvor. Beliebig, also beliebig klein, kann in diesem Kontext als

”moglichst gemein“ verstanden

werden, um es der zweiten Spielerin moglichst schwer zu machen. Diese soll namlich dieKonvergenz von (xn) gegen x zeigen, d.h. sie/er muss zu jeder noch so

”gemeinen“ ε-Vorgabe

immer noch ein n0 finden, sodass alle spateren Folgenglieder ε-nahe am Grenzwert liegen.Naturlich kann ein solches Spiel nicht in alle Ewigkeit durchgefuhrt werden, um wirklich furalle ε ein geeignetes n0 zu finden — hier ist dann im

”wirklichen Leben“ ein mathematischer

Beweis von Noten!

Uber die hier vorgestellten Formulierungen hinaus gibt es naturlich auf verschiedenen Ex-aktheitsstufen gute und weniger gute (Um-)Formulierungen der Grenzwertdefinition. Dabeiist eine Formulierung dann gut, wenn sie den Sachverhalt prazise wiedergibt und in ihrerverbalen Formulierung klar und anschaulich ist, ohne Fehlvorstellungen zu provozieren.

Ubungsaufgaben.

33 Gute und schlechte Verbalisierungen der Grenzwertdefinition. Im Unterrichtist es von fundamentaler Bedeutung — mit der formalen Grenzwertdefinition im Kopf — gutevon weniger guten Verbalisierungen unterscheiden und sich guter bedienen zu konnen.Beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die folgenden Sprechweisen, die den Sachverhalt 1

n → 0ausdrucken (sollen).

(a) 1n strebt fur n gegen ∞ gegen 0.

(b) 1n ist schließlich beliebig nahe bei 0.

(c) 1n kommt mit wachsendem n der 0 beliebig nahe.

(d) 1n kommt mit wachsendem n der 0 immer naher.

(e) 1n kommt mit wachsendem n der 0 immer naher, ohne sie je zu erreichen.

34 Grenzwertdefinitionen in Schulbuchern11. Die folgenden funf Formulierungen zurDefinition des Grenzwerts einer Folge wurden Schulbuchern entnommen.

(1) (STEINER und WEILHARTER 2006, S. 7):Die Zahl α heißt Grenzwert der Folge 〈an〉, wenn in jeder ε-Umgebung von α fast alle Gliederder Folge liegen: |an − a| < ε gilt fur fast alle Glieder der Folge 〈an〉.

(2) (BURGER 2004, S. 152):Ist 〈an|n ∈ N〉 eine reelle Zahlenfolge, dann heißt die reelle Zahl a Grenzwert der Zahlenfolge,

11Diese Aufgabe stammt aus der Diplomarbeit von Lukas Backer.

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 73

wenn folgendes gilt: ∀ε > 0 : ∃n0 ∈ N : ∀n ≥ n0 : |an − a| < εMan schreibt: lim→∞ an = a

(3) (THORWARTL et al. 2005, S. 82):Eine reelle Zahl a heißt Grenzwert der Folge 〈an〉, wenn in jeder ε-Umgebung U(a; ε) mit ε ∈ R+

fast alle Glieder der Folge liegen. Es gilt |an − a| < ε fur fast alle n ∈ N.Anders ausgedruckt: Die Folge 〈an〉 strebt mit wachsendem n dem Grenzwert (limes) a zu. Manschreibt: limn→∞ an = a.Eine Folge, die einen Grenzwert besitzt, heißt konvergente Folge.Anmerkung: lim an = a bedeutet nicht, dass a tatsachlich

”erreicht“ wird, sondern nur, dass in

jeder auch noch so kleinen ε-Umgebung um a fast alle Glieder der Folge liegen.

(4) (SCHARF 1971, S. 24):Eine Folge 〈a1, a2, a3, . . . 〉 heißt konvergent gegen den Grenzwert a, wenn folgendes gilt: Zujedem ε > 0 gibt es eine (von ε abhangige) Nummer N , so daß fur alle n > N gilt: |an − a| < ε.Man schreibt: a = limn→∞ an und liest: a ist Grenzwert der Folge 〈an〉 fur n gegen Unendlich.Jede Folge, die nicht konvergiert, heißt divergent.

(5) (BRAND et al. 2013, S. 62): Wenn fur jeden (beliebig kleinen, positiven) Abstand ε ab einem(entsprechend großen) n der Betrag |an − a| < ε bleibt, so heißt a Grenzwert der Folge 〈an〉.Wir schreiben dann: limn→∞ an = a (Sprich:

”Der Limes von an fur n gegen unendlich ist a.“)

Besitzt eine Folge einen Grenzwert, so heißt sie konvergent, andernfalls divergent.

Ihre Aufgabe ist nun die folgende:

(a) Definitionen analysieren und vergleichen.Analysieren Sie die funf gegebenen Definitionen einerseits nach deren mathematischenExaktheit und andererseits danach, wie schulergerecht diese formuliert sind!

(b) Ranking erstellen.Versetzen Sie sich in die Situation, eine Definition fur Ihren Schulunterricht zum Grenz-wertbegriff festlegen zu mussen. Erstellen Sie gemaß Ihrer in (1) gemachten Beobach-tungen ein (subjektives) Ranking der funf Formulierungen! Begrunden Sie kurz IhreEntscheidung!

2.2.8. Grenzwertberechnungen — praktische Aspekte.

Der Grenzwertbegriff ist in gewisser Weise das Herzstuck der gesamten Analysis. Daherkommt dem Berechnen von Grenzwerten eine große Bedeutung zu. Wie Sie aus Ihrer Analysis-Ausbildung sicher mitgenommen haben, kann das aber ganz schon unangenehm sein!

Genauer: Es kann oft ganz trickreich werden, wenn man nachweisen soll, dass eine gegebeneFolge konvergiert und dann auch noch der Grenzwert bestimmt werden soll. Nur in denallerseltesten Fallen, wird man damit erfolgreich sein, direkt die Definition des Grenzwertszu verwenden. Daher vermeidet man es moglichst Grenzwerte in diesem Sinne

”direkt” zu

berechnen und nimmt stattdessen zwei Hilfsmittel zur Hand

(1) Wissen uber die Eigenschaften konvergenter bzw. divergenter Folgen(2) Grenzwertsatze, die es erlauben aus der Konvergenz einfacher Folgen auf die Konvergenz

komplizierterer Folgen zu schließen und ganz konkret ihren Limes aus den Limiten dereinfacheren

”Bausteine“ zu berechnen.

Diese Werkzeuge werden in der Analysis zu einem wirkungsvollen Kalkul ausgebaut, dessenAnfangsgrunde im schulsichen Kontext besonders geeignet sind die zweite der WinterschenGrunderfahrungen (mathematische Welt, vgl 2.2.1) zu vermitteln. Daruberhinnaus lassendiese beiden Werkzeuge eine gute Intuition entstehen, wie konvergente/divergente Folgen

”aussehen“. Wir prazisieren diese Hilfsmittel wie folgt.

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74 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Mathematische Faktenbox 10: Konvergente Folgen

2.2.9. Faktensammlung: konvergente Folgen. Folgende Tatsachen zu Grenzwertensind fundamental:

(1) Eine konvergente Folge hat genau einen Grenzwert. Somit hat jede Folge hochstenseinen Grenzwert, vgl. etwa (Steinbauer, 2013b, 1 2.20–21)a.

(2) Konvergente Folgen sind beschrankt, die Umkehrung ist falsch, siehe etwa (Stein-bauer, 2013b, 1 2.14–18)b.

(3) (Grenzwertsatze) Konvergieren die Folgen (xn) und (yn), dann konvergieren auchdie Folgen (xn ± yn), (xn · yn) und falls yn 6= 0 auch (xn/yn) und es gilt (vgl. z.B.(Steinbauer, 2013b, 1 2.22–27))

lim(xn ± yn) = limxn ± lim yn,

lim(xn · yn) = limxn · lim yn und lim

(xnyn

)=

limxnlim yn

. (D.55)

(4) (Sandwichlemma) Gilt fur die drei Folgen (xn), (yn) und (zn), dass xn ≤ yn ≤ zn furalle n und xn → x, sowie zn → x, dann konvergiert auch (yn) und es gilt lim yn = x,vgl. etwa (Steinbauer, 2013b, 1 2.29).

aDer Beweis dieser fundamentalen Tatsache ist einfach und beruht auf folgender Idee: Gabe es zweiverschiedene Limiten, dannn waren fast alle Folgenglieder in jeder ε-Umgebung beider Grenzwerte unddamit jeder der beiden in jeder ε-Umgebung des anderen. Daher sind sie aber gleich.

bAuch hier ist die Beweisidee sehr einfach: Konvergiert eine Folge, so sind alle spaten Glieder, sagenwir ε = 1-nahe am Grenzwert, also beschrankt. Die endlich vielen Ausnahmen sind klarerweise auchbeschrankt. Die Umkehrung ist falsch, wie z.B. die

”Vorzeichenmaschine“ zeigt.

2.2.10. Technologieeinsatz. Naturlich ist die Berechnung von Folgengrenzwerten mittelsTechnologie moglich. Sowohl Geogebra wie auch alle anderen verbreiteten CAS (Computeralgebra-Systeme) wie Mathematica und Maple verfugen uber machtige Funktionen, die es erlauben,Grenzwerte einfach zu berechnen.Trotzdem ist ein gewisses Maß an Grundwissen uber Grenzwerte einfacher Folgen fur Leh-rer/innen unerlaßlich. Daraus ergibt sich vor allem ein Gefuhl fur verschieden starkes Wachs-tum, wie es auch die folgenden Ubungsaufgaben vermitteln.

Ubungsaufgaben.

35 Grenzwerte berechnen, 1. Betrachten Sie nochmals die Folgen aus Aufgabe 16 :

(a) an = (−1)n (”Vorzeichenmaschine“)

(b) bn =n

n+ 1

(c) cn =nk

2nfur ein fixes k ∈ N.

(d) dn =n!

2n

(e) en =n!

nn

(f) Die Fibonacci-Folge: f0 = 0, f1 = 1und fn = fn−2 + fn−1 (n ≥ 2)

Welcher dieser Folgen sind konvergent, welche divergent? Im Falle der Konvergenz berechnenSie den Limes (gerne mit Technologieeinsatz) und argumentieren/beweisen Sie analytisch dieentsprechenden Konvergenzen.

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 75

36 Grenzwerte berechnen, 2. Bestimmen Sie, falls vorhanden, die Grenzwerte der Fol-

gen aus Aufgabe 17 (gerne mit Technologieeinsatz):

an =√n+ 103 −

√n, bn =

√n+√n−√n, cn =

√n+

n

103−√n (n ≥ 1).

Was kann man aus dieser Aufgabe in Kombination mit Aufgabe 17 lernen?

2.2.11. Die Notwendigkeit der Prazisierung. Zum Abschluss streichen wir heraus, dassdie in der Definition des Grenzwerts vorgenommene und in unserer Diskussion dargestelltePrazisiserung des Grenzwertbegriffs unerlasslich ist, um den Begriff genau zu erfassen. Esgibt namlich zahlreiche Beispiele, die schmerzlich aufzeigen, wie eng die Grenzen eines intui-tiven Verstandnis des Grenzwertbegriffs tatsachlich sind. Eine sehr fruhe Sammlung solcherBeispiele enthalt z.B. (Bolzano, 1851). Wir erwahnen hier kurz zwei der am verbreitetsten.

(1) Treppenstufen: Die”Treppenfolge“ in Abbildung D.21 nahert sich optisch der Diago-

nale des Einheits-Quadrats beliebig an: Die”spaten“ Treppen bleiben sogar als ganzes

beliebig nahe an der Diagonalen. Trotzdem ist die Gesamtlange jeder Treppe immer 2aber die Lange der Diagonale gleich

√212.

(2) Halbkreisbogen: Analog gilt fur die in den Einheitskreis eigneschriebenen Halbkreisbogenin Abbildung D.22, dass die Summe der Umfange der Halbkreisbogen mit gleichemRadius immer konstant gleich π ist, aber die Lange der Sehne gleich 2.

γ

γ3γ2

γ1

Abb. D.21: Die Lange der Treppen ist kon-stant 2, die Lange der Diagonale aber

√2.

Abb. D.22: Die Summe der Langen derHalbkreisbogen ist π, aber die Lange derSehne ist 2.

12Mit diesem Beispiel steht im Zusammenhang, dass in der Theorie der Langenraume (Eine mathematischeTheorie, die das Konzept der Lange von Kurven moglichst abstrakt fasst und viele Anwendungen in der(metrsichen) Geometrie hat.) Langen unterhalbstetig sind: Kurven konnen nur von einer Folge langerer Kurvengleichmaßig approximiert werden.

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76 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

§2.3 Aspekte und Grundvorstellungen zum Grenzwertbegriff

Nachdem die Betrachtungen zur naherungsweisen Berechnung von Quadratwurzeln in Ab-schnitt zum Grenzwertbegriff gefuhrt haben und in Abschnitt D.§2.2 die fachlichen Grund-lagen sowie entscheidende Hinweise zur verbalen Ausformulierung der Grenzwertdefinitiondiskutiert wurden, sollen hier nun einmal mehr die Aspekte und Grundvorstellungen eineszentralen Begriffs – namlich jene des Grenzwertbegriffs – betrachtet werden.

§2.3.1 Aspekte des Grnezwertbegriffs

Beim Grenzwertbegriff lassen sich zwei entscheidende Aspekte ausmachen, die in den vorge-henden Ausfuhrungen (D.§2.1, D.§2.2) stellenweise bereits durchgeschimmert sind. Es sinddies der dynamische und statistische Aspekt des Grenzwertbegriffs. Die beiden Aspekte wer-den am besten als die zwei Seiten einer Medaille oder als Yin und Yang aufgefasst.

2.3.1. Der dynamische Aspekt. Dem dynamischen Aspekt des Grenzwertbegriffs liegtdie intuitive Vorstellung eines potenziell unendlichen Vorgangs zugrunde. Solche potenziellunendlichen Vorgange sind uns in der Vorlesung schon an manchen Stellen begegnet. ZumBeispiel:

• Medikamentenspiegel, 1.2.2: Nach einer Anfangsdosis von 400mg hat sich der Medi-kamentenspiegel nach sukzessiver Verabreichung und entsprechendem Abbau 1600mgeingependelt.• Koffeingehalt, 1.3.3: Ebenso verhalt es sich bei der Entwicklung des Koffeingehalts,

wenn der Vorgang des Kaffeetrinkens Stunde fur Stunde sukzessive unter den in derAufgabenstellung gegebenen Bedingungen fortgesetzt wird. Der Koffeingehalt pendeltsich dann bei etwas mehr als 571mg ein.• Schlangenlinie, 1.3.5: Auch die Schlangenlinie, bei der der Radius der Halbkreise suk-

zessive halbiert wird, lasst sich theoretisch bzw. gedanklich als unendlicher Vorgangausfuhren. Wird fur den ersten Radius beispielsweise 1cm gewahlt, dann sind die folgen-den Radien 0, 5cm, 0, 25cm, 0, 125cm, 0, 0625cm, 0, 03125cm, 0, 015625cm, 0, 0078125cm... lang. Bei zunehmend fortschreitender Halbierung kommen die Radien einer Langevon 0cm beliebig nahe.

Bei allen drei Beispielen lasst sich ein Wert angeben, dem sich die Folgenglieder mit wach-sendem n beliebig nahern und in dessen Nahe fast alle Folgenglieder liegen. Alle drei Folgenerfullen aber besondere Eigenschaften: Sie sind streng monoton wachsend/fallend und nachoben/unten beschrankt und daher konvergieren sie gegen ihr Supremum/Infimum.

Ein anderes Beispiel ware die Folge an = (−1)n/2n. Sie ist zwar nicht monoton, aber trotzdemlasst sich auch ein Wert angeben, dem sich die Folgenglieder mit wachsendem n beliebig nahernund in dessen Nahe fast alle Folgenglieder liegen.

• Beim Medikamentenspiegel nahern sich die Folgenglieder einer Grenze von 1600mg anund fast alle Glieder der dieser Folge liegen beliebig nahe bei 1600mg.• Beim Koffeingehalt verhalt es sich ebenso. Die Grenze liegt bei etwas mehr als 571mg

und fast alle Folgenglieder liegen beliebig nahe bei diesem Wert.• Auch bei den Radien der Schlangenlinie gibt es eine Grenze, der sich die Folgenglieder

annahern. Sie ist 0, daruberhinaus liegen einmal mehr fast alle Folgenglieder beliebignahe bei 0.

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 77

• Und auch fur die Werte der Folge an = (−1)n/2n gibt es eine Grenze, der sich dieWerte der Folgenglieder annahern. Sie ist 0, daruberhinaus liegen einmal mehr fast alleFolgenglieder beliebig nahe bei 0.

Historisch betrachtet, hat der dynamische Aspekt des Grenzwertbegriffs lange Tradition —er war schon in der griechischen Antike bekannt und geht (mindestens) auf Aristoteles undseine Vorstellung des Unendlichen zuruck (siehe Abschnitt D.§2.5).

2.3.2. Der statische Aspekt. Wenn der dynamische Aspekt des Grenzwertbegriffs dieeine Seite der Medaille ist, dann entspricht der statische Aspekt des Grenzwertbegriffs deranderen Seiten der Medaille. Die (dynamische) Sichtweise, dem Grenzwert mit wachsendem nbeliebig nahe zu kommen, wird nun umgekehrt. Es wird also nun nicht mehr der Wert, um densich die Folgengliedern einpendeln,

”gesucht“, sondern

”vorgegeben“. D.h. Ausgangspunkt der

statistischen Sichtweise ist nun ein fester Wert. Ausgehend von diesem festen Wert wird jetztjenes Folgenglied gesucht, ab dem alle weiteren Folgenglieder in einer vorgegebenen Umgebungdes Wertes liegen. Hier fließt also ganz entscheidend die formale Definition des Grenzwertsein!Der statische Aspekt ist historisch gesehen wesentlich junger als der dynamische Aspekt.Weierstraß (1815 – 1897) hat diesen Aspekt formalisiert (siehe Abschnitt D.§2.5).Fur den Mathematikunterricht bedeutet dies, das eine Vorstellung uber das Unendliche undden Grenzwert mithilfe des dynamischen Aspekts aufzubauen ist, dass das Verstandnis derGrenzwertdefinition aber einen bewussten Perspektivenwechsel hin zum statischen Aspektdieses Begriffs verlangt. Ganz wie bei den beiden Seiten einer Medaille oder bei Yin undYang bedarf das eine des jeweils anderen.In Abschnitt wird der Perspektivenwechsel (vom dynamischen zum statischen Aspekt) beiden Betrachtungen zur Approximationsgute vollzogen. Davor wird im Sinne des dynamischenAspekts jener Wert gesucht, dem sich Wurzel

√30 nahert. Bei 2.1.5 (Approximationsgute)

hingegen wird im Sinne des statischen Aspekts eine Fehlerschranke vorgegeben und ein xn0

gesucht, dass diese Fehlerschranke unterschreitet.

§2.3.2 Grundvorstellungen zum Grenzwertbegriff

Grundvorstellungen zu zentralen Begriffen der Analysis sind an dieser Stelle nichts Neuesmehr, sie wurden in entsprechendem Umfang schon an mehreren Stellen dieser Schulmathe-matikvorlesung diskutiert und sollen auch hier wieder inhaltliche Deutungen eines mathema-tischen Begriffs darlegen, damit der Begriff im Unterricht fur die Schulerinnen und SchulerSinn ergibt.

2.3.3. Annaherungsvorstellung zum Grenzwertbegriff. Die Annaherungsvorstellungsteht besonders deutlich mit dem dynamischen Aspekt des Grenzwertbegriffs in Verbindung,aber auch mit dem statischen Aspekt. Sie wird wie folgt formuliert:

FdPw-Box 22: Annaherungsvorstellung

Das Zustreben oder Annahern der Werte der Folgenglieder an einen festen Wert oder einObjekt liefert die Annaherungsvorstellung als intuitive Vorstellung vom Grenzwert.

Ein erstes Arbeiten in Richtung dieser Grundvorstellung kann bereits in der 8. Schulstufebeim naherungsweisen Berechnen von Quadratwurzeln erfolgen. Erneut aufgegriffen wird dieseGrundvorstellung beim numerischen Losung von Gleichungen (z.B. Newton-Verfahren).

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78 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Wichtig ist im Zusammenhang mit der Anderungsvorstellung, dass die Schulerinnen undSchuler erkennen, dass unendliche Prozesse einem Grenzobjekt beliebig nahe kommen konnen.Dabei sollten sowohl grafische als auch numerische Vorstellungen miteinander verbunden wer-den.

2.3.4. Umgebungsvorstellung zum Grenzwertbegriff. Die Umgebungsvorstellung bautauf dem statischen Aspekt des Grenzwertbegriffs auf. Sie hangt aber auch, wie die obigenAusfuhrungen zu den zwei Seiten einer Medaille zeigen, mit dem dynamischen Aspekt zusam-men.

FdPw-Box 23: Umgebungsvorstellung

Zu jeder noch so kleinen Umgebung um den Grenzwert liegen ab einem bestimmtenFolgenglied alle weiteren Glieder in dieser Umgebung.

Die Umgebungsvorstellung zielt also darauf ab, dass bei einer vorgegebenen Umgebung einFolgenglied gesucht wird, ab dem die weiteren Folgenglieder in dieser Umgebung liegen. Beidieser Grundvorstellung ist es entscheidend, dass die Schulerinnen und Schuler einmal mehrgrafische und numerische Vorstellungen mit der Umgebung eines Zahlenwertes verbinden unddiese auch noch mit den Folgengliedern in Beziehung setzen konnen. Nach Greefrath et al.(Greefrath et al., 2016, 3.5) ist die Umgebungsvorstellung auch damit verbunden, dass dieSchulerinnen und Schuler das Grenzwertverhalten einer Folge verbal und formal beschreibenkonnen.

2.3.5. Objektvorstellung zum Grenzwertbegriff. Zu guter Letzt lasst sich auch zumGrenzwertbegriff eine Objektvorstellung wie folgt formulieren:

FdPw-Box 24: Objektvorstellung

Grenzwerte werden als mathematische Objekte – etwa (feste) Werte, Matrizen oder geo-metrische Objekte – angesehen, die durch Folgen – etwa eine Zahlenfolge, eine Folge vonMatrizen oder geometrischen Objekten – konstruiert oder definiert werden.

Die Objektvorstellung soll es Schulerinnen und Schulern ermoglichen,

• Nullfolgen als Prototypen fur konvergente Folgen zu sehen,• an Termdarstellungen das Verhalten von Folgen- und Funktionswerten

”im Unendli-

chen“ und in der Nahe von Defintionslucken zu erkennen,• Folgen und Funktionen anhand der Folgen- und Funktionsterme bzgl. ihres Grenzwert-

verhaltens zu klassifizieren,• das Grenzwertverhalten mithilfe der

”Limes-Schreibweise“ anzugeben und

• Grenzwerte berechnen zu konnen.

Die Objektvorstellung zum Grenzwertbegriff ist also im schulischen Mathematikunterrichtaußert relevant. Sie baut auf dem statischen Aspekt des Grenzwertbegriffs auf und umgekehrtsteht der statische Aspekt in direkter Beziehung zur Objektvorstellung des Grenzwertbegriffs.

Summa Summarum ergibt sich fur die Wechselbeziehungen der Aspekte und Grundvorstellungzum Grenzwertbegriff die Darstellung D.23.

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 79

Abb. D.23: Aspekte und Grundvorstellungen zum Grenzwertbegriff in ihrer wechselseitigenBeziehung

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80 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

§2.4 Der Grenzwert in der Schule - Zugange im Unterricht

Im Lehrplan der AHS Oberstufe wird der Grenzwert an nur zwei Stellen erwahnt. Einmalim Kompetenzmodul 3 (6. Klasse) Eigenschaften von Folgen kennen und untersuchen konnen(Monotonie, Beschranktheit, Grenzwert), das andere Mal im Grundkompetenzkatalog derHandreichung zum Lehrplan mit FA-L 7.4 Grenzwerte von einfachen Folgen ermitteln konnen.Es stellt sich also die Frage, wie kann dem

”Herzstuck“ der Analysis im Mathematikunter-

richt Rechnung getragen werden? D.h.: Wie lasst sich also nun unter Berucksichtigung desLehrplans und der in (siehe Abschnitt D.§2.3) ausgefuhrten Aspekte und Grundvorstellun-gen der Grenzwertbegriff im schulischen Mathematikunterricht er- und bearbeiten, sodass dieSchulerinnen und Schuler zum einen die entsprechenden (Grund-)Vorstellungen aufbauen,sich das notwendige (Grund-)Wissen zum Grenzwertbegriff aneignen und die zweckmaßigenGrundfahigkeiten zum routinehaften Anwenden des Grenzwerts erwerben?

§2.4.1 Zur Ausbildung der Grundvorstellungen zum Grenzwertbegriff in derSchule

Rudolf vom Hofe (2003: Grundbildung durch Grundvorstellungen. Mathematik lehren 118, S.4-8) sieht drei Ziele beim Ausbilden von Grundvorstellungen. Diese sind

FdPw-Box 25: Ziele beim Ausbilden von Grundvorstellungen

• Erfassen der Bedeutung des Begriffs – Anknupfen an bekannte Sachzusammenhangeoder Handlungsvorstellungen• Aufbau von mentalen Reprasentationen – ermoglichen operatives Handeln auf der

Vorstellungsebene• Anwenden in neuen Situationen – erkennen der Struktur in Sachzusammenhangen

und Modellieren des Phanomens mithilfe der mathematischen Struktur

2.4.1. Erfassen der Bedeutung des Grenzwertbegriffs. Zum Erfassen der Bedeutungdes Grenzwertbegriffs ist – wie oben schon angedeutet – das Anknupfen an bekannten Sach-zusammenhange oder Handlungsvorstellungen unabdingbar. Bei diesem Anknupfen an Be-kanntes muss aber gleichzeitig der Wechsel vom dynamischen zum statischen Aspekt desGrenzwertbegriffs erfolgen. Es gilt also zu uberlegen, wie ein Vermittlungsprozess zwischendem dynamischen und statischen Aspekt unterrichtspraktisch gestaltet werden kann. Exem-plarisch soll hier ein solcher Vermittlungsprozess gezeigt werden.

Hinfuhrung zum Grenzwertbegriff auf numerischer und grafischer Ebene mitWechsel zur Umgebungsbetrachtung Bei der Hinfuhrung zum Grenzwertbegriff auf nu-merischer und grafischer Ebene konnen Vorgange, die wir bereits in den Aufgabenstellungenzum Medikamentenspiegel, zum Koffeingehalt und den geometrischen Mustern bearbeitet ha-ben, erneut – aber mit Fragestellungen, die auf den statischen Aspekt des Grenzwerts abzielen– aufgegriffen werden.

Aufgabensteung: Cholesterinspiegel Der Zielwert fur einen gesunden Gesamtcholeste-rinspiegel liegt bei maximal 190 mg/dl. Bei einem Patienten wurde ein erhohter Choleste-rinspiegel von 500 mg/dl festgestellt. Daraufhin werden dem Patienten eine strikte Diat undein entsprechendes Medikament verordnet. Der Patient halt uber einen langeren Zeitraum die

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 81

vorgeschriebene Diat ein und nimmt auch das Medikament taglich ein. Die Entwicklung sei-nes Cholesterinspiegels lasst sich aufgrund dieses Verhaltens mit cn = 0.8n 500 + 38 1−0.8n

1−0.8 .beschreiben.

• Stelle die Entwicklung des Cholesterinspiegels als Folge, in Form eine Tabelle sowiegrafisch auf der Zahlengeraden und im Koordinatensystem dar.• Wann erreicht der Patient den Zielwert fur einen gesunden Cholesterinspiegel?

Losungserwartung: < 500; 438; 338, 4; 348, 72; ... >

Abb. D.24: Entwicklung des Cholesterin-spiegels - Tabelle 1

Abb. D.25: Entwicklung des Cholesterin-spiegels - Tabelle 2

Abb. D.26: Entwicklung des Cholesterinspiegels - Zahlengerade

Abb. D.27: Entwicklung des Cholesterinspiegels - Koordinatensystem

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82 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Wann der Patient den Zielwert fur einen gesunden Cholesterinspiegel erreicht, hangt von derGenauigkeit bzw. Toleranz der Messung des Cholesterinspiegels ab. Wenn auf drei Nachkom-mastellen genau gemessen wird, dann hat der Patient am 59 Tag einen Cholesterinspiegel von190,001 mg/dl und am 60 Tag 190 mg/dl. Wenn auf funf Nachkommastellen genau gemessenwird, dann hat der Patient am 80 Tag einen Cholesterinspiegel von 190,00001 mg/dl und am81 Tag 190 mg/dl. Bei großzugigerer Betrachtung konnte man auch den 36. Tag wahlen, dorthat der Patient einen Cholesterinspiegel von 190,1006 mg/dl oder den 26. Tag, dort hat derPatient einen Cholesterinspiegel von 190,93692 mg/dl.

Im Anschluss an eine solche Aufgabenstellung ist von der Lehrperson eine Ruckschau aufdie Aufgabenstellung und ihre Losung vorzunehmen, um den Schulerinnen und Schulern denAufbau mentaler Reprasentationen zu ermoglichen. Dabei kann thematisiert werden:

• Werden die Folgenglieder mittels Tabelle dargestellt, dann wird auf der numerischenEbene gut sichtbar, dass sich die Folgenglieder mit wachsendem n dem Wert 190 beliebignahern und das fast alle Glieder der Folge in der Nahe von 190 liegen.• Werden die Folgenglieder im Koordinatensystem dargestellt, dann wird einerseits die

Monotonie und Beschrankt der Folge gut sichtbar. Anderseits wird auch deutlich, dassdie meisten Punkte in einer Umgebung der Geraden y = 190 liegen.• Werden die Folgenglieder auf der Zahlengerade dargestellt, dann wird deutlich, dass

die Folgenglieder mit fortschreitendem n immer naher zusammenrucken, sich um einenWert zusammenziehen bzw. an einer Stelle der Zahlengeraden konzentrieren. Außerdemliegen die meisten Folgenglieder bzw. Punkte in einer Umgebung von 190.

Das Anwenden der so herausgearbeiteten Sichtweise auf neuen Situationen – z.B. die Folgean =, 2n−1n – rundet das Ausbilden der Annaherungsvorstellung und Umgebungsvorstellung

(ersten beiden Grundvorstellungen zum Grenzwertbegriff) ab.

§2.4.2 Grundwissen zum Grenzwert aneignen

Im Anschluss an die Ausbildung der obigen beiden Grundvorstellungen (Annaherung- undUmgebungsvorstellung) zum Grenzwertbegriff mussen sich die Schulerinnen und Schuler Grund-wissen zum Grenzwertbegriff aneignen. Zu diesem Grundwissen zahlt:

• Epsilon-Umgebung• Definition des Grenzwerts einer Folge; konvergent, divergent• Zusammenhang zwischen Monotonie, Beschranktheit und Konvergenz

Das Behalten dieses Grundwissens wird vor allem dann gefordert, wenn es immer wiederverwendet wird (Vergessenskurve).

2.4.2. Epsilon-Umgebung. Beim Begriff der Epsilon-Umgebung gilt es nun Sprechweisenwie fast alle Glieder der Folge liegen in einer Umgebung von ... mathematisch genauer zufassen. Dazu wird das Wissen aus der 9. Schulstufe aufgefrischt. Denn dort werden beimArbeiten mit Mengen, Zahlen und Rechengesetzen Zahlen, Betrage von Zahlen und Intervalleauf einer Zahlengeraden dargestellt. Fur die Epsilon-Umgebung werden also ausgehend vonIntervalldarstellungen auf der Zahlengeraden sowie den bisherigen Folgendarstellungen auf derZahlengeraden und im Koordinatensystem Schreib- und Sprechweisen sowie Darstellungen derEpsilon-Umgebung auf der Zahlengeraden und im Koordinatensystem erarbeitet.

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 83

Abb. D.28: Epsilon-Umgebung auf der Zahlengeraden

Abb. D.29: Quelle: Dimensionen Mathematik 7 - Seite 195

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84 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Der Nachweis, ob ein Folgenglied an innerhalb der Epsilon-Umgebung einer Zahl a liegt, wirddann mit Betragsungleichungen erbracht.

2.4.3. Definition des Grenzwerts einer Folge; konvergent, divergent. Die Definitiondes Grenzwerts ergibt sich durch die hier vorgestellte Standpunktverlagerung und Herausar-beitung der Epsilon-Umgebung im Unterricht dann fast von selbst. Verlangt der Grenzwerteiner Folge ja nichts anders als, dass stets nur endliche viele Folgenglieder außerhalb derEpsilon-Umgebung liegen.

Wie schon in der Mathematischen Faktenbox 8: Grenzwert von Folgen dargestellt, kann alsonun im Unterricht die Definition vorgenommen und damit auch die Begriffe konvergent unddivergent sowie die Schreib- und Sprechweisen eingefuhrt werden. An ausgewahlten Beispielenwird danach uberpruft, ob ein bestimmter Wert der Grenzwert einer Folge ist und mithilfecharakteristischer Darstellungen wird das neue Grundwissen verinnerlicht.

Abb. D.30: Epsilon-Umgebung im Koordinatensystem

2.4.4. Zusammenhang zwischen Monotonie, Beschranktheit und Konvergenz. Zuguter Letzt umfasst das Grundwissen zum Grenzwertbegriff auch das Wissen uber den Zu-sammenhang zwischen Monotonie, Beschranktheit und Konvergenz. Nach dem Prinzip derVariation oder nach dem Prinzip des Kontrasts konnen Schulerinnen und Schuler erarbeiten,dass

• eine monoton wachsende und nach oben beschrankte Folge konvergent ist.• eine monoton fallende und nach unten beschrankte Folge konvergent ist.

§2.4.3 Grundfahigkeiten zum routinehaften Anwenden des Grenzwerts

Nachdem nun in der Schule Grundvorstellungen und Grundwissen zum Grenzwert aufgebautbzw. angeeignet wurden, bleiben abschließend einige wenige Grundfahigkeiten auszubilden,die das routinehaften Anwenden des Grenzwerts erlauben. Solche routinehaften Tatigkeitensind uns schon bei den Betrachtungen des Monotonieverhaltens von Folgen begegnet, abergerade zuvor auch bei der Uberprufung, ob eine bestimmte Zahl a Grenzwert einer Folge anist. Letzterem steht nun die Berechnung von Grenzwerten gegenuber. Dieser erneute Perspek-tivenwechsel (uberprufen versus berechnen) muss im Unterricht deutlich gemacht werden. Einzielfuhrender Unterrichtsgang zum Erwerb der intendierten Grundfahigkeiten zum routine-haften des Grenzwerts erstreckt sich zumindest uber folgende Stationen:

• Erarbeitung des Begriffs Nullfolge und prominenter Beispiele (siehe Mathematische Fak-tenbox 8)

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 85

• Berechnung von Grenzwerten einfacher Folgen mithilfe von Nullfolgen; Zusammenhangzwischen Grenzwert und explizite Darstellung von einfachen Folgen erkennen• Grenzwertsatze – mit konvergenten Folgen als mathematischen Objekten rechnen (siehe

Mathematische Faktenbox 10: Konvergente Folgen)• Grenzwert der Folge (1 + 1

n)n

Mit der Erarbeitung Grundfahigkeiten zum routinehaften Anwenden des Grenzwerts kanndas Kapitel beschlossen werden, zudem sind wir nun auch bei der dritten Grundvorstellungzum Grenzwertbegriff – namlich der Objektvorstellung – gelandet.

§2.4.4 Ruckschau auf den Zugang zum Grenzwertbegriff in der Schule

Wenn wir nun auf den hier vorgestellten Zugang zum Grenzwertbegriff zuruckblicken, dannwird eine starke Verzahnung der mathematisch-historischen Entwicklung dieses Begriffs mitdem schulischen Zugang deutlich.Daruberhinaus wird auch deutlich, dass die Ausbildung von Grundvorstellungen zum Grenz-wertbegriff auf dem dynamischen und statistischen Aspekt dieses Begriffs sowie dem bewuss-ten Ubergang von einem zum anderen Aspekt beruht. Es bedarf also, wie schon in D 2.3.1 undD 2.3.2 angekundigt, beider Aspekte oder anders gesprochen des Yin und Yangs im Sinne vonwechselseitig aufeinander bezogenen Gegensatzlichkeit, die erst zusammen eine Gesamtheitergeben. Diese beiden Aspekten sowie der Wechsel von einem zum anderen wurden aber auchschon im fachmathematisch orientierten Zugang zum Grenzwertbegriff D 2.1 sichtbar.Die Erarbeitung des Grundwissens zum Grenzwertbegriff baut auf den Grundvorstellungenauf, prazisiert die dort verwendeten Sprechweisen fast alle Folgenglieder liegen in einer Um-gebung von ... und fuhrt so zur Grenzwertdefinition mitsamt der Begriffe konvergent unddivergent. Die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Monotonie, Beschranktheit undKonvergenz runden das Grundwissen ab.Das Entwickeln von Grundfahigkeiten zum routinehaften Anwenden des Grenzwerts in derSchule geschieht im Wesentlichen uber Nullfolgen und Grenzwertsatze. Damit wird die Rele-vanz der mathemaischen Faktenboxen 8 und 10 fur den schulischen Zugang zum Grenzwert-begriff deutlich.Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass ein schulischer Zugang zum Grenzwert-begriff enge Verbindungen zur Fachmathematik hat bzw. in dieser wurzelt und mannigfachedynamische Erfahrungen bzw. Visualisierungen sowie die Berucksichtigung fachdidaktischerPrinzipien und Konzepte braucht.

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86 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

§2.5 Historisch-philosophischer Exkurs: Uber das Unendliche

Das Unendliche ist weit, vor allem gegen Ende.(Alphonse Allais, Franzosischer Literat und Humorist, 1854–1905)

Die Idee des”Unendlichen“ beschaftigt die Menschen schon seit sehr langer Zeit und hat ihre

Phantasie immer wieder beflugelt. Demzufolge gibt es eine Unzahl von Betrachtungen zum

”Unendlichen“ aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln: von der Theologie uber die Philoso-

phie zur Kunst und Literatur, den Naturwissenschaften und schließlich zur Mathematik.

Das Unendliche hat wie keine andere Frage von jeher so tief das Gemut des Men-schen bewegt; das Unendliche hat wie kaum eine andere Idee auf den Verstandso anregend und fruchtbar gewirkt; das Unendliche ist aber auch wie kein andererBegriff so der Aufklarung bedurftig. (Hilbert, 1926, p. 163)

Eine Umfassende Darstellung ist an dieser Stelle klarerweise weder moglich noch sinnvoll.Wir diskutieren hier lediglich einige grundlegende Ideen und Vorstellungen zum Unendlich-keitsbegriff in der Mathematik. Dafur haben wir vor allem zwei Grunde: Einerseits gehortunserer Ansicht nach ein Basiswissen zum Unendlichkeitsbegriff zur Allgemeinbildung (ange-hender) Lehrer/innen. Andererseits (und noch wichtiger) spielen beim Lehren und Lernen desFolgen- und des Grenzwertbegriffs im Rahmen der Schulanalysis die schon vorhandenen (in-dividuellen Grund-)Vorstellungen der Schuler/innen zum

”Unendlichen“ eine große Rolle. Die

in diesem Zusammenhang auftretenden Vorstellungen und Sichtweisen mit ihren Problemenspiegeln vielfach die Probleme der tatsachlichen historischen Entwicklungen in der Mathema-tik wieder. Insofern liegt hier auch ein Betatigungsfeld fur die didaktische Phanomenologie,vgl. 1.1.2.

Tatsachlich nehmen die Wechselbeziehungen zwischen dem Folgen- und Limesbegriff und demUnendlichkeitsbegriff sowie ihr Wandel eine wichtige Rolle in der Geschichte der Mathematikein — genauso wie die damit verbundenen Fehlvorstellungen. So formulierte der wahrschein-lich bedeutendste Mathematiker seiner Zeit, David Hilbert (1862–1943) noch im Jahre 1925:

Die mathematische Literatur findet sich, wenn man darauf acht gibt, stark durch-flutet von Ungereimtheiten und Gedankenlosigkeiten, die meist durch das Unend-liche verschuldet sind. (Hilbert, 1926, p. 162)

§2.5.1 Sichtweisen auf das”Unendliche“

Wie bereits angedeutet, durchzieht die Frage nach dem”Wesen der Unendlichkeit“ wie ein

roter Faden die Geschichte der Mathematik und insbesondere der Analysis. Der Entwicklungder mathematischen Begriffe Unendlich, Folge und Grenzwert, die in enger Wechselbeziehungzueinander stehen, kommt in der Geschichte der Analysis eine tragende Rolle zu wie wir imnachsten Abschnitt etwas genauer diskutieren werden. Hier diskutieren wir — in gebotenerKurze — Vorstellungen zum

”Unendlichen“.

2.5.1. Das potentiell und das aktual Unendliche. Schon in der Griechischen Antikewar die Auseinandersetzung mit dem Unendlichkeitsbegriff ein zentrales Element der Philo-sopie und der Mathematik. Spatestenens Aristoteles (384–322 v. u. Z.) unterscheidet in seinerOntologie folgende zwei Vorstellungen vom

”Unendlichen“:

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 87

(1) Das potentiell Unendliche ist die in der Vorstellung vorhande Moglichkeit einer fortwah-renden, nicht endenden Wiederholung einer Handlung oder eines Prozesses, z.B. beimfortlaufenden Zahlen, beim Verstreichen der Zeit, beim fortlaufenden Halbieren einerStrecke. In der modernen Sprache von Mengen konnen wir auch sagen:

Eine Menge, zu der prinzipiell unendlich viele Objekte hinzufugbar sind, heisstpotentiell unendlich.

Da so eine unendliche Gesamtheit niemals”wirklich durchlaufen“ werden kann, ist das

Unendliche in diesem Sinn nicht”wirklich vorhanden“; anders das

(2) Aktual Unendliche, bei dem bereits das Ergebnis eines unendlichen Prozesses vorliegt,z.B. in Form einer Flache, die durch das Zusammenfugen unendlich vieler Flachenstuckeentstanden ist. In moderner Sprache

heisst eine Menge aktual unendlich, falls sie bereits”wirklich unendlich viele“

Objekte enthalt.

Aristoteles lehnt allerdings die Idee vom aktual Unendlichen ab:

Uberhaupt existiert das Unendliche nur in dem Sinne, dass immer ein Anderesund wiederum ein Anderes genommen wird, das eben Genommene aber immerein Endliches, jedoch ein immer Verschiedenes und wieder ein Verschiedenes ist.(Aristoteles, Metaphysik )

”Unendlich“ bezieht sich Aristoteles zufolge nur auf

”dasjenige, außerhalb dessen immer noch

etwas ist“13 Fur Aristoteles ist die Vorstellung der Moglichkeit des potenziell unendlichenProzesses die zentrale Vorstellung zum Unendlichkeitsbegriff, denn

”das Unendliche gibt es

(nur) im Modus der Moglichkeit“.In moderner Sprache steckt in der Aristotelischen Vorstellung des Unendlichen die Idee dessukzessiven Erzeugens einer Folge. Es handelt sich hier um eine sogenannte dynamische Vor-stellung einer Folge bzw. des Unendlichen, die als im fortwahrenden Aufbau begriffene Objektegesehen werden. Genau das gilt als eine oder die zentrale Grundvorstellung vom Unendlich-keitsbegriff.

Diese Vorstellung hat allerdings ohne die erganzende Vorstellung bzw. die Akzeptanz desaktual Unendlichen ihre Probleme, wie z.B. durch die Bewegungsparadoxien des Zenon vonElea (490–430 v. u. Z.) offensichtlich wird. Eine Analyse von unendlich oft wiederholtenHandlungen fuhrt auf Widerspruchlichkeiten, falls sie nur mit dem Begriff des potentiell, nichtaber mit dem des aktual Unendlichen operiert, wie wir auch in der folgenden Ubungsaufgabeherausarbeiten.

Ubungsaufgabe.

39 Achill und die Schildkrote. Die Bewegungsparadoxien des Zenon von Elea decken dieProblematik von unendlich oft wiederholten Handlungen (hier Zurucklegen einer bestimmtenTeilstrecke) auf, falls sie nur mit dem Begriff des potentiell, nicht aber mit dem des aktualUnendlichen analysiert werden.

13Der Ausschluss des aktual Unendlichen wird in der antiken und mittelalterlichen Theologie (z.B. bei Tho-mas von Aquin) zentraler Bestandteil von Gottesbeweisen: Ein Fortschreiten, das sich prinzipiell ins Unendlichefortsetzt, kann niemals abgeschlossen sein. Daher ist eine Erklarung der (als unendlich angenommenen) Welt,die bei einem bestimmten Objekt beginnt und seine Ursachen anfuhrt und sich so ins Unendliche fortsetztnicht moglich. Daher muss als Erstursache

”Gott“ angenommen werden.

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88 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Achilleus14 verfolgt eine Schildkrote, die allerdings einen Vorsprung von, sagenwir 100m hat. Bevor Achill die Schildkrote einholen kann, muss er erst ihrenStartpunkt erreichen. In der Zeit, die er dafur benotigt, legt die Schildkrote aberauch wieder einen Weg zuruck, sagen wir 1/10 des ursprunglichen Vorsprungsvon 100m. Um die Schildkrote zu erreichen, muss Achill (mindestens) diesen neu-en Standpunkt der Schildkrote (der bei 110m gelegen ist) erreichen. Dieses Spielwiederholt sich nun: Jedes Mal, wenn Achill den fruheren Standpunkt der Schild-krote erreicht, hat diese wieder ein Stuck Weg zuruckgelegt und so kann Achill dieSchildkrote niemals ereichen.

Klaren Sie die Situation, d.h. die Frage ob und wo Achill die Schildkrote einholt auf zweiArten:

a) Mittels”physikalischer“ Argumentation: Benutzen Die dazu die Beschreibung des Wett-

laufs mittels zweier gleichformiger Bewegungen. (Achill legt bis zum Zeitpunkt t ≥ 0 denWeg a(t) = v t zuruck, wobei v seine (konstante) Laufgeschwindigkeit ist. Die Schild-krote den Weg s(t) = (v/10) t, da Achill 10 mal so schnell lauft wie sie.)

b) Mittels mathematischer Argumentation: Berechnen Sie dazu die von Achill bis zumEinholen der Schildkrote zuruckgelegte Strecke unter Verwendung einer unendlichenReihe.

Diskutieren Sie diese beiden Losungen im Kontext der Begriffe des potentiell und des aktualUnendlichen.

2.5.2. Platonismus, Realismus, Formalismus. Im Gegensatz zu Aristoteles lasst Platon(428/7–348/7 v. u. Z.) im Rahmen seiner Ideenlenhre das aktual Unendliche zu15. Im ihremRahmen kommt Ideen eine eigenstandige Existenz zu, die der Existenz der sinnlich wahrnehm-baren Objekte ontologisch ubergeordnet ist. Solche Platonische Ideen sind beispielsweise

”das

Gerechte an sich16“ oder auch mathematische Begriffe wie”der Kreis an sich“. Tatsachlich

lasst sich ein perfekter Kreis weder in der Natur finden noch herstellen; selbst bei genauestemArbeiten mit einem Zirkel wird ein gezeichneter Kreis immer ungenau bleiben. Der

”Kreis

an sich“ ist die dahinterliegende ideale Idee des Kreises — allerdings geht laut Platon dieseIdee uber die bloße Vorstellungen im menschlichen Geist hinaus; ihr kommt eine objektivemetaphysische Realitat zu.Platons Ideenkonzeption steht somit im Gegensatz zu Auffassungen, die Allgemeinbegriffe alsreine Konstrukte menschlicher Abstraktion sehen, die haupsachlich zur Klassifizierung undOrdnung von Objekten dienen.

Die auf Platons Ideenlehre zuruckgehende Denkschule wird im Kontext der Philosophie derMathematik als Platonismus bezeichnet. Vereinfacht kann die platonische Sichtweise auf dieMathenmatik etwa so ausgedruckt werden: Mathematische Theoreme oder Begriffe werdenentdeckt, nicht etwa erfunden oder konstruiert. Sie sind unabhangig davon da, ob die Mathe-matker/innen sie entdecken oder nicht.

14In der griechischen Mythologie ist Achilleus der starkste der griechischen Krieger im trojanischen Krieg.Die Ilias des Homer beginnt mit dem Vers

”Singe den Zorn, o Gottin, des Peleiaden Achill“. Man kann somit

behaupten, dass der Zorn die alteste uberlieferte Emotion des Abndlandes ist...15Auch hier finden sich Bezuge zur Theologie: Augustinus identifiziert Gott mit dem aktualen Unendlichen.

Uberhaupt fuhrt eine ideengeschichtliche Spur von den Pythagoraern uber Platon zur antiken und mittelal-terlichen Theologie, die den sakularen und rationalen Stromungen der griechischen Antike zugegenlauft, vgl.etwa (Russel, 1950, I. und II. Teil)

16Vergleiche etwa auch die sprichwortliche”Platonische Liebe“.

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 89

Eine Gegenposition im Rahmen der Philosophie der Mathematik ist der Formalismus, derdavon ausgeht, dass gar keine mathematischen Objekte gibt. Die gesamte Mathematik istformal und besteht lediglich aus Axiomen, Definitionen und Theoremen — also aus Formelnund formalen Regeln, die besagen, wie man eine Aussage aus einer anderen ableitet. DieseFormeln geben aber keine Auskunft uber irgendetwas, sie sind einfach nur Zeichenketten.Erst uber die Interpretation einer Formel etwa in einem physikalischen Kontext erhalt sieeinen Inhalt, der je nach Kontext wahr oder falsch sein kann. Die Mathematik an sich ist eineeinzige gigantische Tautologie.

In gewisser Weise eine moderne Spielart des Platonismus ist der Realismus: MathematischeObjekten wird zwar keine ontologische oder metaphysische Existenz zugesprochen, aber im-merhin eine objektive und interpersonelle. Diese Position geht beispielweise davon aus, dasseine etwaige außerirdische Intelligenz dieselbe Mathematik

”entdecken“ wurde, wie wir Men-

schen.

2.5.3. Konstruktivismus.

Eine anderer und extremer Standpunkt, was vor allem seinen Bezug zum”Unendlichen“

betrifft — und uns damit zum eigentlichen Thema unseres Exkurses zuruckbringt — ist derKonstruktivismus, der allerdings verschiedene Spielarten bzw. Abstufungen kennt. Allgemeinist die Position des Konstruktivismus, dass die Existenz mathematischer Objekte durch ihreKonstruktion begrundet werden muss.

Um die Abstufungen des Konstruktivismus und seine Haltungen zum”Unendlichen“ zu disku-

tieren, betrachten wir die gewissermaßen einfachste unendliche Menge N: Zu jeder naturlichenZahl kann man einen Nachfolger angeben und so lasst sich jede (noch so große) naturlicheZahl in endlich vielen Schritten angeben. Das gilt aber nicht fur die gesamten Menge N mitallen ihren Elementen. Die verschiedenen Stanpunkte sind nun:

(1) Der Finitismus besagt: Mathematik ist nur das, was sich durch eine endliche Konstruk-tion erzeugen lasst. Die Menge N ist daher nur als potentiell unendliche Menge zulassig.

(2) Noch extremer ist der Ultrafinitismus: Schon Mengen der Form {1, 2, . . . , n} konnennicht vollstandig aufgeschrieben werden, denn fur grosse n reichen dazu weder die Le-benszeit eines oder auch alle Mathematiker/innen noch die Zahl der Elementarteilchenim Universum, die mit 1080 abgeschatzt werden kann. Hier werden also alle Formen desUnendlichen abgelehnt.

(3) Der gemaßigte Konstruktivismus akzeptiert ein mathematisches Objekt, wenn es einVerfahren gibt, mit dem es in endlich vielen Schritten konstruiert werden kann. In diesemSinne ist die Menge N aktual unendlich, weil sie in Form eines Algorithmus existiert,mit dem man jede naturliche Zahl in endlich vielen Schritten erzeugen kann.

”Fertig

vorliegend“ ist hier allerdings nicht die Menge als Zusammenfassung ihrer Elemente,sondern nur der erzeugende Algorithmus.Oft vermeidet diese Position daher im aktuellen Zusammenhang den Begriff

”aktual

unendlich”

und bezeichnet Mengen wie die der naturlichen Zahlen lieber als”

operativabgeschlossen“, was bedeutet, dass mittels des zugehorigen Algorithmus jedes Elementder Menge fruher oder spater erzeugt werden kann.

(4) Die Menge R der reellen Zahlen ist dann der klassische Fall einer nicht operativ ab-geschlossenen Menge. Ein Algorithmus kann namlich nur Zahlen produzieren, die mitendlich vielen Zeichen darstellbar sind, und damit endliche oder abzahlbare Mengen. DieMenge R ist aber uberabzahlbar und daher nicht mit Hilfe eines Algorithmus angebbar.

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90 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Im Rahmen des Kontruktivismus kann R daher nicht als”fertig vorliegend“ aufgefasst

werden und gilt somit (nur) als potentiell unendliche Menge.(5) Weil die Menge der reellen Zahlen von uberaus großer Bedeutung fur die gesamte Ma-

thematik ist, sollte es nicht verwundern, dass es auch eine philosophische Position gibt,die bei einer allgemein kritsichen Haltung gegenuber dem aktual Unendlichen, dennochR als aktual unendliche Menge akzeptiert. Hier wird meist mit dem Vorliegen einer spe-ziellen Intuition bezuglich des

”Kontinuums“ der reellen Zahlen argumentiert, weshalb

diese Position als Intuitionismus bezeichnet wird.

2.5.4. Fazit ist, dass es somit in der Philosophie der Mathematik neben der Ablehnung al-ler Unendlichkeitsbegriffe (Ultrafinitismus) folgende Positionen gibt: Die ausschließliche Ak-zeptanz des potentiell Unendlichen (Finitismus), daruber hinausgehend die Akzeptanz desaktual Unendlichen nur fur operativ abgeschlossene Mengen wie die der naturlichen Zah-len (Konstruktivismus), sowie die Akzeptanz des aktual Unendlichen nur fur das Kontinuum(Intuitionismus), wahrend der Platonismus das aktual Unendliche durchgehend akzeptiert.Daruberhinaus konnen wir wie folgt zusammenfassen:

Die”Mainstream-Mathematik“ und gleichzeitig die uberwiegende Mehrheit der

heutigen Mathematiker/innen akzeptiert das aktual Unendliche fur alle Mengen,die sich im Rahmen der axiomatischen Mengenlehre nach Zermelo-Fraenkel (sieheetwa (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn. 4.5)) definieren lassen

Die Existenz der Menge der naturliche Zahlen ist dabei axiomatisch im Unendlichkeitsaxi-om aufgehoben und die der reellen Zahlen im Potenzmengenaxiom. Auf dieser axiomatischenGrundlage ergibt sich daruber hinaus eine

”Hierachie“ aktual unendlicher Mengen, deren

”Große“ durch die unterschiedlichen Kardinalzahlen markiert wird. Die Frage ob die

”Ge-

samtheit“ aller dieser Kardinalzahlen als aktuale Unendlichkeit aufgefasst werden kann, fuhrtallerdings in die (Untiefen der) mathematische(n) Logik: Die Menge der Kardinalzahlen imSinne der axiomatischen Mengenlehre aufzufassen, fuhrt namlich auf einen logischen Wider-spruch (erste Cantorsche Antinomie).

Insgesamt ist es eine große Starke der Mathematik (wie auch der Naturwissenschaften all-gemein), dass sie

”funktioniert“, egal welche philosophische Position man zu ihr einnimmt.

Genauer, die Qualitat mathematischer Resultate und Theorien ist unabhangig davon, wel-che philosophische Positionen die Mathematiker/innen, die sie hervorbringen diesbezuglicheinnehmen.Tatsachlich nehmen vermutlich die meisten Mathematiker/innen bewusst oder unbewusst ei-ne Position ein, die irgendwo im Kontinmuum zwischen Platonismus und Formalismus liegen— manchmal sind sie auch unentschieden, wie ein Bonmot, das dem amerikanischen Mathe-matiker Philip J. Davis zugeschrieben wird:

”Der typische Mathematiker ist an Werktagen

Platonist und an Sonntagen Formalist“.

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§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 91

§2.5.2 Eine (ganz) kurze Geschichte des Grenzwertbegrifs

Ausgestattet mit einem Grundwissen uber die verschiedenen Vorstellungen zum Unendlich-keitsbegriff unternehmen wir nun einen sehr kurzen Abstecher in die Geschichte des Grenz-wertbegriffs im Rahmen der Analysis. Naturlich existiert zu diesem Thema eine unuberschau-bare Fulle an Literatur; ein Startpunkt ist etwa (Greefrath et al., 2016, Abschn. 3.1) und diedort zitierte Literatur.

In dieser Geschichte traten in wechselnder Abfolge und auch ineinander verschrankt dynami-sche und statische, sowie intuitive und formale Sichtweisen und Vorstellungen des Grenzwertsund des

”Unendlichen“ auf. Wir besprechen nur die wesentlichsten Schritte dieser Entwick-

lungen.

Die in Abschnitt D.§2.5.1 herausgearbeitete weitgehende Akzeptanz des aktual Unendlichensteht in ihrer historischen Entwicklung im Zusammenhang mit der Bemuhung, die dynamischeSichtweise des potentiell Unendlichen durch statische Betrachtungsweisen zu ersetzen.

2.5.5. Fruhe Vorstellungen.

Die Entstehung, Entwicklung und Abgrenzung des Grenzwertsbegriffs in der Mathematikder Neuzeit ist eng mit der Entwicklung der Begriffe von Folgen und Reihen verbunden.Daruberhinaus spielten konkrete Vorstellungen vom Aufzahlen und Anneinanderreihen vonFolgen- oder Reihengliedern eine große Rolle, ebenso wie Bewegungsvorstellungen.

Etwa schon zu Beginn der Neuzeit im 16. und 17. Jahrhundert wird die (unendliche) Sum-mation der geometrischen Reihe

1 +1

2+

1

4+

1

8+

1

16. . . (D.56)

wie in Abbildung D.31 dargestellt. Aus dieser auch heute noch im Unterricht verwendetenDarstellung ist unmittelbar einsichtig, dass die Summe durch 2 beschrankt ist, also endlichbleibt.

Abb. D.31: Summation der geometrischen Reihe

Isaac Newton (1643–1727), einer der Ko-erfinder der Differentialrechnung und auch Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783)17 bedienten sich hauptsachlich dynamische oder

17D’Alembert war nicht nur Mathematiker und Physiker, sondern auch ein bedeutender Philosoph derAufklarung. Gemeinsam mit Denis Diderot (1713–1784) war er Herausgeber der monumentalen Encyclopedieou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

92 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

kinematische Vorstellungen. Hingegen verwendete der zweite Ko-Erfinder der Differentialrech-nung Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) ebenso wie Leonhard Euler (1707–1783)

”unend-

lich kleine Großen“ bei der Berechnung des Differenzialquotienten und verbinden damit eineeher statische Vorstellung. Letzteres kann mit der Terminologie von Abschnitt D.§2.5.1 soformuliert werden, dass mit aktual unendlichen Großen als

”realen Objekten“ hantiert wird.

Mit Augustin-Louis Cauchys (1789–1857) Lehrbuch”Cours d’Analyse“ von 1821 wird der

Grenzwertbegriff auch formal zu einem Grundbegriff der Analysis. In einer vielzitierten Stelledefiniert Cauchy den Grenzwert (er sagt die

”Grenze“) einer Folge mit den Worten:

Wenn die einer variablen Zahlengroße successive beigelegten Werthe sich einembestimmten Werthe bestandig nahern, so daß sie endlich von diesem Werthe sowenig verschieden sind, als man irgend will, so heißt die letztere die Grenze allerubrigen. (Cauchy 1828, S. 3)

Diese der modernen Definition schon recht nahe Formulierung verwendet eindeutig die dyna-mische Vorstellung des sich schrittweise Annaherns an den Grenzwert.

2.5.6. Exaktifizierung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzt sich in der Mathematik undauch in Lehrbuchern immer starker eine strenge und formale Sichtweise durch. Vor allem un-ter dem Einfluss von Karl Weierstraß (1815–1897) werden die naiven und intuitiv gepragtenVorstellungen von

”unendlich kleinen“ und

”unendlich großen Großen“ aus der Mathema-

tik verbannt18 Diese werden durch Prozesse ersetzt, die mit dem Operieren im Endlichenauskommen, vgl. auch A 1.1.6.Klar kommt dieser Zugang (fast Auftrag) in folgendem Hilbert-Zitat zum Ausdruck:

Das Unendliche findet sich nirgends realisiert; es ist weder in der Natur vorhanden,noch als Grundlage in unserem verstandesmaßigen Denken zulassig [. . . ]. Das Ope-rieren mit dem Unendlichen kann nur durch das Endliche gesichert werden [. . . ].(Hilbert 1926, S. 190)

In diesem Sinne formuliert auch Weierstraß zur Summation der geometrischen Reihe:

Wir haben fruher gesehen, dass es stets moglich ist, aus der unendlichen Reiheeine endliche Anzahl Glieder so herauszunehmen, dass ihre Summe der ganzenReihe beliebig nahe kommt, dass der Unterschied kleiner als eine beliebig kleineGroße gemacht werden kann. (Weierstraß 1874, S. 60 f.)

Konsequenter Weise fuhrt dieser Zugang auf die ε-N -Definition des Folgen-Grenzwerts (vgl.2.2.1)

an → a (n→∞) :⇐⇒ ∀ε > 0 : ∃N : ∀n ≥ N : |an − a| < ε (D.57)

und spater auch zur analogen Definition des Grenzwerts fur Funktionen.

Damit sind intuitive Vorstellungen vom”Unendlichen“ z.B. jene von der unbegrenzten Fort-

setzbarkeit eines Prozesses nicht mehr notig um den Grenzwertbegriff zu fassen bzw. zu de-finieren. Der Grenzwert tritt in der Definition von Anfang an als

”real existierendes“ Objekt

(genauer eine Zahl) auf, dem eine bestimmte Eigenschaft zukommt. (Namlich die, dass ihr die

18Diese erlebten ab Mitte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der (allerdings axiomatisch fundierten)Nichtstandard-Analysis eine Wiederbelebung. Die Nichtstandard-Analysis ist heute ein kleines aber nach wievor aktives Forschungsgebiet der Mathematik.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 93

Folge schließlich beliebig nahe kommt.) Man konnte im Zusammenhang mit dieser Definitionetwas pathetisch von der

”Verbannung“ oder der

”Abschaffung des Unendlichen“ sprechen.

Tatsachlich ist es eher eine”Entzauberung“ des Grenzwertbegriffs, denn die Definition umgeht

gerade alle Probleme beim Verstehen des”Unendlichen“ indem es eine Operationalisierung

bereitstellt und den Grenzwertbegriff handhabbar macht. Und diese Tatsache, also dass derGrenzwertbegriff formal klar und korrekt und ohne die Zuhilfenahme intuitiver Vorstellun-gen vom

”Unendlichen“ formuliert werden kann, ist der Eckstein der Starke der modernen

Analysis (und Mathematik).

So unverzichtbar, unumstritten und erfolgreich der eben beschriebene Ansatz bzw. Zugang furdie moderne Mathematik ist, so sehr ergeben sich beim Lehren und Lernen des Grenzwertbe-griffs daraus in naturlicher Wiese Schwierigkeiten. Die Definition (D.57) stellt den Endpunkteiner langen historischen Entwicklung dar und enthalt in hochkomprimierter Form nur das mi-nimal logisch notwendige Skelett des Begriffs. Die fur den Lernprozesses entscheidende Frage,wie diese hochformale Begrifflichkeit, gegeben je konkrete Vorkenntnisse und Vorerfahrungenam besten verstanden werden kann und welche Rolle intuitive Vorstellungen bzw. Grundvor-stellungen dabei spielen konnen und mussen haben wir in Abschnitt D.§2.3 diskutiert. Dazupasst auch unser abschließendes Hilbert-Zitat:

Die Rolle, die dem Unendlichen bleibt, ist vielmehr lediglich die einer Idee [. . . ],[die] alle Erfahrung ubersteigt. (Hilbert 1926, S. 190)

§2.6 Ruckblick, Reihen und eine tiefsinnige Frage

In diesem Abschnitt schauen wir zuruck und diskutieren mit gescharftem Blick nocheinmal vorallem fachliche Facetten des Grenzwerbegriffs. Wir fuhren das im Kontext einer Diskussionder tiefsinnigen und auch im Unterricht relevanten Frage

”Ist 0.9 wirklich gleich 1?“

durch. Dabei werden wir ganz naturlich auch auf den Reihenbegriff gefuhrt, dessem fachlicheAspekte wir wiederholen und beleuchten.

2.6.1. Gilt wirklich 0.9 = 1? Diese Frage tritt tatsachlich haufig unter Lernenden auf undsoll uns hier dazu dienen Verstandnisschwierigkeiten beim Erfassen der Grenzwertdefinitionzu diskutieren und aufzulosen. Fur konkrete Außerungen von Lehramtsstudierenden siehe(Danckwerts and Vogel, 2006, Abschn. 22), auf den wir auch fur weitere Details verweisen.Folgende Aussagen sind Zitate aus Online Mathematik-Foren19:

A: Ich habe mal ne kleine und bescheidene frage:

also in einem anderen forum wurde behauptet das 0,9(periode) das selbe wie 1ist und das ein wert unendlich stark angenahrt an 0 auch null sei. Da ist meinefrage, stimmt das und wenn ja warum, weil mir der gedanke doch ein bisschenbefremdend vorkommt, da man periodische zahlen ja auch als bruch schreibenkann.

B: Also ich hab genau das Gleiche mal hier im Forum gelesen und da wurde sogarbehauptet, dass es nen mathematischen Beweis dafur gibt. [...]

19Usernamen geandert

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94 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

C: 0, 9 ist identisch zu 1.Beweis: 1 = 1/3 + 1/3 + 1/3 = 0, 3 + 0, 3 + 0, 3 = 0, 9.

Aus den ersten beiden Zitaten spricht eine gewisse Skepsis, ob der vermuteten bzw. behaup-teten Gleichheit, wenn nicht sogar eine gewisse Skepsis gegenuber der Mathematik insgesamt.Tatsachlich scheint sich bei Lernenden hier oft etwas zu strauben: 0.9 = 0.99999 . . . und daskann doch nie und nimmer gleich 1 sein; da fehlt doch immer noch ein zumindest kleinesStuckchen, egal wieviele 9-er ich da anhange!

2.6.2. Mathematische Klarung. Bevor die Thematik weiter diskutieren, nehmen wir einemathematische Klarung vor. Tatsachlich ist eine solche im Rahmen der Analysis sehr simpel:Die Dezimaldarstellung der periodischen Dezimalzahl 0.9 fuhrt unmittelbar auf die geometri-sche Reihe und es gilt mit der entsprechenden Summenformel (D.11)

0.9 = 0.9 + 0.09 + 0.009 + 0.0009 . . .

= 0.9

(1 +

1

10+

1

100+

1

1000+ . . .

)=

9

10

∞∑k=0

(1

10

)k=

9

10

1

1− 110

= 1. (D.58)

Hier tritt in naturlicher Weise der Reihenbegriff auf und wir nehmen das zum Anlass, ihn ineinem kleinen Exkurs als einen zentralen Begriff der Analysis ein wenig unter die Lupe zunehmen. Zur gegenwartigen Diskussion kehren wir danach in Abschnitt D.§2.6.2 zuruck.

§2.6.1 Exkurs: Reihen und Konvergenz

Traditionell gilt der Reihenbegriff im Rahmen der Fachanalysis als eher schwierig. Wir stellenhier seine wesentlichen Facetten kurz und bundig zusammen und beginnen mit eine Auswahlan Beispielen, die auch relevant fur unsere spatere Diskussion sind.

2.6.3. Beispiel (Reihen). Viele der in der Praxis auftretenden Folgen haben die spezielleGestalt einer Summe. Wir betrachten drei davon genauer

(1) Die geometrische Reihe: Schon in (D.11) ist uns die endliche geometrische Reihe undihre Summenformel

1 + q + q2 + q3 + · · ·+ qn =n∑k=0

qk =1− qn+1

1− q(n ∈ N) (D.59)

begegnet. Um zur Summenformel fur die (unendliche) geometrische Reihe fur q mit|q| < 1 zu gelangen betrachtet man zunachst die Folge der Partialsummen

sn = 1 + q + q2 + q3 + · · ·+ qn =n∑k=0

qk (n ∈ N). (D.60)

Fur q mit |q| < 1 gelangt man nun uber den den Grenzwert der Folge (sn)

limn→∞

sn = limn→∞

n∑k=0

qk = limn→∞

1− qn+1

1− q=

1

1− q(D.61)

zur (oben verwendeten) Summenformel

∞∑k=0

qk = limn→∞

n∑k=0

qk =1

1− q. (D.62)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 95

Wie wir gleich genauer diskutieren werden, ist das in der letzten Zeile auftretenden Sym-bol

∑∞k=0 q

k ist per definitionem gleich dem Limes der Partialsummenfolge limn→∞ sn =limn→∞

∑nk=0 q

k und, weil dieser existiert gleich dem konkreten Ausdruck 1/(1− q).(2) Dezimaldarstellung reeller Zahlen: Bekanntlich hat jede reelle Zahl eine Dezimalbruch-

darstellung (siehe etwa (Heuser, 2003, Nr. 24) oder (Forster, 2016, §5, Satze 1,2) furb = 10), d.h. fur jedes a etwa aus [0, 1]20 gibt es Ziffern ak ∈ {0, 1, . . . , 9} (k ∈ N)sodass

a = a0 +a110

+a2102

+a3103

+ . . . =∞∑k=0

ak(10)−k (D.63)

gilt, was die eigentliche Bedeutung der Schreibweise a = a0.a1a2a3 . . . ist. Aber auchdas bedeutet, wenn wir genauer hinsehen, dass

a = limn→∞

sn mit sn =

n∑k=0

ak10k

, (D.64)

also a der Limes der Partialsummenfolge (sn) ist. Bemerke, dass das n-te Glied derPartialsummenfolge (sn) genau die Zifferndarstellung bis zur n-ten Nachkommastelleist.Entscheidend dafur, dass diese Darstellung funktioniert, ist, dass jede Reihe der Form(D.63) konvergiert, was ja nur bedeutet, dass (sn) aus (D.64) konvergiert. Das folgtaber sofort aus der Vollstandigkeit der reellen Zahlen mittels Monotonieprinzips: (sn)ist offensichtlich monoton wachsend und außerdem nach oben beschrankt, denn fur jedesn ∈ N gilt:

sn = a0 +a110

+a2102

+ · · ·+ an10n

≤ a0 +9

10+

9

102+ · · ·+ 9

10n

= a0 +9

10

(1 +

1

10+ · · ·+ 1

10n−1

)= a0 +

9

10

1− 110n

1− 110

(D.65)

< a0 +9

10

1

1− 110

= a0 + 1,

wobei wir wieder die Summenformel fur die endliche geometrische Reihe verwendethaben. Weil der letzte Ausdruck von n unabhangig ist, gilt die Schranke a0 + 121 furalle sn ((n ∈ N).

(3) Die Eulersche Zahl e ist bekanntlich (vgl. etwa (Heuser, 2003, 26.1), (Forster, 2016,§8)) durch die Exponentialreihe gegeben. Genauer fur

sn = 1 +1

1!+

1

2!+ . . .

1

n!(D.66)

gilt

e = limn→∞

sn = limn→∞

n∑k=0

1

k!=∞∑k=0

1

k!. (D.67)

20Fur allgemeines a ∈ R sind Vorzeichen und Zehner- Hunderter- usw. -Stellen zu berucksichtigen, vgl. dieangegebenen Zitate. Das ist aber hier nicht der Punkt.

21Diese Schranke hatten wir ja auch intuitiv erraten konnen, oder?

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

96 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

2.6.4. Das Bauprinzip. Alle obigen Beispiele folgen demselben Bauprinzip: Ausgehend voneiner Folge (ak)k∈N (z.B. ak = qk in Beispiel 2.6.3(1)) bildet man einen neue Folge (sn)n∈Nder Form

sn := a0 + a1 + · · ·+ an =n∑k=0

ak. (D.68)

Also gilt danns0 = a0, s1 = a0 + a1, s2 = a0 + a1 + a2, . . . (D.69)

Derart aufgebaute Folgen treten ausgesprochen haufig in der Mathematik auf und verdienendaher einen eigenen Namen: unendliche Reihen. Die Definiton der Konvergenz von Reihen istdamit bereits festgelegt; sie sind ja nur spezielle Folgen. Prazise formuliert man wie folgt.

Mathematische Faktenbox 11: Reihen

2.6.5. Definition (Reihe). Sei (ak)k∈N eine reelle Folge.

(1) Fur jedes n ∈ N definieren wir die n-te Partialsumme (oder Teilsumme)

sn = a0 + a1 + . . . an =n∑k=0

ak. (D.70)

(2) Die Folge der Partialsummen (sn)n∈N heißt Reihe mit den Gliedern an (nicht sn!)und wir bezeichnen sie mit

∞∑k=0

ak oder kurz∑

ak. (D.71)

(3) Konvergiert die Folge der Partialsummen (sn), so sagen wir auch die Reihe∑ak

konvergiert. In diesem Fall bezeichnen wir den Grenzwert limn→∞ sn ebenfalls mit∑∞k=0 ak (kurz

∑ak) und nennen ihn Summe oder Wert der Reihe.

2.6.6. Bemerkung (Zur Terminologie).

(1) Die hier auftretende aber weithin gebrauchliche Doppelbedeutung des Symbols∑∞k=0 ak (kurz

∑ak) kann anfanglich Verwirrung stiften, daher ganz explizit: Das

Symbol∑∞

k=0 ak (kurz∑ak) steht fur zwei unterschiedliche Dinge, namlich

(a) die Reihe selbst, also die Folge der Partialsummen, d.h.

(sn)∞n=0 =

(n∑k=0

ak

)∞n=0

=:

∞∑k=0

ak und (D.72)

(b) im Falle der Konvergenz von (sn) auch fur den Grenzwert, also

limn→∞

sn = limn→∞

n∑k=0

ak =:

∞∑k=0

ak. (D.73)

Diese terminologsiche Festlegung ist sicher etwas unglucklich, mangels Alternati-ven aber universell gebrauchlich. Mit etwas Erfahrung ist (sollte) es aber nicht soschwierig (sein), sich hier zurecht zu finden.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 97

Mathematische Faktenbox 11 – Fortsetzung

(2) Eine Reihe ist also als eine spezielle (Art von) Folge definiert. Das ist eine mathe-matisch eleganter

”Trick“ um den sehr vagen Begriff einer

”Summe von unendlich

vielen Summanden“ zu fomalisieren. An diesem sehr schlecht definiereten Begrifffestzuhalten ist in vielen Situationen nicht hilfreich und (Heuser, 2003, Nr. 30)spricht sogar von einem

”Unbegriff, der nur Verwirrung stiftet“.

(3) Ganz analog zu Folgen betrachtet man auch oft Reihen∑∞

k=l ak fur beliebige l ≥ 1.

2.6.7. Beispiel (Reihe). Sei ak = 1k(k+1 (n ≥ 1). Die korrespondierende Reihe ist dann

∞∑k=1

1

k(k + 1). (D.74)

Bemerke, dass ak = kk+1 −

k−1k gilta und daher gilt fur die Partialsummen

sn =

n∑k=1

ak =

n∑k=1

(k

k + 1− k − 1

k

)=

(1

2− 0

)+

(2

3− 1

2

)+

(3

4− 2

3

)+ . . .

· · ·+(n− 1

n− n− 2

n− 1

)+

(n

n+ 1− n− 1

n

)=

n

n+ 1→ 1 (n→∞).

Also ist die Reihe konvergent und es gilt

∞∑k=1

1

k(k − 1)= lim

n→∞sn = 1. (D.75)

2.6.8. Bemerkung (Konvergenz von Reihen). Die Untersuchung der Konvergenzvon Reihen stellt sich oft als noch schwieriger heraus als fur Folgen, vgl. 2.2.8.Zunachst gilt, dass eine Reihe

∑ak nur dann konvergieren kann, falls ihre Glieder ak eine

Nullfolge bilden. Diese intuitiv klare Aussage wird meist mittels des Cauchykriteriumsfur Reihen bewiesen, siehe etwa (Heuser, 2003, Nr. 31). Die Umkehrung dieser Aussageist falsch, denn die harmonische Reihe

∑ 1k divergiert. Zusammengefasst gilt also die

fundamentale Tatsache:∑ak konvergiert

=⇒��⇐=

ak → 0 (D.76)

Um also nachzuweisen, dass eine Folge konvergiert muss man also zeigen, dass ak ”schnell“

gegen 0 geht. Dafur kennt die Analysis eine Reihe von Tests, z.B. Quotiententest, Wur-zeltest, etc. siehe z.B. (Heuser, 2003, Nr. 33), (Forster, 2016), (Steinbauer, 2013b, 1 §4)).Ist es gelungen die Konvergenz einer Reihe nachzuweisen, kann es weiters noch sehrschwierig sein, den Reihenwert zu berechnen. Das ist in vielen Fallen eine richtige

”Klein-

kunst“, die dann allerdings eine Fulle von wichtigen und schonen Resultaten liefert, etwakonkrete Darstellungen transzendenter Zahlen, wie etwa

∞∑k=0

(−1)k

2k + 1= 1− 1

3+

1

5− 1

7+

1

9− · · · = π

4. (D.77)

a kk+1− k−1

k= k2−(k2−1)

k(k+1)= 1

k(k+1)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

98 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

§2.6.2 Fachdidaktische Diskussion: 0.9 ist tatsachlich 1!

In diesem abschließenden Abschnitt von §D.§2 kommen wir auf die oben aufgeworfene undschon positiv beantwortetet Frage:

”Ist 0.9 wirklich gleich 1“ zuruck und diskutieren sie aus

der Sicht der Fachdidaktik. Fur eine weitaus detailliertere Darstellung siehe (Danckwerts andVogel, 2006, Abschn. 2.2).

2.6.9. Fertigprodukt und dann? Unsere oben dargestellte mathematische Klarung 2.6.2stellt in gewisser Weise einen Griff in die Kiste der

”mathematischen Fertigprodukte“ dar. Sie

ist zwar elegant und fachlich wenig anspruchsvoll (relativ im Kontext der Analysisausbildungim Lehramt), aber in welchem Kontext ist sie auch sinnstiftend?Die in 2.6.1 zitierten Fragen verweisen darauf, dass es auch um ein Verstehen des Prozesses(bei) der Entstehung des Objekts 0.9 geht, also der Blick auf die Folge der Partialsummen

0.9, 0.99 = 0.9 + 0.009, 0.999 = 0.9 + 0.09 + 0.009, . . . (D.78)

gerichtet ist. Die formale Antwort 2.6.2 fokussiert dem entgegen auf die Frage nach demEndprodukt dieses Prozesses, den Grenzwert der Partialsummenfolge.

Hier entsteht ein Spannungsverhaltnis zwischen der prozessorientierten Frage und der objek-torientierten Antwort, bzw. in der Terminologie von Abschnitt §2.3 zwischen dynamischemund statischem Aspekt des Grenzwertbegriffs, in der sich auch das Spannungsverhaltnis zwi-schen dem potentiell und dem aktual Unendlichen spiegelt.An diesem Spannungsverhaltnis muss auch jeder Versuch einer verstehensorientierten inhalt-lichen Auseinandersetzung ansetzen. Hier kann dies gelingen, indem wir die auch im All-tagsdenken verankerte Figur des hypothetischen Denkens anwenden und uns mit der Frageauseinandersetzten:

”Welche Konsequenzen hat es, wenn an der Weigerung 0.9 = 1 zu akzeptieren,

festgehalten wird?“

2.6.10. Konsequenzen aus 0.9 6= 1. Nehmen wir also an, dass 0.9 echt kleiner 1 ist. Dannhaben die beiden Zahlen 0.9 und 1 einen positiven Abstand, nennen wir in d. Diese Situationkonnen wir auf dem Zahlenstrahl wie in Abbildung D.32 veranschaulichen.

0.9 1

d

Abb. D.32: Abstand d zwischen 0.9 und 1

0.9 1

d

0.9(n)9

Abb. D.33: 0.9(n)9 liegt links von 0.9

Jedes endliche Stuck (jede endliche Partialsumme) von 0.9 ist kleiner 0.9. Betrachten wirzum Beispiel fur ein fixes n ∈ N die Zahl, die wir durch Abbruch nach der n-ten Nachkom-mastelle erhalten und bezeichnen wir sie mit 0.9(n)9. Diese liegt dann links von 0.9 auf demZahlenstrahl, siehe Abbildung D.33. Außerdem gilt fur den Abstand von 0.9(n)9 zu 1

1− 0.9(n)9 = 0.0(n)1 =1

10n, (D.79)

siehe Abbildung D.34. Mit wachsendem n wird nun der Abstand von 0.9(n)9 zu 1, namlich1

10n immer kleiner. Es ist ja qn fur q = 110 < 1 eine Nullfolge. Daher muss 1

10n schließlich auch

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. DER GRENZWERTBEGRIFF 99

d unterschreiten (egal wie klein d auch war)! Das entspricht aber der Situation in AbbildungD.35 und das ist absurd! Denn nun liegt ein endliches Teilstuck 0.9(n)9 von 0.9 rechts von0.9, ist also großer als 0.9.

0.9 1

d

0.9(n)9

110n

Abb. D.34: Abstand 110n zwischen 0.9(n)9

und 1 fur”kleines“ n.

0.9 1

d

0.9(n)9

110n

Abb. D.35: Abstand 110n zwischen 0.9(n)9

und 1 fur”grosses“ n.

Damit sind wir also an einem Widerspruch angelangt namlich:

0.9 ist kleiner als ein endliches Teilstuck 0.9(n)9 seiner selbst.

Um diesen Widerspruch aus der Welt zu schaffen, bleibt uns nur eine Moglichkeit. Wir habengar keine andere Wahl, als die Annahme (unsere Uberzeugung?), dass 0.9 < 1 gilt, aufzugeben.Wir mussen also (doch) akzeptieren:

0.9 und 1 ist derselbe Punkt auf dem Zahlenstrahl.

2.6.11. Fachdidaktische Abschlussbemerkung. Die Spannung zwischen der innerma-thematischen Klarung der Tatsache, dass 0.9 = 1 gilt und dem ursprunglichen, intuitivenVerstehen sind manifest und unvermeidlich. Die entstehenden Bruche sind beim Lehren vonMathematik geeignet zu thematisieren und inszenieren um sinnstiftende Brucken schlagen zukonnen, vgl. (Danckwerts and Vogel, 2006, p. 32).Die Bruche treten besonders im Rahmen der Exaktifizierung des Grenzwertbegriffs zu Tageund unterstreichen unsere Behauptung aus 2.1.1: Das Alltagsdenken findet keine bruchloseFortsetzung in der Analysis.Auch das abschließende Thema fur dieses Kapitel, die Vollstandigkeit der reellen Zahlen,bestatigt diese Aussagen, wie wir gleich sehen werden.

Ubungsaufgabe.

40 Fragen und Antworten. Kehren Sie zu den Forenbeitragen in 2.6.1 zuruck undbearbeiten Sie die folgenden Aufgabenstellungen unter Berucksichtigung der Ergebnisse derDiskussion in der Vorlesung D.§2.6:

(a) Formulieren Sie in moglichst klarer Sprache, was die jeweiligen Poster fragen bzw. be-haupten.

(b) Klaren Sie die jeweilige Situation fachlich.(c) Verfassen Sie jeweils Antwortpostings in denen Sie A, B und C die Situation erklaren.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

100 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

§3 Die Vollstandigkeit der reellen Zahlen22

3.1.1. Zugange zu R. Es ist weithin akzeptierte Position der Fachdidaktik, vgl. (Danckwertsand Vogel, 2006, Abschn. 2.3), dass im schulischen Unterricht im Umgang mit den reellenZahlen ein intuitiver bzgl. phanomenologischer Standpunkt eingenommen werden soll, d.h.

Man betrachtet die reellen Zahlen als die in naturlicher Weise gegebene Gesamtheitder Punkte auf dem Zahlenstrahl.

Dieser intuitive Zugang im schulischen Kontext entspricht durchaus der historischen Entwick-lung: Bis ins 19. Jahrhundert wurde in der Mathematik recht sorglos mit den reellen Zahlenumgegangen und ihre Exaktifizierung stellt gewissermaßen den Schlussstein in der Entwick-lung zur heutigen Analysis dar. Das spiegelt sich auch in der Sonderrolle des Kontinuums inRahmen des Intuitionismus wider, vgl. Abschnitt D.§2.5.1.Zur Beschreibung des hier propagierten Zugangs zitieren wir Hans Freudenthal (1905–1990),einen niederlandischer Mathematiker und einflussreichen Fachdidaktiker:

Man betrachte die reellen Zahlen als etwas Gegebenes, auf der Zahlengeraden mitden ihr eigentumlichen Operationen. Man analysiere die Zahlengerade mittels derunendlichen Dezimalbruche.

Man [...] deduziere aus den unendlichen Dezimalbruchen topologische Eigenschaf-ten der reellen Zahlen, sobald man sie wirklich verwendet.

Dass man sie auch als Cauchyfolge oder Dedekindscher Schnitt definieren kann,ist ein theoretischer Luxus.(Freudenthal, 1973, p. 203)

Die hier angesprochenen”Luxusvarianten“ sind zwei tatsachlich verbreitete konstruktive Zu-

gange zu den reellen Zahlen im Rahmen der Hochschulanalysis. Ausgehend vom Axiomensys-tem (ZFC) von Zermelo-Fraenkel fur die Mengelehre (siehe etwa (Schichl and Steinbauer, 2018,Abschn. 4.5)) werden die Zahlenmengen N, Z, Q und zuletzt R konstruiert. Der Zugang, beidem reelle Zahlen als Aquivalenzklassen von Cauchyfolgen rationaler Zahlen definiert werden,war womoglich Bestandteil Ihrer Analysisausbildung. Eine Alternative ist die (aquivalente)Definition uber die sogenannten Dedkind’schen Schnitte. Dabei ist jedefalls ein langer undanspruchsvoller Weg zuruckzulegen, vgl. etwa (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn. 6.1.1,6.2.1, 6.3.1, 6.4.1).Alternativ und auch durchaus im Rahmen einer Fachanalysis auf Hochschulniveau verbrei-tet ist der folgende axiomatische, von Hilbert vorgeschlagene Zugang23: Die Menge R wirduber drei Gruppen von Axiomen definiert, die Korperaxiome (die Grundlagen des

”Buch-

staberechnens“), die Ordnungsaxiome (die Basis der”Kleiner-Gleich-Beziehung“) und das

Vollstandigkeitsaxiom (uber das wir gleich noch einiges sagen werden). Naturlich sind diese

”Axiome“ nur im Rahmen dieses Zugangs Axiome und zwar in dem Sinn, dass die gesamte

Analysis aus ihnen alleine heraus logisch abgeleitet wird.22In diesem Paragraphen fehlen in dieser Version des Skriptums noch einige Grafiken, die aber alle in der

Vorlesung besprochen wurden. Die entsprechenden Stellen sind mit ♣ ♣ gekennzeichnet.23Dessen Vorzuge gegenuber dem oben erwahnten konstruktiven Zugang wurden von Bertrand Russel mit

den Vorzugen von Diebstahl vor ehrlicher Arbeit verglichen (frei zitiert nach (Heuser, 2003, Nr. 30)). BertrandRussel (1872–1970), der uns schon in einer Fußnote auf Seite 88 begenet ist, war nicht nur Philosoph, Ma-thematiker, Logiker, Historiker und politischer Aktivist (in Sachen Pazifismus und Solzialismus) sondern auchLiteraturnobelpreistrager.

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§3. DIE VOLLSTANDIGKEIT DER REELLEN ZAHLEN 101

Mathematische Faktenbox 12: Axiomatischer Zugang zu R

Dass der Axiomatische Zugang also diese”Abkurzung“ des konstruktiven Weges wirklich

funktioniert, garantiert der folgende Satz, vgl. (Schichl and Steinbauer, 2018, Abschn.6.4)

3.1.2. Theorem (Richard Dedekind). Es existiert (bis auf Isomorphie) genau einordnungsvollstandiger geordneter Korper R, der Q als geordneten Unterkorper besitzt.Wir nennen R die Menge der reellen Zahlen und die Elemente der Menge R \ Q dieirrationalen Zahlen.

Liest man diesen Satz als Definition der reellen Zahlen, kann man in der beruhigtenGewissheit das Gebaude der Analysis aufbauen, dass man sicher auf den Schultern jenerRiesen steht, die R aus (ZFC) konstruiert haben.

3.1.3. Von Q zu R. Nun diskutieren wir die im Vollstandigkeitsaxiom kodierte intuitiv nichtbzw. nur schwer zu fassende Vorstellung von den

dicht aber nicht luckenlos auf dem Zahlenstrahl gelegenen rationalen Zahlen.

Diese ist nicht zuletzt eine erkenntnistheoretische Herausforderung, da die Einfuhrung derreellen Zahlen nicht aus praktischen Messaufgaben rechtfertigen lasst: Tatsachlich tritt inrealen Situationen niemals direkt eine irrationale Zahl auf. Es gibt keinen experimentell-empirischen Nachweis, ob eine gemessene Große rational oder irrational ist. Damit ist dieErweiterung der rationalen zu den reellen Zahlen eine rein theoretische Angelegenheit!

Dass aber die rationalen Zahlen nicht ausreichen, um elementargeometrische Zusammenhangeauszudrucken, war schon den Pythagoraern im antiken Griechenland bekannt. So lasst sichbekanntlich weder das Verhaltnis zwischen der Seitenlange eines Quadrat und der Langeseiner Diagonalen durch ein Verhaltnis zweier ganzer Zahlen (also durch eine rationale Zahl)ausdrucken, noch das Verhaltnis zwischen dem Radius eines Kreises und seiner Flache oderseinem Umfang.

Die Tatsache, dass der Weg von der Entdeckung irrationaler Zahlen bis zur axiomatischenFestlegung der reellen Zahlen mehr als 2 Jahrtausende gebraucht hat, lasst nochmals erkennen,wie schwierig er war—und warum es im Rahmen der Schulanalysis nicht moglich/geratenscheint, hier zu den Grundlagen vorzustoßen. Andererseits wird sich ein intellektuell ehrlicherUnterricht daran messen lassen (mussen), in wie fern er unter Hinweis auf die phanomenolo-gische Basis die Notwendigkeit der Erweiterung des Zahlenbereichs von Q zu R argumentiertund auf ein diebezugliches Verstandnis drangt.

3.1.4. Die Vollstandigkeit von R. Die am einfachsten zu erfassende analytische Formulie-rung der geometrsich-anschaulichen

”Luckenlosigkeit“ des Zahlenstrahls bzw. der Menge R ist

das Intervallschachtelungsprinzip. Dieses besagt anschaulich, dass ein noch so genaues”Hin-

einzoomen“ auf den Zahlenstrahl kein Loch entdecken kann. Eine mathematische Prazisierunglautet wie folgt:

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102 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

Mathematische Faktenbox 13: Intervallschachtelungsprinzip

3.1.5. Satz. Sei (In) eine Folge abgeschlossener, beschrankter Intervalle mit den Eigen-schaften

(1) I1 ⊇ I2 ⊇ . . . , und(2) die Durchmesser von In gehen gegen 0a.

Dann gibt es genau eine reelle Zahl a, die in jedem Intervall In liegt.

Eine Veranschaulichung der Situation ist etwa:♣ Grafik ♣

aEtwas genauer, falls wir In = [an, bn] schreiben gilt bn − an → 0.

Eine Intervallschachtelung auf der Zahlengeraden”lauft also niemals ins Leere“. Hierbei wird

im ubrigen wieder auf Folgen als Werkzeuge in einem Naherungsverfahren zuruck gegriffen.

Schon in der Sekundarstufe 1 werden zumindest intuitiv Intervallschachtelungen bemuht, umetwa Umfange, Flachen oder Volumina zu berechnen.

Obwohl anschaulich uberlegen wird im axiomatischen Aufbau der (Hochschul-)Analysis demIntervallschachtelungsprinzip meist das Supremumsaxiom vorgezogen, da es in technischenBeweisen leichter einsetzbar ist. Dieses scheint daher meist als Vollstandigkeitsaxiom in Rah-men des axiomatischen Zugangs auf, vgl. 3.1.1. Daruberhinaus sind noch weitere aquivalenteFormulierungen der Vollstandigkeit der reellen Zahlen von fundamentaler Bedeutung in derAnalysis. Wir versammeln sie hier in einer mathematischen Faktenbox.

Mathematische Faktenbox 14: Vollstandigkeit von R

3.1.6. Theorem. Die folgenden funf Aussagen sind aquivalent und charakterisierendaher gleichermaßen die Vollstandigkeit der reellen Zahlen:

(1) Intervallschachtelungsprinzip, siehe Satz 3.1.5(2) Supremumsaxion, Ordnungsvollstandigkeit:

Jede nach oben beschrankte nichtleere Teilmenge von R hat ein Supremum.(3) Cauchyprinzip: Jede Cauchyfolge konvergiert.(4) Satz oder Auswahlprinzip von Bolzano-Weierstraß:

Jede beschrankte Folge hat einen Haufungswert.(5) Monotonieprinzip:

Jede monoton wachsende nach oben beschrankte Folge konvergiert.

Fur Beweise und eine weitere Diskussion siehe z.B. (Forster, 2016, §5).

Beachten Sie, dass Folgen in vier der funf Ausagen, genau in allen die”Prinzipien“ genannt

werden, das Hauptwerkzeug darstellen! Sie sind fundamentale Aussagen uber die Konvergenzvon Folgen, die alle aus der Ordnungsvollstandigkeit folgen (und sogar zu ihr aquivalent sind).

Im Schulkontext wichtig ist vor allem das Monotonieprinzip, auf das wir schon mehrmalszuruckgegriffen haben, z.B. um in 2.6.3(2) zu zeigen, dass jede Deziamlbruchentwicklungkonvergiert. Tatsachlich gilt sogar noch mehr, denn

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§3. DIE VOLLSTANDIGKEIT DER REELLEN ZAHLEN 103

Eine monoton wachsende Folge ist genau dann konvergent, wenn sie nach obenbeschrankt ist. Der Limes ist dann das Supremum.

Das entspricht also genau dem intuitiven Bild, dass eine monoton wachsende Folge, die nachoben beschrankt ist, gegen ihr Supremum

”gequetscht“ wird, siehe ♣ Grafik ♣. Naturlich

gilt Analoges fur monoton fallende, nach unten beschrankte Folgen.

Zum Abschluss des Paragraphen und des ganzen Kapitels werfen wir noch einen informiertenBlick zuruck auf B 2.1.1.

3.1.7. Keine vernunftige Analysis auf Q! Wir haben in B 2.1.1 bereits diskutiert, dassder Zwischenwertsatz auf Q nicht gilt und dass daher auf Q keine vernunftige Anaylsis moglichist: Anschaulich vollig klare Satze sind falsch, wie durch einfache Gegenbeispiel belegt werdenkann, vgl. 2.1.1.Nicht uberraschend ist die Tatsache, dass im axiomatischen Aufbau der Analysis der Zwischen-wertsatz meist mittels des Intervallschachtelungsprinzip bewiesen wird, also die Vollstandigkeitdahinter steckt.Wir geben nun noch ein Beispiel dieser Bauart:

3.1.8. Monotoniekriterium. Im Zuge von Kurvendiskussionen in der Schulanalysis wirdoft die folgende Aussage verwendet:

Monotoniekriterium: Eine differenzierbare Funktion f : [a, b] → R mit positiverAbleitung ist streng monoton wachsend.

Diese Aussage ist anschaulich sehr evident, wird aber falsch, wenn man sie auf die rationalenPunkte im Intervall [a, b] einschrankt, also nur in diesen eine positive Ableitung verlangt. EinGegenbeispiel ist etwa

f : I := [1, 2] ∩Q→ R, f(x) =1

2− x2. (D.80)

Tatsachlich ist f auf allen Punkten in I differenzierbar (als rationale Funktion ohne Nullstellenim Nenner) mit positver Ableitung aber nicht monoton steigend, siehe Abbildung ♣ ♣.

Ubungsaufgabe.

41 Monotoniekriterium. Arbeiten Sie die Details des Gegenbeispiels aus 3.1.8 aus, d.h.argumentieren sie, dass f : I := [1, 2] ∩ Q → R, f(x) = 1

2−x2 das Monotoniekriteriumverletzt.

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104 Kapitel D. Folgen, Grenzwert, Vollstandigkeit

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Kapitel E

Differentialrechnung

Die Differentialrechnung stellt gemeinsam mit der Integralrechnung den zentralen Inhalt nichtnur der Schulanalysis, sondern auch der Analysis an sich dar. Aufbauend auf dem Herzstuckder Analysis — dem Grenzwertbegriff, siehe Kapitel D — geht es nun darum das lokaleAnderungsverhalten von Funktionen zu studieren und geeignet in den Griff zu bekommen.Dabei ist der Ableitungsbegriff das entscheidende Werkzeug.

Wir beginnen in Abschnitt E.§1 mit schulmathematischen Zugangen zum Ableitungsbegriffund nehmen danach eine genaue fachliche Begriffsbestimmung vor (Abschnitt E.§2). Nacheinem kurzen historisch-philosophischen Intermezzo (Abschnitt E.§3) besprechen wir in einerfachdidaktischen Diskussion Aspekte und Grundvorstellungen des Ableitungsbegriffs (Ab-schnitt E.§4). Schließlich besprechen wir die in der Schulmathematik prominent vertretenenThemen Kurvendiskussion und Extremwertaufgaben.

§1 Zugange zum Ableitungsbegriff in der Schule

Betrachtet man die moglichen Zugange zum Ableitungsbegriff in der Schule, dann lassen sichfolgende zwei Realisierungen ausmachen:

• Zugang uber das Tangentenproblem• Zugang uber die Momentangeschwindigkeit

Der Zugang uber das Tangentenproblem hat im schulischen Mathematikunterricht langeTradition, birgt aber bei naherem Hinsehen einige Fallen in sich und enthalt zudem einigeSchwierigkeiten, die mit methodischen Geschick zwar umschifft, aber nicht aufgehoben wer-den konnen. Der Zugang uber die Momentangeschwindigkeit hingegen weist solche Hurdenund Fallen nicht auf und kann in Kontexten, die fur Schulerinnen und Schuler relevant sind,entfaltet werden. Daruberhinaus kann der Zugang uber die Momentangeschwindigkeit We-sentliches zur Grunderfahrung 1 (Erscheinungen der Welt um uns [. . . ] in einer spezifischenArt wahrzunehmen und zu verstehen) beitragen.

§1.1 Zugang uber das Tangentenproblem

Der weit verbreitet Zugang zum Ableitungsbegriff uber das Tangentenproblem folgt meistensdem Dreischritt:

1. Schritt: Definition der Steigung einer Kurve in einem Punkt mittels Tangente2. Schritt: Die Tangente als Grenzlage von Sekanten

105

106 Kapitel E. Differentialrechnung

3. Schritt: Berechnung der Tangentensteigung als Grenzwert

1.1.1. Definition der Steigung einer Kurve in einem Punkt mittels Tangente.Dieser Zugang baut auf zwei mathematischen Begriffen auf, mit denen die Schulerinnen undSchuler aus den vorhergehenden Schuljahren bestens vertraut sind. Es sind dies:

• Die Steigung von Geraden• Der (geometrische) Tangentenbegriff

Bei einem solchen Einstieg wird von den Schulerinnen und Schulern die Steigung einer Kurveuntersucht. Dazu wird die Steigung einer Kurve in einem Punkt als Steigung der Tangentein diesem Punkt definiert. Zumeist wird hierbei der vom Kreis bekannte geometrische Tan-gentenbegriff benutzt. Zahlreiche dynamische Lernobjekte visualisieren diesen Zugang undermoglichen ein interaktives Erkunden (siehe E.2 und E.3).

Abb. E.1: Quelle: Gotz, Reichel – Mathematik 7, 2011, S. 46

Abb. E.2: Quelle: https://www.geogebra.org/m/Yj8jvfNy

Bereits dieser erste Schritt enthalt einige Probleme. Zum einen wird hier der nicht trivia-le Paradigmenwechsel vom geometrischen zum analytischen Tangentenbegriff (Tangente alslokale Schmiegegerade) zumeist still schweigend vollzogen. Zum anderen kann gerade dieser

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§1. ZUGANGE ZUM ABLEITUNGSBEGRIFF IN DER SCHULE 107

Abb. E.3: Quelle: https://www.geogebra.org/m/VDHNGVK7

nicht thematisierte Paradigmenwechsel zu Verwirrung auf Seiten der Schulerinnen und Schulerfuhren. Wird namlich der geometrische Tangentenbegriff genutzt, dann wird eine Tangenteals Stutzgerade aufgefasst. Eine Tangente ist dann jene Gerade, die mit einem Kreis (miteiner Kurve) genau einen Punkt gemeinsam hat und den Kreis (diese Kurve) nicht durch-dringt. Dieses Verstandnis kann nur in ausgesuchten Fallen – etwa f(x) = x2 (siehe Abb.E.4) – angewandt werden, in vielen weiteren Fallen (siehe Abb. E.5) fuhrt der geometrischeTangentenbegriff zu Irritationen auf Seiten der Schulerinnen und Schuler.

Abb. E.4: Tangente als Stutzgerade Abb. E.5: Tangente als Schmiegegerade

Es musste im Unterricht also hier die Tangente als Schmiegegerade aufgefasst werden. Dashieße auch, die Tangente als jene Gerade aufzufassen, die sich der Kurve lokal um einen

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108 Kapitel E. Differentialrechnung

Beruhrpunkt anschmiegt.

1.1.2. Die Tangente als Grenzlage von Sekanten. Im zweiten Schritt dieses Zugangszum Ableitungsbegriffs wird eine neue Idee zur Berechnung der Tangentensteigung eingefuhrt.Die Tangente in einem Punkt wird als Grenzlage benachbarter Sekanten aufgefasst. Auchdafur gibt es eine Fulle von interaktiven Lernobjekten, die diese Idee visualisieren (siehe E.6und E.7).

Abb. E.6: Tangente als Grenzlage von Sekanten - interaktiv; Quelle: htt-ps://www.geogebra.org/m/iierR9hp

Dieser zweite Schritt enthalt ebenfalls zwei Probleme. Es wird nicht an die Idee aus dem erstenSchritt angeknupft. Denn dies wurde bedeuten, zu untersuchen, ob die Schmiegegerade diebestapproximierende Gerade ist. Stattdessen wird eine neue Idee ins Spiel gebracht. Es ist diesdie Idee, eine Tangente durch benachbarte Sekanten anzunahern. Diese Idee fuhrt nachweislichzu Verstandnisschwierigkeiten, wenn Schulerinnen und Schuler nicht die gesamten Sekanten,sondern nur die Sehnen im Fokus ihrer Betrachtungen haben. Dann namlich ziehen sich dieSehnen schließlich auf einen Punkt (Punkt P in Abb. E.8) – und nicht auf eine Gerade –zusammen.

1.1.3. Berechnung der Tangentensteigung als Grenzwert. Im dritten Schritt diesesZugangs wird haufig die Parabel f(x) = x2 betrachtet und die Stelle x0 = 1. Die Annaherungder Tangente im Punkt (1|1) wird mittels der benachbarten Sekanten algebraisch modelliertund der Grenzwert berechnet.

D.h. also fur die Sekantensteigung wird der Differenzenquotientf(x)− f(x0)

x− x0betrachtet.

Fur das Beispiel der Parabel f(x) = x2 mit x0 = 1 ergibt dasx2 − 1

x− 1, dabei strebt im Zahler

und Nenner x gegen x0, somit streben Zahler und Nenner gegen 0, obwohl der Quotient einenwohldefinierten Grenzwert hat (hier die Zahl 2). Hier tritt die oben schon angesprochene

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§1. ZUGANGE ZUM ABLEITUNGSBEGRIFF IN DER SCHULE 109

Abb. E.7: Tangente als Grenzlage von Sekanten - interaktiv; Quelle: https://mathe-online.at/galerie/diff1/ablgrenz/index.html

Abb. E.8: Fehlvorstellung: Sekante - Sehne

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110 Kapitel E. Differentialrechnung

Fehldeutung – die Sehnen ziehen sich auf einen Punkt zusammen – erneut als Schwierigkeitauf. Als Voraussetzung wird dann x 6= x0 angenommen, um dann schließlich scheinbar dochx = x0 zu setzen. Dieses Vorgehen bedient sich des Grenzwertbegriffs und insbesondere derAnnaherungsvorstellung. D.h. hier also die Sekantensteigung als idealisiertes Endprodukt ei-nes Prozesses aufgefasst wird. Zu guter Letzt sei noch darauf verwiesen, dass der Term furdie Sekantensteigung und die benotigten Termumformungen die ganze Aufmerksamkeit derSchulerinnen und Schuler fordern, wobei der inhaltliche und begriffliche Kontext verschwin-det.

Zusammengefasst ergeben sich mit diesem Zugang folgende Schwierigkeiten:

• Paradigmenwechsel vom geometrischen zum analytischen Tangentenbegriff• Berechnung der Tangentensteigung mit der Idee, die Tangente als Grenzlage von Sekan-

ten aufzufassen• Verfahren zur Berechnung der Tangentensteigung als Grenzwert – erkenntnistheoretisch

schwierig, algebraisches hinderlich

§1.2 Zugang uber Momentangeschwindigkeit

Eine Alternative, sich dem Ableitungsbegriff in der Schule zu nahern, bietet der Zuganguber die Momentangeschwindigkeit. Anstelle des lokalen Anstiegs wird also die Frage nachder lokalen Anderungsrate gestellt und in der Erfahrungswelt der Schulerinnen und Schulereingebettet. Bei einem solchen Zugang werden auch die drei Winter’schen Grunderfahrungen(Realitatsbezug, Durchdringen eines zentralen theoretischen Begriff, heuristisches Arbeiten)angesprochen.

Ausgangspunkt eines solchen Zugangs kann ein (fiktiver) Dialog – wie der folgende – sein.

Andrea: Am Wochenende war ich zu Besuch in Salzburg. Fur die Strecke von Wien nachSalzburg also etwa 300 km habe ich genau 3 Stunden gebraucht.

Peter: Na, dann warst du aber mit 100 km/h nicht besonders schnell.

Andrea: Wie man’s nimmt, manchmal bin ich sogar uber die erlaubten 140 gefahren.

Den Schulerinnen und Schulern wird in der 11. Schulstufe schon vertraut sein, dass beimSprechen uber Geschwindigkeiten, der zuruckgelegte Weg in Abhangigkeit von der Zeit be-trachtet wird. Solche Weg-Zeit-Funktionen haben die Schulerinnen und Schuler sicher auchschon mehrmals bearbeitet. Damit die oben angesprochene Situation konkret gefasst werdenkann, konnen wir den Anfahrtsvorgang betrachten. Es ist durchaus realistisch, diese Zusam-menhang mit s(t) = t2 zu beschreiben.

Der Graph (E.9) zeigt, wie sich der durchfahrene (zuruckgelegte) Weg im Laufe der Zeitentwickelt. Der zuruckgelegte Weg s(t) wachst mit der Zeit t. Mit fortschreitender Zeit wachstder zuruckgelegte Weg immer rascher, der Wagen wird also schneller.

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§1. ZUGANGE ZUM ABLEITUNGSBEGRIFF IN DER SCHULE 111

Abb. E.9: Zuruckgelegter WegAbb. E.10: Zuruckgelegter Weg

Wird dieser Sachverhalt genauer untersucht, dann konnen beispielsweise gleichlange Zeitab-schnitte betrachtet werden (vgl. Grundvorstellung von Funktionen – Kovariation). Sowohlam Graphen als auch einzelne Berechnungen zeigt sich, dass die pro Sekunde zuruckgelegtenWegstrecken großer werden (siehe E.10).

• In der ersten Sekunde: s(1)–s(0) = 12–02 = 1 Meter• In der zweiten Sekunde: s(2)–s(1) = 22–12 = 3 Meter• In der dritten Sekunde: s(3)–s(2) = 32–22 = 5 Meter

Fur beliebige Zeitabschnitte t0 bis t1 erhalt man die zuruckgelegten Wegstrecken mit s(t1)–s(t0).

Jetzt konnen als nicht mehr nur Zeitabschnitte der Lange 1 Sekunde betrachtet werden,sondern auch andere.

z.B.: t0 = 1; t1 = 3: s(t1)–s(t0) = s(3)–s(1) = 32–12 = 8 Meter

D.h. Im Zeitintervall [1; 3] legt das Auto 8 Meter zuruck. In diesen 2 Sekunden legt das Autoalso im Mittel 4 Meter zuruck. D.h. also auch, die mittlere Geschwindigkeit im Zeitintervall[1; 3] betragt 4 Meter pro Sekunde.

Auch diese konkrete Uberlegung kann verallgemeinert werden. Fur beliebige Zeitintervall

[t0; t1] wird die mittlere Geschwindigkeit mits(t1)− s(t0)t1 − t0

berechnet.

Damit haben wir allerdings noch keine Antwort auf die Frage, wie schnell das Auto zu einembestimmten Zeitpunkt t0 ist.

Die entscheidende Idee ist hier, die Momentangeschwindigkeit durch mittlere Geschwindig-keiten anzunahern. Sehen wir uns eine solche Naherung fur t0 = 1 an.

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112 Kapitel E. Differentialrechnung

Zeitintervall [t0, t] mittlere Geschwindigkeits(t)− s(t0)t− t0

im Zeitintervall [t0, t]

[1; 2]22 − 12

2− 1= 3

[1; 1, 1]1, 12 − 12

1, 1− 1= 2, 1

[1; 1, 01]1, 012 − 12

1, 01− 1= 2, 01

[1; 1, 001]1, 0012 − 12

1, 001− 1= 2, 001

Aus der Tabelle konnen wir entnehmen: Je kleiner das Intervall [t0; t] wird, je naher also t ant0 heranruckt, umso naher scheint die mittlere Geschwindigkeit dem Wert 2 zu kommen; siekommt ihm also beliebig nahe.

Um uns zu vergewissern, nahern wir uns auch von der anderen Seite (t < t0).

Zeitintervall [t, t0] mittlere Geschwindigkeits(t0)− s(t)t0 − t

im Zeitintervall [t, t0]

[0; 1] 1

[0, 9; 1] 1, 9

[0, 99; 1] 1, 99

[0, 999; 1] 1, 999

Auch hier sehen wir: Je kleiner das Intervall [t; t0] wird, je naher also t an t0 heranruckt,umso naher scheint die mittlere Geschwindigkeit dem Wert 2 zu kommen; sie kommt ihmalso beliebig nahe. Es liegt also nahe, 2m/s als die gesuchte Momentangeschwindigkeit zubetrachten.

Dass jede andere Annaherung an den Zeitpunkt t0 = 1 zu dem selben Ergebnis fuhrt, zeigtfolgende Uberlegung:

Ist t ein benachbarter Zeitpunkt von t0 = 1, so hat die mittlere Geschwindigkeit im Intervall

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§1. ZUGANGE ZUM ABLEITUNGSBEGRIFF IN DER SCHULE 113

[1; t] den Wert

s(t)− s(1t− 1

=t2 − 12

t− 1mit (t 6= 1)

=(t− 1)(t+ 1)

t− 1= t+ 1 = 1 + t. (E.1)

Man sieht also: 1 + t kommt dem Wert 2 beliebig nahe, wenn nur t genugend nahe bei 1 liegt.Somit haben wir die Momentangeschwindigkeit fur t0 = 1 erfolgreich berechnet.

Zusammengefasst geht dieser Zugang also uber die folgende Schritte:

• Kontext – Geschwindigkeit• Zuruckgelegter Weg in verschiedenen Zeitabschnitten (grafisch und rechnerisch)• Zuruckgelegter Weg in beliebigen Zeitabschnitten• Mittlere Geschwindigkeit in konkreten und beliebigen Zeitabschnitten• Frage nach der Momentangeschwindigkeit

– Annaherung uber mittlere Geschwindigkeit von links und rechts– Allgemeine Betrachtung

Im Gegensatz zum vorhergehenden Zugang genugt eine Idee – namlich die der Geschwin-digkeit. Die Annaherung der Momentangeschwindigkeit durch mittlere Geschwindigkeiten inZeitintervallen ergibt sich fur die Schulerinnen und Schuler aus dem Kontext. Bei der letztenFrage, ob der Momentangeschwindigkeit uberhaupt ein Grenzwert zugeschrieben werden kann,tritt hier nicht so prominent in der Vordergrund, da in diesem Sachkontext niemand daranzweifelt, dass gefundene Wert etwas anderes als die Momentangeschwindigkeit beschreibt.

42 Pegelstand. Starke Regenfalle haben Auswirkungen auf den Pegelstand eines Flusses.Die Funktion P mit P (t) = 1

108(t3−18t2 +81t+108) beschreibt den Zusammenhang zwischender Zeit und der Hohe des Pegelstandes. Dabei wir die Hohe des Pegelstandes in m und dieZeit t in Stunden gemessen.

(a) Zeichnen Sie den Graphen der Funktion.(b) Untersuchen Sie die Veranderungen des Pegelstandes Zeitabschnitten [0, 1], [1, 2], [2, 3],

[4, 6], [6, 8].(c) Untersuchen Sie die Veranderungen des Pegelstandes in den Abschnitten [0, 3], [2, 7] und

[0, 1], [3, 5].(d) Berechnen Sie die mittlere Anderungsrate im Intervall [0, 1], [1, 2], [2, 3], [4, 6], [6, 8].

Interpretieren Sie die Ergebnisse im Kontext.(e) Berechnen Sie die mittlere Anderungsrate im Intervall [0, 3], [2, 7] und [0, 1], [3, 5]. In-

terpretieren Sie die Ergebnisse im Kontext.(f) Berechnen Sie naherungsweise die momentane Anderungsrate zum Zeitpunkt t = 3 und

t = 5. Nehmen Sie eine Annaherung von links und rechts vor.

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114 Kapitel E. Differentialrechnung

43 Differenzenquotient kontextbezogen. Losen Sie die Aufgabe und begrunden SieIhre Wahl!

Abb. E.11: Quelle: Mayer, Suss-Stepancik, Huber - Dimensionen 7 Schularbeitentrainer

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§2. FACHLICHE BEGRIFFSBESTIMMUNG 115

§2 Fachliche Begriffsbestimmung1

In diesem Abschnitt diskutieren wir die fachlichen Grundlagen der Differentialrechnung. Siestellt den Kern der gesamten Analysis dar. Ihr Grundthema ist es das lokale Verhalten vonFunktionen in effektiver Weise zu erfassen und zu beschreiben.

§2.1 Ein fachmathematischer Zugang zur Differenzierbarkeit

Entsprechend zum oben ausgegebenen”Motto“ des Ableitungsbegriffs als dem Werkzeug zur

Beschreibung des lokalen Anderungsverhalten von Funktionen nahern wir uns dem Begriffaus diesem Blickwinkel an. Wie schon in den Abschnitten D.§1.2 und D.§2.1 beim Folgen-bzw. dem Grenzwertbegriff ergeben sich die entsprechenden Begriffsbildungen in naturlicherWeise. Außerdem ermoglicht uns dieser Zugang im nachsten Unterabschnitt einen ebensonaturlichen Blick auf den fachlich bestimmenden Aspekt der Differenzierbarkeit: den derlinearen Bestapproximation.

2.1.1. Motivation:”Anderungsmodi“ von Funktionen. Im Verlauf Ihrer fachlichen

Analysisausbildung haben Sie sicherlich bemerkt, dass es bei der Untersuchnung von Funk-tionen weniger darauf ankommt, ihre Werte an vorgegebenen Stellen zu kennen als vielmehrdie Veranderung der Funktionswerte bei Veranderung der Argumente. Dieser fachliche Aspektist naturlich eng mit der Kovariationsvorstellung des Funktionsbegriffs, siehe 2.2.2 und 4.1.2verbunden.

Zwei dieser”Anderungsmodi“ sind im kanonischen Aufbau der Analysis dem Differenzierbar-

keitsbegriff vorgelagert: die Monotonie und die Stetigkeit. Erinnern wir uns hier kurz an dieStetigkeit

Mathematische Faktenbox 15: Stetigkeit

2.1.2. Definition (stetige Funktion). Eine Funktion f : I → R (definiert auf einemIntervall I) heißt stetig im Punkte x0 ∈ I, falls

∀ε > 0 ∃δ > 0 : ∀x ∈ I mit |x− x0| < δ =⇒ |f(x)− f(x0)| < ε. (E.2)

Ist die Funktion f in jedem Punkt x0 ∈ I stetig, dann heißt sie (global) stetig auf I.

Diese Definition besagt in stark komprimierter Symbolik das folgende: Gegeben eine be-liebig (klein) vorgegebene

”Toleranzgrenze“ um den Funktionswert f(x0) in Form einer

ε-Umgebung fur beliebiges ε > 0. Dann gibt es immer ein”Sicherheitsintervall“ gegeben

in Form einer δ-Umgebung um die entsprechende Argumentstelle x0, sodass fur alle Ar-gumente x ∈ I, die in dieser Umgebung liegen, die Funktionswerte in der ε-Umgebungum f(x0) liegen, siehe Abbildung ♣ Grafik ♣

Etwas verkurzter kann man sagen, dass bei einer in x0 stetigen Funktion ein”kleines

Wackeln“ am Argumente in der Nahe von x0 nur zu einem”kleinen Wackeln“ der Funk-

tionswerte um f(x0) zu Folge hat.

1Ab diesem Paragraphen fehlen in dieser Version des Skriptums noch einige Grafiken, die aber alle in derVorlesung besprochen wurden. Die entsprechenden Stellen sind mit ♣ Grafik ♣ gekennzeichnet.

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116 Kapitel E. Differentialrechnung

2.1.3. Eine Approximationsidee: die Schmiegegerade. Der zuletzt beschriebene Aspektkann fur unsere Zwecke (Motivation der Differenzierbarkeit) auch noch starker verkurzt wer-den zu: Nahe der Stelle x0 verhalt sich eine dort stetige Funktion annahernd wie eine konstanteFunktion, namlich x 7→ f(x0), siehe Abbildung ♣ Grafik ♣.Nun konnen wir uns dem Begriff der Differenzierbarkeit einer Funktion f : I → R auf ahnlicheWeise nahern. Wir werden wollen die oben beschriebene Naherung an eine stetige Funktionin Form einer konstanten Funktion, also graphisch durch eine waagrechte Gerade verfeinern.Das ist deswegen notig, weil die eben beschriebene Naherung nur sehr grob ist und nicht nurqualitativ etwas uber das Anderungsverhalten der Funktion nahe x0 sag. Wir wollen nun auchquantitativ etwas daruber Aussagen und beginnen mit der Idee, dass

Eine Funktion f in x0 differenzierbar genannt werden soll, falls sie sich dort”gut“

durch eine Gerade annahern lasst,

die nicht notwendigerweise waagrecht ist.Um diese Idee zu formalisieren beginnen wir damit, dass wir allgemein fur die noch zu findendeGerade g ansetzen:

g(x) = kx+ d. (E.3)

Klarerweise wollen wir, dass g durch den Punkt (x0, f(x0)) geht, d.h. dass

f(x0) = g(x0) = kx0 + d (E.4)

gilt. Die entscheidende Idee ist es nun, Punkte x nahe x0 zu betrachten, also Punkte x0 + hfur

”kleines“ h. Fur solche Punkte ergibt sich

g(x) = g(x0 + h) = k(x0 + h) + d = kx0 + d+ kh = f(x0) + kh, (E.5)

wobei wir fur die letzte Gleichheit die Gleichung (E.4) verwendet haben. Im Sinne unsererobigen Approxiamtionsidee bedeutet das fur x nahe x0 also

”kleine“ h, dass

f(x) = f(x0 + h) ≈ g(x0 + h) = f(x0) + kh (E.6)

gelten soll.Um diese Idee noch prasziser zu fassen, konnen wir (E.7) verwenden, um den ja noch unbe-kannten Anstieg der approximierenden geraden zu bestimmen, namlich

k ≈ f(x)− f(x0)

h=

f(x0 + h)− f(x0)

h. (E.7)

Auf diese Weise haben wir einen”alten Bekannten“ aus der Schulmathematik auf ganz

naturliche Weise (zuruck)gewonnen, den Differenzenquotienten. Seine geometrische Bedeu-tung ist, dass er die Steigung der Geraden zwischen den Punkten (x0, f(x0) und (x0+h, f(x0+h)) bezeichnet und so den Anstieg der Sekante durch diese beide Punkte des Funktionsgraphenvon f , siehe Abbildung ♣ Grafik ♣.

Zunachst prazisieren wir und vergeben einen offiziellen Namen:

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHLICHE BEGRIFFSBESTIMMUNG 117

Mathematische Faktenbox 16: Differenzenquotient

2.1.4. Definition (Differenzenquotient). Sei f : I → R eine Funktion und sei x0 einPunkt im Intervall I. Fur x ∈ I, x 6= x0 heißt der Ausdruck

f(x)− f(x0)

x− x0(E.8)

Differenzenquotient von f bei x0.

Der weitere Weg der Prazisierung unserer Approximationsidee ist nun vorgezeichnet. Wirmussen uns mit dem Grenzwert des Differenzenquotienten (E.8) befassen, wobei wir x gegenx0 gehen lassen. Das hat auch den folgenden Vorteil: Der Differenzenquotient hangt von denzwei Variablen x0 und x ab und im Grenzwert x → x0 konnen wir eine davon (namlich x)loswerden.

Um das effizient tun zu konnen, wiederholen wir den Grenzwertbegriff fur Funktionen. EineMoglichkeit ist es diesen Begriff moglichst nahe am bzw. analog zum Grenzwertbegriff furFolgen zu definieren, fur Alternativen uber Folgen siehe etwa (Forster, 2016, §10).

Mathematische Faktenbox 17: Grenzwert von Funktionen

2.1.5. Definiton (Funktionsgrenzwert). Eine reelle Funktion f : D → R konvergiertan der Stelle x0 gegen ein c ∈ R, falls

∀ε > 0 ∃δ > 0 : ∀x ∈ D mit |x− x0| < δ =⇒ |f(x)− c| < ε. (E.9)

In diesem Fall heißt c Grenzwert oder Limes der Funktion f an der Stelle x0 und wirschreiben limx→x0 f(x) = c oder f(x)→ c fur x→ x0.

Diese Formulierung ist weitgehend analog zur Grenzwertdefinition fur Folgen. Sie istformal auch ganz nahe an der Stetigkeitsdefinition, was naturlich kein Zufall ist; dahermussen wir ganz dringend einige Bemerkungen machen.

2.1.6. Bemerkungen, Beispiele & Erweiterungen.

(1) Aus den respektiven Definitionen sieht man ganz leicht, dass

f genau dann stetig in x0 ist, falls limx→x0 f(x) = f(x0) gilt,

also der Limes von f an der Stelle x0 mit dem Funktionswert f(x0) an dieser Stelleubereinstimmt.

(2) Beachten Sie, dass wir nicht vorausgesetzt haben, dass x0 ∈ D liegen muss.Tatsachlich ist der Begriff auch sinnvoll, wenn x0 ein sogenannter Beruhrpunkt vonD ist, d.h. falls es in jeder (noch so kleinen) Umgebung von x0 in R einen Punktaus D gibt. Ein Standardbeispiel ware etwa ein Randpunkt eines offenen Intervalls(z.B. ist 1 ist Beruhrpunkt von [0, 1) obwohl 1 6∈ [0, 1)) Ein etwas interessantereBeruhrpunkt begegenet uns in unserem ersten Beispiel.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

118 Kapitel E. Differentialrechnung

Mathematische Faktenbox 17 – Fortsetzung

(3) Wir betrachten die Funktion

f : R \ {1} → R, f(x) =x2 − 1

x− 1. (E.10)

Dann gilt limx→1 f(x) = 2, denn fur x ∈ D (also x 6= 1!) gilt f(x) = (x−1)(x+1)x−1 =

x+ 1 und x+ 1→ 2 fur x→ 1.(4) Um etwas interessantere Beispiele betrachten zu konnen, etwa

”echte“ Polstellen

von rationalen Funktionen mussen wir den Begriff etwas erweitern und sagen, dieFunktion f divergiert an einer Stelle x0 (bestimmt) gegen Unendlich, falls f(x) beiAnnaherung an x0 beliebig groß wird, d.h. formal falls

∀C ∈ R ∃δ > 0 : ∀x ∈ D mit |x− x0| < δ =⇒ f(x) > C (E.11)

gilt. Wir schreiben dann limx→ x0f(x) =∞.Analog definiert man die (bestimmte) Divergenz gegen minus Unendlich. Mit diesemBegriffsapparat ausgestattet, kann man nun folgendes Beispiel angehen:

(5) Wie betrachten f : R \ {0} → R, f(x) = 1/x2. Dann gilt

limx→0

1

x2=∞. (E.12)

(6) Um auch Beispiele anzugehen, wo am Pol ein Vorzeichenwechsel stattfindent, defi-nieren wir einseitige Grenzwerte, bei Annaherung an x0 von oben (x ∈ D, x > x0)und unten (x ∈ D, x < x0). Damit erhalt man etwa limx↘0 1/x = ∞ undlimx↗0 1/x = −∞.

(7) Schließlich definiert man auch Grenzwerte, wenn x beliebig groß wird. Da wir diesenBegriff im gegenwartigen Kontext der Diffenentialrechnung nicht benotigen werden,verweise wir hier lediglich auf die Analysis-Literatur etwa (Forster, 2016, §10).

2.1.7. Technisches zur Formulieren des Grenzwerts des Diferenzenquotienten. Wirverfolgen nach wie vor unsere Approximationsidee 2.1.3 und wollen diese nun exaktifizieren.Dazu benotigen wir (zum Gluck) nur den einfachsten der eben besprochenen Grenzwertbe-griffe fur Funktionen, namlich den Fall, dass der Punkt x0 des Interesses ein Punkt in einemIntervall I ist und der Grenzwert endlich ist.

Eine Feinheit ist dabei allerdings, dass der Diffenzenquotient in x0 laut Definition 2.1.4 furx = x0 gar nicht definiert ist. Daher mussen wir in (E.9) das

”∀x ∈ I“ zu

”∀x ∈ I, x 6= x0“

abandern. Dafur verwendet man das Symbol limx0 6=x→x0 . Oft wird diese Feinheit auch nichtin der Notation widergespiegelt und einfach limx→x0 geschrieben — im stillschweigendenEinverstandnis, dass x = x0 ausgeschlossen ist. Jetzt sind wir endlich so weit, das Endproduktunserer Approximationsidee aus 2.1.3 formulieren zu konnen.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHLICHE BEGRIFFSBESTIMMUNG 119

Mathematische Faktenbox 18: Differenzierbarkeit und Ableitung

2.1.8. Definition (diffenzierbare Funktion). Eine Funktion f : I → R heißt differen-zierbar in einem Punkt x0 im Intervall I, falls

limx6=x→x0

f(x)− f(x0)

x− x0oder, was dasselbe ist, lim

0 6=h→0

f(x0 + h)− f(x0)

h(E.13)

existiert und endlich ist.Diesen Grenzwert nennen wir die Ableitung der Funktion f an der Stelle (bzw. im Punkt)x0 und bezeichnen sie mit f ′(x0). Ist f in jedem Punkt x0 ∈ I diffenzierbar, dann nennenwir f (global) diffenzierbar auf I. In diesem Fall nennen wir die Funktion f ′ : I → R,x 7→ f ′(x) (erste) Ableitungsfunktion von f .

2.1.9. Nachbetrachtung und Terminologie (Differentialquotient).

(1) Falls der Limes in (E.13) existiert und endlich ist, gilt tatsachlich wie oben antizipiert,dass die Ableitung im Punkt x0 gleich dem Limes des Differenzenquotienten ist. Oftwird der Ausdruck

limx= 6=x→x0

f(x)− f(x0)

x− x0bzw. lim

06=h→0

f(x0 + h)− f(x0)

h(E.14)

als Differentialquotient von f bei x0 bezeichnet — und zwar unabhangig davon, ob derGrenzwert existiert bzw. endlich ist und daher zur Definition der Ableitung

”taugt“. Mit

dieser Terminologie kann man formulieren, dass der Differentialquotient der Grenzwertdes Differenzentquotienten ist und, falls er existiert und endlich ist, gleich der Ableitungder Funktion an der betreffenden Stelle ist bzw. diese definiert.

(2) Geometrisch ergibt sich die Ableitung also in diesem prazisen Sinn als der Grenzwert derSekantensteigungen. Somit ist die Gerade durch (x0, f(x0)) mit dem Anstieg f ′(x0) jenegesuchte Gerade, die in der Nahe von (x0, f(x0)) die Funktion f

”besonders gut“ ap-

proximiert. Sie wird auch of als Schmiegegerade bezeichnet. Diese Begrifflichkeit werdenwir spater noch prazise machen. Hier bemerken wir nur, dass sie mit dem Tangenten-problem in Zusammenhang gebracht werden kann, was aber vor allem didaktisch etwasheikel ist, vgl. Abschnitt E.§1.

Hochste Zeit, ein paar Beispiele und Nicht-Beispiele zu besprechen.

Mathematische Faktenbox 19: Differenzierbare Funktionen

2.1.10. Beispiel ((nicht)-differenzierbare Funktionen)).

(1) Einfache differenzierbare Funktionen auf ganz R sind naturlich konstante Funktio-nen f(x) = c fur ein c ∈ R mit verschwindender Ableitung, denn fur jedes x0 ∈ Rgilt lim0 6=h→0

f(x0+h)−f(x0)h = lim c−c

h = 0 = f ′(x0), aber dafur hatten wir denBegriff gar nicht gebraucht!

(2) Die”nachst-schwierigere“ Funktion ist f(x) = x. Diese ist naturlich ebenfalls auf

ganz R differenzierbar und zwar mit Ableitung f ′(x) = 1, denn fur alle x0 ∈ Rund alle h 6= 0 gilt x0+h−x0

h = 1, und wir mussten nicht einmal einen Grenzwert

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

120 Kapitel E. Differentialrechnung

Mathematische Faktenbox 19 – Fortsetzung

berechnen!(3) Die Betragsfunktion x 7→ |x| ist auf R \ {0} diffenzierbar (mit dem analogen Argu-

ment wie in (2)), in x0 = 0 aber nicht differenzierbar, denn es gilt fur jedes positive

h, dass |0+h|−|0|h = hh = 1 aber fur jedes negative h, dass |0+h|−|0|h = −h

h = −1.Daher existiert der Grenzwert in (E.13) nicht! Der Funktionsgraph hat bei x0 = 0eine Knick, die Ableitung ist konstant −1(+1) fur negative (positive) Argumente,siehe Abbildung E.12.

(4) Weitere auf ihrem gesamten Definitionsbereich differenzierbare Funktionen sind et-wa die Exponentialfunktion und die Winkelfunktionen Sinus und Cosinus, wobeigilt

(ex)′ = ex, sin′(x) = cos(x) und cos′(x) = − sin(x). (E.15)

Diese Aussagen folgen leicht aus der Definition der Differenzierbarkeit und Ablei-tung unter der Verwendung der typischen Eigenschaften dieser Funktionen, sieheetwa (Forster, 2016, §15).

(5) Die Wurzelfunktion f(x) =√x ist zwar auf [0,∞) definiert, aber nur auf (0,∞)

differenzierbar. Tatsachlich gilt fur x0 > 0, dass f ′(x0) = 1/(2√x0), denn

√x−√x0x− x0

=x− x0

(x− x0)(√x+√x0)

=1√

x+√x0→ 1

2√x0

(x→ x0). (E.16)

Allerdings gilt fur x0 = 0, dass

√h−√

0

h=

√h

h=

1√h→∞ (h→ 0) (E.17)

und somit ist der Limes in (E.13) nicht endlich und√x in x0 = 0 nicht differenzier-

bar. Die Funktion hat gegen x0 hin einen unbeschrankten Anstieg und hatte einesenkrechte Tangente, was aber von Definition 2.1.8 verboten wird, siehe AbbildungE.13.

2.1.11. Die Lehren aus den Nicht-Beispielen. Das obige Beispiele vor allem der derBetrags- und der Wurzelfunktion sind symptomatisch fur nicht-differenzierbare Funktionenund wir konnen einige Lehren daraus ziehen:

(1) Bei der Betragsfunktion werden wir — und das ist in gewisser Weise banal aber wichtigzu erwahnen — erstmals darauf gestoßen, dass zwar in den allermeisten graphischenVeranschaulichung der Differenzierbarkeit h positiv, d.h. x0+h rechts von x0 gezeichnetwird, dies in der Definition nirgends gefordert wird! (Lediglich h = 0 bzw. x = x0 istausgeschlossen!)

(2) Der Graph der Betragsfunktion hat in x0 = 0 einen Knick und dieses Verhalten istprototypisch fur nicht-differenzierbare Funktionen ebenso wie Sprunge Prototypen furunstetige Funktionen sind.

Eine Funktion mit”Knick“ ist an dieser Stelle nicht differenzierbar.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHLICHE BEGRIFFSBESTIMMUNG 121

-2 -1 1 2

0.5

1.0

1.5

2.0

Abb. E.12: Graph der Betragsfunktion |x|

0.5 1.0 1.5 2.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

1.2

1.4

Abb. E.13: Graph der Wurzelfunktion√x

(3) Die Nicht-Differenzierbarkeit der Wurzelfunktion in x0 = ist ebenso symptomatisch.

Eine Funktion mit unbeschranktem Anstieg ist an der entsprechenden Stellenicht differenzierbar, oder etwas legerer: Senkrechte Tangenten gibt es nicht.

Die Tatsache, dass es sich bei der Wurzelfunktion beim problematischen Punkt um einenRandpunkt des Intervalls handelt ist unerheblich, wie man z.B. am etwas komplizierte-ren Beispiel

f(x) =

{ √x (x ≥ 0)−√−x (x ≤ 0)

(E.18)

sieht, vgl. Abbildung E.14.

-2 -1 1 2

-1.5

-1.0

-0.5

0.5

1.0

1.5

Abb. E.14: Graph der Funktion f aus (E.18)

(4) Bemerken Sie, dass die Beispiele |x| und√x an der Stelle x0 jeweils einer der Bedin-

gungen an den Limes in Definition 2.1.8 nicht erfullen, namlich die Existenz bzw. dieEndlichkeit!

(5) Bemerken Sie, dass in allen drei Beispielen |x|,√x und f aus (E.18) die Funktionen in

x0 = 0 zwar nicht differenzierbar aber dennoch stetig sind. Das bedeutet, wie auch in2.1.3 antizipiert, dass Differenzierbarkeit starker ist als Stetigeit. Tatsachlich gilt:

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

122 Kapitel E. Differentialrechnung

Mathematische Faktenbox 20: Stetigkeit und Differenzierbarkeit

2.1.12. Satz (Stetigkeit vs. Differenzierbarkeit). Fur Funktionen f : I → R gilt injedem Punkt x0 im Intervall I:

f differenzierbar in x0=⇒��⇐=

f stetig in x0 (E.19)

Dabei ist die Implikation ganz leicht einzusehen, denn fur eine in x0 differenzierbareFunktion f gilt

f(x)− f(x0) =f(x)− f(x0)

x− x0(x− x0)→ f ′(x0) · 0 = 0, (E.20)

also f(x)→ f(x0), was ja die Stetigkeit bei x0 bedeutet, vgl. 2.1.6 (1).(4) Die ganze Wahrheit uber stetige vs. differenzierbare Funktionen wird vom prototypi-

schen Beispiel |x| naturlich nicht abgedeckt. Tatsachlich ist sie viel komplizierter: Esgibt z.B. Funktionen, die auf ganz R stetig aber in keinem(!) Punkt differenzierbar sind,

etwa die sog. Weierstraß-Funktion f(x) =∑∞

k=12k sin(2kx)

3k.

2.1.13. Ableitungsregeln — praktische Aspekte. Naturlich will man nicht, wie in Bei-spiel 2.1.10 standig auf die Definition der Differenzierbarkeit zuruckgreifen, um diese nach-zuweisen bzw. wichtiger die Ableitung gegebener Funktionen zu berechnen. Daher hat man,analog zum Fall des Folgengrenzwerts (vgl. 2.2.8) einen Kalkul entwickelt. Wie auch beimFolgengrenzwert stechen zwei Aspekte hervor

(1) Wissen uber die Eigenschaften differenzierbarer Funktionen(2) Differentiationsregeln, die es erlauben aus der Differenzierbarkeit einfacher Funktionen

auf die Differenzierbarkeit komplizierterer Funktionen zu schließen und ganz konkretihre Ableitung aus denen der einfachen

”Bausteine“ zu berechnen.

Diese Werkzeuge bilden einen wirkungsvollen Kalkul, dessen Grundzuge Sie sicherlich schonaus der Schule kennen. Ableitungen komplizierterer Funktionen werden wie mit einem Baukas-tensystem aus Ableitungen einfacherer Funktionen zusammengesetzt bzw. berechnet. DieserKalkul bietet sich naturlich besonders an, die zweite der Wintersche Grunderfahrungen (ma-thematische Welt, vgl. 2.2.1) zu vermitteln. Wir prazisieren diese Hilfsmittel wie folgt.

Mathematische Faktenbox 21: Faktensammlung: differenzierbare Funktionen

2.1.14. Proposition (Differentiationsregeln). Seien f, g : I → R Funktionen die imPunkt x0 im Intervall I differenzierbar sind. Dann gilt:

(1) (Linearkombinationen) Fur a, b ∈ R ist af + bg diffenzierbar in x0 und es gilt

(af + bg)′(x0) = af ′(x0) + bg′(x0). (E.21)

(2) (Leibniz- bzw. Produktregel) Die Produktfunktion fg ist in x0 differenzierbar undes gilt

(fg)′(x0) = f ′(x0)g(x0) + f(x0)g′(x0). (E.22)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHLICHE BEGRIFFSBESTIMMUNG 123

Mathematische Faktenbox 21 – Fortsetzung

(3) (Quotientenregel) Falls g(x0) 6= 0 ist, dann ist der Quotient fg in x0 differenzierbar

und es gilt (f

g

)′(x0) =

f ′(x0)g(x0)− f(x0)g′(x0)

g2(x0). (E.23)

(4) (Kettenregel) Fur Intervalle I und J und Funktionen f : I → R und g : J → R mitf(I) ⊆ J gilt: Falls f differenzierbar in x0 ist und g differenzierbar in y0 = f(x0),dann ist die Verknupfung g ◦ f differenzierbar in x0 und es gilt

(g ◦ f)′(x0) = g′(f(x0)) · f ′(x0). (E.24)

Mittels diesen Regeln, die ja nichts anderes besagen, als dass die Differentiation mit denGrundoperationen fur Funktionen

”vertraglich“ ist kann man ohne Muhe fur wichtige

Klassen von Funktionen Differenzierbarkeit und Ableitung bestimmen. Die Kettenregelist zwar etwas schwieriger (zu formulieren), aber sie stellt sich als uberaus machtig heraus,z.B. fuhrt sie sehr schnell auf die

(5) (Inversenregel) Ist f : I → J eine bijektive Funktion zwischen Intervallen (folgt z.B.falls f stetig und streng monoton ist). Ist f in x0 ∈ I differenzierbar, dann auch dieUmkehrfunktion f−1 in y0 = f(x0) und es gilt

(f−1)′(y0) =1

f ′(x0). (E.25)

Wir nennen einige wichtige konkrete Beispiele von Funktionen, deren Differenzierbarkeitund Ableitung schnell mittels des

”Baukastens“ erledigt werden konnen.

2.1.15. Korollar (Differenzierbare Funktionen).

(1) Potenzfunktionen sind auf ganz R differenzierbar mit (cxn)′ = cnxn−1 (2.1.14(2))und daher auch Polynomfunktionen (2.1.14(1)) mit Ableitung

(anxn + an−1x

n−1 + . . .+ a2x2 + a1x+ a0)

′(x) (E.26)

=nanxn−1 + (n− 1)an−1x

n−2 + · · ·+ 2a2x+ a1.

(2) Rationale Funktionen sind auf ihrem gesamten Definitionsbereich differenzierbarund es gilt beispielsweise (2.1.14(3))

(x−n)′ = −nx−n−1. (E.27)

(3) Die Tangensfunktion ist auf ihrem gesamten Definitionsbereich differenzierbar undes gilt (tanx)′ = 1/ cos2(x) = 1 + tan2(x). (2.1.14(3))

(4) Die Logarithmusfunktion ist global auf ihrem Definitionsbereich (0,∞) differenzier-bar mit ln(x)′ = 1/x (2.1.14(5)). Mit 2.1.14(4) folgt dann fur x > 0, α ∈ R

(xα)′ = (eα ln(x))′ = eα ln(x) α

x= αxα−1 (E.28)

und daher insbesondere

( n√x)′ =

1

nx

1n−1 =

1

nx−

n−1n =

1

nn√xn−1

. (E.29)

Und das ist erst der Anfang . . .

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

124 Kapitel E. Differentialrechnung

Ubungsaufgaben.

44 Differenzierbarkeit & Ableitung 1. Sind die folgenden Funktionen auf R differen-zierbar? Warum bzw. warum nicht?Zeichnen Sie (mit Technologie!) den Funktionsgraphen und berechnen Sie gegebenenfalls dieAbleitung (ohne Technologie!).

(a) f1(x) = 3x4 + 5x3 − x2 + 7x− 11

(b) f2(x) = x4 exp(x)

(c) f3(x) = exp(x) sin(x)

(d) f4(x) =cos(x)

1 + x2

45 Tangente explizit. Bestimmen Sie die Gleichung der Tangente an den Graphen derFunktion f in dem jeweils angegebenen Punkt P . Fertigen Sie eine Skizze an.

(a) f(x) = 1x , P = (1, 1) (b) f(x) = ex, P = (0, 1) (c) f(x) = sin(x), P = (0, 0)

47 Knicke und Sprunge.

(a) Betrachten Sie die sog. Knick-Funktion

x+ :=

{0 x < 0x x ≥ 0.

Skizzieren Sie den Funktionsgraphen. In welchen Punkten ist x+ stetig, in welchendifferenzierbar? Begrunden Sie.

(b) Betrachten Sie die (sog. Heaviside’sche) Sprungfunktion

H(x) :=

{0 x ≤ 01 x > 0.

Skizzieren Sie den Funktionsgraphen, dann verifizieren & begrunden Sie die folgendenAussagen:

(i) H ist differenzierbar auf R \ {0} mit H ′(x) = 0 und daher dort auch stetig.(ii) H ′ ist stetig erganzbar nach x = 0.

(iii) Trotzdem ist H in x = 0 nicht differenzierbar, weil dort sogar unstetig.(iv) Die nicht-Differenzierbarkeit von H in x = 0 außerst sich auch dadurch, dass der

Differenzenquotient dort keinen Limes hat.

48 Differenzierbarkeit & Ableitung 2. Fur welche reellen x sind die folgenden Funk-tionen definiert, wo sind sie differenzierbar? Warum bzw. warum nicht?Zeichnen Sie (mit Technologie!) den Funktionsgraphen und berechnen Sie gegebenenfalls dieAbleitung (ohne Technologie!).

(a) f1(x) = x−3 +x− 1

x− 2

(b) f2(x) =x2 − 2x+ 1

x+ 2

(c) f3(x) = x log(x)− x

(d) f4(x) = e2x+3

(e) f5(x) =log(x)

x

(f) f6(x) =1

log(x)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHLICHE BEGRIFFSBESTIMMUNG 125

§2.2 Die Ableitung als lineare Bestapproximation

In diesem Abschnitt wollen wir kurz einen Aspekt des Differenzierbarkeitsbegriffs besprechen,namlich den der

Ableitung als lineare Approximation an die ursprunglich Funktion.

Dieser Linearsierungsaspekt, obwohl er in der Schulmathematik nur eine untergeordnete Rollespielt, ist der mathematisch bestimmende Aspekt der Differenzierbarkeit. Unter vielen anderenfachlichen Vorzugen dieses Aspekts erlaubt nur(!) er eine Verallgemeinerung der Differential-rechnung ins Mehrdimensionale also z.B. auf Funktionen2 f : R2 → R.Wir beginnen mit einem Blick auf Wohlbekanntes, namlich die Guter der Approximation derNormalparabel durch ihre Tangente.

2.2.1. Die Normalparabel und ihre Tangente. Wir betrachten die Funktion f : R→ R,f(x) = x2 und ihre Tangente t im Punkt P = (1, 1), siehe Abbildung E.15. Dabei Interessierenwir uns fur die Details der Annaherung der Tangente an f in der Nahe von P . Zunachst giltfur die Tangente

t(x) = f ′(1)(x− 1) + f(1) = 2(x− 1) + 1. (E.30)

Nun betrachten wir die Abweichung der Tangente t von der Funktion f . Genauer berechnenwir die Abweichung r(h) := f(1 + h)− t(1 + h) fur kleine h also fur Punkte in der Nahe vonP . Es gilt

r(h) = f(1+h)−t(1+h) = (1+h)2−(2(h+1−1)+1

)= 1+h2+2h−(2h+1) = h2 (E.31)

und wie erwartet konvergiert die Abweichung r(h) gegen 0 fur h→ 0.So weit, so gut: Aber wie sieht es nun mit anderen Geraden g durch den Punkt P aus. Dortsollte doch auch die entsprechende Abweichung gegen 0 gehen. Tatsachlich ist das so, denn fureine Gerade g durch P = (1, 1) mit beliebigem aber von der Tangentensteigung abweichendenAnstieg k 6= 2 gilt

g(x) = k(x− 1) + 1 (E.32)

und daher fur die Abweichung

rg(h) = f(1 + h)− g(1 + h) = (1 + h)2 − (k h+ 1) = h2 + (2− k)h. (E.33)

Und somit wie erwartet gilt auch hier rg(h)→ 0 fur h→ 0.Vergleichen wir aber die beiden relativen Abweichungen r(h)/h und rg(h)/h, so fallt eindeutlicher Unterschied auf. Wir haben namlich

r(h)

h= h → 0 (h→ 0), aber

rg(h)

h= h+ (2− k) 6→ 0 (h→ 0) denn k 6= 2. (E.34)

Das bedeutet, dass bei der Tangente auch der relative Fehler gegen 0 geht, wahrend beiallen anderen Geraden durch den Punkt P , das aber nicht der Fall ist! Das Ergebnis unsererUberlegungen konnen wir wie folgt zusammenfassen:

2Fur deren Bedeutsamkeit siehe etwa C 3.3.2.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

126 Kapitel E. Differentialrechnung

Die Bedingungr(h)

h→ 0 fur h → 0 ist der analytische Kern der Schmiegeeigen-

schaft der Tangente.

1

1

2

3

U0 · (1− e−x)Abb. E.15: Die Normalparabel und ihreTangente bei P = (1, 1)

1

1

2

Abb. E.16: Die Tangente als Bestap-proximiernde im Geradenbuschel durch(x0, f(x0)

2.2.2. Die Tangente ist die”beste“ Gerade. Alle unseren oben ausgefuhrten Uberlegungen

gelten nicht nur fur die Normalparabel f(x) = x2, sondern sind allgemein gultig, d.h. fur je-de differenzierbare Funktion f : I → R, siehe etwa (Danckwerts and Vogel, 2006, p. 72).Tatsachlich gilt auch dann nur fur die Tangente die verscharfte Restbedingung

limh→0

r(h)

h= 0 statt nur der einfachen Bedingung lim

h→0r(h) = 0. (E.35)

Letztere besagt ja lediglich, dass sich Gerade und Kurve im Punkt P beruhren, wahrenderstere, also die verscharfte Bedingung die Tangente zur lokalen linearen Bestapproximationmacht. Geometrisch bedeutet dies, dass

die Tangente im Geradenbuschl durch den Punkt (x0, f(x0)) die bestapproximie-rende Gerade ist,

siehe Abbildung E.16

In diesem Sinne ist die Tangente im Punkte x0 die bestmogliche Approximation einer Funktionf durch eine Gerade, also durch eine lineare Funktion in der Nahe des Punktes (x0, f(x0)).Man spricht auch von der Tangente als (lokale) lineare Bestapproximation.An dieser Stelle ist es essentiell zu bemerken, dass lineare Funktionen aufgrund ihrer Einfach-heit gut geeignete bzw.

”dankbare“ Naherungen an die ursprungliche Funktion sind. So sind

etwa die obigen Geraden durch (x0, f(x0)) durch nur eine einzige reelle Zahlen (den Anstieg k)eindeutig bestimmt und die (moglicherweise sehr) komplizierte ursprungliche Funktion kannin der Nahe dieses Punktes mit minimalen Fehler durch ein sehr einfaches mathematischesObjekt, namlich eine lineare Funktion ersetzt werden!

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHLICHE BEGRIFFSBESTIMMUNG 127

An diesem Punkt greift nun die Verallgemeinerung der Differentialrechnung fur Funktionenmit hoherdimensionalem Definitionsbereich oder fur noch allgemeinere Situationen an: EineFunktion ist differenzierbar in einem Punkt, falls sie dort besonders gut, d.h. im Sinne derverscharften Bedingung durch eine lineare Funktion approximiert werden kann.

Ubungsaufgabe.

49 Die Tangente als”beste” Gerade — warum r(h)

h → 0? Ziel dieser Aufgabe ist es(noch einmal und explizit) zu sehen, in welchem prazisen Sinne die Tangente die bestappro-ximierende Gerade an eine differenzierbare Funktion ist und was das mit der

”verscharften Bedingung“

r(h)

h→ 0 aus D§2.2 zu tun hat.

Sei f : R → R eine differenzierbare Funktion und sei x0 ∈ R. Zeigen bzw. bearbeiten Sienacheinander die folgenden Punkte:

(a) Jede Gerade g durch (x0, f(x0)) ist von der Form g(x) = f(x0) + k(x− x0).(b) Geben Sie den Fehler

r(h) = f(x0 + h)− g(x0 + h)

der Approximation von f durch die Gerade g explizit in Termen von f und k an.(c) Es gilt r(h)→ 0 fur h→ 0.

Anmerkung. Der Witz ist hier, dass die Aussagen fur jede Gerade g durch (x0, f(x0))gilt! Außerdem bleibt die Aussage richtig, falls f nur stetig in x0 ist.

(d) Es gilt

r(h)

h→ 0 (h→ 0) genau dann, wenn g die Tangente an f in x0 ist,

d.h. falls k = f ′(x0) ist.(e) Fertigen Sie eine Skizze an.

2.2.3. Anwendungen. Abgesehen von der großen theoretischen Bedeutung des obigen Ge-sichtspunkts der Ableitung als linearen Naherung ergeben sich daraus auch ganz handfestepraktische Resultate. Die Grunduberlegung ist, dass fur eine im Punkt x0 differenzierbareFunktion f die Tangente in x0 nahe x0 die Funktion gut approximiert, genauer, dass furkleine |h|

f(x0 + h) ≈ f(x0) + f ′(x0)h (E.36)

gilt. Wir zahlen exemplarisch nur zwei sich daraus ergebende Anwendungen auf, siehe auch(Danckwerts and Vogel, 2006, Abschn. 3.3.2) insbesondere fur das Newtonverfahren zur Be-rechnung von Nullstellen.

(1) (Naherunsgweise Berechnungen) Wollen wir etwa√

15 berechnen, so konnen wir imgegenwartigen Kontext wie folgt vorgehen: Fur die Funktion f(x) =

√x und x0 = 16

setzen wir h = 1. Dann gilt wegen f ′(x) = 1/2√x:

√15 =

√16− 1 ≈

√16− 1

2√

16= 4− 1

8= 3.875, (E.37)

was bereits die ersten beiden Nachkommastellen des wahren Werts√

15 ≈ 3.87298334richtig wiedergibt.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

128 Kapitel E. Differentialrechnung

(2) (Qualitatives Verhalten von Funktionen) Wir betrachten als Beispiel die Sinusfunktionnahe x0 = 0. Es gilt ja sin′(x) = cos(x) und daher sin′(0) = cos(0) = 1. Damit konnenwir fur kleine |h| schreiben

sin(h) = sin(0 + h) ≈ sin(0) + sin′(0)h = h, (E.38)

was nichts anderes bedeutet, dass der Sinus nahe x0 = 0 sich so wie die Identitat verhalt,also sin(h) ≈ h, was auch in Abbildung ♣ Grafik ♣ sichtbar wird.Genauer konnen wir sogar schreiben

sin(h) = sin(0 + h) = sin(0) + sin′(0)h+ r(h) = h+ r(h), (E.39)

wobei r(h)/h = (sin(h)− h)/h→ 0 gilt.

Verfolgt man diese Idee konsequent weiter, so gelangt man schließlich zu Taylorreihen undzum Satz von Taylor, siehe (Danckwerts and Vogel, 2005, Abschn. 4.4)

Ubungsaufgaben.

46 Naherungsweise Berechnungen mittels Ableitung. Geben Sie unter Verwendungder Ableitung der Wurzelfunktion eine Naherung fur

√8.92 an. Wie gut ist diese Naherung?

50 Ableitungspuzzle 1. Gegeben sind die Graphen der Funktionen f , g und h.

f g h

Welche der Funktionen i, j, k (Graphen siehe unten) ist die Ableitung von f , g bzw. h?Begrunden Sie Ihre Auswahl!

i j k

51 Ableitung und Tangentensteigung — Vorstellungen und Fehlvorstellungen.Welche der folgenden Vorstellungen zum Ableitungsbegriff sind zutreffend, bei welchen han-delt es sich um Fehlvorstellungen? Begrunden Sie ihre Einschatzungen!

(a) Die Ableitung f ′(x0) einer differenzierbaren Funktion f : R→ R in einem Punkt x0 ∈ Rgibt die Steigung der Tangente an den Graphen von f im Punkt (x0, f(x0)) an.

(b) Falls f : R → R eine in x0 differenzierbare Funktion ist, dann schneidet die Tangentean f in x0 den Graphen von f nur im Punkt (x0, f(x0)).

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§3. KLEINES HISTORISCH-PHILOSOPHISCHES INTERMEZZO 129

(c) Die Funktion f : R → R ist in x0 genau dann differenzierbar, wenn die Folge derSteigungen der Sekanten durch die Punkte (x0, f(x0)) und (x, f(x)) (x 6= x0) gegeneinen endlichen Wert konvergiert.

(d) Die Tangente an die differenzierbare Funktion f : R → R im Punkt x0 beruhrt denGraphen von f in (x0, f(x0)) und hat dort die gleiche Richtung.

52 Ableitungspuzzle 2. Gegeben sind die Graphen der Funktionen f , g, h. Welche der

f g h

Funktionen i, j, k (Graphen siehe unten) ist die Ableitung von f , g bzw. h? Begrunden SieIhre Auswahl!

i j k

§3 Kleines historisch-philosophisches Intermezzo

Im Anschluss an unsere Diskussion des”Unendlichen“ in Abschnitt D.§2.5 diskutieren wir

hier aus einer ahnlichen Perspektive die kurz Differentialrechnung. Naturlich gibt es auchzu diesem Thema eine unuberschaubare Fulle guter Literatur, siehe etwa die einschlagigeDarstellung und die Zitate in (Greefrath et al., 2016, Abschn. 4.1).

3.1.1. Das Problem mit dem Tangentenproblem. Die grundlegende Problemstellungder Differentialrechnung bildete sich als Tangentenproblem ab dem 17. Jahrhundert heraus:Finde die

”Tangente“ in einem Punkt an eine beliebige Kurve. Dabei besteht zunachst das

Problem, uberhaupt den Begriff einer Tangente an eine beliebige Kurve zu definieren, d.h.wie man von einfachen Spezialfallen wie Kreis und Ellipse und der jeweiligen geometrischenKonstruktion der Tangente zu einer guten Verallgemeinerung fur beliebige Kurven gelangenkann bzw. soll.

Es stellt sich heraus, dass der (aus heutiger Sicht) naheliegende Losungsansatz, die Tangentean eine Kurve als Schmiegegerade zu definieren nicht nur zu einer guten Definition, sondernauch auf eine einfache und konkrete Moglichkeit fuhrt, die Tangente tatsachlich zu berech-nen. Wir unterscheiden hier explizit zwischen Schmiegeggerade, also jener Geraden die durchSekanten uber immer kleiner werdenden Intervalle approximiert wird und der Tangente alsaus einem geometrischen Kontext kommenden Geraden, die die Kurve beruhrt und dort

”die

gleiche Richtung“ hat. Diese Unterscheidung ist gut dazu geeignet, den Paradigmenwechsel

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

130 Kapitel E. Differentialrechnung

im Kontext des schulmathematischen Zugangs in Abschnitt E.§1.1 erstens zu erkennen undihn dann zu benennen und zu diskutieren.

3.1.2. Kleiner historischer Abriss. Was wir in Definition 2.1.8 locker mittels des Grenz-wertbegriffs erledigt haben, stellte die MathematikerInnen bis vor ca. 300 Jahren vor gewaltigetechnische Probleme. Konkret bestand die Schwierigkeit darin, die Approximationsidee tech-nisch in den Griff zu bekommen: Wie sollte man mit den Sekanten uber beliebig kleinenIntervallen hantieren? Erste Ansatze gehen auf Pierre de Fermat (ca. 1600–1665) und ReneDescartes (1596–1650) zuruck und waren algebraischer Natur.

Ende des 17. Jahrhunderts gelang es dann Isaac Newton (1643–1727) und Gottfried Wil-helm Leibniz (1646–1716) unabhangig voneinander, widerspruchsfreie und funktionierendeKalkule zu entwickeln. Zwischen diesen beiden Wissenschaftern kam es in der Folge zu einemStreit daruber, wer als der (wahre) Erfinder der Infinitesmialrechnung gelten solle, der alsPrioritatenstreit in die Wissenschaftsgeschichte einging und selbt nach dem Tod der beidenProtagonisten lange nicht beigelegte werden konnte. Dabei spielten naturgemaß nationale undpolitische Interessen eine große Rolle.

Wahrend Newton das Problem physikalisch uber das Momentangeschwindigkeitsproblem an-ging, gelangte Leibniz geometrisch uber das Tangentenproblem zu seiner Losung. Beide Kal-kule erlaubten das Abstrahieren von rein geometrischen Vorstellungen hin zu einer konkretenrechnerischen Behandlung und werden deshalb oft als eigentlicher Beginn der Analysis be-trachtet.

Newton und Leibniz arbeiteten jedoch beide mit”unendlich kleinen“ positiven Zahlen. Die-

se Vorgehensweise, die zugleich intuitiv aber auch schlecht nachvollziehbar war, wurde be-reits von Zeitgenossen kritisiert, z.B. von George Berkeley (1685–1753) in einem Werk mitdem polemischen Titel

”The analyst; or, a discourse addressed to an infidel mathematician“.

Tatsachlich konnte erst in den 1960ern Abraham Robinson (1918–74) die Verwendung sog.infinitesimaler Großen mathematisch exakt, d.h. axiomatisch fundieren — seine Nichtstan-dardanalysis ist uns schon in D 2.5.6 begegenet.

Der Hauptstrang der Entwicklung nahm aber einen anderen Weg. Newton hatte seine Ver-sion der Infinitesimalrechnung ja im physikalischen Kontext entwickelt und in seiner kurz

”Principia“ genannten Schrift

”Philosophiae Naturalis Principia Mathematica3“ nicht nur

das universelle Gravitationsgesetz formuliert, sondern auch die Bewegungsgesetze, womit erden Grundstein fur die klassische Mechanik legte, die deswegen oft auch Newtonsche Mechanikgenannt wird. Daher wurde die Analysis, getrieben von immer zahlreicheren Anwendungen,trotz der herrschenden Unsicherheiten bzgl. ihrer Grundlagen konsequent weiterentwickelt. Sogehen z.B. die heute bekannten Ableitungsregeln vgl. 2.1.14 vor allem auf Werke von LeonhardEuler (1707–83) zuruck.

Wie auch in Abschnitt D 2.5.6 dargestellt setzte erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts einestarkere Exaktifizierung in der Mathematik ein, die in der Analysis ihren Ausgang nahmund schließlich zur Erfindung und spater der Axiomatisierung der Mengenlehre fuhrte. EinenAnfang machte Augustin-Louis Cauchy (1789–1857) (vgl. auch D 2.5.5), der die

”unendlich

kleinen“ Großen aufgab und die Ableitung als Grenzwert von Sekantensteigungen also in mo-derner Sprache als Differentialqotient definierte. Die weitere Exaktifizierung ist wie ebenfallsschon in 2.5.6 erwahnt besonders eng mit dem Namen Karl Weierstraß (1815–1897) verbun-

3Erstmals 1686 erschienen, ist es eines der einflussreichsten Bucher uberhaupt.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§3. KLEINES HISTORISCH-PHILOSOPHISCHES INTERMEZZO 131

den.

3.1.3. Leibniz und das Tangentenproblem. Hier kehren wir ganz kurz zu Leibniz’ Losungdes Tangentenproblems zuruck. Er dachte die Tangentensteigung als Steigung der Hypothe-use in einem

”unendlich kleinen“ Dreieck, die sich im Grenzfall aus den Sekantendreiecken

ergibt, siehe Abbildung ♣ Grafik ♣. Aus dieser Uberlegung aus der Anfangszeit der Diffe-rentialrechnung hat bis heute eine vor allem in der Physik verwendete Schreibweise uberlebt,die besonders gerne im Kontext von Modellierungen verwendet wird. Bezeichnen wir eineFunktion als sog.

”abhangige“ Variable y also z.B. y = x3 + 2x2 + 7, dann schreibt man fur

die Ableitung y′ auchdy

dx= 3x2 + 4x (E.40)

und Leibniz hat sich dabei dydx wohl wirklich als den Quotienten aus Gegenkathete dy und

Ankathete dx vorgestellt, wobei dx und dy”unendlich klein“ sind.

3.1.4. Momentangeschwindigkeit und Newtonsche Mechnik. Isaac Newton ging his-torisch einen anderen Weg als Leibniz. In seinem bereits erwahnten Hauptwerk der

”Principia“

hat er gezeigt, dass wesentliche Phanomene in der Natur erfolgreich durch mathematische Mo-delle beschrieben werden konnen. Dazu entwickelte er eine Differential- und Integralrechnungausgehend vom Problem der Momentangeschwindigkeit. Wir geben hier eine einfache Formu-lierung in moderner Sprache.

Ein Massenpunkt P bewegt sich auf der Zahlengeraden. Seinen Ort zum Zeitpunkt t be-schreiben wir mit der Funktion s : R → R, t 7→ s(t) Unsere Anschauung drangt uns dazuzu glauben, dass P zu jedem Zeitpunkt eine Momentangeschwindigkeit hat. Tatsachlich be-stimmbar sind aber nur die Durschschnittgeschwindigkeiten zwischen den Zeitpunkten t0 undt, also

s(t)− s(t0)t− t0

. (E.41)

In volliger Analogie zum Tangentenanstieg konnen wir nun die Momentangeschwindigkeitv(t0) zum Zeitpunkt t0 als den Grenzwert dieser Durchschnittsgeschwindigkeiten definieren— falls dieser existiert, und endlich ist, d.h. dass die Durchschnittsgeschwindigkeiten genugend

”stabil“ sind, falls t

”nahe“ von t0 variiert. Also, falls existent und endlich

v(t0) := limt0 6=t→t0

s(t)− s(t0)t− t0

. (E.42)

Z.B. gilt fur den freien Fall s(t) = 12gt

2 mit der Erdbeschleunigung g ≈ 9.81ms−2

v(t) =

(1

2g t2)′

= gt. (E.43)

Wie auch schon die Notation ausdruckt, wird die Momentangeschwindigkiet v selbt als Funk-tion der Zeit t aufgefasst, also als Funktion t 7→ v(t). Die mittlere Beschleunigung von Pzwischen t0 und t ist dann der Differenzenquotient (v(t)− v(t0)/(t− t0) und vollig analog zurMomentangeschwindigkeit definieren wir die Momentanbeschleunigung zum Zeitpunkt t0 also

b(t0) := limt0 6=t→t0

v(t)− v(t0)

t− t0, (E.44)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

132 Kapitel E. Differentialrechnung

falls der Grenzwert existiert und endlich ist. Fur den freien Fall ergibt sich daher

b(t) = v′(t) = (gt)′ = g, (E.45)

was auch den Namen der Naturkonstanten g erklart.

Erst diese prazise Definition von Momentangeschwindigkeit und -beschleunigung ermoglicheneinen analytischen Zugriff auf Newtons Kraftgesetz oder 2. Newtonsche Axiom

”Kraft ist

Masse mal Beschleunigung“ namlich

F (t) = mb(t) = mv′(t) = ms′′(t). (E.46)

Liest man diese Gleichung als Differentialgleichung fur s, so ist ihre Losung s die Wegfunktionbei gegebener Kraft F und man spricht von einer Losung der Bewegungsgleichung.Dies ist der Ausgangspunkt der Newtonschen oder klassischen Mechanik, die sich unter denHanden vieler PhysikerInnen und MathematikerInnen zu einer sehr schonen und geometri-schen Theorie entwickelt hat, die es erlaubt, alle uns umgebenden mechanischen Phanomenezu beschreiben und in ganz abstrakter Sprache zu fassen. Die klassische Mechanik steht tra-ditionell am Beginn jeder Ausbildung in (theoretischer) Physik und das darauf aufbauendeForschungsgebiet der

”klassichen dynamischen Systeme

”hat noch in der zweiten Halfte des

20. Jahrhunderts bedeutende Resultate hervorgebracht, z.B. den KAM-Satz von Kolmogorow,Arnold und Moser.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§4. ASPEKTE UND GRUNDVORSTELLUNGEN ZUR DIFFERENTIALRECHNUNG133

§4 Aspekte und Grundvorstellungen zur Differentialrechnung

♣ Siehe Votragsfolien unter https://www.mat.univie.ac.at/~stein/teaching/WS

1819/aspekte grundvorstellungen diffrechnung20190124.pdf p. 1 -- 35 ♣

§5 Kurvendiskussion

♣ Siehe Votragsfolien unter https://www.mat.univie.ac.at/~stein/teaching/WS

1819/aspekte grundvorstellungen diffrechnung20190124.pdf p. 36 -- 56 ♣

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

134 Kapitel E. Differentialrechnung

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

Kapitel F

Integralrechnung

§1 Ein kurzer Blick in die Praxis

♣ Siehe Votragsfolien unter https://www.mat.univie.ac.at/~stein/teaching/WS

1819/aspekte grundvorstellungen diffrechnung20190124.pdf p. 56 -- 63 ♣

135

136 Kapitel F. Integralrechnung

§2 Fachmathematische Betrachtungen

In diesem Abschnitt nahern wir uns dem Integralbegriff aus einer fachlichen Perspektive. Da-bei werden wir allerdings zuerst einen unhinterfragten, sogenannten

”naiven“ Flacheninhalts-

begriff zugrundelegen, den wir erst im weiteren Verlauf einer analytischen Prazisierung un-terziehen. Dadurch sind Teile unseres Zugangs auch direkt im Unterrichtskontext realisierbarund die komplementaren Teile vermitteln einen Einblick in das Wesen der Mathematik: dieschrittweise Annaherung an einen Begriff und seine formal Prazisierung.

§2.1 Integrieren ist Rekonstruieren von Funktionen

Wir beginnen mit einem einfachen Beispiel, das uns schrittweise auf die Fragestellung fuhrt,wie man eine Funktion aus ihrer Ableitungsfunktion zuruckgewinnen also rekonstruieren kann.

2.1.1. Beispiel (Badewanne, Teil 1). Wir betrachten die folgende Situation: In eine leereBadewanne wird eine Zeit lang Wasser eingelassen, dann die Wasserzufuhr beendet. Schließlichwird nach einer Weile der Abfluss geoffnet und das ganze Wasser wieder ausgelassen. DieSituation kann so wie in Abbildung F.1 dargestellt werden.

5 10 15 20 25Zeit[min]

-30

-20

-10

10

20

Zuflussgeschwindigkeit [l/min]

Abb. F.1: Wasserzufluss5 10 15 20 25

Zeit[min]

20

40

60

80

100

120

Wasservolumen [l]

Abb. F.2: Wasservolumen

Wir interessieren uns nun fur die Frage:

Wie lasst sich aus der Kenntnis der Zufluss- bzw. Abflussgeschwindigkeit des Was-sers auf die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Badewanne vorhandenen Was-sermenge (genauer das Wasservolumen) schließen?

Betrachten wir die Situation wie in Abbildung F.1 dargestellt etwas genauer. Innerhalb derersten 6 Minuten nimmt die Wassermenge V in der Badewanne zu. In den darauf folgenden 14Minuten bleibt sie konstant, um schließlich in den darauf folgenden 4 Minuten abzunehmen.Genauer ergibt sich fur einen Zeitpunkt t wahrend der ersten 6 Minuten fur die Wassermenge

20 Liter/Minute · t Minuten = 20 t Liter.

Nach dem die ganzen 6 Minuten dieser Phase vergangen sind, befinden sich daher 120 LiterWasser in der Badewanne, die dann uber die nachsten 14 Minuten konstant bleiben. Ab demZeitpunkt t = 20 Minuten beginnt die Abflussphase. In diesem Zeitintervall gilt dann fur dieWassermenge

120 − 30(t− 20) Liter.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHMATHEMATISCHE BETRACHTUNGEN 137

Insgesamt konnen wir daher die Wassermenge V in der Badewanne in Abhangigkeit von derZeit durch die Funktion

V (t) =

20t 0 ≤ t ≤ 6120 6 ≤ t ≤ 20120− 30(t− 20) = 720− 30t 20 ≤ t ≤ 240 t ≥ 24

(F.1)

darstellen, deren Graph in Abbildung F.2 abgebildet ist.

Zusammengefasst haben wir rechnerisch aus der Kenntnis der Zu- bzw. Abflussgeschwindigkeitdie zu jedem Zeitpunkt vorhandene Wassermenge bestimmt. Die dabei auftretenden Produkte

20t und 30(t− 20) (F.2)

haben eine eindringliche geometrsiche Bedeutung. Sie sind Rechtecksflachen und zur Berech-nung der Gesamtbilanz werden die oberhalb der (Zeit-)Achse gelegenen Flachen positiv unddie darunter liegenden negativ gezahlt. In diesem Sinne ist die Funktion V eine Summe vor-zeichenbehafteter Rechtecksinhalte oder orientierter Flacheninhalte.

2.1.2. Reflexion: Rekonstruieren ist Integrieren. Ein informierter Blick auf das Beispielzeigt: Wir haben aus der Zuflussgeschwindigkeit1 des Wassers den Wasserinhalt berechnet.Die Zuflussgeschwindigkeit ist aber nichts anderes als die momentane Anderung der Wasser-menge, also deren Ableitung V ′. Mathematisch gesprochen haben wir also aus der Ableitungs-funktion V ′ die Funktion V selbst rekonstruiert oder anders ausgedruckt: wiederhergestellt.Der lateinische Ausdruck fur

”Wiederherstellen“ ist

”integrare“ und so wird klar, warum der

oben im Beispiel vorgenommene Rekonstruierungsprozess als Integrieren bezeichnet wird.

Eine die obige fachliche Reflexion erganzende fachdidaktische Reflexion zeigt, folgende zweiPunkte auf:

(1) Das Integrieren tritt als Rekonstruieren von Funktionen aus ihrer Ableitung auf; eineder zentralen Grundvorstellungen, vgl. Abschnitt F.§3

(2) Die Vorstellung des Intergrals als orientierer Flacheninhalt wird maßgeblich bedient.

Wir werden das Badewannenbeispiel weiter ausschlachten, um weitere und allgemeinere Fa-cetten der Situation herauszuarbeiten.

2.1.3. Beispiel (Badewanne, Teil 2). Wir verfeinern das obige Beispiel, indem wir dieSituation genauer betrachten und dadurch auf eine allgemeinere Sichtweise gestoßen werden.

Genauer betrachten wir die Zulaufgeschwindigkeit aus Abbildung F.3. Hier ist die Zulauf-phase genauer modelliert und zwar in dem Sinn, dass der Wasserhahn in der ersten Minutegleichmaßig immer weiter aufgedreht wird bist er zum Zeitpunkt t = 1 voll aufgedreht ist,also die volle Zulaufgeschwindigkeit von 20 Liter pro Minute erreicht wurde. Dann wird dieStellung des Wasserhahns fur 5 Minuten unverandert bei vollem Zulauf belassen und schließ-lich in der 7. Minute gleichmaßig wieder abgedreht2. Das Auslassen des Wassers modellierenwir wie vorher, was wir etwa dadurch rechtfertigen konnen, dass das Rausziehen des Stopselssehr schnell vor sich geht und daher die Abflussgeschwindigkeit mehr oder weniger sofort die

1Ab jetzt betrachten wir die Abflussgeschwindigkeit als negative Zuflussgeschwindigkeit. Daher brauchenwir sie nicht extra zu erwahnen.

2Die Zahlen sind so gewahlt, dass die Badewanne wieder ganz voll wird, also am Ende des Einlaufvorgangeswieder 120 Liter Wasser eingelassen wurden.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

138 Kapitel F. Integralrechnung

5 10 15 20 25Zeit[min]

-30

-20

-10

10

20

Zuflussgeschwindigkeit [l/min]

Abb. F.3: Wasserzufluss, genauere Modellierung

volle Geschwindigkeit von 30 Liter pro Minute erreicht. Insgesamt haben wir es also mit derfolgenden Zuflussgeschwindigkeits-Funktion V ′ zu tun

V ′(t) =

20t 0 ≤ t ≤ 120 1 ≤ t ≤ 620− 20(t− 6) = 140− 20t 6 ≤ t ≤ 70 7 ≤ t ≤ 20−30 20 ≤ t ≤ 24.

(F.3)

Zur Rekonstruktion des Wasservolumens V (t) berechnen wir nun wieder den orientiertenFlacheninhalt bis zum Zeitpunkt t. Dabei konnen wir wie zuvor vorgehen. Lediglich in denZeitintervallen [0, 1] und [6, 7] mussen wir zur Berechnung des Volumenszuwachs Dreiecks-flachen betrachten, die wir auf elementargeometrischem Weg berechnen. Damit erhalten wirfur das Wasservolumen V zu jedem Zeitpunkt t

V (t) =

12 · t · 20t (Dreiecksflache) 0 ≤ t ≤ 110 + 20(t− 1) (wie gehabt) 1 ≤ t ≤ 6110 + 10− (12(7− t)V ′(t)) = 120− 10(7− t)2 6 ≤ t ≤ 7120 (wie gehabt) 7 ≤ t ≤ 20720− 30t (wie gehabt) 20 ≤ t ≤ 240 t ≥ 24.

(F.4)

Der Graph der Funktion V ist in Abbildung F.4 zu sehen und in Abbildung F.5 ist derVolumenszuwachs wahrend des Zulaufvorgangs (der ja vom obigen Beispiel abweicht) genauerdargestellt.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHMATHEMATISCHE BETRACHTUNGEN 139

5 10 15 20 25Zeit[min]

20

40

60

80

100

120

Wasservolumen [l]

Abb. F.4: Wasservolumen

2 4 6 8Zeit[min]

20

40

60

80

100

120

Wasservolumen [l]

Abb. F.5: Wasservolumen im Intervall [0, 8]

Wir sind hier derselben Strategie gefolgt, wie im Fall konstanter Zuflussgeschwindigkeit.

Aber wie ist das zu rechtfertigen?

Tatsachlich ist unsere Vorgehensweise mathematisch korrekt, sogar im Fall nichtlinearer Zu-flussgeschwindigkeiten, solange die Funktion V ′

”schon genug“ ist. Wir diskutieren die dahin-

ter stehende analytische Idee und nehmen in Abschnitt F.§2.3 eine analytische Praszisierungvor.

2.1.4. Die analytische Idee. Die Idee zur Rekonstruktion des Wasservolumens aus derZuflussgeschwindigkeit oder allgemeiner einer Funktion aus ihrer Ableitung ist eine typischanalytische: In sehr kleinen Zeiteinheiten kann die Zuflussgeschwindigkeit als annaherndkonstant angesehen werden. ACHTUNG: Damit diese Idee wirklich funktioniert muss dieZuflussgeshwindigkeits-Funktion

”schon genug“ sein. Wir werden spater im Rahmen der ana-

lytischen Prazisierung des Integralbegriffs sehen, dass stetige Funktionen jedenfalls”schon

genug“ sind.

2 4 6 8 10Zeit[min]

-10

-5

5

10

15

Zuflussgeschwindigkeit [l/min]

Abb. F.6: Wasserzufluss, neue Modellierung

Betrachten wir also eine Zulaufsgeschwindigkeits-Funktion V ′ wie in Abblidung F.63. Dannbetrachten wir V ′ in einem

”kleinen“ Zeitintervall [t0, t] der Lange 4t := t − t0. Was tragt

3So eine Funktion kann z.B. zustande kommen wenn Kinder gleichzeitig mit Wasserhahn und Abflussstopselspielen, wie Ihr Autor aus eigener Erfahrung bestatigen kann.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

140 Kapitel F. Integralrechnung

nun V ′ in diesem Zeitintervall zum Gesamteffekt, soll heissen zum Wasservolumen bei? DaV ′ die momentane Anderungsrate der Wasserstands-Funktion ist gilt nach (E.36)

V (t)− V (t0) ≈ V ′(t) (t− t0) oder in suggestiver Schreibweise 4 V ≈ V ′(t)4 t. (F.5)

Das bedeutet, dass der Zuwachs der Wassermenge im Zeitintervall4t sich geometrich annaherndaus der

”kleinen“ Rechtecksflache V ′(t)(t − t0) ergibt, siehe Abbildung F.7, wobei wir hier

nur das Intervall t ∈ [0, 2] betrachtet haben.

0.5 1.0 1.5 2.0Zeit[min]

2

4

6

8

10

12

14

Zuflussgeschwindigkeit [l/min]

Abb. F.7: Zuwachs der Wassermenge angenahert durch Rechtecksflachen

Gemaß dieser Idee ergibt sich daher die Wassermenge zu einem beliebigen Zeitpunkt t aus derSumme von Rechtecksflachen uber kleinen Teilintervallen, siehe Abbildung F.7. Geometrischist also der Wert der rekonstruierten Funktion V zum Zeitpunkt t annahernd die Summedieser

”kleinen“ (orientierten) Rechtecksflachen.

Anschaulich ist klar, dass bei genugend kleiner”Streifenbreite“ diese Summe von orientierten

Rechtecksflachen wenig von der orientierten Flache unter dem Graphen von V ′ unterscheidet.Zusammengefasst gilt auch in diesem

”genugend schonen“ Fall:

Die Rekonsruktion von V aus V ′ gelingt durch Berechnen des orientierten Flacheninhalts,den V ′ mit der x-Achse einschließt.

2.1.5. Fachdidaktische Reflexion zur Prazisierung. Fur eine Erstbegegnung mit demIntegralbegriff ist die hier verfolgte Vorgehensweise auch im Unterrichtskontext moglich. Ver-gleiche dazu (Danckwerts and Vogel, 2006, p. 101f.), wo auch vor einer weiteren zu fruhenPrazisierung des Integralbegriffs gewarnt wird. Im Zentrum steht hier das heurischtsiche Ar-beiten und eine Starkung der 3. Winter’schen Grunderfahrung. Es wir auf der Praexistenzdes Inhaltsbegriffs aufgebaut, d.h. dieser wird in

”naiver“ Weise vorausgesetzt.

2.1.6. Vorlaufige Zusammenfassung unserer bisherigen Uberlegungen:

(1) Kennt man die lokale Anderungsrate einer Funktion in einem Intervall, so konnen dortdie Werte der Funktion rekonstruiert werden.

(2) Diese rekonstruierten Funktionswerte sind als orientierte Flacheninhalte interpretier-und berechenbar.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHMATHEMATISCHE BETRACHTUNGEN 141

Diese Vorgehensweise tragt auch im Anwendungszusammenhang weit uber das Badewannen-beispiel hinaus. Weitere Beispiele sind etwa:

(1) Ein Fahrtenschreiber erlaubt die Rekonstruktion des zuruckgelegten Weges.(2) Das Beschleunigung einer Rakete erlaubt die Rekonstruktion ihrer Geschwindigkeit.(3) Die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Epidemie erlaubt die Berechnung der Zahl der

Infizierten.(4) Die Stromstarke erlaubt die Berechnung des Ladezustand eines Akkus.

Der mathematsiche Kern all dieser Beispiele ist der Ubergang von einer Ausgangsfunktion f ′

zu einer rekonstruierten Funktion f , deren Funktionswerte die orientierten Inhalte der Flachezwischen f und der x-Achse sind.

2.1.7. Ein allgemeiner Standpunkt: Von der Berandnung zur Integralfunktion.Jetzt wollen unseren bisher so erfolgreichen Zugang um eine entscheidende Idee erweitern.Abstrahieren wir von der obigen Situation so stellen wir fest, dass es

fur die konkrete Berechnung der Rekonstruktion unwichtig ist, dass die”

beran-dende“ Funktion als Ableitung gegeben war.

Daher losen wir uns jetzt von dieser Voraussetzung und definieren so auf intuitive Weise dieIntegralfunktion einer Berandung :

Zu einer gegebenen Funktion f : [a, b] → R (genannt die Berandung) definierenwir die Integralfunktion Ia : [a, b] → R, die jedem x ∈ [a, b] den orientiertenFlacheninhalt zwischen f und der x-Achse zwischen a und x zuordnet (siehe Ab-bildung F.8).

Fur die Integralfunktion verwenden wir die Schreibweise

Ia(x) =

x∫a

f(t) dt. (F.6)

+

-

+

-

xa

Berandung f

2 4 6 8 10

-1.0

-0.5

0.5

1.0

1.5

Abb. F.8: Die Integralfunktion Ia ordnet jedem x ∈ [a, b] die Summe der orientiertenFlacheninhalte zu, die die Berandung f beginnend mit a mit der x-Achse einschließt.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

142 Kapitel F. Integralrechnung

2.1.8. Zur Prazisierung, Teil 2. Naturlich handelt es sich hier um keine den Ansprucheneiner fachmathematischen Vorgehensweise genugende Definition. Sie setzt namlich (wie schonoben diskutiert) die Praexistenz des Flacheninhalts voraus. Erst im Rahmen der analytischenPrsazisiering in F.§2.3 konnen Fragen nach Existenz und Eindeutigekit des Integrals sinnvollgestellt und dann auch beantwortet werden. Wir werden weiterhin diesem intutiven Zugangverfolgen und sehen, dass wir in seinem Rahmen sogar den Hauptsatz der Differential- undIntegralrechnung plausibel machen konnen. Wichtig ist auch, dass dieser Zugang, der auchexplizit als Unterrichtsvorschlag Henn (2018) vorliegt, eine spatere Praszisierung in naturlicherWeise zulasst!

§2.2 Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

In unserem Zugang konnen wir nun das zentrale Resultat der Differential- und Integralrech-nung besprechen: den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung. Er bringt die beidengrundlegenden Konzepte der Analysis, namlich die Differentiation und die Integration mit-einander in Verbindung. Er sagt aus, dass Ableiten bzw. Integrieren (im wesentlichen) jeweilsdie Umkehrung des anderen ist. Der Satz besteht aus zwei Teilen, die manchmal auch alserster und zweiter Hauptsatz der Analysis bezeichnet werden.Wir beginnen mit einer Motivation, die an das Badewannenbeispiel 2.1.1, 2.1.3 anschließt.

2.2.1. Integralfunktion und Rekonstruierte.Im Kontext des Badenwannenbeislpiels und der anderen Sachkontextet in 2.1.6 sind wir jeweilsvon einer Berandung ausgegangen, die schon explizit als Ableitunsgfunktion g′ gegeben war.Die Integralfunktion Ia war dann die rekonstruierte Funktion g selbst. Also schematisch

Berandung g′ Integralfunktion Ia = g (F.7)

Jetzt liegt naturlich die Frage auf der Hand, inwieweit dieser Sachverhalt unser Manover aus2.1.7 ubersteht, d.h:

Wenn die Berandung nicht schon als Ableitungsfunktion gegeben ist, inwieweit istdie Integralfunktion noch eine

”Rekonstruierte“ und wenn ja wovon?

Gehen wir zuruck zum Spezialfall, dass die Berandung als Ableitung g′ gegeben ist, dannsehen wir

I ′a = g′ = Berandung, weil ja nach (F.7) Ia = g. (F.8)

Daher liegt jetzt die Vermutung auf der Hand, dass auch im allgemeinen Fall (F.6), d.h. furIa(x) =

∫ xa f(t)dt der Zusammenhang (F.8) gilt, also dass

I ′a = Berandung = f (F.9)

gilt. Tatsachlich ist unsere Vermutung richtig und sie gehort zu den großen Entdeckungen derAnalysis und tragt daher ganz zu recht den Namen Hauptsatz der Differential- und Integral-rechnung oder kurz Hauptsatz.

Wir werden im folgenden den Hauptsatz formulieren, der in dieser Form auch im axiomati-schen Zugang zur Analysis korrekt bleibt. Wir werden ihn in unserem Zugang, der auf der

”ontologischen Bindung an den naiven Flacheninhaltsbegriff“ (Danckwerts and Vogel, 2006,

p. 104) beruht, begrunden und ihn so elementar zuganglich und verstehbar machen.Zunachst wiederholen wir aber einer Terminologie, die im Kontext des Hauptsatzes sehrhilfreich ist und deswegen auch durchgangig verwendet wird.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHMATHEMATISCHE BETRACHTUNGEN 143

Mathematische Faktenbox 22: Stammfunktionen

2.2.2. Definition (Stammfunktion). Sei f : I → R eine Funktion auf dem IntervallI. Dann heißt eine Funktion F : I → R eine Stammfunktion vonf f auf I, falls

F ′ = f, (F.10)

d.h. F ′(x) = f(x) fur alle x ∈ I gilt.

2.2.3. Beispiel (Stammfunktionen von f(x) = x). Die Funktion F (x) = x2

2 ist eineStammfunktion der identischen Funktion f(x) = x auf R, denn es gilt

F ′(x) =

(x2

2

)′= x = f(x). (F.11)

Allerdings ist auch G(x) = x2

2 + c fur jede Konstante c ∈ R eine Stammfunktion von f ,denn

G′(x) =

(x2

2+ c

)′= x = f(x). (F.12)

Tatsachlich ist dieses Beispiel paradigmatisch, was die Nicht-Eindeutigkeit von Stamm-funktionen angeht. Es gilt namlich (fur den einfachen(!) Beweis siehe z.B. (Steinbauer,2013a, 4 Prop. 2.5)):

2.2.4. Proposition (Differenz von Stammfunktionen). Ist F : I → R eine Stamm-funktion von f : I → R auf I, dann gilt fur jede Funktion G : I → R

G ist (ebenfalls) Stammfunktion von f auf I ⇔ F −G = konstant. (F.13)

Die in 2.2.1 aufgeworfenen Vermutung steht in einem engen Zusammenhang mit der Fragenach der Existenz von Stammfunktionen. Genauer stellen wir die Frage:

Haben alle”schonen“ Funktionen, also z.B. alle stetigen Funktionen eine Stamm-

funktion?

Die positive und prazise Antwort liefert nun der Hauptsatz.

Mathematische Faktenbox 23: Der Hautsatz

2.2.5. Theorem (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung).Sei f : I → R eine stetige Funktion und seien a, b ∈ I. Dann gilt:

(1) Die Funktion F : I → R definiert durch

F (x) :=

x∫a

f(t) dt (F.14)

ist stetig differenzierbara und es gilt F ′ = f (d.h. F ′(x) = f(x) fur alle x ∈ I.) Ins-besondere ist F eine Stammfunktion von f .

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

144 Kapitel F. Integralrechnung

Mathematische Faktenbox 23 – Fortsetzung

(2) Sei F eine beliebige Stammfunktion von f , dann gilt

b∫a

f(t) dt = F (b)− F (a). (F.15)

Der formale Beweis ist fur ein derartig zentrales Resultat erfreulich einfach und einsichtig.Er beruht auf dem Mittelwertsatz der Integralrechnung, einem ebenfalls anschaulich sehreinsichtigen Resultat, vgl. z.B. (Steinbauer, 2013a, 4 , Thm. 2.7). Wir werden unten dieBeweisidee klar herausarbeiten.

2.2.6. Suggestive Schreibweisen. Folgende sehr eindringliche Formulierungen der bei-den fundamentalen Ausssagen sind weit verbreitet:

d

dx

x∫a

f(t) dt = f(x), bzw.

b∫a

F ′(t) dt = F (b)− F (a). (F.16)

Spatenstens hier werden wir mit der Nase darauf gestoßen, dass Differenzieren und Inte-grieren zueinander inverse Operationen sind. Einen Weg zur mathematischen Prazisierungdieser Aussage findet sich z.B. in (Steinbauer, 2013a, 4 , Bem. 2.8(ii)ff.).

aDas bedeutet, dass F differenzierbar und die Ableitungsfunktion F ′ stetig ist. WARNUNG: Hiergeht es um die Stetigkeit der Ableitungsfunktion F ′ und nicht um die Stetigekeit der Funktion F selbst.Diese folgt ja schon aus der Differenzierbarkeit von F .

2.2.7. Beweisidee/-skizze des Hauptsatzes. Wir konnen auf dem gegenwartigen Niveaudie Beweisidee des Haupsatzes klar herausarbeiten.

(1) Wir mussen fur F (x) :=x∫af(t)dt zeigen, dass F ′ = f gilt. Dazu berechen wir den

Differenzenquotienten:

F (x+ h)− F (x)

h=

∫ x+ha f(t)dt−

∫ xa f(t)dt

h

=

∫ x+hx f(t)dt

h≈ f(x)h

h= f(x), (F.17)

wobei wir im entscheidenden Schritt (E.36) verwendet haben. (Ein Prazisierung diesesSchritts erfolgt im axiomatischen Zugang zur Analysis mittels des Mittelwertsatzes derIntegralrechnung).

(2) Definieren wir G wie oben, d.h. G(x) =∫ xa f(t)dt, dann gilt wegen Teil (1) des Haupt-

satzes, dass G Stammfunktion von f ist. Wegen Proposition 2.2.4 ist dann jede Stamm-funktion von der Form F = G+ c fur einen Konstante c ∈ R. Dann gilt aber

F (b)− F (x) = G(b)−G(a) =

b∫a

f(t) dt −a∫a

f(t) dt

︸ ︷︷ ︸=0

=

b∫a

f(t) dt. (F.18)

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHMATHEMATISCHE BETRACHTUNGEN 145

2.2.8. Die Aussage des Hauptsatzes. Wegen der Wichtigkeit des Haupsatzes, die garnichtuberschatzt werden kann, geben wir hier noch eine verbale Umformulierung bzw. Interpreta-tion seiner Aussagen an.

(1) Der erste Teil des Hauptsatzes besagt, dass (zumindest) fur alle stetigen Funktioneneine Stammfunktion gefunden werden kann und dass eine solche durch die Integral-funktion gegeben ist. Das bedeutet in der Terminologie von oben, dass fur jede stetigeFunktion eine

”Rekonstruierte“ existiert, in dem Sinne dass ihre Ableitung die Funktion

zuruckgibt. In dieser Formulierung ist das eine explizite und positive Antwort auf dieFrage in 2.2.1.

(2) Die zweite (eng verwandte) Aussage macht klar, wie man Integralfunktionen findenkann, also kurz wie man integriert. Namlich, die Integralfunktion ist dadurch gegeben,dass man mittels (irgend)einer beliebigen Stammfunktion die Differenz auf der rechtenSeite von (F.15) bildet.Dies stellt eine elegante Moglichkeit zur Verfugung, Integrale zu berechnen. Historichgesehen war das sogar die Integrationsmethode. Allerding ist es oft schwierig eine expli-zite Stammfunktion zu finden4 und oft ist es sogar unmoglich, wie z.B. fur die Dichte derNormalverteilung f(x) = e−x

2. Tatsachlich ist v.a. in den Anwendungen die numerische

Integration viel wichtiger (geworden).

2.2.9. Differenzieren vs. Integrieren. Schließlich zeigt der Hauptsatz, dass Differenzierenund Integrieren zueienander

”inverse Operationen“ sind, vgl. auch 2.2.6. In diesem Sinne

erweitert der Haupsatz auch die Perspektive auf das, was wir oben”Rekonstruieren“ von

Funktionen genannt haben. Genauer zeigt der Hauptsatz:

Differenzieren (als Bilden der lokalen Anderungsrate) und Integrieren (als Rekon-struieren) sind Umkehroperationen.

Schematisch konnen wir diesen Sachverhalt wie folgt ausdrucken:

fIntegrieren−→

Rekonstruieren,Ubergang zur Integralfkt.

Ia

Differenzieren−→

Ubergang zurlok. Anderungsrate

I ′a = f (F.19)

Und umgekehrt:

g

Differenzieren−→

Ubergang zurlok. Anderungsrate

g′Integrieren−→

Rekonstruieren,Ubergang zur Integralfkt.

Ia = g (F.20)

4Es existieren ganze Bande, die explizite Stammfunktionen zu (in Anwendungen) wichtigen Funktio-nen(klassen) bereitstellen, die sog. Integraltafeln. Heute werden naturlich hauptsachlich CAS dafur eingesetzt.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

146 Kapitel F. Integralrechnung

Fur eine mathematischen Prazisierung dieser Aussagen siehe z.B. (Steinbauer, 2013a, 4 ,Bem. 2.8(ii)ff.).

2.2.10. Zur Terminologie. Folgenden Punkte zur Terminologie bzw. Schreibweise sindessentiell:

(1)

x∫a

f(t) dt ist eine Funktion (von x), und

(2)

b∫a

f(x) dxist eine Zahl, manchmalbestimmtes Integral genannt.

Daruber hinaus wird oft der Ausdruck

∫f(x) dx (oder gelegentlich noch unpraziser F (x) =

∫f(x) dx)

(jedenfalls ohne Integralgrenzen) verwendet und als unbestimmtes Integral bezeichnet. Ge-meint ist damit irgendeine oder auch alle Stammfunktion(en) von f .

Diese Terminologie ist ungunstig und fuhrt zu Missverstandnissen, siehe z.B. (Steinbauer,2013a, 4 , Bem. 2.10). Besser ist es, nur von Stammfunktionen bzw. Integralen von a nachb (2) oder mit variabler Obergrenze (1) reden und den Ausdruck

”(un)bestimmtes Integral“

zu vermeiden.

§2.3 Die Analytische Prazisierung des Integralbegriffs

In unserem Zugang haben wir die Integralfunktion mit Hilfe der Idee der Rekonstruktiongewonnen. Die Integralfunktion einer Berandung war dabei definiert uber die Summe derorientierten Flacheninhalte zwischen Berandung und x-Achse, vgl 2.1.7. In diesem Abschnittbefassen wir uns mit der Praszisierung dieser Idee im Rahmen der Fachanalysis, wobei wiruns von der Praexistenz des Flacheninhalts losen (mussen).

2.3.1. Leitfrage. Wir beginnen damit, die folgende Leitfrage zu stellen, die uns schrittweisezur gewunschten Prazisierung des Integralbegriffs fuhren wird:

In welchen Sinne wird das Integral — definiert als orientierter Flacheninhalt un-ter einer gegebenen Berandnung — beliebig gut durch die Summen orientierterRechtecksinhalte approximiert?

Wir beginnen damit, diese Frage an einem einfachen Beispiel zu untersuchen.

2.3.2. Ein einfacher Fall: f(x) = x. Wir betrachten die Funktion f(x) = x auf [0,∞).

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§2. FACHMATHEMATISCHE BETRACHTUNGEN 147

0.2 0.4 0.6 0.8 1.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

Abb. F.9: Approximation des Integrals vonf(x) = x durch Rechtecksflachen, die unter-halb des Graphen liegen

0.2 0.4 0.6 0.8 1.0

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

Abb. F.10: Approximation des Integralsvon f(x) = x durch Rechtecksflachen, dieoberhalb des Graphen liegen

Die Summe der unterhalb des Graphen von f liegenden Rechtecksinhalte ist gegeben durch

U(n) =n−1∑i=0

f(i

n)

1

n=

n−1∑i=0

i

n

1

n=

1

n2

n−1∑i=0

=1

n2n(n− 1)

2=

1

2− 1

2n. (F.21)

Wir nennen U(n) die n-te Untersumme bzw. die Untersumme fur n Unterteilungen.Die Summe der oberhalb des Graphen von f liegenden Rechtecksinhalte ist gegeben durch

O(n) =n∑i=1

f(i

n)

1

n=

n∑i=1

i

n

1

n=

1

n2

n∑i=1

=1

n2(n+ 1)n

2=

1

2+

1

2n. (F.22)

Analog nennen wir O(n) die n-te Obersumme.Die entscheidende Frage ist nun, in wie weit die beiden Rechteckssummen mit wachsendem ndie Flache unter dem Graphen approximieren. In diesem Falle kennen wir aber die Flache:

Weil es sich um die halbe Flache des Einheitsquadrats handelt gilt I0(1) = 12 .

Daher finden wir fur den Fehler bzw. die Abweichung der Rechteckssummen fur eine Unter-teilung in n Intervalle

U(n) =1

2− 1

2n→ 1

2= I0(1) (n→∞) und

(F.23)

O(n) =1

2+

1

2n→ 1

2= I0(1) (n→∞)

In diesem praszisen Sinn wird das Integral fon f(x) = x beliebig gut durch die Unter- bzw.Obersummen approximiert.

2.3.3. Eine erste Antwort auf die oben gestellte Leitfrage lautet daher: Das Integralwird durch Rechteckssummen beliebig gut approximiert, in dem Sinn, dass bei Teilung desIntervalls in n gleich lange Teilintervalle der Unterschied von Unter- und Obersummen zumFlacheninhalt bei wachsendem n beliebig klein wird. Oder etwas knapper formuliert

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

148 Kapitel F. Integralrechnung

Ober und Untersummen gehen im Limes n→∞ gegen den Flacheninhalt.

Einem weiteren Problem mussen wir uns aber noch Stellen. Im obigen Beispiel konnten wirden Flacheninhalt elementargeometrisch bestimmen. Von dieser Voraussetzung mussen wiruns aber noch trennen, denn im allgemeinen werden wir den Flacheninhalt nicht durch un-abhangige Uberlegungen bestimmen konnen!

Um dies effektiv bewerkstelligen zu konnen, betrachten wir die oben definierten Ober- undUntersummen in formaler Weise.

2.3.4. Produktsummen. Formal haben wir es sowohl bei den Unter- wie auch bei denObersummen mit Ausdrucken der Form∑

i

f(xi) (xi+1 − xi) oder etwas salopper∑

f(x) ∆x (F.24)

zu tun, die vor allem im fachdidaktischen Kontext der Integralrechnung als Produtksummenbezeichnet werden. Diese Terminologie spielt naturlich darauf an, dass es sich bei diesenAudrucken um Summen handelt, deren Summanden Produkte sind. Letzere haben wir bisherals Flacheninhalte von Rechtecken gedeutet.

Der entscheidende Schritt ist es nun, solche Produktsummen von einem allgemeineren Stand-punkt aus zu betrachten: Gegeben eine beliebige Funktion f : I → R, so konnen wir formalund ohne an die geometrische Interpretation zu denken, Produktsummen (fur ein jeweils vor-gegebenes n) der Form F.24 und der Lange n bilden. Und die Frage lautet nun, ob ein formalesArbeiten mit Produktsummen einen Sinn hat, bzw:

Haben die Produktsummen auch losgelost vom geometrsichen Kontext einen Sinn?

Zunachst kann man sich durchaus im Kontext der Schulanalysis davon uberzeugen, dass einArbeiten mit diesen Produktsummen zielfuhrend ist. In (Danckwerts and Vogel, 2006, Abschn.4.4.1) finden sich z.B. Beispiele zur Volumsberechnung mittels Cavalierischem Prinzip und desEnergiebegriffs in der klassichen Mechanik.

2.3.5. Der analytische Integralbegriff. Tatsachlich erlaubt uns ein Fokussieren auf dieProduktsummen, einen rein analytischen Integralbegriff zu definieren, der losgelost vom nai-ven Flacheninhaltsbegriff besteht. Die Idee ist es, schlich und einfach in den Uberlegungenin 2.3.2 den Flacheninhaltsbegriff wegzulassen und nur auf die Konvergenz der Ober- undUntersummen zu fokussieren. Genauer:

Konvergieren Unter- und Obersumme gegen einen gemeinsamen Grenzwert, sodefinieren wir diesen als Integral.

Um diesen Weg auch formal zu beschreiten definieren wir Unter- und Obersummen prazise.

Mathematische Faktenbox 24: Das Riemann Integral

Wir betrachten eine beschrankte Funktion f : [a, b] → Ra. und unterteilen das Intervall[a, b] in n-Stuck Intervalle der gleichen Lange (b− a)/n, die wir mit

[a = x0, x1], [x1, x2], [x2, x3], . . . , [xn−1, xn = b] (F.25)

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§2. FACHMATHEMATISCHE BETRACHTUNGEN 149

Mathematische Faktenbox 24 – Fortsetzung

bezeichnen. Dabei ist fur jedes 0 ≤ i ≤ n der Teilungspunkt xi gegeben durch

xi = a+ ib− an

, (F.26)

siehe Abbildung ♣ ♣.

Dann identifizieren wir auf jedem der Teilintervalle optimale Schranken an die Funkti-onswerteb. Genauer setzten wir

fi := infxi≤x≤xi+1

f(x), und fi := supxi≤x≤xi+1

f(x). (F.27)

Nun konnen wir definieren.

2.3.6. Definition (Unter- und Obersummen). Mit der obigen Notation definierenwir die n-te Unter- bzw. Obersumme von f auf [a, b] als

U(n) :=n−1∑i=0

fi(xi+1 − xi), bzw. O(n) :=

n−1∑i=0

f i (xi+1 − xi). (F.28)

2.3.7. Definition (Riemann Integral). Konvergieren U(n) und O(n) fur n → ∞beide gegen denselben Grenzwert, so heißt dieser gemeinsame Grenzwert der Unter- undObersummen das (Riemann) Integral von f uber [a, b] und wir schreiben

b∫a

f(x) dx := limn→∞

U(n) = limn→∞

O(n). (F.29)

aD.h. es existiert eine Konstante C, sodass |f(x)| ≤ C fur alle x ∈ [a, b].bWare f stetig, dann konnten wir das Minimum bzw. das Maximum der Funktiosnwerte heranziehen,

weil stetige Funktionen auf abgeschlossenen Intervallen Maximum und Minumum annehmen.

2.3.8. Zur Schreibweise. Die Schreibweise des Integrals ist eng mit der Idee der Produkt-summen verknupft. Eine symbolische Schreibweise fur die Unter- bzw. Obersummen ist, wieschon in (F.24) erklart ∑

f(x) ∆x (F.30)

und die (auf Leibniz zuruckgehende) Schreibweise

b∫a

f(x) dx (F.31)

spiegelt den Grenzubergang in Definition 2.3.7 wider: Aus dem Summenzeichen wird ein

∫“ das als stilisiertes

”S“ fur

”Summe“ auzufassen ist und aus dem (im Leibnizschen Sinne

unendlich klein gedachten) ∆x wird ein dx. Diese Symbolik druckt also genau die Idee unseresZugangs aus, namlich:

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

150 Kapitel F. Integralrechnung

Das Integral ist als Grenzwert von Produktsummen aufzufassen.

Die Nonchalance, mit der in (F.24) und (F.30) die eigentliche Stelle an der f zu nehmenist verschwiegen wird, hat einen mathematischen Hintergrund. Tatsachlich haben wir lautDefinition 2.3.7 die Werte f

ibzw. f i zu nehmen, die mit f(x) in (F.24) und (F.30) nur unzu-

reichend umschrieben werden. Allerdings lasst sich zeigen, dass falls das Integral in Definition2.3.7 exisitiert, dann auch die Limiten der Ausdrucke

R(n) :=n−1∑i0

f(xi)(xi+1 − xi), (F.32)

wobei xi ein beliebiger Punkt im n-ten Teilintervall [xi−1, xi] ist! In diesem Sinne ist die Kon-vergenz der Produktsummen sehr robust: Sie ist unabhangig davon, welchen Funktionswertim entsprechenden Intervall man sich aussucht.

Diese Konvergez ist sogar noch robuster. Es lasst sich namlich weiters zeigen, dass aquivalenterWeise auch analoge Ausdrucke konvergieren, wo die Intervalle nicht die gleiche Lange haben.Es muss lediglich sichergestellt sein, dass die sogenannte Feinheit der Zerlegung, das ist diemaximale Lange der Teilintervalle, gegen 0 geht.

2.3.9. Ruckblick, Ausblick und ein kurzer Blick auf das Wesen der Mathematik.Wir blicken zum Abschluss nochmals aus informierter Perspektive zuruck auf unseren Zugang.Wir haben in der analytischen Prazisierung den Integralbegriff von den Fußen auf den Kopfgestellt (oder umgekehrt): Begonnen haben wir damit, dass wir den Flacheninhalt in einemeinfachen Beispiel sowohl elementargeometrisch als auch auf analytischem Wege berechnethaben. Der analytische Weg bestand darin den bekannten Flacheninhalt als den Grenzwertvon Produktsummen zu schreiben. Dann haben wir fur den allgemeinen Fall, in dem wir denFlacheninhalt nicht mehr geometrisch bestimmen konnen, die analytische Charakterisierungzur Definition gemacht.

Mit diesem begrifflichen Wandel stehen wir nun am Anfang der Integrationstheorie, die sichim Gegensatz zum bisherigen Vorgehen vom naiven Flacheninhaltsbegriff gelost hat. Hierwird es sinnvoll die folgenden Fragen zu stellen: Welche Funktionen sind integrierbar? WelcheBerandungen besitzen eine Stammfunktion, etc.? Das weiter zu verfolgen wurde hier aber zuweit fuhren. Tatsachlich gilt etwa der Hauptsatz fur die Klasse der sogenannten absolut steti-gen Funktionen, die umgekehrt dadurch charakterisiert ist, dass genau fur sie der Hauptsatzgilt. Allerdings ist das Integral dann nicht mehr ein Riemann Integral, sondern muss zumsogenannten Lebesgue Integral verallgemeinert werden.

Wichtig ist an dieser Stelle aber folgendes zu bemerken: Die hier verfolgte Vorgehensweiseist nicht nur eine typisch analytische, sondern sogar eine typisch mathematische. Ausgehendvom naiven Flacheninhaltsbegriff haben wir eine mathematische Beschreibung desselben ent-wickelt. Dann haben wir aber festgestellt, dass diese weit uber den ursprunglichen Zusammen-hang hinaus tragt. Wir haben mit der analytischen Definition einen Integralbegriff geschaffen,der viel allgemeiner ist und der es erlaubt, den naiven Flachenbegriff zu prazisiern und zuerweitern. Insofern stehen Flacheninhalt und Integralbegriff in einem dialektischen Verhaltniszueinander.

– – – – – – – – – – – R O H V E R S I O N 14. Februar 2019 – – – – – – – – – – –

§3. ASPEKTE UND GRUNDVORSTELLUNGEN ZUM INTEGRALBEGRIFF 151

§3 Aspekte und Grundvorstellungen zum Integralbegriff

Dieser Abschnitt ist nicht Prufungstoff und wir stellen die Aspekte und Grundvorstellungenzu Integralbegriff nur kurz im Uberblick zusammen. Fur mehr Details siehe (Greefrath et al.,2016, Abschn. 5.3).

§3.1 Aspekte des Integralbegriffs

FdPw-Box 26: Stammfunktionsaspekt des Integralberiffs

Der Aspekt des Integrals als Stammfunktion stellt den Zusammenhang zwischen demIntegrieren und dem Differenzieren heraus. Er ist damit untrennbar mit dem Hauptsatzder Differential- und Integralrechnung verbunden.

FdPw-Box 27: Produktsummenaspekt des Integralberiffs

Unter einer Produktsumme versteht man einen Ausdruck des Typs∑f(x) ∆x, vgl. (F.24), (F.30).

Sie spielen formal die tragende Rolle bei der analytische Praszisierung des Integralbegriffs,vgl. mathematische Faktenbox 24.

§3.2 Grundvorstellungen zum Integralbegriff

FdPw-Box 28: Flacheninhaltsgrundvorstellung

Die Flacheninhaltsgrundvorstellung macht den Integralbegriff am naivenFlacheninhaltsbegriff fest. Sie betont also den

”klassischen Zugang“ zur Integral-

rechnung, bei dem es das Ziel ist, die Flache unter einer (beliebigen aber”schonen“)

Berandnung zu bestimmen.

FdPw-Box 29: Rekonstruktionsgrundvorstellung

Unter Rekonstruktion im Zusammenhang mit dem Integralbegriff versteht man

• die Rekonstruktion einer Große aus gegebenen Anderungsraten (vgl. AbschnittF.§2.1) und• die (Re-)Konstruktion einer Stammfunktion einer gegebenen Funktion oder Beran-

dung (vgl. 2.2.1).

FdPw-Box 30: Mittelwertsgrundvorstellung

Die Mittelwertsgrundvorstellung bringt zum Ausdruck, dass mithilfe des Integrals einergegebenen Funktion uber einem bestimmten Intervall, dividiert durch die Lange des In-tervalls, ein Mittelwert berechnet werden kann.

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152 Kapitel F. Integralrechnung

§3.3 Die Zusammenschau von Aspekten und Grundvorstellungen zum In-tegralbegriff

Stammfunktionsaspekt

Produktsummenaspekt

Flacheninhaltsvorstellung

Rekonstruktionsvorstellung

Mittelwertvorstellung

Abb. F.11: Aspekte und Grundvorstellungen zum Integralbegriff und ihre wechselweisen Be-ziehungen

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