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Schrift und Reflektion - uni-leipzig.de · 2016. 4. 3. · 5. Die Nachfolger des Parmenides und...

Date post: 30-Dec-2020
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©Priv.-Doz'in Dr. Elisabeth Burr Fakultät 2 / Romanistik Gerhard-Mercator-Universität Duisburg Sprachbetrachtung und Medienrevolutionen 4. SCHRIFT UND REFLEKTION ÜBER DIE SPRACHE Wir haben jetzt also die Bedeutung der Art des Alphabets und der Art der Verbreitung der Schrift für das antike Griechenland betrachtet und uns die von Platon in seinem Phaidros übermittelte kritische Haltung von Sokrates bzw. von Platon selbst zur Schrift näher angesehen. Ich hatte auch schon darauf hingewiesen, dass durch die Schrift eine neue, nämlich allgemeinere und abstraktere Art der Beziehung zwischen dem Wort und dem von ihm bezeichneten Gegenstand entsteht und auch die Entstehung der Idee des Logos als eines unveränderlichen und unpersönlichen Modus des Denkens, als einer rationalen Fähigkeit, die dem Sprechen zugrundeliegt, zu- mindest zum Teil auf die Schrift zurückzuführen ist. Auch die Herausbildung eines Sinns für die menschliche Vergangenheit als einer objektiven Realität fällt in diese Zeit und ist mit der Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte, die eine entscheidende Bedeutung gewinnt, verbunden. Mit der Schrift ist, wie in verschiedenen Medientheorien bzw. in der Forschung zu Oralität und Literalität festgestellt, zudem die Entstehung des autonomen Ichs verbunden und es beginnt das Nachdenken des Menschen über sich selbst. All dies scheint mit die Voraussetzung dafür zu sein, dass Menschen auch über ihre Sprache Reflektionen anstellen. 4.1 Sprachbetrachtung allgemein Nach Georg Bossong (1990) ist nun die Geschichte des Nachdenkens über Sprache eine Abfolge von universalistischen und partikularistischen Betrachtungen. Universalismus und Partikularismus hängen mit der Dialektik von Einheit und Vielgestaltigkeit der Sprache zusammen, damit, dass sich die Sprechfähigkeit in tausendfach differenzierten Formen ausdrückt. Während
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©Priv.-Doz'in Dr. Elisabeth Burr Fakultät 2 / Romanistik Gerhard-Mercator-Universität Duisburg

Sprachbetrachtung und Medienrevolutionen

4. SCHRIFT UND REFLEKTION ÜBER DIE SPRACHE

Wir haben jetzt also die Bedeutung der Art des Alphabets und der Art der

Verbreitung der Schrift für das antike Griechenland betrachtet und uns die von

Platon in seinem Phaidros übermittelte kritische Haltung von Sokrates bzw.

von Platon selbst zur Schrift näher angesehen.

Ich hatte auch schon darauf hingewiesen, dass durch die Schrift eine neue,

nämlich allgemeinere und abstraktere Art der Beziehung zwischen dem Wort

und dem von ihm bezeichneten Gegenstand entsteht und auch die Entstehung

der Idee des Logos als eines unveränderlichen und unpersönlichen Modus des

Denkens, als einer rationalen Fähigkeit, die dem Sprechen zugrundeliegt, zu-

mindest zum Teil auf die Schrift zurückzuführen ist. Auch die Herausbildung

eines Sinns für die menschliche Vergangenheit als einer objektiven Realität

fällt in diese Zeit und ist mit der Unterscheidung zwischen Mythos und

Geschichte, die eine entscheidende Bedeutung gewinnt, verbunden. Mit der

Schrift ist, wie in verschiedenen Medientheorien bzw. in der Forschung zu

Oralität und Literalität festgestellt, zudem die Entstehung des autonomen Ichs

verbunden und es beginnt das Nachdenken des Menschen über sich selbst. All

dies scheint mit die Voraussetzung dafür zu sein, dass Menschen auch über

ihre Sprache Reflektionen anstellen.

4.1 Sprachbetrachtung allgemein

Nach Georg Bossong (1990) ist nun die Geschichte des Nachdenkens über

Sprache eine Abfolge von universalistischen und partikularistischen

Betrachtungen. Universalismus und Partikularismus hängen mit der Dialektik

von Einheit und Vielgestaltigkeit der Sprache zusammen, damit, dass sich die

Sprechfähigkeit in tausendfach differenzierten Formen ausdrückt. Während

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sich die universalistisch ausgerichtete Betrachtung auf die Suche nach dem

allen Einzelsprachen Gemeinsamen (langage) macht, wird unter

partikularistischem Blickwinkel die einzelsprachliche Vielgestalt (langues)

erforscht und beschrieben. So dominiert in universalistischen Epochen die

Position, wonach die Beziehung zwischen den Dingen und ihren Namen

willkürlich und rein konventionell ist. Die Unterschiede zwischen den

Einzelsprachen werden damit als etwas Oberflächliches betrachtet, als allein

auf sozialer Übereinkunft beruhend. Die Unterschiede spiegeln aber keine

tiefergreifenden Divergenzen. Der Partikularismus dagegen vertritt die These,

dass die Namen eine gewisse Richtigkeit beanspruchen. Die Unterschiede

zwischen den Einzelsprachen werden hier denn auch als gewichtiger und

tiefgreifender gesehen.

Mit der Ausrichtung auf Universalität oder Partikularität sind, was die

Sprachbetrachtung betrifft, eine Reihe von Grundansätzen verbunden. Der

sprachwissenschaftliche Universalismus ist nämlich zugleich auch eher

theorieorientiert, der Partikularismus dagegen ist eher datenorientiert. Von

Epoche zu Epoche wandelt sich somit auch die relative Gewichtung von

Theorie und Empirie.

Zudem ist, wie Bossong ausführt, die universalistische Sichtweise fast stets

auch als rationalistisch zu kennzeichnen, denn, wenn das allen Sprachen Ge-

meinsame im Vordergrund steht, dann müssen die Zusammenhänge einsehbar

und begründbar sein. Die Sprachwissenschaft wird dann als episteme oder

scientia aufgefaßt. Logische Argumentationsketten sind dafür charakteristisch

(cf. Bossong 1990: 7-8). In partikularistischen Epochen ist dagegen der usus

der Leitbegriff, d.h. die Unregelmäßigkeiten und Widersprüchlichkeiten der

Einzelsprachen werden nicht unter den Tisch gekehrt, sondern explizit themati-

siert. Sprachwissenschaft wird dann im Sinne einer Techné bzw. ars betrieben.

Insgesamt betrachtet sind diese beiden Perspektiven natürlich

komplementär, in der Geschichte des Nachdenkens über Sprache drücken sie

sich allerdings zumeist im historischen Nacheinander aus, d.h. in den

verschiedenen Epochen steht jeweils die eine oder andere Perspektive im

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Zentrum des Interesses, während die andere Betrachtungsweise als Neben-

oder Unterströmung an die Peripherie gedrängt wird.

Geistesgeschichtliche Entwicklungen verlaufen eben nicht einfach und

geradlinig. Auch bilden sie sich nicht in einem Vakuum heraus. So spielt,

zumindest aus dem Blickwinkel der Medientheorie, das jeweils dominante

Medium eine maßgebliche Rolle. Zudem beeinflussen sich die verschiedenen

Wissensgebiete und hängen auch von den Entwicklungen auf politischem und

sozialem Gebiet ab.

Die Sprachbetrachtung ist selbst eingebettet in die allgemeine Geistesge-

schichte, und diese wiederum ist Bestandteil der Geschichte tout court. Die Art

und Weise, wie die Menschen zu verschiedenen Zeiten mit dem Thema

Sprache umgehen, ist denn auch kennzeichnend für die Epoche und das in ihr

herrschende Menschenbild.

Am Beispiel der Sprachthematik lassen sich nach Bossong deshalb auch

"symptomatisch und im Detail die anthropologischen Auffassungen und Ein-

stellungen ganzer Epochen aufzeigen und die Art der Behandlung dieser The-

matik kann, natürlich aus der Retrospektive, als ein Seismograph betrachtet

werden, der sich anbahnende Erschütterungen und Umwälzungen schon dann

anzeigt, wenn sie noch unterirdisch, noch nicht ins allgemeine Bewusstsein

eingedrungen sind." (Bossong 1990: 6) Dabei ist vor allem die Auswahl

interessant, die jeweils aus der vielschichtigen, die Sprache betreffenden

Fragestellung getroffen wird.

Die für die universalistische und partikularistische Sprachbetrachtung cha-

rakteristischen Faktoren sind in der folgenden Tabelle noch einmal zusammen-

gestellt:

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Universalismus Partikularismus

Suche nach dem allen Einzelsprachen Gemeinsamen (langage)

Erforschung und Beschreibung der einzelsprachlichen Vielgestalt (langues)

es dominiert die Position, wonach die Beziehung zwischen den Dingen und ihren Namen willkürlich und rein konventionell ist

es dominiert die Position, wonach die Namen eine gewisse Richtigkeit beanspruchen

die Unterschiede zwischen den Einzelsprachen werden als etwas Oberflächliches betrachtet, als allein auf sozialer Übereinkunft beruhend

die Unterschiede zwischen den Einzelsprachen werden als gewichtig und tiefgreifend gesehen

theorieorientiert datenorientiert

rationalistisch der usus ist der Leitbegriff,

Sprachwissenschaft = episteme oder scientia

Sprachwissenschaft wird im Sinne einer Techné bzw. ars betrieben

logische Argumentationsketten die Unregelmäßigkeiten und Widersprüchlichkeiten der Einzelsprachen werden explizit thematisiert

4.2 Die Herausbildung der Sprachbetrachtung in Griechenland

Was nun die Herausbildung der Sprachbetrachtung in Griechenland im spezifi-

schen betrifft, so ist zunächst einmal festzuhalten, dass hier eine durchgängige

Tradition des Nachdenkens und Schreibens über Sprache sporadisch und frag-

mentarisch bei den Vor-Sokratischen Philosophen und Rhetorikern entstand,

zu einer Zeit also, als der Literalität eine immer größere Bedeutung zukam. Zu

nennen sind Namen wie

1. Heraklit (ca. 536 bis 470 v. Chr.) und seine Schule, die davon ausgehen,

dass wir denken, was ist und sagen, was wir denken. Es ist deshalb unmög-

lich, das zu sagen, was nicht ist (das Falsche, das Nicht-Sein). Und es gibt

auch keine irrtümlichen oder falschen Namen, denn ein Name wie z.B.

Tisch bezeichnet entweder 'den Tisch' und ist in diesem Sinne wahrhaft,

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oder er bezeichnet ihn nicht und ist dann nicht sein Name. Insgesamt wird

also behauptet, dass die Sprache dieselbe Struktur aufweist, wie das

Denken und die außersprachliche Wirklichkeit.

2. Die Gegener von Heraklit, besonders Parmenides, behaupten dagegen, dass

zwar Denken und Sein identisch sind, dass aber Sprache und Denken nicht

übereinstimmen.

Bei Heraklit und Parmenides geht es damit um den erkenntnistheoretischen

Wert der Sprache, um das Verhältnis zwischen Sprache und Erkenntnis oder

zwischen Sein, Denken und Sprechen.

3. In der Folge stellt sich dieses Problem dann auch für die Wörter. Es scheint

zwar, dass schon Pythagoras im 6. Jh. v. Chr., also vor Heraklit, die Frage

nach den Wörtern gestellt hat, die Auskunft darüber ist aber indirekt und

spät, d.h. wir können nicht sicher sein, dass das stimmt.

4. In jedem Fall stellen aber die Nachfolger und Schüler Heraklits die Frage

nach der Beziehung zwischen Onoma im Sinne von 'Wort' und dem Ge-

genstand und suchen die Wahrheit des Gegenstandes im Onoma, im Wort

selbst, indem sie etymologische Forschungen betreiben. Es geht also

darum, dass, da die Sprache der Wirklichkeit entspricht, auch die Wörter

als Elemente der Sprache der Wirklichkeit entsprechen müssen und damit

die Natur der Gegenstände widerspiegeln. Das Verhältnis Wort -

Gegenstand kann dabei als ein natürliches notwendiges Verhältnis oder ein

nicht-notwendiges Verhältnis angesehen werden. Wird die natürliche

Notwendigkeit behauptet, dann bezieht sich Natur auf die Natur des

Gegenstandes, d.h. die Wörter werden als durch den Gegenstand kausal

determiniert betrachtet. Das Wort muss also als Definition interpretiert

werden. Um zu den ursprünglichen, ersten Namen, die die Sachen

nachahmen, zu kommen, muss das Wort in kleinere Wörter, d.h. in die

Bestandteile der Definition zerlegt werden, oder es müssen die Phoneme

selbst als allgemeine Möglichkeit der Nachahmung interpretiert werden,

etwa r als etwas Fließendes, o als etwas Rundes.

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5. Die Nachfolger des Parmenides und hier vor allem die Sophisten nehmen

dagegen ein nicht natürliches, nicht-notwendiges Verhältnis zwischen Wort

und Gegenstand an. Sie betrachten die Beziehung zwischen Wort und Ge-

genstand also als arbiträr und schreiben diese Beziehung dem usus, d.h.

dem Sprachgebrauch zu. Auch hier bezieht sich Natur aber auf die Natur

und das Wesen des Gegenstandes. Die Sophisten waren übrigens die ersten,

die ihre Aufmerksamkeit dem Unterricht der Sprache widmeten. Dabei

beschäftigen sie sich vor allem mit den Techniken der öffentlichen Rede

und der Disputation. Ihr Ruf, mit Wörtern ungeheuer geschickt umgehen zu

können, liegt dem heute negativen Terminus Sophisterei zugrunde. Zu ihrer

Zeit erfüllten sie aber eine wichtige edukative Funktion und brachten

sprachliche Fragen ins Zentrum des Interesses. Da die griechische Kultur

damals eine monoglossische, d.h. einsprachige Kultur war, ging es bei der

Beschäftigung mit Fragen der Sprache jedoch immer nur um die eigene

Sprache. Zwar war bekannt, dass andere Völker andere Sprachen sprachen,

es bestand aber an ihnen kaum Interesse. Sie spielten deshalb auch beim

Nachdenken über Sprache eigentlich keine Rolle. Anders war das bei den

Dialekten des Griechischen selbst, deren sich die Griechen sehr wohl

bewusst waren.1

4.2.1 Platons Kratylos

Universalismus und Partikularismus, bzw. Konventionalität und Natürlichkeit

stehen sich gerade auch in Platons Kratylos gegenüber. Hier hält Platon (427 -

348 v. Chr.) die Debatte zwischen Sokrates (gest. 399 v. Chr.) und den So-

phisten fest. Der Kratylos ist ein Hinweis darauf, dass Sokrates zu seiner Zeit

tatsächlich mit seinem Publikum sprachliche Fragen diskutierte. Eine weitere

Bestätigung dafür findet sich bei Aristophanes, einem zeitgenössischen Komö-

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1 Mit den Sophisten, den weisen Männern, die im 5. und 4. Jahrhundert lebten und wirkten, und besonders mit Sokrates hört nach Coseriu (1975: 30) der Philosoph auf, ein Philosoph oder nur ein Prophet zu sein und auch die Philosophie hört auf, nur Behauptungen von Individuen widerzuspiegeln. Sie wird nun zu einer Diskussion der Forschung. Es wird nämlich jetzt nach der Methode der Forschung gefragt. Fragen werden als Fragen gestellt. Lösungen werden nicht mehr nur als eine Offenbarung geboten.

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dienschreiber, der sich in seinem Stück Die Wolken darüber lustig macht, dass

Sokrates so abstruse Sachen wie belebtes Geschlecht und grammatisches Ge-

schlecht diskutierte.

Für die Geschichte der Sprachbetrachtung ist der Kratylos von großer Be-

deutung, weil er die früheste Quelle ist, aus der die griechische Sicht von der

Sprache abgeleitet werden kann.

4.2.2 Über die Richtigkeit der Namen

Der Kratylos ist ein Werk über ein Problem. Hier werden vor allem Fragestel-

lungen kritisiert. Sokrates wird hier dargestellt, wie er zusammen mit

Hermogenes und Kratylos die Frage der Richtigkeit der Namen diskutiert.

Hermogenes war ein Anhänger der Schule des Parmenides. Kratylos war ein

Philosoph, von dem erzählt wird, dass er immer mehr an der Sprache zweifelte

und schließlich das Sprechen insgesamt aufgab und zur Kommunikation mit

anderen nur noch Gesten benutzte.

Kratylos nimmt hier für die Wörter das an, was Heraklit über die Sprache

behauptet, d.h. die Sprache stimmt mit dem Denken und der außersprachlichen

Wirklichkeit überein. Hermogenes nimmt für die Wörter das an, was Parmeni-

des über die Sprache sagt, d.h. Sprache und Denken stimmen nicht überein.

Kratylos - Philosoph Hermogenes - Anhänger der Schule

des Parmenides

nimmt für die Wörter an, was Heraklit über die Sprache behauptet

nimmt für die Wörter das an, was Parmenides über die Sprache sagt

die Sprache stimmt mit dem Denken und der außersprachlichen Wirklichkeit überein

Sprache und Denken stimmen nicht überein

So beginnt die früheste Überlieferung einer ausgedehnten Debatte von

linguistischen Fragen, die überlebt hat:

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4.2.2.1 Die Ansicht des Kratylos von der natürlichen Richtigkeit der Namen

Hermogenes Willst Du also, daß wir auch den Sokrates zu unserer Unterredung hinzuziehen?

Kratylos Wenn Du meinst

Hermogenes Kratylos hier, o Sokrates, behauptet, jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung, und nicht das sei ein Name, wie einige unter sich ausgemacht haben etwas zu nennen, indem sie es mit einem Teil ihrer besonderen Sprache anrufen; sondern es gebe eine natürliche Richtigkeit der Wörter, für Hellenen und Barbaren insgesamt die nämliche. Ich frage ihn also, ob denn Kratylos in Wahrheit sein Name ist, und er gesteht zu, ihm gehöre dieser Name. - Und dem Sokrates? fragte ich weiter. - Sokrates, antwortete er. - Haben nun nicht auch alle andern Menschen jeder wirklich den Namen, mit dem wir ihn rufen? - Wenigstens der deinige, sagte er, ist nicht Hermogenes, und wenn dich auch alle Menschen so rufen. -

Hermogenes faßt also gleich zu Beginn die beiden Thesen, um die es in die-

sem Dialog geht, zusammen, um so die Problemstellung zu verdeutlichen.

Dabei ist es, um dem Dialog folgen zu können, wichtig zu wissen, dass die

Griechen sehr gern Witze über Namen machten, zum Beispiel wenn ein großer

Mann 'Klein' heißt. Dass Kratylos sagt, der Name von Hermogenes sei nicht

wirklich Hermogenes ist ein solcher Sprachwitz. Im Griechischen bedeutet

Hermogenes nämlich 'von Hermes abstammend'. Hermes war der göttliche

Patron der Geschäftsleute und Bankiers. Von jemand, der Hermogenes heißt,

müsste also erwartet werden, dass er in finanzieller Hinsicht sehr viel Glück

hat. Bei dem Mann aber, der in diesem Dialog Hermogenes heißt, ist das

gerade nicht der Fall, d.h. seine geschäftlichen Unternehmungen schlagen

dauernd fehl. Deshalb meint Kratylos, dass ihm ein falscher Name gegeben

worden sei. Er ist kein wirklicher 'Sohn von Hermes'.

Mit diesem Sprachwitz wird die Diskussion über die Angemessenheit oder

Unangemessenheit der Namen eingeleitet. Unter Onoma, was hier mit 'Namen'

übersetzt wird, muss allerdings angemerkt werden, dass darunter sowohl

Eigennamen wie Hermogenes oder Socrates, als auch Nomen wie Pferd, Haus

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etc. verstanden wurden. Zudem bezeichnete onoma manchmal auch allgemein

'das Wort'.2 Das heißt also, dass die Frage, ob Hermogenes richtiger Weise

Hermogenes heißt, nicht anders behandelt wird, als die Frage ob Wasser richtig

Wasser heißt.

4.2.2.2 Gegenthese des Hermogenes

Hermogenes Ich meines Teils, Sokrates, habe schon oft mit diesem und vielen anderen darüber gesprochen und kann mich nicht überzeugen, daß es eine andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet. Denn mich dünkt, welchen Namen jemand einem Dinge beilegt, der ist auch der rechte, und wenn man wieder einen anderen an die Stelle setzt und jenen nicht mehr gebraucht, so ist der letzte nicht minder richtig als der zuerst beigelegte, wie wir unsern Knechten andere Namen geben. Denn kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen

Hermogenes vertritt also die These, die ich vorher als charakteristisch für

den Universalismus bezeichnet habe, d.h. die Beziehung zwischen Namen und

Gegenstand ist willkürlich und beruht lediglich auf Konvention. Deshalb ist es

eigentlich egal, welcher Name einer Person oder einem Gegenstand zuteil

wird. Sein Argument ist dabei, dass er, wenn die Namen nicht auf

Konventionen beruhten, nicht einfach den Namen eines Sklavens ändern

könnte, wie es Sitte sei - Sklaven bekamen damals, wenn sie zu einem neuen

Herrn oder zu einer neuen Herrin kamen, jedesmal einen neuen Namen.

Sokrates ist nicht einverstanden. Statt aber Hermogenes darauf hinzuweisen,

dass zum einen das Ändern des Namens eines Sklavens eine Ausnahme ist und

dass zum anderen Hermogenes nicht einfach den Namen für Wasser oder Gold

ändern kann, lockt er ihn in eine Falle:

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2 Platon unterscheidet selbst nur zwei Wortklassen, nämlich eben die besagten onoma und dazu noch rhémata, was wir normalerweise mit Verben oder Prädikaten wiedergeben.

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Sokrates Vielleicht liegt etwas in dem, was Du sagst, Hermogenes. Laß uns nur zusehen. Wie jemand festsetzt jedes zu nennen, das ist denn auch eines jeden Dinges Name?

Hermogenes So dünkt mich.

Sokrates Nenne es nun ein einzelner so oder auch der Staat?

Hermogenes Das behaupte ich.

Sokrates Wie nun, wenn ich irgendein Ding benenne, wie, was wir jetzt Mensch nennen, wenn ich das Pferd rufe und was jetzt Pferd, Mensch: dann wird dasselbe Ding öffentlich und allgemein Mensch heißen, bei mir besonders aber Pferd, und das andere wiederum bei mir besonders Mensch, öffentlich aber Pferd? Meinst du es so?

Hermogenes So dünkt es mich.

Diese schnappt in dem Moment zu, in dem Hermogenes zustimmt, dass es

ein wahr reden und ein falsch reden gibt. Wenn nämlich Hermogenes These

richtig wäre, gäbe es so viele Sprachen wie es Individuen gibt. Das

widerspricht aber unserem normalen Verständnis von Wahrheit und Falschheit,

denn normalerweise halten wir eine Aussage wie 'ein Pferd hat vier Beine' für

wahr. Wenn Hermogenes aber Recht hätte, dann könnte unsere Annahme auch

falsch sein, denn in der privaten Sprache dessen, der den Satz sagt, könnte

Pferd ja auch Mensch heißen und dann wäre die Aussage 'vier Beine' falsch.

Wenn wir also der Meinung sind, dass Pferd auch Mensch bedeuten kann, dann

können wir Wahrheit und Falschheit nicht mehr unterscheiden.

4.2.2.3 Die Falschheit des Satzes von Protagoras

Anhand des Satzes von Protagoras wird das Problem dann auf die Dinge über-

tragen. Wenn die Dinge nämlich für jeden Menschen anders wirklich wären,

dann gäbe es überhaupt keine Kriterien mehr, zwischen Wahrheit und

Falschheit zu unterscheiden:

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Sokrates Wohlan, laß uns sehen, Hermogenes, ob dir vorkommt, daß es auch mit den Dingen ebenso steht, daß ihr Sein und Wesen für jeden einzelnen in besonderer Weise ist, wie Protagoras meinte, wenn er sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, daß also die Dinge, wie sie mir erscheinen, so auch für mich wirklich sind, und wiederum wie dir, so auch für dich? Oder dünkt dich, daß sie in sich eine Beständigkeit ihres Wesens haben?

Hermogenes Ich bin wohl sonst schon in der Verlegenheit auch dahin geraten, Sokrates, auf dasselbe, was auch Protagoras sagt; ganz und gar so glaube ich jedoch nicht, daß es sich verhalte.

Sokrates Wie aber? Bist du auch darauf schon geraten, daß du nicht glauben konntest, ein Mensch sei gar schlecht?

Hermogenes Nein, beim Zeus, vielmehr ist mir schon oft begegnet, daß mir Menschen gar schlecht vorgekommen sind, und zwar recht viele.

Sokrates Und wie? Gar gut hast du noch nicht geglaubt, daß Menschen wären?

Hermogenes Nur sehr wenige.

Sokrates Also doch welche?

Hermogenes O ja.

Sokrates Wie aber meinst du es? Etwa so, daß die gar guten auch gar vernünftig sind und die gar schlechten auch gar unvernünftig?

Hermogenes Ich meine es gerade so.

Sokrates Können nun wohl, wenn Protagoras wahr redete und dies die Wahrheit ist, daß für jeden, wie ihm etwas erscheint, so es auch ist, alsdann einige von uns vernünftig sein und andere unvernünftig?

Hermogenes Nicht füglich.

Sokrates Auch dies, denke ich, glaubst du gar sehr, daß, wenn es Vernunft und Unvernunft gibt, es dann eben nicht sehr möglich ist, dass Protagoras recht habe. Denn es wäre ja in Wahrheit nicht einer vernünftiger als der andere, wenn, was jedem schiene, auch für jeden wahr wäre.

Hermogenes Das ist richtig.

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4.2.2.4 Dinge und Handlungen haben ihr eigenes bestehendes Wesen

Sokrates Aber auch nicht mit dem Euthydemos, denke ich, hältst du es, daß allen alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukommt. Denn auch so können nicht einige gut und andere schlecht sein, wenn gleichermaßen allen immer Tugend und Laster zukommt.

Hermogenes Ganz recht.

Sokrates Also wenn weder allen alles auf gleiche Weise zugleich und immer zukommt, noch auch jedes Ding für jeden auf eine besondere Weise da ist: so ist offenbar, daß die Dinge an und für sich ihr eigenes bestehendes Wesen haben und nicht nur in Beziehung auf uns oder von uns hin und her gezogen nach unserer Einbildung, sondern für sich bestehend, je nach ihrem eigenen Wesen seiend, wie sie geartet sind.

Hermogenes So verhält es sich meines Erachtens, Sokrates.

Sokrates Sollen nun sie selbst zwar so geartet sein, ihre Handlungen aber nicht nach derselben Weise? Oder sind nicht auch diese eine eigene Art dessen, was ist, die Handlungen?

Hermogenes Allerdings auch diese.

Sokrates Also auch die Handlungen gehen nach ihrer eigenen Natur vor sich und nicht nach unserer Vorstellung. Wie wenn wir unternehmen, etwas zu zerschneiden, sollen wir dann jedes schneiden, wie wir wollen und womit wir wollen? Oder werden wir nur dann, wenn wir jedes nach der Natur des Schneidens und Geschnittenwerdens und mit dem ihm Angemessenen schneiden wollen, nur dann es wirklich schneiden und auch einen Vorteil davon haben und die Handlung recht verrichten, wenn aber gegen die Natur, dann es verfehlen und nichts ausrichten?

Hermogenes So dünkt es mich.

Sokrates Nicht auch, wenn wir etwas unternehmen zu brennen, müssen wir es nicht nach jeder Weise, wie sie uns zuerst einfällt, brennen, sondern nach der richtigen, und das ist die, wie eines jeden Natur ist, zu brennen und gebrannt zu werden und womit?

Hermogenes Gewiß.

Sokrates Nicht auch so in allem übrigen?

Hermogenes Allerdings.

Aber auch die Behauptung von Euthymedos, dass alle alles und immer gleich

sehen, stimmt nicht, sondern die Dinge haben ein eigenes Wesen und Handlun-

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gen gehen nach ihrer eigenen Natur vor sich. Das heißt, wir können ein Stück

Holz nur schneiden oder verbrennen, wenn wir dabei die Natur des Schneidens

und Brennens beachten, also ein scharfes Messer benutzen bzw. gerade kein

Wasser auf den Gegenstand gießen. Handlungen werden eben nicht von der

menschlichen Willkür bestimmt, sondern die Menschen müssen die Natur der

Handlungen respektieren, wenn sie etwas erreichen wollen.

4.2.2.5 Sprechen ist auch eine Tätigkeit, ebenso das Benennen

Sokrates Ist nun nicht auch das Reden eine Handlung?

Hermogenes Ja.

Sokrates Wird also wohl einer, wenn er so redet, wie er eben glaubt, daß man reden müsse, richtig reden, oder wird er nur dann, wenn er auf die Weise und vermittels dessen, wie es der Natur des Sprechens und Gesprochenwerdens angemessen ist, von den Dingen redet, nur dann Vorteil davon haben und wirklich etwas sagen, wenn aber nicht, dann es verfehlen und nichts damit ausrichten?

Hermogenes So dünkt es mich, wie du sagst.

Sokrates Und ein Teil des Redens ist doch das Benennen. Denn durch Benennung besteht jede Rede?

Hermogenes Freilich.

Sokrates Also ist auch das Benennen eine Handlung, wenn das Reden ein Handeln mit den Dingen war?

Hermogenes Ja.

Sokrates Die Handlungen aber waren, wie sich gezeigt hatte, nicht nur je nachdem wir waren, sondern hatten jede ihre eigene Natur?

Hermogenes So ist es.

Sokrates Also auch benennen muß man so und vermittels dessen, wie es in der Natur des Benennens und Benanntwerdens der Dinge liegt, nicht aber so, wie wir etwa jedesmal möchten, wenn uns anders dies mit dem vorigen übereinstimmen soll, und nur so werden wir etwas davon haben und wirklich benennen, sonst aber nicht?

Hermogenes Offenbar.

4.2.2.6 Bestimmung des Wortes als belehrendes Werkzeug

Die Namen sind die Instrumente des Sprechens. Um richtig zu sprechen,

müssen die Instrumente richtig eingesetzt werden, genauso, wie beim Weben

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etwa das Schiffchen richtig eingesetzt werden muss. So wie dieses Schiffchen

seine eigene Funktion hat, nämlich das Gewebe zu sondern, so haben auch die

Namen eine bestimmte Funktion, nämlich die Wirklichkeit für uns einzuteilen.

Sokrates Wohlan! Was man schneiden musste, musste man doch, sagen wir, vermittels etwas schneiden.

Hermogenes Ja.

Sokrates Und was weben, vermittels etwas weben, und was bohren, mittels etwas bohren?

Hermogenes Freilich.

Sokrates Also auch was man benennen musste, musste man mittels etwas benennen?

Hermogenes So ist es.

Sokrates Was ist nun jenes, womit man bohren muß?

Hermogenes Der Bohrer.

Sokrates Und womit man weben muß?

Hermogenes Die Weberlade.

Sokrates Und was, womit benennen?

Hermogenes Das Wort.

Sokrates Richtig. Ein Werkzeug ist also auch das Wort.

Hermogenes Freilich.

Sokrates Wenn ich nun fragte: Was für ein Werkzeug war doch die Weberlade? Nicht das, womit man webt.

Hermogenes Ja.

Sokrates Was tut man aber, wenn man webt? Nicht, daß wir den Einschlag und die ineinander verworrene Kette wieder sondern?

Hermogenes Ja.

Sokrates Und ebenso wirst du mir auch über den Bohrer und das übrige antworten können.

Hermogenes Gewiß.

Sokrates Kannst du mir nun ebenso auch über das Wort Rechenschaft geben? Indem wir mit dem Wort als Werkzeug benennen, was tun wir?

Hermogenes Das weiß ich nicht zu sagen.

Sokrates Lehren wir nicht einander etwas und sondern die Gegenstände voneinander, je nachdem sie beschaffen sind?

Hermogenes Allerdings.

4.2.2.7 Der Gesetzgeber als Urheber dieses Werkzeugs

Woher stammt nun das Wort? So wie die Weber ein Werkzeug gebrauchen,

das von einem bestimmten Handwerker gemacht wurde, so gebrauchen die

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Sprechenden das Wort, das von jemand anderem gemacht wurde. Überliefert

wird es vom Gebrauch und der eingeführten Ordnung, die von einem

Gesetzgeber gemacht wurde. Nicht jeder kann aber ein solcher Gesetzgeber

sein, sondern nur eine Person, die das entsprechende Können besitzt und

deshalb zurecht ein Wortbildner ist.

Sokrates Das Wort ist also belehrendes Werkzeug und ein das Wesen unterscheidendes und sonderndes, wie die Weberlade das Gewebe sondert.

Hermogenes Ja.

Sokrates Und die Lade gehört zur Weberei?

Hermogenes Wie anders!

Sokrates Der Webekünstler also wird die Lade recht zu gebrauchen wissen, recht aber heißt webekünstlerisch. Und ein Lehrkünstler das Wort, und recht heißt lehrkünstlerisch.

Hermogenes Ja.

Sokrates Und wessen Werk gebraucht dann der Weber recht, wenn er die Weberlade gebraucht?

Hermogenes Des Tischlers Werk.

Sokrates Und ist jeder ein Tischler, oder nur wer diese Kunst innehat?

Hermogenes Nur der letzte.

Sokrates Und wessen Werk gebraucht der Bohrende recht, wenn er den Bohrer braucht?

Hermogenes Des Kleinschmieds.

Sokrates Und ist jeder ein Kleinschmied, oder der die Kunst innehat?

Hermogenes Der die Kunst innehat.

Sokrates Wohl! Wessen Werk gebraucht nun aber jener Lehrkünstler, wenn er das Wort gebraucht?

Hermogenes Auch das weiß ich wieder nicht.

Sokrates Weißt du auch das nicht zu sagen, wer uns die Worte überliefert, die wir gebrauchen?

Hermogenes Auch nicht.

Sokrates Dünkt es dich nicht der Gebrauch und die eingeführte Ordnung zu sein, was sie uns überliefern?

Hermogenes Das scheint wohl.

Sokrates Es ist also ein Werk dessen, der die Gebräuche einrichtet, des Gesetzgebers, dessen jener Belehrende sich bedient, wenn er sich der Worte bedient?

Hermogenes So scheint es mir.

Sokrates Und meinst du, daß jedermann ein Gesetzgeber ist, oder nur, der die Kunst innehat?

Hermogenes Der die Kunst innehat.

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Sokrates Also, o Hermogenes, kommt es nicht jedem zu, Worte einzuführen, sondern nur einem besonderen Wortbildner. Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber, von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste.

Hermogenes So scheint es.

4.2.2.8 Verfertigung der Wörter im Hinblick auf das, was das Wort in Wahrheit ist

Dann greift Sokrates die These von Hermogenes an, die besagt, dass es egal ist,

welcher Name einer Person oder einem Gegenstand gegeben wird. Um nämlich

die Wirklichkeit einteilen zu können, muss ein Name richtig gemacht sein, so

wie auch das Schiffchen so gemacht sein muss, dass es beim Weben eingesetzt

werden, also seine Funktion erfüllen kann. So wie der Tischler, der das Schiff-

chen macht, sich an dessen Wesen überhaupt bzw. an seiner Funktion

orientiert, so orientierte sich der Wortbildner oder Namengeber an der Idee des

Wortes, an einem natürlichen Namen per se und dessen Funktion, von dem die

verschiedenen Namen in den jeweiligen Sprachen dann nur eine Abbildung

sind.

Sokrates Wohl, so betrachte nun weiter, worauf der Gesetzgeber wohl sieht, indem er die Worte bestimmt. Mache es dir nur aus dem vorigen klar. Worauf blickt wohl der Tischler, wenn er die Weberlade macht? Nicht auf so etwas, dessen Natur und Wesen eben dies ist, das Gewebe zu schlagen?

Hermogenes Freilich.

Sokrates Und wie? Wenn ihm die Lade während der Arbeit zerbricht, wird er eine andere wieder machen, indem er auf die zerbrochene sieht oder wieder auf jenes selbige Bild, nach welchem er auch die zerbrochene gemacht hatte?

Hermogenes Auf jenes, dünkt mich.

Sokrates Jenes also könnten wir mit Recht die wahre Weberlade nennen, das, was sie wirklich ist.

Hermogenes Das meine ich auch.

Sokrates Also wenn für dichtes Zeug oder für dünnes, für leinenes oder für wollenes oder wofür sonst eine Weberlade zu mach ist: so müssten diese insgesamt das Bild der Weberlade in sich haben, wie sie aber nun für jedes insbesondere am besten geeignet wäre, diese Eigenschaft müßte ebenfalls in jedes Werk hineingelegt werden.

Hermogenes Ja.

Sokrates Und mit allen anderen Werkzeugen auf die nämliche Weise. Das seiner Natur nach jedem angemessene Werkzeug muß man ausgefunden haben und dann in dem niederlegen,

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woraus es so gemacht werden soll, nicht wie es jedem einfällt, sondern wie es die Natur mit sich bringt. Denn wie für ein jedes insbesondere der Bohrer geartet sein muß, diese Art muß man wissen in das Eisen hineinzulegen.

Hermogenes Allerdings.

Sokrates Also die für jedes von Natur geeignete Weberlade in das Holz?

Hermogenes So ist es.

Sokrates Denn von Natur gehört, wie wir sahen, jeder Art von Gewebe ihre besondere Weberlade, und so in allen andern Dingen?

Hermogenes Ja.

Sokrates Also, Bester, muß wohl auch den für jedes seiner Art nach gearteten Namen jener Gesetzgeber wissen in den Tönen und Silben niederzulegen und so, indem er auf jenes sieht, was das Wort wirklich ist, alle Worte machen und bilden, wenn er ein tüchtiger Bildner der Wörter sein will. Wenn aber nicht jeder Gesetzgeber das Wort in dieselben Silben niederlegt, das muß uns nicht irren. Denn auch nicht jeder Schmied, der zu demselben Zweck dasselbe Werkzeug macht, legt dasselbe Bild in dasselbe Eisen hinein. Dennoch, solange er nur dieselbe Gestalt wiedergibt, wenn auch in anderem Eisen, ist doch das Werkzeug ebenso gut und richtig gemacht, mag es einer hier oder unter den Barbaren gemacht haben. Nicht wahr?

Hermogenes Allerdings.

Sokrates Ebenso wirst du auch dafür halten, dass unser Gesetzgeber, der hiesige wie der unter den Barbaren, solange er nur die Idee des Wortes, wie sie jedem insbesondere zukommt, wiedergibt, in was für Silben es auch sei, dass alsdann der hiesige kein schlechterer Gesetzgeber ist als einer irgendwoanders?

Hermogenes Freilich.

Die Analogie mit dem Weben erlaubt Sokrates also verschiedene Ideen über

die Sprache einzuführen:

1. Sprache hat einen Zweck

2. der Zweck wird vom Aufbau der Sprache reflektiert

3. Sprache wurde erfunden

4. die einzelnen Teile entsprechen der Funktion

5. sonst würde Sprache nicht funktionieren

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6. um Sprache richtig anwenden zu können, müssen wir ihren Aufbau verste-

hen.

4.2.2.9 Aufsicht und Beurteilung bei der Wortverfertigung kommt dem Dialektiker zu

Die Aufsicht über die Namengebung bzw. die Beurteilung, ob die Namen ihrer

Funktion gerecht werden, obliegt einem dialektischen Mann, einem Mann also,

der Fragen stellen und sie auch beantworten kann.

Sokrates Wer wird nun aber erkennen, ob das gehörige Bild der Weberlade in irgendeinem Holze liegt? Der sie gemacht hat, der Tischler, oder der sie gebrauchen soll, der Weber?

Hermogenes Wohl eher, o Sokrates, der sie gebrauchen soll.

Sokrates Wer ist es nun, der des Kitharenmachers Werk gebrauchen soll? Ist er nicht auch der, welcher am besten bei der Verfertigung die Aufsicht führen und die verfertigten auch am besten beurteilen würde, ob sie gut gearbeitet sind oder nicht?

Hermogenes Gewiß.

Sokrates Aber wer?

Hermogenes Der Kitharenspieler.

Sokrates Und wer das Werk des Schiffbauers?

Hermogenes Der Steuermann.

Sokrates Wer aber könnte am besten über dieses Geschäft des Gesetzgebers die Aufsicht führen und seine Arbeit beurteilen, hier sowohl als unter den Barbaren? Nicht der, der sie auch gebrauchen soll?

Hermogenes Ja.

Sokrates Ist das nun nicht der, welcher zu fragen versteht?

Hermogenes Allerdings.

Sokrates Und derselbe doch auch zu antworten?

Hermogenes Ja.

Sokrates Und der zu fragen und zu antworten versteht, nennst du den anders als Dialektiker?

Hermogenes Nein, sondern so.

Sokrates Des Zimmermanns Geschäft also wäre, ein Steuerruder zu machen unter Aufsicht des Steuermannes, wenn dass Ruder gut werden soll.

Hermogenes Richtig.

Sokrates Des Gesetzgebers aber, wie es scheint, Wörter, wobei er zum Aufseher hätte einen dialektischen Mann, wenn der die Wörter gut bilden soll.

Hermogenes Offenbar.

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Sokrates Also vermag es doch wohl nichts so Geringes sein, wie du glaubst, Hermogenes, Worte zu bilden und Benennungen festzusetzen, auch nicht schlechter Leute Sache oder des ersten besten; sondern Kratylos hat recht, wenn er sagt, die Benennungen kämen den Dingen von Natur zu, und nicht jeder sei ein Meister im Wortbilden, sondern nur der, welcher, auf die einem jeden von Natur eigene Benennung achten, ihre Art und Eigenschaft in die Buchstaben und Silben hineinzulegen versteht.

Sokrates hat Hermogenes somit nun gezeigt, dass das Benennen keine triviale

Angelegenheit ist und dass Kratylos Recht hat, wenn er sagt, dass ein Name

naturgemäß der Sache anhaftet und nur der ein Namengeber sein kann, der sich

nach dem natürlichen Namen einer Sache richtet.

Hermogenes will nun aber noch wissen, worin denn die natürliche

Richtigkeit der Namen konkret bestehen soll. Sokrates bezieht sich zu ihrer

Beantwortung zunächst auf Homer.

Hermogenes Und was sagt denn Homeros von der Richtigkeit der Benennungen, o Sokrates, und wo?

Sokrates An vielen Stellen, vorzüglich aber und am schönsten da, wo er an denselben Dingen unterscheidet, welche Namen die Menschen ihnen beilegen und welche die Götter. Oder meinst du nicht, dass er an diesen Stellen vortreffliche und wunderbare Dinge sagt von der Richtigkeit der Wörter? Denn offenbar werden doch die Götter wohl vollkommen richtig mit den Wörtern benennen, die es von Natur sind. Oder meinst du nicht?

Hermogenes Soviel weiß ich ja wenigstens, dass, wenn sie etwas benennen, sie es auch richtig benennen. Aber was meinst nu nur eigentlich?

Sokrates Weißt du nicht, dass er von dem Fluß bei Troja, welcher einen Zweikampf mit dem Hephaistos hatte, sagt: "Xanthos im Kreise der Götter genannt, von Menschen Skamandros"?

Hermogenes Das weiß ich; und was dann?

Sokrates Glaubst du nicht, dass das etwas Hochwichtiges sein muß, zu verstehen, wieso es richtiger ist, jenen Fluß Xanthos zu nennen als Skamandros? Oder wenn du lieber willst, wegen jenes Vogels, von dem er sagt, er werde "Chalkis von Göttern genannt und Nachtaar unter den Menschen", hältst du es für eine geringfügige Einsicht, wie viel richtiger es ist, dass dieser Vogel Chalkis heiße, als Nachtaar? Oder Batieia und das Mal der sprunggeübten Myrine und viel anderes bei diesem Dichter und andern? Doch dergleichen ist vielleicht zu groß, als dass ich und du es herausbringen sollten; von Skamandrios und Astyanax aber, welche Namen beide, wie

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er sagt, der Sohn des Hektor gehabt, mag es menschenmöglicher sein, wie mich dünkt, und leichter, aufs reine zu bringen, wie er es wohl mit ihrer Richtigkeit meint. Du kennst doch wohl die Verse, worin das steht, was ich meine?

Hermogenes Allerdings.

Sokrates Von welchem Namen also meinst du, dass Homeros geglaubt, er sei dem Kinde richtiger beigelegt worden, Astyanax oder Skamandrios?

Hermogenes Das weiß ich nicht zu sagen.

4.2.2.10 Die beiden Namen für Hektors Sohn und sein eigener Name

Sokrates Überlege es nur so. Wenn dich jemand fragte: Wer, glaubst Du wohl, kann richtiger Namen beilegen, die Vernünftigeren oder die Unvernünftigeren?

Hermogenes Offenbar die Vernünftigeren, würde ich sagen.

Sokrates Scheinen dir nun wohl die Weiber die Vernünftigeren in der Stadt zu sein oder die Männer, wenn man es so im allgemeinen sagen soll?

Hermogenes Die Männer.

Sokrates Nun weißt du doch, dass Homeros sagt, das Söhnchen des Hektor sei von den Troern Astyanax genannt worden; also Skamandrios wohl von den Weibern, wenn die Männer ihn Astyanax nannten?

Hermogenes So scheint es ja.

Sokrates Nun hielt doch auch Homeros wohl die Troer für verständiger als ihre Weiber?

Hermogenes So glaube ich wenigstens.

Sokrates Also glaubte er, der Knabe hieße richtiger Astyanax als Skamandrios.

Hermogenes Das ist deutlich.

Sokrates Laß uns denn zusehen, weshalb wohl. Oder gibt er uns selbst das Warum am besten an die Hand? Er sagt nämlich: "denn er allein beschirmte die Stadt und die türmenden Mauern". Darum mag es ganz recht sein, des Beschützers Sohn Astyanax, Stadtherrn, zu nennen dessen, was sein Vater beschützte, wie Homeros sagt.

Hermogenes Das leuchtet mir ein.

Sokrates Wieso denn? Ich selbst verstehe es ja jetzt noch nicht recht, und du verstehst es?

Hermogenes Nein, beim Zeus, ich auch nicht.

Sokrates Hat etwa, du Guter, auch dem Hektor selbst Homeros seinen Namen beigelegt?

Hermogenes Wieso?

Sokrates Weil es mir damit fast ebenso zu sein scheint wie mit dem

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Astyanax und diese Namen ganz hellenischen gleichen. Denn Anax, Herr, und Hektor, Inhaber, bedeuten fast dasselbe und scheinen beides königliche Namen zu sein. Denn worüber einer Herr ist, davon ist er auch Inhaber; denn offenbar beherrscht er es und besitzt es und hat es. Oder scheine ich dir nichts zu sagen und täusche mich, indem ich glaube, die Spur ausgefunden zu haben von Homeros' Meinung über die Richtigkeit der Benennungen?

Hermogenes Nein, beim Zeus, das nicht, wie mich dünkt, sondern du hast wahrscheinlich wohl etwas gefunden.

Homer ist also der Meinung, dass:

1. die Götter richtiger benennen als die Menschen,

2. die Vernünftigen richtiger als die Unvernünftigen

3. die Männer sind vernünftiger als die Frauen

Deshalb handeln sie bei der Vergabe von Namen auch nach dem Prinzip, dass

Namen dann gut gebildet sind, wenn sie das, was sie bezeichnen, richtig nach-

zeichnen und repräsentieren. Der von den Männern für den Sohn von Hektor

verwendete Namen ist Astyanax. Hektor und Astyanax sind beides Namen, die

Königen angemessen sind. Beide bedeuten zudem eigentlich das Gleiche, näm-

lich Halter und Stadthalter. Sie geben es nur durch verschiedene Silben wieder.

Homer hat beide Namen mit Bedacht vergeben, denn wenn Hektor die Stadt

beschützt, dann ist es nur richtig und vernünftig, seinen Sohn, der ja einmal die

Stadt erben wird, Astyanax, also Stadthalter zu nennen. Allerdings, so fährt

Sokrates fort, können wir uns auf die Namen von Personen nicht immer verlas-

sen, da die Eltern, die die Namen vergeben, sich auch geirrt haben können.

4.2.3 Herleitung der Richtigkeit der Wörter

Im weiteren Verlauf des Dialogs versucht nun Sokrates die natürliche Richtig-

keit einer ganzen Reihe von Wörtern aus der Etymologie abzuleiten. Allerdings

scheint es sich hierbei um eine reductio ad absurdum zu handeln, mit der Her-

mogenes an der Nase herumgeführt wird. Gezeigt wird nämlich, dass diese

Methode eigentlich nicht zum Ziel führen kann.

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Eine andere Methode, die natürliche Richtigkeit der Namen zu erforschen,

ist nach Sokrates die imitatio. Sokrates meint damit nicht die Lautmalerei,

sondern die Abbildung der grundsätzlichen Natur der Dinge durch eine

angemessene Kombination von Lauten. Sokrates beginnt seine Analyse mit

dem Konsonant r, der seiner Meinung nach ein Instrument ist, um Bewegung

auszudrücken. Auf diese Weise hat der Namengeber ursprünglich aus

Buchstaben und Silben Namen für die Dinge gebildet. Von diesen hat er dann

mittels der Imitation alle weiteren Wörter abgeleitet. Die primären Namen

werden also aufgrund eines mimetischen Prozesses durch die Kombination von

Lauten gebildet, die das Spezifische an der Natur der Dinge kopieren. Dann

wird das Repertoire mithilfe der Komposition ausgebaut.

4.2.4 Hinterfragung der Herleitungstheorie

Diese Theorie wird von Sokrates nun hinterfragt. Dabei nimmt Kratylos die

Stelle von Hermogenes ein. Sokrates, der vorher die Thesen von Kratylos

gegen Hermogenes vertreten hat, vertritt jetzt die Thesen von Hermogenes

gegen Kratylos. Kratylos besteht nämlich darauf, dass es weder bessere noch

schlechtere Namen gebe, sondern dass die Namen, die Namen sind, auch

richtig seien.

Zunächst weist Sokrates also darauf hin,

1. dass bei der Namenvergabe auch Fehler gemacht werden können, so wie

ein Porträt der falschen Person zugeordnet werden kann,

2. dass manche Namen besser, d.h. den Dingen ähnlicher sind als andere, so

wie ein gemaltes Porträt der entsprechenden Person mehr oder weniger

ähnlich sein kann.

3. dass es fraglich ist, ob eine Ähnlichkeit überhaupt durch Laute ausgedrückt

werden kann.

Aufgrund so vieler Unsicherheiten stellt sich nach Sokrates die Frage, ob

ein Name uns überhaupt auf verlässliche Weise zur Natur der bezeichneten

Sache vordringen lässt. Zudem können wir nicht davon ausgehen, dass der

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Namengeber die Welt immer richtig verstanden hat. Auch kann die

Untersuchung der Namen gerade nicht das einzige Verfahren sein, um die

Natur der Wirklichkeit aufzudecken. Auch der Namengeber selbst muss einer

anderen Methode gefolgt sein, denn er konnte sich ja gerade nicht auf Namen

berufen. Nur durch die direkte Untersuchung der Sachen können wir

stattdessen ihre Natur erforschen.

4.2.5 Sokrates’ Position

Insgesamt betrachtet stimmt Sokrates also weder der von Kratylos vorgebrach-

ten und von ihm selbst dem Hermogenes gegenüber vertretenen Theorie zu,

noch der von Hermogenes, die er selbst dem Kratylos gegenüber vertreten hat.

Nach Roy Harris und Talbot A. Taylor ist der Grund dafür, dass Sokrates hier

mit den Sophisten diskutiert und dabei versucht, ihre These, dass Wahrheit

eine Illusion sei, in Misskredit zu bringen, indem er fortwährend nach der

Wahrheit sucht. Die Sophisten hatten nämlich ein Lehrprogramm entwickelt,

dessen Geist sich von dem Sokrates' maßgeblich unterschied. Sie bildeten

Leute, die eine gute Stellung im öffentlichen Leben suchten, im Reden aus.

Sowohl im Parlament als auch im Gericht hing der Erfolg einer Person

schließlich von ihrer verbalen Überzeugungskraft ab. Deshalb erschien Platon

denn auch die Demokratie als ein System, das den Konsens höher einschätzte

als Objektivität und intellektuelle Ehrlichkeit. Sokrates' Tod war für ihn gerade

eine Folge dieser Art von Demokratie.

In Platons Philosophie ist die Sprache deshalb so wichtig, weil wenn, wie

Protagoras behauptet, die Wahrheit eine Illusion ist, der von Sokrates

vertretene Anspruch, mit Hilfe von Sprachuntersuchungen der Wahrheit näher

zu kommen, falsch wäre. Wir könnten dann nur erwarten, andere von unserer

Meinung zu überzeugen. Das aber würde einen Sieg der Sophisten und der

griechischen Demokratie bedeuten, von der sich Platon ja abgewandt hatte.

Deshalb ist es für Platon wichtig zu zeigen, dass die Sprache, mit deren Hilfe

die Sophisten und die Demokratie ihre Geschäfte führen, geradezu verlangt,

dass wir die Unabhängigkeit und das Nichtillusionäre der Wahrheit erkennen.

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Platon vertritt deshalb die Meinung, dass die Namen etwas mit der

Wirklichkeit zu tun haben und nicht auf Konsens basieren - letzteres würde den

Ball in die Hände der Sophisten spielen. Zugleich verweist er aber auch darauf,

dass sich der Namensgeber irren kann. Drückt ein Name also ein Urteil aus,

dann ist dieses der Wirklichkeit und nicht der Gemeinschaft gegenüber

verantwortlich. Sprache ist demnach für Platon die Garantie dafür, dass die

Wahrheit höher eingeschätzt werden muss als der Konsens. Ob Sprache

konventionell oder mimetisch oder eine Mischung aus beidem ist, ist nach

Platon letztendlich unwichtig. Sprache reicht sowohl über unsere Meinungen

als auch über sich selbst hinaus. Wohin, das wird im Kratylos nicht gesagt. Der

Kratylos ist also auch ein Beispiel dafür, dass Sprachbetrachtung und Weltsicht

bzw. politische Haltung einander bedingen.

Als Ergebnis ist insgesamt festzuhalten, dass die Sprachproblematik selbst

in der Gegenüberstellung Natur - Konsens, Konvention oder Usus falsch

gestellt ist und folglich die Problemstellung geändert werden muss. Diese

Änderung der Problemstellung in bezug auf die Sprache wird aber erst bei

Aristoteles durchgeführt.

4.2.6 Zusammenfassung

Platon stellt, wie wir gesehen haben, im Kratylos Sokrates dar, wie er zuerst

mit Hermogenes und dann mit Kratylos über die Richtigkeit der Namen

diskutiert. Dabei vertritt Hermogenes die These, dass zwischen den Namen

und dem Bezeichneten keinerlei natürliche Beziehung besteht, dass also die

Gegenstände nicht die Namen kausal determinieren bzw. die Namen nicht

Nachahmungen der Gegenstände sind, sondern die Beziehung zwischen

Namen und Gegenstand arbiträr und konventionell ist, d.h allein dem Usus

zuzuschreiben ist. Nach Hermogenes ist es deshalb auch egal, welcher Name

einer Person oder einem Gegenstand zuteil wird. Zudem kann jeder Name

immer wieder und von jedem Individuum geändert werden. Diese Position

charakterisiert nach Bossong den universalistischen Blickwinkel. Hermogenes

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als Schüler von Parmenides, der behauptet hat, dass Sprache und Denken nicht

identisch sind, steht hier für die Sophisten.

Kratylos vertritt dagegen die Position, dass zwischen Namen und bezeich-

netem Gegenstand eine natürliche Beziehung besteht. Demnach bedingt der

Gegenstand seinen eigenen Namen oder anders herum gesagt, ahmt der Name

den Gegenstand nach. Kratylos steht also in der Heraklitischen Tradition.

Heraklit hatte nämlich behauptet, dass die Sprache dieselbe Struktur aufweist

wie das Denken und die außersprachliche Wirklichkeit. In der Folge wurde

dann wie gesagt diese Behauptung auch auf die Wörter übertragen, d.h. auch

die Wörter stimmen mit den Gegenständen überein. Deshalb kann auch die

Natur einzelner Gegenstände aus dem Namen dieser Gegenstände abgeleitet

werden. Diese Position charakterisiert nach Bossong eher partikularistisch

orientierte Epochen.

Beide Positionen bzw. Fragestellungen werden nun im Kratylos von

Sokrates diskutiert. Hinter der Diskussion verbirgt sich allerdings nicht nur ein

Interesse an der Sprache als solcher, sondern es geht zugleich um die

Demokratie. Sokrates lehnt nämlich sowohl die Position von Hermogenes ab,

die über die Auffassung von der Sprache den Konsens, die Konvention, den

Usus zum Richter über alle Dinge macht, als auch die Position von Kratylos,

der zufolge das Wesen des Gegenstandes in seinem Namen enthalten ist und

deshalb daraus deduziert werden kann. Hätte nämlich Hermogenes Recht, dann

wäre eine Suche nach Wahrheit sinnlos und es ginge allein darum, wer wen

von seiner Meinung überzeugen kann und damit den Konsens bestimmt. Hätte

dagegen Kratylos Recht, dann läge die Wahrheit selbst im Namen, weshalb

etwa zwischen einer Beschuldigung und dem tatsächlich Vorgefallenen nicht

mehr unterschieden werden könnte und die Beschuldigung, da sie nun einmal

ausgesprochen wurde, als wahr zu gelten hätte.

Was ist nun Sokrates Position? Folgende Punkte lassen sich herausstellen:

1. Es ist nicht egal, welchen Namen ein Gegenstand oder eine Person hat. Auch können die Individuen nicht einfach die Namen ändern. Denn, wenn diese Aussage richtig wäre, dann hätten wir so viele Sprachen wie Indivi-

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duen und könnten uns nicht verstehen, bzw. könnten wir dann Wahrheit und Falschheit nicht unterscheiden.

2. Ebenso ist es nicht richtig, dass jedes Individuum die Dinge anders sieht, dass sie also für jedes Individuum eine andere Wirklichkeit haben. Denn, wenn diese Aussage, die von Protagoras stamm, richtig wäre, dann hätten wir nicht einmal mehr Kriterien, anhand derer wir zwischen Wahrheit und Falschheit unterscheiden könnten.

3. Es ist aber auch nicht richtig, dass alle Menschen alles gleich bzw. die Ge-genstände immer gleich sehen, sondern die Gegenstände haben auch ihr ei-genes Wesen und Handlungen gehen nach einer ihnen eigenen Natur vor sich bzw. müssen Tätigkeiten entsprechend ihrer Natur ausgeführt werden. Erinnern Sie sich an die Beispiele 'brennen' und 'schneiden'.

4. Sprechen und Benennen sind ebenfalls Tätigkeiten.

5. Die Werkzeuge des Sprechens und Benennens sind die Wörter, so wie der Bohrer ein Werkzeug für das Bohren ist.

6. Um die Tätigkeit des Sprechens und Benennens richtig, d.h. seiner Natur entsprechend ausführen zu können, müssen die Wörter richtig gehandhabt werden.

7. Wie andere Werkzeuge auch, so haben auch die Namen eine bestimmte Funktion.

8. Die Funktion der Namen ist, die Wirklichkeit zu ordnen und einzuteilen, z.B. die Zeit in Tag und Nacht, Wochen, Monate etc.

9. Die Namen, die wir als Werkzeuge zum Sprechen und Benennen einsetzen, wurden von jemandem gemacht. Sokrates führt hier einen mythischen Na-mengeber ein.

10. Überliefert wurden die Namen durch den Gebrauch und durch die einge-führte Ordnung, die von einem Gesetzgeber geschaffen wurde.

11. Um aber seiner Funktion, die Wirklichkeit einzuteilen, gerecht werden zu können, muss der Name entsprechend dieser Funktion gemacht worden sein.

12. Eine Person, die mit Recht Namen vergibt, weil sie das dazu notwendige Können (know how) besitzt, orientiert sich beim Herstellen von Namen deshalb auch gerade an dieser Funktion.

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13. Die Beurteilung, ob die Namen ihrer Funktion gerecht werden, obliegt den Dialektikern, da sie Fragen stellen und Antworten geben können.

14. Mit Recht Namengeber können zuerst einmal die Götter sein, dann die Ver-nünftigen und damit die Männer, oder natürlich Homer, der sich wie das Beispiel Hektor - Astyanax zeigt, bei der Benennung der beiden Personen an deren Wesen und ihrer Funktion orientiert.

15. Die Richtigkeit der Namen kann aber nicht, wie die Schüler des Heraklit glaubten, bzw. wie es Kratylos mit dem Namen von Hermogenes versucht, aus der Etymologie abgeleitet werden.

16. Auch die Kombinationen von Lauten als Abbilder der Gegenstände zu be-greifen und die Natur der Gegenstände in diesen Lautkombinationen zu su-chen, wie Kratylos meint, kann die Richtigkeit der Namen nicht unbedingt beweisen.

Sokrates kommt also zu dem Schluss, dass wir nicht anhand des Namens

von Gegenständen zur wahren Natur der Gegenstände vordringen können,

sondern die Gegenstände selbst untersuchen müssen, um ihre wahre Natur

erkennen zu können. Die Sprache hat nach Platon also keinen

erkenntnistheoretischen Wert.


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