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Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

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25
SONDERREPORT Oktober 2008 Palliativmedizin | Opioide | Neuropathische Schmerzen | Migräne | Fibromyalgie | Schmerzgedächtnis | Schmerz Jahreskongress der IASP International Association for the Study of Pain Glasgow, 17. bis 22. August 2008
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Page 1: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

Oktober 2008

Palliativmedizin | Opioide | NeuropathischeSchmerzen | Migräne | Fibromyalgie |Schmerz gedächtnis |

SchmerzJahreskongress der IASPInternational Association for the Study of Pain

Glasgow, 17. bis 22. August 2008

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SONDERREPORT

ir wissen seit Jahrzehnten, dass somatische

wie psychische Komponenten beim Schmerz

eine ebenbürtige Rolle spielen. Sämtliche As-

pekte der Schmerzempfindung manifestieren sich in indi-

viduell geknüpften neuronalen Netzwerken, sodass ein

Schmerz unter Umständen sogar weiter bestehen kann,

selbst wenn der ursprüngliche Anlass dafür längst nicht

mehr gegeben ist. Wer Schmerzpatienten helfen will,

muss sich darum mit Schmerzpatienten befassen: Was

hilft ihnen? Was nicht?

Umso trauriger ist es, wenn an einem Kongress wie dem

12. Weltkongress der International Association for the

Study of Pain (IASP) noch immer Hunderte von sinnlosen

und grausamen Tierversuchen präsentiert werden, mit de-

nen man angeblich die Schmerzforschung voranbringen

will. Doch wer beispielsweise weiblichen Ratten Senföl in

den Uterus spritzt, um zu protokollieren wie lange sich die

Tiere in Entzündungsschmerzen winden, ist ein Tierquäler

und sonst gar nichts. Noch ein Beispiel gefällig? Die glei-

che Dame liess Laborratten in kleine Glasröhren sperren,

führte einen aufblasbaren Kunstpenis in die Vagina der

bedauernswerten Tiere ein und pumpte diesen solange

auf, bis die Tiere verzweifelt zu entkommen versuchen.

«Schmerzmessung» nannte sie das und verkündete in

Glasgow mit Forscherstolz in der Stimme, dass man damit

ein Tiermodell für Unterleibsschmerzen bei Frauen erfun-

den habe. Auf Nachfrage gestand sie ein, dass sie zur The-

rapie von Patientinnen freilich nichts sagen könne, weil

Schmerz bei Menschen ja leider so eine komplexe Sache

sei. Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich

ob der Kaltschnäuzigkeit, mit der hier offenbar nur um der

Publikationsrate willen Tiere gequält werden.

Es gibt aber auch viel Interessantes und wirklich Praxis-

relevantes zu berichten, und davon handelt diese Aus-

gabe: Lesen Sie nach, wie man das «Schmerzgedächtnis»

austricksen kann, wie ein Palliativmediziner seinen Pa-

tienten mehr Selbstständigkeit zu Hause ermöglicht hat

und welche neuen Medikamente von Pharmakologen ent-

wickelt wurden, um die störenden Nebenwirkungen hoch-

wirksamer Analgetika besser in den Griff zu bekommen –

nur drei von vielen der in diesem Heft geschilderten Bei-

spiele für patientenrelevante Schmerzforschung, von der

es künftig noch viel mehr geben sollte.

Renate Bonifer

3Schmerz

EditorialPatientenorientierte Schmerzforschungist gefragt

W

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SONDERREPORT

«Für mich persönlich war am interessantesten». . . . . . . 6Kongressecho

Wie man Schmerzen wieder «vergessen» kann . . . . . . . 8Schmerzgedächtnis

Schmerztherapie lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Aus-, Weiter und FortbildungEin Gespräch mit Professor Eli Alon

Vermeidbares Kopfweh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12Kopfschmerz durch MedikamentenübergebrauchEin Gespräch mit PD Dr. med. Peter Sándor

Migränemedikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Akuttherapie gut, Prophylaxe mangelhaftEin Gespräch mit Dr. med. Reto Agosti

«Atemnot und Schmerz effektiv lindern». . . . . . . . . . . . 16Fentanylnasenspray in der Palliativmedizin Ein Gespräch mit Thomas Sitte

Persistierender postoperativer Schmerz ist häufig . . . . . 18Chronische Schmerzen nach Herzoperation

Neue Strategie gegen opioidbedingte Obstipation. . . . . . 20Kombination von Opiatrezeptoragonist und -antagonist

Was hilft gegen Durchbruchschmerzen? . . . . . . . . . . . . 23Schmerztherapie in der Onkologie

Analgesie verbessern und Nebenwirkungenreduzieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Unerfüllte Patientenbedürfnisse bei chronischen Schmerzen

Schlaf und Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26BuchvorstellungEin Gespräch mit den Herausgebern

Diagnose neuropathischer Schmerzen. . . . . . . . . . . . . . 27Fragebögen, Tests und Erfahrung

Sport bei Fibromyalgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Positive Effekte

Kongressimpressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

5Schmerz

InhaltImpressum

VerlagRosenfluh Publikationen AGSchaffhauserstrasse 138212 Neuhausen a/Rhf.Tel. 052-675 50 60Fax 052-675 50 61E-Mail: [email protected]: www.rosenfluh.ch

RedaktionDr. Renate Bonifer, BadenweilerTel. 0049-7632-82 86 06Fax 0049-7632-82 86 07E-Mail: [email protected]

Sekretariat/AdministrationAnna MarinoSchaffhauserstrasse 138212 Neuhausen a/Rhf.Tel. 052-675 50 60Fax 052-675 50 61

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CopyrightRosenfluh Publikationen AGNeuhausen a/Rhf.Alle Rechte beim Verlag. Nachdruck undKopien von Beiträgen und Abbildungen injeglicher Form, wie auch Wiedergaben aufelektronischem Weg und übers Internet,auch auszugsweise, sind verboten bzw.bedürfen der schriftlichen Genehmigungdes Verlags.

HinweiseDer Verlag übernimmt keine Garantie oderHaftung für Preisangaben oder Angabenzu Diagnose und Therapie, im Speziellenfür Dosierungsanweisungen.

SONDERREPORT ist eine Beilage zu ARS MEDICI

98. Jahrgang; ISSN 0004-2897

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SONDERREPORT

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Dr. med. Peter Myers, Genf:

«Ich fand die neuen Erkenntnisse bezüglich der Schmerz -entstehung besonders interessant, nämlich die genetischen,entzündlichen und strukturellen Faktoren, die mit dem chro-nischen Schmerz assoziiert sind. Für die Praxis waren diePräsentationen zur Behandlung des akuten Schmerzes sehrinteressant und wie man die Entwicklung chronischerSchmerzen – insbesondere in der postoperativen Phase –

zu verhindern sucht. Ich denke, dass mannoch mehr über die Mechanismen der Ent-wicklung vom akuten zum chronischenSchmerz wissen muss. Das betrifft neuro-pathische Schmerzen genauso wie Syn-drome, bei denen die Schmerzschwelle er-niedrigt ist, insbesondere bei Entitätenwie der Fibromyalgie. In diesem Zusam-menhang fand ich die Überlegungen inter -essant, dass die mentale ‹Katastrophisie-rung› eines klinischen Zustands zurChronifizierung beitragen kann. Auch die

Ausführungen von Professor Baron zur quantitativen Erfas-sung verschiedener sensorischer Phänotypen bei der Fibro-myalgie haben mich sehr interessiert.»

Dr. med. Lutz Frank, Zofingen:

«Ein Themenschwerpunkt des Kongresses war die Be-handlung von chronischen Schmerzen in Entwicklungs-ländern. Die Schätzungen belaufen sich auf 250 MillionenSchmerzpatienten in diesen Ländern, die nicht adäquat

behandelt werden. Typische Schmerzpro-bleme sind neben Tumorschmerzen undSchmerzen, die im Zusammenhang mitHIV und anderen Infektionskrankheitenwie Malaria, Tuberkulose und Lepra auf-treten, alle neuropathischen und musku-loskeletalen Schmerzsyndrome, wie wirsie in den Industrieländern kennen. Lei-der gibt es ein eklatantes Defizit in derAusbildung des medizinischen Fach -personals und der Finanzierung von

Schmerztherapie. Meistens sind die Betroffenen schlichtund einfach zu arm, um Medikamente wie Opioide selbstzu bezahlen. Vielerorts scheitert eine adäquate Schmerz-therapie aber auch an gesetzlichen Restriktionen in Bezugauf den Einsatz von Betäubungsmitteln. Das dunkelsteKapitel betrifft jedoch die Überlebenden von Folter undorganisierter Gewalt, die an multiplen körperlichen undseelischen Schmerzen leiden. Entwicklungsländer habenhäufig totalitäre Regierungen, die Folter gezielt oder ungezielt für ihre politischen Zwecke einsetzen und dem-entsprechend natürlich auch keine Infrastruktur zur medi-zinischen Behandlung zur Verfügung stellen. Tra gischer-weise empfinden die Opfer häufig tiefste Scham für dasihnen zugefügte Leid. Sie würden keine professionelleHilfe in Anspruch nehmen, was auch für bei uns lebendeEmigranten aus diesen Ländern gilt.»

PD Dr. Peter Sándor, Zürich:

«Für die Schmerztherapie in der Praxis war ein Seminarüber die aktuelle Therapie der Rückenschmerzen beson-ders interessant. Dort wurde die Evidenz für die verschie-densten Therapiemodalitäten so gut dargestellt, dass eindrücklich klar wurde, warum die multimodale Schmerz-therapie so sinnvoll ist. Für mich persönlich war ein Work-shop am interessantesten – neben spannenden Einzel-beiträgen, die zusammenzufassen den Rahmen sprengenwürde: Es ging in diesem Workshop um die Funktions-weise der Diffuse Noxious Inhibitory Controls (DNIC). Da-bei handelt es sich um Strukturen, deren Aufgabe es ist,als Schaltstation somatische und viszerale (Schmerz-)In-formation zu integrieren und zu modulieren. Diese Struk-turen sind beispielsweise dann wirksam, wenn durch ei-nen zweiten Reiz ein Schmerzreiz in seiner Intensitätverringert wird. Sie könnten pathophysiologisch bei chro-nischen, insbesondere generalisierten Schmerzerkrankun-gen eine wichtige Rolle spielen.»

Dr. med. Christa Brenig, Schaffhausen:

«Ich fand den Aspekt besonders interessant, dass manwirklich versucht, einen Schmerz bei jedem Patienten in-

«Für mich persönlich waram interessantesten …»

Die Autoren und Referenten von nicht weniger als 1840 Postern, 90 Workshops, 18 Kur-

sen und 16 Plenarvorträgen hofften am IASP-Kongress in Glasgow auf möglichst viel Auf-

merksamkeit seitens der rund 6000 Teilnehmer. Wir fragten einige Besucher aus der

Schweiz, was für sie persönlich am interessantesten war und welche Neuigkeiten sie am

relevantesten für die Praxis einschätzten.

Peter Myers

Lutz Frank

Schmerz

Kongressecho

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7Schmerz

dividuell auseinanderzudividieren und schrittweise dieeinzelnen Facetten anzugehen: Ist es eine akute Entzün-dung? Ist es mehr eine Durchblutungsstörung? Oder ist esder Sympathikus? Welche zusätzlichen Ursachen könneneine Rolle spielen? In einem Workshop zum CRPS, demComplex Regional Pain Syndrome, wurde das sehr gutdargestellt. Kochbuchmedizin klappt hier nämlich nicht,sondern man muss genau hinschauen.»

Dr. med. Reto Agosti, Zürich:

«Mit das Eindrücklichste war der Kongress an sich mit sei-nen fast 6000 Teilnehmern. Dass im Bereich Schmerz vielgeforscht wird, war mir zwar bewusst, aber dass das In-teresse so riesig geworden ist, hat mich dann doch über-rascht. Allein die vielen Poster! Sie haben gleichzeitig denVorteil, dass man sehr schnell sieht, was läuft. Einige Teil-nehmer haben sich wohl mehr direkt Praxisbezogenes ge-wünscht. Natürlich klafft eine gewisse Lücke zwischenBench und Bedside, gerade was die Schmerztherapie be-trifft, aber die Erkenntnisse in der Grundlagenforschungnutzen mir auch in der Praxis. Wenn ich mehr über Trans-mitter weiss, hilft mir das auch, bestimmte Medikamentesinnvoll einzusetzen. Ich finde, dass an vielen Meetingseher noch zu wenig Grundlagenforschung geboten wird.Hier war das aber sehr gut. Eine Neuheit mit direkter Pra-xisrelevanz war für mich der Ansatz, Opioidagonisten undOpioidantagonisten oral zu kombinieren, um die opioid-bedingte Obstipation zu verringern.»

Dr. med. Ulf Klostermann, Zofingen:

«Neben dem persönlichen Austausch mit Schmerzspezia-listen aus aller Welt hat mich fasziniert, dass zu einer soaltbewährten Substanzgruppe wie den Opioiden immernoch neue Erkenntnisse in der Grundlagenforschung ge-wonnen werden. So konnte die Arbeitsgruppe um Hut-chinson neue Erkenntnisse zu den Wirkungen der Opioidean der Mikroglia zeigen: Über sogenannte Toll-Rezeptorenan der Mikroglia lösen die Opioide die Ausschüttung voninflammatorischen Mediatoren wie Interleukin 1 aus. Hier -über wird eine Kaskade von Reaktionen ausgelöst, die wir

eigentlich vermeiden wollen: Hyperalgesie und Toleranz.Während die μ-Rezeptoren an den Neuronen stereospezi-fisch nur die (-)-Va rian te der optisch aktiven Opioidmole-küle akzeptieren, reagieren die Toll-Rezeptoren der Mi-kroglia aber auch mit der (+)-Variante –sind also nicht stereospezifisch. Hier -über ergeben sich Möglichkeiten zur se-lektiven Blockade dieser Mikrogliareak-tion, und in der Folge wird die Wirkungder Opioide im Tierexperiment tatsäch-lich potenziert. In diesem Bereich er-warte ich in absehbarer Zukunft Auswir-kungen auf unseren klinischen Alltag.Für die Schmerztherapie in der Praxiswaren die Forschungsergebnisse derGrup pe um Sandkühler besonders wich-tig: Sie konnten eindrucksvoll zeigen,dass die Aktivierung von Neuronen im Rückenmark durchReize zu einer Long Term Potentiation (LPT) oder auchLong Term Depression (LTD) führen kann – also einer ge-steigerten oder abgesenkten Aktivität über einen länge-ren Zeitraum weit über den gesetzten Reiz hinaus. DieserSachverhalt ist schon länger bekannt. Neu erschien mirdie Erkenntnis, dass mit leicht schmerzhaften Reizen insehr langsamer Frequenz – wir sprechen da von einemReiz alle 30 Sekunden, also etwa 0,033 Hz – eine Reduk-tion der LPT erreicht werden kann. Möglicherweise müs-sen wir Therapien wie TENS neu gestalten: etwasschmerzhafter und mit niedrigeren Frequenzen. Im Analo-gieschluss hängt möglicherweise der Effekt der Akupunk-tur mit derartigen Effekten zusammen. Insgesamt kann ichresümieren, dass das Thema Schmerz auch im BereichGrundlagenforschung spannend bleibt, da immer wiederinnert kürzester Zeit neue Erkenntnisse gemacht werden.Wir hoffen, durch unser Engagement an internationalenKongressen aktuelle Erkenntnisse möglichst schnell auchunseren Patienten zur Verfügung stellen zu können. Abernatürlich benötigt die Umsetzung präklinischer Daten inden verantwortungsbewussten klinischen Alltag viel Zeit.»

Ulf Klostermann

SONDERREPORT

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ernen beeinflusst alle Aspekte der Schmerzes: sub-jektive Wahrnehmung und das Verhalten genausowie neurophysiologische und biochemische Vor-

gänge. Professor Herta Flor von der Universität Heidel-berg/Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim,präsentierte dazu am Kongress in Glasgow eine Reihe ein-drücklicher Experimente, deren Resultate von grosser Be-deutung für chronische Schmerzpatienten «ohne Befund»sind: Sie scheinen das Problem zu haben, ihre fehlgelei-tete Schmerzempfindung wieder zu verlernen.

Neurophysiologische «Schmerznetze»manifestieren sich rasch

Wird ein an sich schmerzloser Reiz regelmässig mitSchmerz verbunden, ändern sich die entsprechenden neu-ronalen Verknüpfungen im Gehirn relativ rasch. Dies kannnach einiger Zeit dazu führen, dass allein der (nicht

schmerzhafte!) Reiz die gleiche Schmerz-empfindung auslöst.Zusammen mit PD Dr. Eugen Dieschführte Flor am Mannheimer Zentralinsti-tut für seelische Gesundheit Experimentedurch, bei denen gesunde Probanden amlinken oder rechten Zeigefinger einenharmlosen Reiz wahrnahmen, dem einSchmerzreiz im Rücken folgen konnte. Ineiner Gruppe geschah dies nur, wenn derrechte Zeigefinger stimuliert wurde. Inder anderen Gruppe folgte der Schmerz-

reiz rein zufällig, egal, welcher Finger zuvor stimuliertwurde. Nur in der Gruppe mit dem berechenbaren, fest as-soziierten Schmerz kam es zu regelhaften Anpassungender Hirnströme: Nach dem Stimulus am rechten Finger wa-ren bei diesen Probanden in der «Finger-»Hirnregion mehrNeurone aktiv, und es begann sich ein Netzwerk in Rich-tung der Hirnregion auszubilden, in welcher der Schmerz-reiz im Rücken empfunden wurde (1).

Auf der anderen Seite können Schmerzschwelle undSchmerztoleranz höher sein, wenn ein Schmerz vorher-sehbar ist. Dies zeigte sich bei gesunden Probanden, diesich zehn Tage lang jeweils eine halbe Stunde lang einerschmerzhaften Konditionierung unterzogen hatten: Siesahen zwei Symbole, einen Kreis oder einen Rhombus. Inder einen Gruppe war der Kreis immer mit einem Schmerzempfunden, der Rhombus nicht. In der anderen Gruppegab es diese Assoziation nicht, der Schmerzreiz erfolgtezufällig, egal, welches Symbol zu sehen war. Bereits nachzehn Tagen zeigten sich deutliche Unterschiede zwischenden beiden Gruppen. Wer den Schmerz sicher voraussa-gen konnte, hatte eine höhere Schmerzschwelle und -to-leranz als diejenigen, die nie sicher wussten, ob sie gleichein Schmerz ereilen würde oder nicht. PET-Scans zeigtenin der Gruppe mit der festen Symbol-Schmerz-Asso ziationeine weitaus geringere Gehirnaktivität in fest umgrenztenArealen, während sich die Unsicherheit bei den anderenProbanden in einer intensiven, über beide Hemisphärenverteilten Aktivität widerspiegelte.Dass die Etablierung des Schmerzgedächtnisses unbe-wusst und lang anhaltend ist, zeigen Untersuchungen anKindern, die entweder bei Geburt sehr schmerzhafte me-dizinische Prozeduren über sich ergehen lassen musstenoder im Alter von einem halben bis zu zwei Jahren schwereVerbrennungen erlitten hatten. Sie können sich mit Si-cherheit nicht bewusst daran erinnern, haben aber nochzehn Jahre später eine veränderte Schmerzverarbeitung,die auf nachhaltig veränderte neurophysiologische Me-chanismen schliessen lässt (2, 3).

Chronische Schmerzpatienten bleibenbei neu erlerntem Schmerzverhalten

Es fällt chronischen Schmerzpatienten offenbar schwer,schmerzrelevantes Verhalten wieder zu ändern, wenn eserst einmal mithilfe einer «Belohnung» eintrainiert wurde.Hinweise darauf fanden Herta Flor und ihre Tübinger Kol-

Schmerz

Schmerzgedächtnis

Wie man Schmerzen wieder«vergessen» kann

Schmerzen hinterlassen eine Spur im Unbewussten und können so dazu führen, dass sich ein

neuronales «Schmerzgedächtnis» manifestiert, mit vielfältigen Konsequenzen für die

Schmerzsensitivität und Schmerzverarbeitung. Man kann chronischen Schmerz sozusagen ler-

nen, sodass er fortbesteht, obwohl längst keine adäquaten Schmerzreize mehr da sind. Die

gute Nachricht: Man kann diese fehlgeleitete Schmerzwahrnehmung auch wieder verlernen.

L

Herta Flor

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SONDERREPORT

legen Dr. Bärbel Knost und Professor Niels Birbaumer inExperimenten, bei denen ihre Probanden mit Bargeld be-lohnt wurden, wenn sie mehr beziehungsweise wenigerSchmerz aushielten. In beiden Fällen lernten alle Proban-den rasch, worauf es ankam, und vermeldeten entspre-chend erhöhte oder erniedrigte Schmerzschwellen. Ver-blüffend war der Unterschied zwischen Gesunden undPersonen mit chronischen Rückenschmerzen am Ende desExperiments: Wurde das zuvor erwünschte Verhalten nichtmehr belohnt, kehrte die Schmerzschwelle bei den ge-sunden Personen rasch wieder auf das Normalmass zu-rück. Bei den Personen mit chronischen Rückenschmerzenhingegen blieb es auf dem neu erlernten Niveau, obwohldie Belohnung dafür ausblieb (4).

Nicht reden, sondern üben!

Extinktion des Schmerzgedächtnisses bedeute nicht «lö-schen», sondern «überschreiben», sagte Flor. Insofern ver-schwindet das alte Schmerzgedächtnis nie vollständig,sondern kann im Prinizip immer wieder hervorbrechen.Auch sei ein entsprechendes Extinktionstraining kontext-spezifisch, sodass es vorkommen kann, dass sich bei-spielsweise in einer Rehaklinik ein guter Erfolg zeigt, derzu Hause wieder verschwindet. Ein möglichst alltagsnahesTraining ist darum wünschenswert. Zu den festen Regelndes Extinktionstrainings gehört, dass nicht über denSchmerz gesprochen wird. In der Therapie geht es auchsonst weniger um das Reden als vielmehr das Üben. Da-bei sind auch Partner und Familie einzubeziehen, dennMitleid und Aufmerksamkeit wegen des Schmerzproblemskann die fehlerhafte Schmerzverarbeitung verstärken. ImTraining wird positives Verhalten im Sinne der Extinktiondes Schmerzgedächtnisses sofort belohnt, falsches Ver-halten bestraft; das kann beispielsweise mit grünen undroten Karten geschehen.Man mag sich fragen, ob es ernsthaft funktionieren kann,erwachsenen Menschen «Lob- und Tadelkärtchen» in dieHand zu drücken, um etwas derart Komplexes wie dieSchmerzempfindung zu verändern. Auch mögen viele be-zweifeln, dass es hilfreich sein soll, gerade nicht über denSchmerz zu reden. Doch Herta Flor ist davon überzeugtund präsentierte eine entsprechende Studie (5). 125 Fi-bromyalgiepatientinnen wurden randomisiert drei Grup-pen zugeteilt. Eine Gruppe erhielt eine Therapie, die aufoperantem Lernen basierte (OBT), eine Gruppe wurdenach den Regeln der kognitiven Verhaltenstherapie be-handelt (CBT), und die dritte erhielt ein «Aufmerksam-keits-Plazebo» (AP), das heisst, in dieser Gruppe wurdeausführlich, aber unstrukturiert über die Fibromyalgie unddie damit verbundenen Probleme gesprochen. Am Endeder Therapie war sowohl in der OBT- als auch in der CBT-Gruppe die Schmerzintensität geringer als zu Beginn;auch bei anderen Parametern zeigten sich hier Verbesse-rungen, insbesondere sank die Anzahl ärztlicher Konsul-tationen. Auch 6 und 12 Monate nach Ende der Therapie

hielten die positiven Effekte an. In der AP-Gruppe, in dernur über Fibromyalgie geredet wurde, waren die Resultatehingegen durchweg negativ: Der physische Zustand derProbanden war schlechter, sie verspürten eine höhereSchmerzintensität, mehr affektiven Stress und gingenhäufiger zum Arzt (Abbildung). Das gebe zu denken, sagteFlor, denn in der AP-Gruppe habe man im Grunde eine Si-tuation, wie sie häufig in Selbsthilfegruppen zu beobach-ten sei. Obgleich das Reden über Probleme allgemein alsetwas Positives betrachtet wird, kann es bei chronischenSchmerzpatienten zur Falle werden.

Renate Bonifer

Quelle:

Plenarvortrag PL12 von Herta Flor: The Extinction of Pain Memories.IASP Congress Glasgow, 21 August 2008

Literatur:

1. Diesch E., Flor H.: Alteration in the response properties of primary so-matosensory cortex related to differential aversive Pavlovian conditio-ning. Pain 2007; 131 (1–2): 171–180.

2. Kleinböhl D. et al.: Psychophysical measures of sensitization to to-nic heat discriminate chronic pain patients. Pain 1999; 81 (1–2): 35–43.

3. Hermann C. et al.: Long-term alteration of pain sensitivity in school-aged children with early pain experiences. Pain 2006; 125 (3):278–285.

4. Flor H., Knost B., Birbaumer N.: The role of operant conditioning inchronic pain: an experimental investigation. Pain 2002; 95 (1–2):111–118.

5. Thieme K., Flor H., Turk D.C.: Psychological pain treatment in fibro-myalgia syndrome: efficacy of operant behavioural and cognitive be-havioural treatments. Arthritis Res Ther 2006; 8 (4): R121.

9Schmerz

Veränderung verschiedener Parameter bei Fibromyalgiepatientinnennach unterschiedlichen Strategien.

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SONDERREPORT

rs Medici: Herr Professor Alon, der Taxifahrer hatmir auf dem Weg hierher erzählt, Glasgow habenoch nie einen so grossen Kongress erlebt wie die-

sen. Sind an den IASP-Kongressen immer so viele Teil-nehmer?Professor Eli Alon: Der IASP-Weltkongress war eigentlichimmer schon gut besucht, und die Anzahl der Teilnehmersteigt von Jahr zu Jahr. Das ist sehr erfreulich, natürlichauch für die IASP als Gesellschaft, wenn vier von fünf Mit-gliedern zum Kongress kommen.

Was hat sich in der Schmerztherapie in den letzten zehnJahren zum Guten verändert?Alon: Heute ist Patienten häufiger als früher bewusst,dass ihre Schmerzen behandelt werden können. Viel mehrPatienten suchen einen Schmerzspezialisten, finden ihnauch und erreichen eine gute Linderung ihrer chronischenSchmerzen. Es gibt bessere Medikamente und Techniken,und davon profitieren mehr Patienten als früher. Trotz die-ser positiven Entwicklungen gibt es aber keinen Grund,die Hände in den Schoss zu legen. Vieles in der Behand-lung von Schmerzpatienten ist nach wie vor ungenügend,und man muss sich immer weiter für Verbesserungen engagieren.

Früher hiess es auch oft, dass zu wenig Opioide ver-schrieben würden. Wie ist das heute?Alon: Das hat sich deutlich verbessert. Es gibt immermehr Patienten, die verstehen, dass Opioide auch beinicht malignombedingten Schmerzen nützlich sein kön-nen, und dass man sie viele Jahre lang anwenden kann.Vorbehalte gibt es aber trotzdem noch, bei Patienten wiebei Ärzten, wenn auch weniger häufig als früher.

Wie und wo kann man in derSchweiz Schmerztherapie ler-nen?Alon: Das beginnt mit der Aus-bildung der Medizinstudenten.Bis vor wenigen Jahren gab es inder Schweiz praktisch keinenUnterricht in Schmerztherapiewährend des Studiums. Das be-ginnt sich nun zu ändern. Wirhaben beispielsweise an derUniversität Zürich eine sechs -monatige Ausbildung im soge-nannten Mantelstudium für dieMedizinstudenden organisiert:einmal die Woche vier Stunden. Jeder sechste Medizin-student in Zürich hat dieses Wahlfach belegt. Für Ärztebietet die Schweizerische Gesellschaft zum Studium desSchmerzes SGSS einen 80-Stunden-Wei ter bildungskurszum Schmerztherapeuten an, der an fünf Wochenendenvon Mai bis Oktober stattfindet. Daran nehmen jedes Jahretwa 25 Ärztinnen und Ärzte aus der ganzen Schweiz teil.Und schliesslich gibt es noch eine Reihe von Fortbil-dungsangeboten wie Seminare und Kongresse. Uns ist esaber genauso wichtig, dass die Bevölkerung besser überSchmerzen und Schmerztherapie informiert ist. Darum or-ganisieren wir mehrmals im Jahr an verschiedenen Ortenin der Schweiz gemeinsam mit der Vereinigung SchweizerSchmerzpatienten Informationsveranstaltungen für jeder-mann.

Herr Professor Alon, wir danken Ihnen für das Gespräch.

11Schmerz

Aus-, Weiter- und Fortbildung

Schmerztherapie lernen

Professor Eli Alon engagiert sich in der Schweiz und in internationalen Fachgesellschaften für

die Verbesserung der Schmerztherapie. Wir fragten den Präsidenten der Schweizerischen Ge-

sellschaft zum Studium des Schmerzes, wie es hierzulande mit der Aus-, Weiter- und Fortbil-

dung der Schmerztherapeuten bestellt ist.

A

Eli Alon

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SONDERREPORT

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rs Medici: Herr Dr. Sándor, wasist das wichtigste Ergebnis IhrerStudie?

PD Dr. med. Peter Sándor: Wir könnendamit belegen, dass es sich lohnt, beiPatienten, die beispielsweise mit einemKnieschmerz in die Sprechstunde kom-men, nach Kopfweh zu fragen. Viele die-ser Patienten haben nämlich einen durchMedikamentenübergebrauch induziertenKopfschmerz und zwar meist auf der Ba-sis einer vorbestehenden Migräne.

Welche Rolle spielt die Migräne bei der Entwicklung me-dikamenteninduzierter Kopfschmerzen bei Patienten mitchronischen Schmerzen anderer Natur?Sándor: Wenn wir uns dieses Patientenkollektiv genaueranschauen, sind es praktisch immer Migräniker, die me-dikamenteninduzierte Kopfschmerzen bekommen. Sie ha-ben dann allerdings einen Kopfschmerz, der meistensnicht mehr alle Kriterien einer Migräne erfüllt, sonderneher wie eine Mischung aus Spannungskopfschmerz undMigräne aussieht. Wesentlich ist aber, dass diese Patien-ten früher, also vor ihrem anderen Schmerzproblem, be-reits eine Migräne hatten. Im Gegensatz zum Ladendieb-stahl «verjährt» die Migräne nicht, und sie kann offenbarWegbereiter für medikamenteninduzierte Kopfschmerzensein, auch wenn aus anderen Gründen regelmässig An -algetika genommen werden müssen.

Welche Konsequenzen hat das für die Praxis und welcheGrundregeln sind zu beachten?Sándor: Bei Patienten mit chronischen Schmerzen mussman prüfen, ob zusätzlich ein chronisches Kopfschmerz-problem besteht und allenfalls die Schmerzmedikationumstellen. Man muss mit einer Basistherapie beginnen,die sich mit diesen Migränekopfschmerzen verträgt. Derzweite wichtige Punkt ist, bei Migränikern vorsichtig undsehr aufmerksam zu sein, wenn sie regelmässig Analge-tika einnehmen müssen. Kopfschmerz durch Medikamen-tenübergebrauch müsste nicht sein, wenn man diese Pa-tienten korrekt behandelt. Im sicheren Bereich ist derPatient, wenn an nicht mehr als zwei Tagen pro Wocheakut wirksame Schmerzmittel eingenommen werden.

Herr Dr. Sándor, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Schmerz

Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch

Vermeidbares Kopfweh

Chronischer Kopfschmerz kann durch Medikamentenübergebrauch induziert werden. Pa-

tienten mit chronischen Schmerzen nehmen regelmässig Analgetika und könnten darum be-

sonders gefährdet sein. Um nachzuprüfen, ob das tatsächlich so ist und, wenn ja, woran

das liegen könnte, analysierte ein Team am Universitätsspital Zürich die Daten von Pa-

tienten, die wegen anderer Schmerzsyndrome in die interdisziplinäre Schmerzsprechstunde

kamen. Wir sprachen mit PD Dr. med. Peter Sándor über das Resultat.

A

PosterKopfweh durch Medikamentenübergebrauch bei Patienten mit chronischen Schmerzen

Ein Kopfschmerzteam am Universitätsspital Zürich analysierteretrospektiv die Daten von 179 Patienten, die primär nicht we-gen chronischer Kopfschmerzen, sondern aufgrund andererSchmerzsyndrome in die interdisziplinäre Schmerzsprechstundekamen. 3 von 4 dieser Patienten (138; 77%) nahmen regelmäs-sig Analgetika, nämlich Opioide, NSAR, Paracetamol, Triptaneoder Ergotamin; die meisten davon täglich. Unter diesen 138 Pa-tienten fanden sich 54 (39%) mit Kopfschmerzen durch Medika-mentenübergebrauch, wie er in der Klassifikation der Internatio-nal Headache Society (IHS) definiert ist. Die Anamnese ergabeine primäre Migräne bei den meisten von ihnen (48; 79%). Beiden restlichen 6 Patienten war kein primäres Kopfweh gemässder üblichen Klassifikation in der Anamnese identifizierbar. DieZürcher Gruppe schliesst daraus, dass Patienten mit chronischenSchmerzsyndromen auf der Basis eines komorbiden primärenKopfschmerzes eine Prädisposition für medikamenteninduzierteKopfschmerzen haben könnten und dies in prospektiven Studienzu überprüfen sei.

PT 283: Wanner Schmid C., Maurer K., Alon E., Spahn D.R., Sán-dor P.: Prevalence of medication overuse headache in an inter-disciplinary pain clinic.

Peter Sándor

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14

rs Medici: Herr Dr. Agosti, ist die Migränetherapie,mehr als zehn Jahre nach der Einführung der Trip-tane, eigentlich überhaupt noch ein Problem?

Dr. med. Reto Agosti: Als wir die Triptane bekamen, wardas eine Revolution, aber das ist Geschichte. Trotz guterErfolge mit diesen Medikamenten kann man nicht sagen,dass damit nun alle Probleme gelöst wären. Triptane wir-ken nur bei 60 bis 80 Prozent der Migränepatienten. Er-freulicherweise ist ihre Wirkung bei etwa der Hälfte derResponder in der Tat sehr gut, und für manche Patientenwaren sie sozusagen ein Wunder: Sie hatten jahrzehnte-lang gelitten, bekamen dann ein Triptan und waren in kur-zer Zeit schmerzfrei. Das war natürlich sensationell undunglaublich!

Worauf führt man eine allfällige Wirkungslosigkeit vonTriptanen zurück?Agosti: Das weiss man nicht so genau. Es ist immer mög-lich, dass verschiedene Triptane bei dem einen Migränikerwirken und dem anderen nicht. Es gibt auch Patienten, die

alle sieben Triptane durchprobie-ren und keines davon wirkt. Obes eine Triptanresistenz wirklichgibt, ist aber unklar. Es könnteauch an der Applikation liegen.Christoph Diener und sein Teamwollten nämlich einmal eine ge-netische Studie mit sogenanntenTriptannonre spon dern durchfüh-ren. Um sicher zu sein, dass eswirklich Nonresponder waren,mussten die Probanden mit einer Migräneattacke ins Kopfwehzen-trum kommen. Dort wurde allenSumatriptan subkutan verab-

reicht – und plötzlich fanden sich keine Nonresponder mehr.Im Grunde kann man Tabletten bei Übelkeit und Erbrechenvergessen, aber die Patienten weigern sich standhaft, In-jektionen oder Zäpfchen zu verwenden, obwohl sie damitvielleicht eine Wirkung erzielen könnten.

Welche Rolle spielen die Nebenwirkungen?Agosti: Es gibt Patienten, die wegen allfälliger Nebenwir-kungen wie Müdigkeit, Flash-Symptomatik, vorüberge-

hend verstärkter Kopfschmerzen oder Allodynie nichtmehr zu Triptanen greifen. Manche haben auch Mühe mitden Kosten, wenn sie eine sehr hohe Franchise haben.Und schliesslich gibt es Hausärzte und Apotheker, dieAngst vor der vasokonstriktiven Nebenwirkung dieserSubstanzen haben. Das ist zwar nur eine ganz leichte Va-sokonstriktion, die eigentlich im physiologischen Rahmenliegt, aber die Ängste sind trotzdem nicht auszuräumen.

Sind neue Substanzen zur Migränetherapie in Sicht?Agosti: Für die Attackenbehandlung befindet sich ein Ant -agonist des sogenannten Calcitonin Gene-Related PeptideCGRP in klinischen Studien, an denen auch wir am Kopf-schmerzzentrum Hirslanden beteiligt sind. CGRP spielt einewichtige Rolle bei der Pathophysiologie der Migräne, unddarum erhofft man sich von einem CGRP-Antagonisten the-rapeutischen Erfolg. Die Studien sind aber noch am Laufen,und ich möchte heute noch nichts über die bisherigen Re-sultate verraten. Vorab kann ich allerdings sagen, dass die-ser CGRP-Antagonist keine kardiovaskulären Effekte habenwird, sodass er für kardiovaskuläre Risikopatienten gut ge-eignet sein dürfte – immer aber unter dem Vorbehalt, dassdie Studien positiv ausgehen und das Medikament dann ir-gendwann einmal zugelassen wird.

Wo liegen heute die Hauptprobleme der medikamentösenMigränetherapie?Agosti: Wie bereits gesagt, sieht es an der Attackenfrontnicht allzu schlecht aus, auch wenn wir natürlich neue Me-dikamente brauchen, um Patienten, bei denen Triptanenicht helfen oder – aus welchem Grund auch immer – nichtinfrage kommen, etwas anbieten zu können. Eher düster istes aber bei der Prophylaxe, da haben wir einen Rie sen -bedarf an neuen Optionen. Wir kennen vielleicht 50 Sub-stanzen, die in der Migräneprophylaxe infrage kommen,aber keine Substanz, die für alle Fälle geeignet ist, oder zu-mindest für die meisten. Überdies bewirkt die medikamen-töse Migräneprophylaxe, wie wir sie heute kennen, leidernur bei jedem fünften bis zehnten Patienten überhaupt eineVerbesserung. Es wird also noch viele Forschungsprojekte,Studien und Kongresse dazu brauchen.

Herr Dr. Agosti, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Akuttherapie gut, Prophylaxe mangelhaft

MigränemedikamenteDie Behandlung von Migränepatienten bleibt eine Herausforderung. Wir sprachen mit Dr.

med. Reto Agosti vom Kopfwehzentrum Hirslanden über den aktuellen Stand und die Zu-

kunftsperspektiven der medikamentösen Migränetherapie.

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Reto Agosti

SONDERREPORT

Schmerz

Page 11: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

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rs Medici: Herr Sitte, wie kamen Sie auf die Idee mitdem Fentanylnasenspray?Thomas Sitte: Wir betreuen seit rund zehn Jahren

in immer grösserem Umfang ambulant und stationär Pal-liativpatienten in allen Stadien gemeinsam mit den Haus-ärzten. In unserer Region in Osthessen ist es mittlerweileso, dass jeder Zehnte am Lebensende von uns betreutwird. Besonders in ländlichen Gebieten wird es zur He-rausforderung, im Krisenfall sofort und effektiv Hilfe amPatientenbett bieten zu können. Die patientenkontrol-

lierte intravenöse Analgesie istzwar etabliert, die Patientenwünschen aber oftmals mehr Un-abhängigkeit, weniger Technikund «weniger Schläuche». Zu-dem stellen sich in der ambu-lanten Versorgung bei gleichemKrankheitsbild völlig andere He-rausforderungen für die Sym -ptomkontrolle als im stationärenBereich. Weniger Technik hatmehr Patientenautonomie zurFolge, und dies führt zu einereinfacheren ambulanten Betreu-ung. Viele Anästhesisten kennendie Wirkung von nasalem Mida-

zolam oder Ketamin zur Narkoseeinleitung, und so kamenwir auf die Idee, ein Fentanylnasenspray zu entwickeln,das wir unseren Patienten mit nach Hause geben konn-ten. Wir konnten uns damals leider weder auf Lehrbüchernoch auf praktische Erfahrungen Dritter stützen. Es gabzwar hier und da vereinzelte Studien mit grossem techni-schen Aufwand, aber dort ging es meist um postoperativeSchmerzen beziehungsweise um hospitalisierte, opioid-naive Patienten. Unsere Patienten werden aber in der Re-gel zu Hause betreut und erhalten bereits mittlere oderhohe Dosen eines retardierten Opioids. Im Grunde standam Beginn unserer Überlegungen ein anekdotischer Be-

richt, dass man den Inhalt der Fentanylampullen auch na-sal applizieren könne.

Haben Sie das ausprobiert?Sitte: Ja, aber wir haben schnell gesehen, dass die not-wendige Dosis mit der Fentanyllösung aus den Ampullennicht zu erreichen war. Wenn man eine Ampulle mit 100 μgin 2 ml benutzt, entspricht ein Sprühstoss von 50 μl nureinem Wirkstoffgehalt von 2,5 μg. Das ist für erwachsenePatienten zu wenig, insbesondere unter einer Opioiddau-ertherapie. Unser Apotheker bestellte daraufhin das Fen-tanyl als Reinsubstanz und stellte eigene Lösungen her,mit der wir dann die effektiven Dosierungen herausfan-den.

Welche Konzentrationen sind nach Ihrer Erfahrung nötig?Sitte: Anfangs versuchten wir das Ein-Stunden-Dosis äqui -valent des Basisopioids pro Sprühstoss. Inzwischen wis-sen wir, dass damit häufig keine ausreichende Wirkung er-zielt werden kann. Besser ist eine Sprühstossdosis, dieder Zwei- oder besser Vier-Stunden-Dosis des Basisopio-ids entspricht. Das ist wesentlich effektiver, ohne dass da-mit mehr Nebenwirkungen auftreten. Als Boli wurden inder Praxis zwischen 12 μg und 2000 μg pro Hub je 50 μlbenutzt, was auch der enormen therapeutischen Breiteder Opioide entspricht.

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Patienten?Sitte: Ja, das war ein 49-jähriger Mann mit Lungen-, Nie-ren-, Blasen- und Peritonealmetastasierung eines Kolon-karzinoms. Wir hatten noch keine Erfahrung, darum leg-ten wir eine Infusion und hielten die Notfallausrüstungund Naloxon bereit. Dann verabreichten wir ihm unserFentanylnasenspray, bis eine deutliche Schmerzlinderungvon zuvor 7 von 10 Punkten auf der visuellen Analogskalaauf 2 eintrat und schliesslich noch weiter bis zur Schläf-rigkeit. Es gab keine Probleme.

Schmerz

Fentanylnasenspray in der Palliativmedizin

«Atemnot und Schmerz effektiv lindern»

Der Anästhesist und Palliativmediziner Thomas Sitte gibt seinen Palliativpatienten seit gut

fünf Jahren Fentanylnasenspray gegen akute Atemnot und Durchbruchschmerzen mit nach

Hause. Wir fragten ihn, wie die Idee dazu entstand und welche Erfahrungen er damit bisher

gemacht hat.

A

Thomas Sitte

Page 12: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

Wie gross ist die Gefahr der Überdosierung?Sitte: Erstaunlicherweise kann nicht viel passieren. Einmalwurde einem Patienten in einer neuen Apotheke verse-hentlich eine Nasensprayflasche ohne Dosiermöglichkeitmitgegeben. Mit dem ersten Hub kamen sofort 5 ml, wasin diesem Fall 5 mg Fentanyl auf einmal entsprach anstelleder eigentlich vorgesehenen 50 μg in 50 μl! Der Patientwurde aber nur müde, es kam weder zu Bradypnoe nochzu respiratorischer Insuffizienz. Wird ein zu hohes Volu-men der Lösung auf einmal verabreicht, führt dies dazu,dass relativ weniger Fentanyl nasal aufgenommen wird.Das Medikament fliesst in den Rachenraum ab und wirdverschluckt. Gastral wird Fentanyl nur verzögert resorbiertund durch den First-Pass-Effekt in der Leber teilweise de-aktiviert. Die Sache mit dem Patienten war natürlich einschwerwiegender Fehler, der aber im Resultat beruhigt.Als Konsequenz halten wir jetzt immer persönlich nocheinmal mit dem Apotheker Rücksprache, wenn eine neueApotheke das Medikament herstellen will. Wir weisen ex-plizit darauf hin, dass ein Hub aus der Flasche abgewo-gen werden muss, und dass damit ein Hub wirklich 50 μlumfasst.

Wie viele Patienten haben das Spray bisher verwendet?Sitte: Das sind bei uns im Schmerz- und PalliativZentrumFulda mittlerweile über 300 Palliativpatienten. NasalesFentanyl ist wegen der einfachen Applikation, der schnel-len und kurzen Wirkung den herkömmlichen Möglichkei-ten zur Symptomkontrolle zumindest ebenbürtig. Patien-ten und Angehörige können Durchbruchschmerz, Atemnotund auch Unruhe sofort effektiv selbst behandeln. Die Pa-tienten zeigen eine hervorragende Compliance und einhohes Mass an Zufriedenheit. Das Medikament ist sofortbei Symptombeginn einsetzbar, und die Anschlagzeit be-trägt unter zwei Minuten.

Wie stellen Sie die Indikation für das Spray?Sitte: Atemnot, Durchbruchschmerz und auch starke Un-ruhe am Lebensende sind unsere Hauptindikationen.Nach unserer Erfahrung gibt es insbesondere bei akuterAtemnot in der Palliation keine Möglichkeit der Sym ptom-kontrolle, die auch nur annähernd so gut ist wie beim na-salen Fentanyl. Schwere Atemnot mit Erstickungsangst istfür alle, die es erlebt haben, das mit Abstand bedroh-lichste Symptom beim Sterben. Atemnot ist auch der häu-figste Einweisungsgrund zur stationären Behandlung inder Sterbephase. Seit wir mit unserem Fentanylnasen-spray arbeiten, werden kaum noch Patienten in der Ster-bephase eingewiesen, sondern die allermeisten könnenihrem Wunsch gemäss zu Hause sterben. Im Jahr 2007 ver-starben 93 von unserem Zentrum mitbetreute Patienten,die das Nasenspray erhielten. Nur 3 von ihnen wurdenstationär eingewiesen, aber nicht aus medizinischenGründen, sondern ausschliesslich aus psychosozialen In-dikationen. Bei nicht palliativen Erkrankungen sind wir

sehr zurückhaltend mit Fentanylnasenspray, da es beimlangfristigen Gebrauch zu einer Suchtproblematik führenkönnte. Diese spielt in der Palliativsituation natürlichkeine Rolle, sodass es auch nicht onkologische Palliativ-patienten erhalten, sofern sie unter Erstickungsanfällenleiden. Intranasales Fentanyl ist übrigens auch eine her-vorragende Therapieoption zur schnellen Analgesie unterwidrigen Bedingungen, etwa im Rettungsdienst oder inEntwicklungsländern.

Wer hat Ihre Forschung finanziert?Sitte: Niemand. Sowohl die Idee als auch die Entwicklungdes Rezepturarzneimittels entstanden bei uns im Pallia-tivnetz Osthessen ohne finanzielle oder wissenschaftlicheUnterstützung durch Dritte. Da wir uns entschlossen hat-ten, keine Patente auf Idee und Technik einzureichen, wirdunsere Arbeit in der Verbreitung des Fentanylnasenspraysauch von keinem finanziellen Interesse getragen. Uns gehtes einzig um die bessere Versorgung unserer Patienten.Von unseren Homepages www.schmerzzentrumfulda.deund www.palliativnetz-osthessen.de können alle Angabenheruntergeladen werden, um das Spray für eigene Patien-ten herzustellen.

Was kostet die Herstellung des Medikaments?Sitte: Fentanylzitrat ist sehr preiswert und für Apothekenleicht über den Grosshandel zu beschaffen. Die Apothekeberechnet bei uns in Deutschland für 10 ml zwischen 13und 80 Euro, was einem Preis von 0,06 bis 0,40 Euro proHub entspricht. Fentanylnasenspray kann als Rezeptur -arzneimittel im Grunde von jedem Apotheker unkompli-ziert und preiswert hergestellt werden. Es muss aber da-rauf geachtet werden, dass die Dosiereinheit einenstandardisierten, nicht zu grossen, ausreichend genauenHub abgibt.

Es scheint, als ob die pharmazeutische Industrie das Fen-tanylnasenspray mittlerweile auch entdeckt hat und baldentsprechende Präparate auf den Markt bringen will, diemit Sicherheit viel teurer sein werden. Ärgert Sie das?Sitte: Nein, das ärgert mich nicht, im Gegenteil! Ich hoffevielmehr, dass dann noch mehr Patienten eine Chance aufdas Medikament bekommen. Es gibt nun einmal vieleÄrzte, die sich nicht die Mühe machen, es als Rezeptur -arzneimittel über eine Apotheke zu beschaffen. Da ist esdoch viel besser, wenn es das Spray einmal als Fertigarz-nei geben wird, die diese Kollegen wie andere Medika-mente auch verschreiben können.

Herr Sitte, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Weitere Informationen: www.schmerzzentrumfulda.dewww.palliativnetz-osthessen.de

17Schmerz

Page 13: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

18

ehr als 20 Prozent der Patienten, die am Herzenoperiert wurden, leiden unter persistierendenSchmerzen, berichtete Dr. Manon Choinière vom

Montreal Heart Institute. Sie stützt ihre Schätzung sowohlauf die Auswertung von Studiendaten Dritter als auch aufeigene Erfahrungen. So berichteten ihr 130 von 564 Pa-

tienten (23%) noch 21/2 Jahre nach derHerzoperation von persistierenden, nichtanginösen Schmerzen in der Thoraxre-gion. Leider gebe es bis anhin nur we-nige Studien, die den Risikofaktoren fürpersistierenden, postoperativen Schmerzbei diesen Patienten gewidmet sind,sagte Choinière. Es scheint jedoch so zusein, dass besonders starke, akuteSchmerzen in den ersten Tagen nach derOperation für eine eher schlechte Pro- gnose sprächen.

Doch das sei nur die halbe Geschichte, ergänzte Dr. ElonEisenberg von der Universität Haifa, denn der chronischepostoperative Schmerz würde sich bei vielen Patientenerst nach einer gewissen Verzögerung manifestie-ren. Zum Beispiel sei es bei seinen Patientinnennach Mastektomien häufig so, dass der unmittel-bare postoperative Schmerz erstaunlich gering sei

und sie kaum Analgetika nähmen.Bei der Nachuntersuchung einen,drei und sechs Monate später jedoch fänden sich bei vielen Pa-tientinnen teilweise erheblicheSchmerzen. Es kann nach einerNervenläsion also durchaus eineWeile dauern, bis der neuropathi-sche Schmerz zutage tritt, so Ei-senberg. Er glaube darum nicht,dass alles davon abhängt, was amzweiten oder dritten Tag nach der

Operation geschieht. Selbstverständlich muss mantrotzdem alles tun, um postoperative Schmerzen zulindern. Es sei aber nach wie vor fraglich, welche Ri-

sikofaktoren relevant seien und was genau zu tun sei, umpersistierende Schmerzen zu verhindern.Eine Antwort auf diese Frage könnte die noch laufendeStudie CARDPAIN unter der Leitung von Manon Choinièreund Professor Judy Watt-Watson von der Universität To-ronto geben. In dieser multizentrischen, prospektiven Stu-die wird die Schmerzgeschichte von 1250 Patienten nacheiner Herzoperation über zwei Jahre hinweg verfolgt. DieErgebnisse sollen 2009 publiziert werden. Vorläufige Aus-wertungen ergaben eine Rate von 42 und 24 Prozent chro-nischer Schmerzen drei beziehungsweise sechs Monatenach dem Eingriff.

OP-Technik spielt keine Rolle

Erstaunlicherweise hat die Operationstechnik so gut wiekeinen Einfluss auf das Risiko späterer chronischerSchmerzen, sagte Elon Eisenberg. So sei zwar für minimal -invasive Eingriffe belegt, dass der akute, nozizeptivepostoperative Schmerz in den ersten Tagen nach der Ope-ration geringer sei als bei der klassischen Chirurgie, fürdie spätere Entwicklung chronischer Schmerzen spielt die

Schmerz

Chronische Schmerzen nach Herzoperation

Persistierender postopera -tiver Schmerz ist häufig

Das Risiko persistierender Schmerzen ist nach Operationen in der Thoraxregion besonders

hoch. Nach einer Herzoperation leidet 1 von 5 Patienten noch ein halbes Jahr nach dem

Eingriff unter erheblichen chronischen Schmerzen.

M

Chronische postoperative Schmerzennach verschiedenen Eingriffen (Schätzung)

Inzidenz chronischer Inzidenz schwererSchmerzen chronischer Schmerzen*

Amputation 30–50% 5–10%

Mammakarzinom(brusterhaltend oder Mastektomie) 20–30% 5–10%

Thorakotomie 30–40% 10%

Leistenbruch 10% 2–4%

koronarer Bypass 30–50% 5–10%

Kaiserschnitt 10% 4%

*mehr als 5 von 10 Punkten auf der visuellen Analogskala (VAS);nach Kehlet H. et al., Lancet 2006; 367: 1618–1625.

Manon Choinière

Elon Eisenberg

Page 14: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

Grösse der Operationswunde jedoch offenbar keine Rolle.Entscheidender scheint vielmehr die Operationsregion zusein. Eingriffe am Thorax sind in dieser Hinsicht wesent-lich riskanter (siehe Tabelle). Selbst wenn «nur» eine Thorakoskopie durchgeführt wird, können solche persis-tierende Schmerzen die Folge sein.

Auch Brustoperationen sind riskant

Wie die Erfahrungen mit Mammakarzinompatientinnenzeigen, liegt die Rate schwerer persistierender Schmerzenbei Brustoperationen genauso hoch wie bei Eingriffen amHerzen. Judy Watt-Watson wies in diesem Zusammenhang

darauf hin, dass dies auch für Brustoperationen aus reinkosmetischen Gründen gelte. Angesichts der steigendenAnzahl von Frauen, die sich solchen Eingriffen unterzie-hen, um «schöner» zu werden, dürfte dieses Schmerzpro-blem künftig noch wachsen. Man müsse diese Frauen da-rum eindrücklich über das Risiko informieren, das sie miteiner im Grunde völlig überflüssigen Operation eingehen.

Renate Bonifer

Quelle:

Workshop TW39: Transition from acute to persistent pain after cardiacsurgery. IASP Congress Glasgow, 19. August 2008.

19Schmerz

Page 15: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

20

pioidbedingte Nebenwirkungen führen bei jedemdritten Patienten mit nicht tumorbedingtenSchmerzen zum Therapieabbruch (1). Die Obstipa-

tion ist besonders häufig und wurde in einer Umfrage un-ter 1000 nicht onkologischen Schmerzpatienten am häu-figsten als Nebenwirkung genannt (41%) (2). Eine

Befragung von Krankenschwestern aufonkologischen Stationen ergab, dass sogut wie alle Tumorpatienten, die Opiateoder Opioide zur Schmerzlinderung er-halten, obstipiert sind (95%) (3). DieseMedikamente entfalten ihre schmerzlin-dernde Wirkung über μ-Rezeptoren imzentralen und peripheren Nervensystem.Die Bindung von Opiaten oder Opioidenan μ-Rezeptoren im Darm führt zu einemerhöhten Tonus, einer gehemmten Moti-liät und verminderter Synthese gastro -intestinaler Sekrete. Neben der bereitsgenannten Obstipation sind darum eineReihe weiterer Störungen des Verdau-ungssystems die Folge wie Reflux, un-vollständige Resorption oraler Medika-mente, Blähungen, Abdominalkrämpfeoder Hämorrhoiden.Opiatrotation, parenterale Gabe oder Do-sisverringerung sind keine geeignetenMassnahmen, um die gastrointestinalenNebenwirkungen der Opiate und Opioidezu lindern. Alle Vertreter dieser Sub-

stanzklasse haben diese Nebenwirkungen, unabhängigdavon, ob sie oral oder parenteral appliziert werden, siekommen sogar bei intrathekaler Gabe zuweilen vor, sagteMads Werner. Überdies treten die gastrointestinalen Ne-benwirkungen bereits bei sehr niedrigen Dosierungen auf,fügte er hinzu. Laxanziengebrauch ist üblich, hat aber bei

opioidbedingter Obstipation nur begrenzten Erfolg; dieswurde in einer Cochrane-Analyse bestätigt (4).

Wirkmechanismus

Ein neuer Ansatz zur Linderung der Obstipation ist dieKombination eines μ-Rezeptoragonisten (Opioid) mit ei-nem μ-Rezeptorantagonisten (Naloxon) in einer Tablette.Professor Lars Arendt-Nielsen von der Universität Aalborgerläuterte die Idee hinter dieser, auf den ersten Blick pa-radox anmutenden Strategie: Ein parenteral gegebener μ-Rezeptorantagonist wie Naloxon hebt die Wirkung vonOpioiden überall im Körper auf, Nebenwirkungen glei-chermassen wie die gewünschte Wirkung der Schmerzlin-derung. Anders sieht es bei der oralen Applikation aus:Naloxon hat einen hohen First-pass-Effekt, das heisst erwird nach der Aufnahme durch den Darm während derPassage durch die Leber rasch und fast vollständig aus-geschieden, sodass kaum etwas davon noch systemischwirken könnte. Somit verdrängt Naloxon mit seiner we-sentlich höheren Affinität für μ-Rezeptoren zwar im Darmdas Opioid von den μ-Rezeptoren, was zu einer Verringe-rung der gastrointestinalen Nebenwirkungen führt, er-reicht aber aufgrund des hohen First-pass-Effekts die zen-tralen μ-Rezeptoren im Nervensystem nicht, sodass dieschmerzstillende Wirkung des Opioids nicht infrage ge-stellt wird. Voraussetzung ist, dass sowohl das Opioid wieauch das Naloxon zur gleichen Zeit im Darm vorhandensind.

Pilotversuche mit Naloxontropfen

Pilotversuche mit oralem Naloxon zur Linderung der opio-idbedingten Obstipation gab es bereits Anfang der Neun-zigerjahre (5). PD Dr. Winfried Meissner, Leiter derSchmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie und In-tensivtherapie am Universitätsklinikum Jena, berichtete inGlasgow von seiner Pilotstudie, die er vor acht Jahren mit

Schmerz

Neue Strategie gegen opioidbedingte ObstipationKombination von Opiatrezeptoragonist und -antagonist

Opiate und Opioide sind für die Behandlung vieler chronischer Schmerzpatienten unver-

zichtbar, haben aber eine Reihe von Nebenwirkungen, die die Lebensqualität erheblich be-

einträchtigen können. Zu den häufigsten gehört die Obstipation. An einem Satellitensympo-

sium der Firma Mundipharma International Ltd. wurde erläutert, wie die orale

Kombination eines Opiat rezeptoragonisten mit einem Opiatrezeptorantagonisten diese Ne-

benwirkung lindern kann und welche klinischen Erfahrungen bisher damit gemacht wurden.

O

Lars Arendt-Nielsen

Winfried Meissner

Page 16: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

22 Patienten durchführte (6): Die Patienten wurden zu-nächst von Tag 1 bis 6 beobachtet, Darmfunktion und La -xanziengebrauch dokumentiert. Dann erfolgte die Titra-tion mit Naloxontropfen von Tag 7 bis 10. Anschliessendblieb es bei der Naloxongabe bis Tag 16. Es zeigte sich,dass die Obstipation unter Naloxon zurückging und derLaxanziengebrauch sank.Eine Lösung des Problems war das aber noch nicht, denndas flüssige Naloxon hatte nur eine kurze Wirkdauer, undes sei mit den Tropfen bei einigen Patienten zu Bauch-krämpfen gekommen sowie zu Entzugsphänomenen nachdem Absetzen der Substanz, sagte Meissner.

Studien mit retardierter Fixkombination

Gute Erfahrungen hat Meissner mit einer oralen Fixkombi-nation gemacht, die retardiertes Oxycodon plus retardiertesNaloxon im Verhältnis 2:1 enthält. Winfried Meissner, MadsWerner und Lars Arendt-Nielsen stellten in Glasgow dop-pelblinde randomisierte Studien zu diesem Medikamentvor. Sie ergaben, dass das Kombinationspräparat mit denbeiden Substanzen in Retardform die Obstipation zu lin-dern vermag, ohne die analgetische Wirkung infrage zustellen.

Bessere Darmfunktion

In einer Studie wurden 202 Schmerzpatienten (5 davonmit tumorbedingten Schmerzen), die stabil mit Oxycodoneingestellt waren (40, 60 oder 80 mg/Tag), in vier Grup-pen randomisiert: Sie erhielten zusätzlich 10, 20 oder40 mg Naloxon oder Plazebo in einer kombinierten Tab-lette mit der jeweils individuell erforderlichen Oxycodon-dosis. Nach vier Wochen wurden Darmfunktion undSchmerzstatus überprüft. Die Schmerzlinderung war beiallen Naloxondosierungen gleich geblieben. Die Verbes-serung der Darmfunktion war abhängig von der Naloxon-dosis. Die Verträglichkeit des Kombinationsmedikamentswar mit derjenigen des Oxycodons als Monotherapie ver-gleichbar (7).

Keine Beeinträchtigung der Analgesie

In einer weiteren Studie wurde die Oxycodon-Naloxon-Kombination bei 463 Patienten mit chronischen Rücken-schmerzen bezüglich der Schmerzlinderung versus Pla-zebo sowie versus Oxycodonmonotherapie getestet (8).Die Patienten wurden in den ersten sechs Wochen auf 15bis 45 mg Oxycodon pro Tag eingestellt und anschlies-send für zwölf Wochen randomisiert drei Studienarmenzugeteilt: 15 bis 40 mg Oxycodon pro Tag, Oxycodon-Na-loxon-Kombination (20–40 mg Oxycodon pro Tag) oderPlazebo. Alle Patienten durften als Notfallmedikation Oxy-codon in der nicht retardierten Form einnehmen. End-punkt der Studie war die Zeit bis zum Wiederauftreten vonSchmerzereignissen, das heisst inakzeptabler Schmerz anzwei aufeinanderfolgenden Tagen oder Therapieabbruch

mangels Wirksamkeit. Inakzeptabler Schmerz war folgen-dermassen definiert: Schmerzintensität ≥ 5 auf der visu-ellen Analogskala (0 = kein Schmerz; 10 = grösster vor-stellbarer Schmerz) oder Schmerzintensität ≥ 5 mitNotfallmedikation (nicht retardiertes Oxycodon) zweimalpro Tag. Die Dauer bis zum Wiederauf-treten von Schmerzereignissen war mitOxycodon länger als unter Plazebo. Auchdie Anzahl der Schmerzereignisse warbis zum Ende der Studie mit dem Opioidgeringer. Dabei spielte es keine Rolle, obdas Opioid mit Naloxon kombiniertwurde oder nicht. Der Verlauf war für dasKombinations- und das Monopräparatidentisch, die analgetische Wirkung alsonicht beeinträchtigt.Zur Anwendung des Oxycodon-Naloxon-Kombinations präparats bei Tumorpatienten und zur Phar-makokinetik bei älteren Personen gab es am Kongress inGlasgow zwei Poster (Infokasten).

Relevanz für die Praxis

«Diese neue Generation prokinetischer Medikamente mitperipherer opioidantagonistischer Wirkung könnte unse-ren Patienten eine wirksamere Lösung der opioidindu-zierten Darmprobleme bieten als konventionelle Thera-pien mit Laxanzien», kommentierte Mads Werner. «DiePatienten sind zufrieden», berichtete Winfried Meissneraus seiner klinischen Erfahrung mit dem neuen Medika-

21Schmerz

Mads Werner

Poster:Retardierte Oxycodon-Naloxon-Kombination bei Tumor-patientenIn einer offenen vierwöchigen Beobachtungsstudie erhielten allePatienten zweimal täglich eine Oxycodon-Naloxon-Tablette. Eshandelte sich um 1178 Tumorpatienten in weit fortgeschrittenenStadien. 70 Prozent der Patienten erhielten 2 x 10/5 mg, 20 Pro-zent 20/10 mg und 10 Prozent unterschiedliche Dosie rungen. Inder Woche 1, 2 und 4 wurden Schmerzstatus, Darmfunktion undLebensqualität mithilfe numerischer Skalen und Fragebogen er-fasst. Die mittlere Schmerzintensität sank in den vier Wochenvon 5,5 auf 3,0 (gemäss visueller Analogskala von 0 = keinSchmerz bis 10 = grösster vorstellbarer Schmerz). Die Darm-funktion wurde als Indexzahl von 0 bis 100 ausgedrückt (0 =keine Probleme; 100 = grosse Probleme); es handelte sich umden Mittelwert aus drei Fragen nach Stuhlgang, Gefühl derDarmentleerung und persönlicher Einschätzung der Obstipationin den letzten sieben Tagen. Dieser Index sank um gut die Hälftevon 35,8 auf 15,1. Auch die Fragen nach der Lebensqualität wur-den nach den vier Wochen positiver beantwortet als zu Beginn.Die Einschätzung des Nutzens war bei Ärzten/Pflegenden ge-nauso positiv wie bei den Patienten. Eine Plazebokontrolle gabes in dieser Studie nicht.PH 066: Nolte T., Schmidt T.: Prolonged-release oxycodone/na-loxone is effective and safe in cancer pain.

Page 17: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

22

ment. Mittelschwere bis schwere Leberfunktionsstörun-gen sind Kontraindikationen. Da entsprechende Missver-ständnisse offenbar durchaus auch einmal vorkommen,wies Meissner ausdrücklich darauf hin, dass man damitselbstverständlich ausschliesslich die opioidbedingteObstipation lindern könne, nicht aber Obstipation auf-grund anderer Ursachen.Theoretisch wären die gleichen Effekte auch mit Kombi-nationspräparaten aus retardiertem oralen Naloxon mitanderen Opioiden denkbar. Ob sich diese bereits in Ent-wicklung befinden, blieb in Glasgow offen. Sie würde sichdies für die Zukunft wünschen, sagte eine Kongressteil-nehmerin in der Diskussionsrunde des Satellitensymposi-ums, damit man künftig in der Wahl des Opioids frei seinund trotzdem die positiven Effekte des Naloxons zur Lin-derung der opioidbedingten Obstipation nutzen könnte.

Renate Bonifer

Quellen:

Pressekonferenz von Mundipharma International Limited und Satelli-tensymposium «Advancing the Field in Pain Medicine – integrating agonists and antagonists» mit den Sponsoren Mundipharma/Napp Independent Associated companies am IASP-Kongress in Glasgow,19. August 2008.

Literatur:

1. Furlan A.D. et al.: Opioids for chronic noncancer pain: a meta-analy-sis of effectiveness and side effects. CMAJ 2006; 174 (11): 1589–1594.

2. Kalso E. et al.: Opioids in chronic non-cancer pain: systematic reviewof efficacy and safety. Pain 2004; 112 (3): 372–380.

3. Robinson C.B. et al.: Development of a protocol to prevent opioid-in-duced constipation in patients with cancer: a research utilization pro-ject. Clin J Oncol Nurs 2000; 4 (2): 79–84.

4. Miles C.L. et al.: Laxatives for the management of constipation in pal-liative care patients. Cochrane Database Syst Rev 2006; 4. DOI:10.1002/14651858.CD003448.pub2.

5. Sykes N.P.: Oral naloxone in opioid-associated constipation. Lancet1991; 337: 1475.

6. Meissner W. et al.: Oral naloxone reverses opioid-associated consti-pation. Pain 2000; 84 (1): 105–109.

7. Meissner W. et al.: A randomised controlled trial with prolonged-re-lease oral oxycodone and naloxone to prevent and reverse opioid-indu-ced constipation. Eur J Pain 2008, DOI: 10.1016/j.ejpain.2008.06.012.

8. Vondrackova D. et al.: Analgesic Efficacy and Safety of Oxycodone inCombination With Naloxone as Prolonged Release Tablets in PatientsWith Moderate to Severe Chronic Pain. J Pain 2008, DOI:10.1016/j.jpain.2008.06.014.

Interessenlage:

Die Berichterstattung wurde von Mundipharma Medical Company, Ha-milton/Bermuda, Zweigniederlassung Basel, finanziell unterstützt. Aufden Text hatte die Firma keinen Einfluss; Dr. med. Christa Brenig erhieltfür das Interview kein Honorar.

Schmerz

«Schmerz und Nebenwirkungen könnensich im Lauf der Zeit verändern»

Interview mit Dr. med. Christa Brenig, Leitende Ärztin fürAnästhesie und Schmerztherapie am KantonsspitalSchaffhausen

Frau Dr. Brenig, noch vor zehn Jah-ren hörte man oft, dass die Akzep-tanz der Opiattherapie sehrschlecht sei und viele Patienten darum keine adäquate Therapie erhielten. Hat sich das inzwischenverändert?Dr. med. Christa Brenig: Ich denkeja. Viele Hausärzte scheuen sich nichtmehr, den Betäubungsmittelblock indie Hand zu nehmen und Opiate zu ver-schreiben. Das ist einerseits richtig,birgt andererseits aber auch Gefahren,wie beispielsweise die Entwicklung ei-

ner Hyperalgesie. Wenn Schmerzen trotz Opiaten nicht gelindertwerden, bringt es nichts, die Dosis immer weiter zu erhöhen.Spätestens dann muss man Rat bei einem Schmerztherapeutensuchen. Es ist sehr wichtig, dass der Patient ein Schmerztage-buch führt, in welchem er auch die Nebenwirkungen notiert, undder Arzt bei jeder Kontrolle nachfragt: Fühlt sich der Patient mitder Medikation wohl oder nicht? Wie ist die Vigilanz? Wie klapptes mit der Verdauung?

Wie lange dauert die Dosiseinstellung bei Opioiden?Brenig: Das ist sehr individuell, es kommt auf den Schmerz an.In meiner Schmerzsprechstunde bestelle ich die Patienten zuBeginn in der Regel wöchentlich ein. Man braucht sicher zwei bisdrei Wochen, bis klar wird, wo man steht und welche Dosis esbraucht. Man muss aber, wie gesagt, immer daran denken, dasssich der Schmerz und die Nebenwirkungen im Lauf der Zeit ver-ändern können und den Verlauf aufmerksam verfolgen.

Welche Nebenwirkung ist nach Ihrer Erfahrung am häu-figsten der Grund für einen Therapieabbruch?Brenig: Das sind Schwindel, Müdigkeit, Übelkeit und Obstipa-tion. Während wir Schwindel und Müdigkeit kaum beeinflussenkönnen, gibt es Medikamente, die gegen die Übelkeit helfen. DieObstipation versucht man mehr oder weniger erfolgreich mit-hilfe von Laxanzien zu lindern.

Wie schätzen Sie den potenziellen Nutzen der oralenOpioid-Naloxon-Kombination ein, die hier am Kongressvorgestellt wurde?Brenig: Dieses Medikament ist in der Schweiz noch nicht zuge-lassen, und ich habe damit noch keine Erfahrung. Ich fand essehr interessant zu erfahren, dass Naloxon enteral gegeben di-rekt an den Opioidrezeptoren im Darm wirkt, dann resorbiertwird und durch den hohen First-pass-Effekt in der Leber kaumsystemische Wirkungen entfalten kann. Das bedeutet, dass mansich den opioidantagonistischen Effekt des Naloxons hinsichtlichder gastrointestinalen Nebenwirkungen von Opioiden zunutzemachen kann, ohne die Schmerzlinderung zu gefährden. Inso-fern ist diese Kombination eine interessante Entwicklung und fürden Patienten sicher eine Erleicherung, denn dadurch hätte ereine Nebenwirkung weniger.

Christa Brenig

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SONDERREPORT

bhängig von Tumorart und Stadium der Erkrankungleiden 70 bis 90 Prozent der Patienten unter teilssehr schweren und unterschiedlichen Schmerzen,

sagte Dr. John Zeppetella, Medizinischer Direktor am bri-tischen St.-Clare-Hospiz Hastingwood: «Tumorschmerzensind häufig, komplex, heterogen und eine Herausforde-rung.» So zählten Palliativmediziner in der Onkologie an-lässlich einer IASP-Studie (1) nicht weniger als 22 ver-schiedene Schmerzsyndrome, die bei ihren Patientenbesonders häufig vorkamen. Fast die Hälfte der Patienten(45%) hatte gemischte Schmerzen, 8 Prozent wurden indieser Studie als neuropathische, 15 Prozent als viszeraleund 32 Prozent als somatische Schmerzen klassifiziert.

Durchbruchschmerzen sind häufig

In der IASP-Studie berichteten zwei Drittel der Patientenüber Durchbruchschmerzen (64,8%), wobei dieser Pro-zentsatz in den 24 Ländern, die an dieser Erhebung be-teiligt waren, grosse Unterschiede aufwies. Dies sei aufunterschiedliche Definitionen des Begriffs Durchbruch-schmerz zurückzuführen, erläuterte John Zeppetella. Sowird einerseits auch der sogenannte «end of dose pain»zu den Durchbruchschmerzen gezählt, obgleich er imGrunde genommen eine mangelnde Basisanalgesie mit zulangen Dosierungsintervallen widerspiegelt. Andererseitszählten manche Autoren vorhersehbare Schmerzereig-nisse, etwa bei bestimmten Bewegungen oder beim Umlagern, nicht als Durchbruchschmerz, obwohl es sich indieser Situation ganz klar um einen solchen handelt. FürJohn Zeppetella ist folgende Definition praktikabel undsinnvoll: «Durchbruchschmerz ist eine transiente Schmerz -exazerbation, die trotz eines relativ stabilen und adäquatkontrollierten Hintergrundschmerzes auftreten kann, ent-weder spontan oder im Zusammenhang mit spezifischen,vorhersehbaren oder unvorhersehbaren Triggern.» Durchbruchschmerzen erreichen schnell, im Mittel bereitsinnert drei Minuten, ihre maximale Intensität (2). Sie dau-ern in der Regel etwa eine halbe Stunde (3) und kommenbei den meisten Patienten etwa viermal pro Tag vor (4).

Sie sind nicht von der Dosis der Basisanalgesie abhängig,sondern können auf jedem Niveau auftreten.In der Praxis würden Durchbruchschmerzen leider nichtimmer erkannt, sagte Dr. Andrew Davies, Abteilung für Pal-liativmedizin am Royal Marsden Hospitalin Sutton, England. Darum müsse manden Patienten regelmässig danach fra-gen: Hat er Durchbruchschmerzen? Wieoft? Ist die Medikation ausreichend? Esgibt für diesen Zweck zwar spezielle Fra-gebogen, doch komme es auf deren Ge-brauch im Grund nicht an, meinte Da-vies: «Egal wie Sie Ihren Patientenfragen, Hauptsache Sie fragen überhauptdanach!»

Medikamentöse Schmerzreserve

Opioide sind die Schmerzreserve (rescue medication) ers-ter Wahl, und sie müssen individuell titriert werden, er-läuterte Andrew Davies. Doch auch nicht opioide Analge-tika könnten im Einzelfall hilfreich sein, ebenso nichtpharmakologische Massnahmen wie Wärme/Kälte oderMassage, ergänzte der englische Palliativmediziner. Einideales Medikament gegen Durchbruch-schmerzen sollte ein starkes Analgeti-kum sein, das leicht zu applizieren ist. Essollte einen möglichst schnellen Wir-kungseintritt haben, aber nur eine rela-tiv kurze Wirkdauer, um nach demSchmerzschub keine Überdosierungs-phänomene zu provozieren.Entgegen der noch weitverbreitetenLehr buchmeinung müsse man für Basis -analgesie und Schmerzreserve nicht un-bedingt die gleiche Substanz nehmen,betonte John Zeppetella. In der Praxis handeln vieleSchmerztherapeuten offenbar bereits seit vielen Jahren indiesem Sinn, denn gemäss einer neun Jahre alten Studie(2) so Zeppetella, wurde Morphin zwar am weitaus häu-

23Schmerz

Schmerztherapie in der Onkologie

Was hilft gegen Durchbruch-schmerzen?

Selbst wenn es gelingt, chronische Tumorschmerzen adäquat medikamentös zu kontrollieren,

bleiben Durchbruchschmerzen ein Problem. Fentanyl in unterschiedlichen Darreichungsformen

scheint für das Abfangen dieser Schmerzspitzen besser geeignet zu sein als andere Opioide.

A

John Zeppetella

Andrew Davies

Page 19: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

24

figsten für die Basisanalgesie verwendet, bei Durchbruch-schmerzen griffen jedoch fast die Hälfte der Patienten zuanderen Substanzen wie Hydromorphon, Oxycodon, Hy-dro codon oder Codein.Bei vielen der zurzeit bei Durchbruchschmerzen verwen-deten Substanzen dauert es relativ lange, bis die Wirkungeinsetzt (Tabelle). John Zeppetella berichtete von einer ei-genen Pilotstudie, in welcher Tumorpatienten nach ihrenErfahrungen mit ihrer individuellen Schmerzreserve be-fragt wurden (5). Die Patienten hatten meist mehrere For-men von Durchbruchschmerzen und litten im Durchschnittviermal pro Tag darunter (1- bis 8-mal). Die mittlere Dauerder Schmerzen betrug 35 Minuten (15–60 Minuten), dieSchmerzen setzten in der Regel plötzlich und unvorher-sehbar ein. Die Patienten verwendeten folgende Substan-zen: Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, Methadon oderorales, transmukosales Fentanylzitrat. Die durchschnittli-che Dauer bis zu einer relevanten Schmerzlinderung lagbei Morphin, Oxycodon, Hydromorphon und Methadonüber 30 Minuten, bei der Fentanyllutschtablette jedochunter 20 Minuten. Angesichts dieses Resultats frage mansich, so Zeppetella, ob orale Morphine überhaupt gegenDurchbruchschmerzen wirkten, da deren Wirkung imGrunde genommen erst dann eintrete, wenn ein Durch-bruchschmerz typischerweise von selbst wieder abklingt,nämlich nach etwa einer halben Stunde.Fentanyl sei bei Durchbruchschmerz aufgrund seines ra-schen Wirkungseintritts und der relativ kurzen Wirkdauerbesser geeignet, sagte Zeppetella. Die bereits erwähnteFentanyllutschtablette kommt jedoch für viele Patientennicht infrage, beispielsweise bei trockenem Mund oderMukositis. Man kann jedoch davon ausgehen, dass in ab-sehbarer Zeit verschiedene neue Fentanylpräparate zurLinderung von Durchbruchschmerzen auf den Markt kom-men werden. In den Vereinigten Staaten bereits zugelas-sen ist eine Fentanylbuccaltablette; Fentanylnasenspray,sublinguales Fentanyl sowie Fentanylaerosol befinden

sich in Zulassungsverfahren für die USA und Europa, be-richtete Zeppetella. Auch neue transdermale, iontophore-tisch oder hitzeaktivierte Applikationssysteme würdenzurzeit für die Behandlung von Durchbruchschmerzen ent-wickelt.

Renate Bonifer

Quelle:

Satellitensymposium «Challenges in Treating Cancer Pain», SponsorNycomed, am IASP-Kongress in Glasgow, 21. August 2008.

Literatur:

1. Caraceni A. et al.: An international survey of cancer pain characteris-tics and syndromes. Pain 1999; 82 (3): 263–274.

2. Portenoy R.K. et al.: Breakthrough pain characteristics and impact inpatients with cancer pain. Pain 1999; 81 (1–2): 129–134.

3. Gomez-Batiste X. et al.: Breakthrough cancer pain: prevalence andcharacteristics in patients in Catalonia, Spain. J Pain Symptom Manage2002; 24 (1): 45–52.

4. Portenoy R.K. et al.: Breakthrough pain: definition, prevalence andcharacteristics. Pain 1990; 41 (3): 273–281.

5. Zeppetella G.: Opioids for cancer breakthrough pain: a pilot study re-porting patient assessment of time to meaningful pain relief. J PainSymptom Manage 2008; 35 (5): 563–567.

6. Bennett D. et al.: Consensus panel recommendations for the as-sessment and management of breakthrough pain: part 2 management.P&T 2005; 30: 354–361.

Interessenlage:

Die Berichterstattung wurde von Nycomed finanziell unterstützt. Aufden Text hatte die Firma keinen Einfluss.

Schmerz

Tabelle: Opioide zur Behandlung von Durchbruchschmerzen (6)

Opioid Dauer bis Wirkdauer Vorteile NachteileWirkungseintritt

Morphin oral 30–40 Minuten 4 Stunden in mehreren Formen langsamer Wirkungs-verfügbar eintritt

Oxycodon oral 30 Minuten 4 Stunden wie bei Morphin wie bei Morphin

Hydromorphon 30 Minuten 4 Stunden – keine flüssige Form verfüg-oral bar, langsamer Wirkungs-

eintritt

Methadon oral 10–15 Minuten 4–6 Stunden schnellerer Wirkungs- komplexe Pharmakologieeintritt als o.g. Opioide und Pharmakokinetikin einer kleinen Studie

Fentanyl trans- 5–10 Minuten 1–2 Stunden schnellster erfordert permanente mukosal Wirkungseintritt Kooperation des Patienten

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SONDERREPORT

emäss einer europäischen Umfrage bei über 46 000Patienten mit chronischen Schmerzen, leiden jenach Land zwischen 12 und 30 Prozent an mittel-

gradigen bis schweren Schmerzen (1), und dies häufigschon seit vielen Jahren. So gaben bei einer ausführlichenBefragung 21 Prozent der 4839 interviewten Patienten an,schon mehr als 20 Jahre unter ihren Schmerzen zu leiden.Es zeigte sich auch, dass die Schmerzen einen starkenEinfluss auf Faktoren wie Schlaf, tägliche Aktivitäten undsoziale Kontakte haben und damit die Lebensqualitätdeutlich beeinträchtigen. Trotz der vielen Fortschritte, diein den letzten Jahren in der Schmerzbehandlung gemachtwurden, ist die Situation für viele Patienten nach wie vorunbefriedigend.

Ungelöste Probleme in der Schmerztherapie

Zum einen ist der Behandlungserfolg bei gemischten undneuropathischen Schmerzen nach wie vor unbefriedigend,zum anderen gehören Toleranz und Hyperalgesie zu denungelösten Problemen in der Schmerztherapie. Toleranzund Hyperalgesie können eine anhaltende Schmerzlinde-rung vereiteln, und sie führen zudem häufig zu einer Er-höhung der Dosis, wodurch das Auftreten von Nebenwir-kungen noch gefördert wird. Nicht zuletzt stellen eineschlechte Compliance und Therapieabbrüche aufgrundvon Nebenwirkungen wie zum Beispiel Obstipation, Übel-keit und Erbrechen beim Einsatz von Opioiden eine grosseHerausforderung dar.

Den Bedürfnissen besser gerecht werden

Am 12. IASP World Congress on Pain in Glasgow wurdenmehrere neue Ansätze vorgestellt, die zur Lösung der be-stehenden Probleme beitragen sollen. Dazu gehören Kom-binationen aus Substanzen mit unterschiedlichen Eigen-schaften wie zum Beispiel die Kombination aus einem

Opioid mit dem Alpha-2-Adrenozeptor-Agonisten Clonidin.Dies soll zur Lösung der Problematik der Toleranz und Hyperalgesie beitragen. Die Kombination aus dem μ-Re-zeptorangonisten Oxycodon und demμ-Rezeptorantagonisten Naloxon setztam Nebenwirkungsaspekt an. Studienzeigten für die Kombination in einer For-mulierung mit anhaltender Wirkstofffrei-setzung eine erhaltene Analgesie bei einer Verbesserung der Magen-Darm-Tätigkeit (2, 3).Der zweite neue Ansatz zur besseren Er-füllung der Patientenbedürfnisse bein-haltet die Entwicklung neuer Substan-zen, deren spezifische Eigenschaftengleichzeitig zur Lösung mehrerer Probleme beitragen. Zudieser Gruppe gehört Tapentadol, eine Substanz, die sowohl als μ-Rezeptoragonist wie auch als Noradrenalin-(NA-)Wie der auf nahmehemmer wirkt. Die NA-Wiederauf-nahmehemmung soll für ein geringeres Toleranzentwick-lungspotenzial wie auch ein geringeres Ausmass anopioidtypischen Nebenwirkungen sorgen. Der Effekt aufdie Nebenwirkung wird durch eine moderate μ-Rezeptor -affinität noch weiter verstärkt. Im Tiermodell konnte fürTapentadol eine Wirksamkeit bei nozizeptiven und neuro-pathischen Schmerzen belegt werden (4). In einer rando-misierten, kontrollierten Studie zeigte Tapentadol im Ver-gleich zu Oxycodon eine signifikant tiefere Rate anÜbelkeit, Erbrechen und Obstipation (5). Dies beeinflussteauch die Therapietreue positiv, konnte doch eine gerin-gere Rate an Therapieabbrüchen aufgrund von Nebenwir-kungen festgestellt werden. «In Anbetracht dieser vielver-sprechenden Daten kann ich es kaum erwarten, dieResultate der laufenden Phase-III-Studie zu Tapentadolbei neuropathischen Schmerzen zu sehen», sagte Profes-sor Hans G. Kress von der Medizinischen Universität Wien.Die neuen Ansätze lassen darauf hoffen, dass mit der Ver-

25Schmerz

Unerfüllte Patientenbedürfnisse bei chronischen Schmerzen

Analgesie verbessern undNebenwirkungen reduzieren

Das Bedürfnis von Patienten mit chronischen Schmerzen nach einer lang anhaltenden und ne-

benwirkungsarmen Analgesie bleibt in vielen Fällen unerfüllt. Neue medikamentöse Ansätze

sollen dazu beitragen, dies in Zukunft zu verbessern. Dazu gehört unter anderem die Substanz

Tapentadol, ein µ-Rezeptoragonist und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, der zurzeit in

klinischen Studien untersucht wird.

G

Hans G. Kress

Page 21: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

26

fügbarkeit von Substanzen wie Tapentadol die Bedürf-nisse der Patienten mit chronischen Schmerzen in Zukunftbesser erfüllt werden können und sich ihre Lebensquali-tät verbessert beziehungsweise erhalten bleibt.

Therese Schwender

Quellen:

Posterpräsentationen am IASP-Kongress in Glasgow sowie Satelliten-symposium «Pain and patients – are we meeting their needs?», Spon-sor Grünenthal GmbH Aachen, 20. August 2008.

Literatur:

1. Breivik H. et al.: Survey of chronic pain in Europe: prevalence, impacton daily life, and treatment. Eur J Pain 2006; 10: 287–333.

2. Simpson K.H. et al.: Analgesic efficacy of oxcodon in combinationwith naloxone as prolonged release (PR) tablets in patients with mo-

derate to severe chronic pain. IASP Congress on Pain, Glasgow 2008;Abstract 2322.

3. Müller-Lissner S. et al.: Improved bowel function with a combinationof Oxycodon and Naloxone as prolonged release tablets in patientswith moderate to severe chronic pain. IASP Congress on Pain, Glagow2008; Abstract 2297.

4. Tzschentke T.M. et al.: (-)-(1R,2R)-3-(3-dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)-phenol hydrochloride (tapentadol HCl): a novel mu-opioid receptor agonist/norepinephrine reuptake inhibitor with broad-spectrum analgesic properties. J Pharmacol Exp Ther 2007; 323:265–276.

5. Oh C. et al.: Flexible use of tapentadol immediate release for 90 daysfor the treatment of low back pain and osteoarthritis pain: a safetystudy. Ann Rheum Dis 2008; 67(Suppl II): 389.

Interessenlage:

Die Berichterstattung wurde von Grünenthal finanziell unterstützt. Aufden Text hatte die Firma keinen Einfluss.

Schmerz

rs Medici: Herr Professor Soja, warum braucht esein Buch über Schlaf und Schmerz?Professor Peter J. Soja: Jeder weiss zwar, dass

Schmerzen zu schlechtem Schlaf führen und umgekehrtschlechter Schlaf die Schmerzempfindlichkeit steigert,aber in der Tat hat bisher noch niemand so ganz genauverstanden, warum das so ist. Soweit wir wissen, ist un-ser Buch der erste Versuch, den aktuellen Stand des Wis-sens zu diesem Thema zusammenzufassen.

Welchen Einfluss haben Medikamente?Dr. Manon Choinière: Es ist bekannt, dass Schmerzmittelden Schlaf beeinflussen. Sie können einem Patienten den

Schmerz nehmen, dabei gleichzeitig aber auch Schlafstö-rungen bewirken. Auch darf man nicht vergessen, dass dieSchläfrigkeit, die eine Nebenwirkung vieler Analgetika ist,keineswegs heisst, dass der Patient gut schlafen kannund erfrischt aufwachen wird.Soja: Weitverbreitete Schlafmittel, wie die Benzodiaze-pine, binden an bestimmte Rezeptorsubtypen im Gehirnund Rückenmark, und könnten dadurch die Schmerzver-arbeitung beeinflussen. Wir wissen aber noch nicht ge-nau, was das für das Schmerzempfinden bedeutet.

Gibt es spezielle therapeutische Ansätze für Patientenmit chronischen Schmerzen und Schlafstörungen?Soja: Wir sehen erst die Spitze des Eisbergs. Es werdenzurzeit in beiden Feldern, sowohl in der Schmerz- als auchin der Schlafforschung eine Menge Phänomene beschrie-ben. Wir versuchen hier Verbindungen zu schaffen und herauszufinden, welche Ursache-Wirkungs-Beziehungenzwischen den beiden biologischenProzessen Schmerz und Schlaf be-stehen. Leider gibt es hier noch beiWeitem mehr Fragen als Antworten.

Sleep and Pain. In englischer Sprache; vonLavigne G, Sessle BJ, Choinière M, Soja PJ(Hrsg.); 474 Seiten, ISBN 0-931092-62-0;IASP® Press 2007; US $ 80.– (für IASP-Mit-glieder US $ 60.–); zu beziehen überwww.iasp-pain.org

Schlaf und SchmerzEin vierköpfiges Herausgeberteam hat im Auftrag der International Association of Pain

ein Buch zum Thema Schlaf und Schmerz gestaltet. Wir sprachen mit Professor Peter J.

Soja und Dr. Manon Choinière während einer Signierstunde am Kongress in Glasgow.

Die Herausgeber des Buchs «Sleep and Pain» am IASP-Stand in Glasgow:Manon Choinière, Peter J. Soja, Barry J. Sessle und Gilles Lavigne (v.l.)

A

Page 22: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

Screening tools» für neuropathische Schmerzen gibtes mittlerweile reichlich, und gemäss einer syste-

matischen Evaluation der verschiedenen Methoden (2) er-reiche man mit allen eine bessere Treffsicherheit bei derDiagnose von bis zu 80 Prozent, sagte Professor MichaelI. Bennett von der Universität Lancaster. Die meistenScreening-Fragebögen bestehen aus einer Liste der typi-schen Symptome neuropathischer Schmerzen, einige ent-halten zusätzlich klinische Untersuchungen. In jedem Fallsteht am Ende ein Punktwert, der Auskunft darüber gibt,wie wahrscheinlich es ist, dass der Patient (auch) neuro-pathische Schmerzen hat. Viele Schmerzpatienten leidenunter gemischten Schmerzenformen mit nozizeptiven,neuropathischen und psychosomatischen Komponenten.

Wie häufig sind neuropathische Schmerzen?

Bennett schätzt den Anteil der Bevölkerung mit neuropathi-schen Schmerzen auf 7 bis 8 Prozent. Doch es waren amKongress auch kritische Stimmen zu hören, die vor einerÜberdiagnose neuropathischer Schmerzen warnen: «Bei al-lem Fortschritt, den wir in den letzten zehn Jahren gemachthaben, habe ich den Eindruck, dass neuropathische Schmer-zen überdiagnostiziert werden», sagte beispielsweise einerder Zuhörer während der Diskussionsrunde. Nicht zuletztaufgrund neuer Medikamente werde den neuropathischenSchmerzen zurzeit vermehrte Aufmerksamkeit von denSchmerzforschern wie Schmerztherapeuten zuteil, was sichauch darin zeige, dass gut ein Viertel aller Vorträge und Pos-ter am diesjährigen IASP-Kongress diesem Thema gewidmetwaren. Das erfülle ihn mit Sorge, denn er sehe viele Pa-tienten, die mit der Diagnose «neuropathischer Schmerz» zuihm kämen, seiner Ansicht nach aber überhaupt keine neu-ropathischen Schmerzen hätten.Er wisse nicht, ob neuropathische Schmerzen überdia -gnostiziert würden, entgegnete Bennett, möglichweiseseien die Screening-Fragebögen aber auch ein zwei-schneidiges Schwert. Professor Ralf Baron von der Uni-versität Kiel sagte, dass neuropathische Schmerzen nach

seiner Erfahrung eher noch unterdiagnostiziert würden. Ersehe viele Schmerzpatienten mit einer klar nachweisbarenneuropathischen Komponente, die ohne entsprechendeDiagnose zu ihm kämen und darum auch nicht entspre-chend behandelt würden.

Neuropathische Schmerzen haben viele Ursachen

«Ursache neuropathischer Schmerzen sind Nervenläsionenunterschiedlicher Ursache, doch die Symptome erlaubenkeine Zuordnung der Ätiologie beziehungsweise Art derNervenschädigung», sagte Dr. Nadine Attal vom Hôpital Am-broise Pare in Boulogne-Billancourt, Frankreich. Zumal mitt-lerweile Medikamente mit der Indikation für neuropathi-sche Schmerzen auf dem Markt sind, seies umso wichtiger, mithilfe strukturierterUntersuchungen, die Schmerzqualitätmöglichst differenziert zu analysieren, soAttal. Diesem Zweck dienen Fragebögen,die als «assessment tools» definiert sind.Ziel sei es letztlich, potenzielle Responderfür bestimmte Therapien identifizieren zukönnen. Von diesem Ziel scheint man je-doch noch recht weit entfernt.So berichtet die französische Schmerz-forscherin von den Erfahrungen mit demNPS (Neuropathic Pain Scale) in zehn randomisierten kli-nischen Studien. Zwar fand sich, dass der NPS-Wert Än-derungen sensitiv abzubilden vermag, er war aber der ein-fachen Messung der Gesamtschmerzintensität nichtüberlegen. Nur manche seiner Unterpunkte, wie der Tie-fenschmerz oder der oberflächliche Schmerz, ergaben zu-weilen unterschiedliche Profile bezüglich des Ansprechensauf Gabapentin (3) oder Oxycodon (4). Mit einem anderenFragebogen, dem NPSI (Neuropathic Pain Symptom In-ventory), gelang es vor Kurzem in einer Studie mit Botu-linumtoxin nachzuweisen, dass die Behandlung gewissepositive Effekte bezüglich brennender, paroxysmaler undprovozierter Schmerzen (evoked pain) hatte, nicht jedoch

27Schmerz

Fragebögen, Tests und Erfahrung

Diagnose neuropathischerSchmerzen

In einer Umfrage gaben zwei Drittel der Hausärzte und immerhin noch ein Drittel der Neuro-

logen zu, dass sie die Diagnose dieser Schmerzen sehr schwierig fänden (1). Kein Wunder also,

dass man versucht, das diagnostische Problem mithilfe von Fragebögen und strukturierten Un-

tersuchungen in den Griff zu bekommen.

«

Ralf Baron

Page 23: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

28

auf Tiefenschmerz und Parästhesien (5). Nadine Attalhofft, dass die Kombination von Fragebögen und quanti-tativen sensorischen Tests (QST) aussagekräftiger seinkönnte.

QST: quantitative sensorische Testung

Was es mit dem Begriff QST auf sich hat, erläuterte RalfBaron. Der Kieler Schmerzmediziner ist einer der beidenSprecher des Deutschen Forschungsverbunds Neuropathi-scher Schmerz (DFNS), in dessen Rahmen ein umfangrei-ches Projekt zur quantitativen und qualitativen Erfassungneuropathischer Schmerzen läuft. Ziel ist eine neue Klas-sifizierung neuropathischer Schmerzen anhand bestimm-ter somatosensorischer Profile. Die standardisierte QST-Testbatterie des DFNS besteht aus 7 Tests mit insgesamt13 Parametern (6). Mithilfe eines gesunden Probandenkol -lektivs wurden für jeden Test standardisierte Normwerte

ermittelt. Die Messwerte der Patienten liegen je nachSchmerzart mehr oder weniger darunter oder darüber, so-dass sich «Schmerzprofile» ergeben (Abbildung). Man hat10 Cluster sehr ähnlicher Profile gefunden, die bei unter-schiedlichen Schmerzsyndromen unterschiedlich häufigvorkommen. So ist das Cluster 2 mit 22 Prozent beson-ders häufig bei Patienten mit zentralen Schmerzen, dasCluster 1 mit 19 Prozent bei Patienten mit CRPS oder dasCluster 6 mit 23 Prozent bei Patienten mit postherpeti-scher Neuralgie. Allerdings kommen so gut wie alle Clus-ter bei allen Schmerzpatienten vor, sodass die Sache nochrecht unübersichtlich scheint und die Aussagekraft für diePraxis derzeit sehr begrenzt ist.Trotzdem ist Ralf Baron zuversichtlich, dass man mit denQST-Profilen künftig die Behandlung von Patienten mitneuropathischen Schmerzen verbessern wird. Dass be-stimmte Cluster ganz klar mit therapeutischem Erfolg verknüpft sein können, hat er am Fall eines Patienten ein-drücklich sehen können, der auf seinen beiden Körper-seiten zwei verschiedene Cluster aufwies. Der Patienthatte eine Wirbelfraktur, wodurch die spinalen Nerven aufbeiden Seiten geschädigt worden waren. Er hatte starke,gürtelförmige Schmerzen auf der rechten und der linkenSeite des Rückens. Mit Pregabalin kam es nach zirka ei-ner Woche zu einer deutlichen Schmerzreduktion – abernur auf der rechten Seite, auf der linken Seite waren dieSchmerzen wie zuvor. Die daraufhin durchgeführte QST er-gab, dass auf der rechten Seite sensorische Funktionenerhalten waren und kaum eine Degeneration festzustellenwar. Auf der linken Seite hingegen, auf welcher die The-rapie versagte, sah das Profil ganz anders aus. Hier gabes eine Degeneration aller Nervenfaserklassen. «Vielleichtkönnen wir in der Zukunft unsere Patienten auf der Basisdieser Cluster in Untergruppen einteilen und das Anspre-chen auf verschiedene Therapien voraussagen», sagte Ba-ron und fügte hinzu: «Ich weiss, es ist nur ein Fallbericht,aber viele Fortschritte in der Medizin begannen mit einemersten Fallbericht.»

Renate Bonifer

Quelle:

Workshop TW62: Neuropathic Pain: Clinical assessment as a guide todiagnosis and treatment, 21. August 2008.

Literatur:

1. Markman J.D. et al., Eur J Neurol 2004; 11 (suppl 2): 135–136.

2. Bennet M.I. et al.: Using screening tools to identify neuropathic pain.Pain 2007; 127: 199–203.

3. Levendoglu F. et al.: Gabapentin is a first line drug for the treatmentof neuropathic pain in spinal cord injury. Spine 2004. 29 (7): 743–751.

4. Jensen T.S. et al.: New perspectives on the management of diabeticperipheral neuropathic pain. Diab Vasc Dis Res 2006; 3 (2): 108–119.

5. Ranoux et al.: Botulinum toxin type a induces direct analgesic effectsin chronic neuropathic pain. Ann Neurol 2008, Epub ahead of print.

6. Rolke R. et al.: Quantitative Sensory Testing in the German ResearchNetwork on Neuropathic Pain (DFNS): Standardized Protocol and Refe-rence Values. Pain 2006; 123 (3): 231–243.

Schmerz

Fragebögen zur Erfassung neuropathi-scher Schmerzen

Screening und Diagnose:• LANSS Pain Scale• NPQ (Neuropathic Pain Questionnaire)• DN4• ID Pain• Pain Detect

Schmerzquantifizierung:• NPS (Neuropathic Pain Scale)• Neuropathic Pain Symptom Inventory (NIPSI)• Neuropathic Total Symptom Score 6 (NTSS6, diabetische Neu-

ropathie)

Abbildung: Beispiele für verschiedene somatosensorische Profile vonSchmerzpatienten. Der gelbe Bereich umfasst die normale Spannbreite;ein Punkt Zu- oder Abnahme entspricht einer Standardabweichung im je-weiligen Test (CDT: Kaltschwelle, WDT: Wärmeschwelle, TSL: thermischeUnterschiedsschwelle, PHS: paradoxe Hitzeempfindungen, CPT: Kälte-schmerzschwelle, HPT: Hitzeschmerzschwelle, MDT: mechanische Detek-tionsschwelle, MPT: mechanische Schmerzschwelle, MPS: Schmerzsensi-tivität für Nadelreize, ALL: dynamisch mechanische Allodynie, WUR:Windup-Quotient, VDT: Vibrationsschwelle, PPT: Druckschmerzschwelleüber Muskel).

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SONDERREPORT

twa 2 Prozent der Allgemeinbevölkerung leiden un-ter Fibromyalgie (1). Frauen sind dabei mit 3,4 Pro-zent deutlich häufiger betroffen als Männer (0,5%).

Neben ausgedehnten chronischen Schmerzen im Bereichdes Bewegungsapparats mit Druckschmerz an definiertenPunkten (tender points) beinhaltet die Erkrankung häufigauch Symptome wie Stimmungsschwankungen, Fatigue,Kopfschmerzen, Parästhesien, Magen-Darm-Störungenoder einen nicht erholsamen Schlaf.Studien haben gezeigt, dass 20 bis 50 Prozent der Per-sonen mit Fibromyalgie nur noch sehr reduziert oder garnicht mehr arbeiten können (2,3). Trotz intensiver For-schung konnte bisher das optimale therapeutische Ma-nagement bei Fibromyalgie noch nicht definiert werden.Mehrere pharmakologische und nicht pharmakologischeTherapien zeigten bisher einen klinischen Nutzen, sodassein stufenweiser beziehungsweise gleichzeitiger Einsatzverschiedener Optionen empfohlen wird (4).

Ausdauer- oder Krafttraining?

Seit einigen Jahren laufen Studien zur Frage, inwiefernsich für Patienten mit Fibromyalgie körperliche Aktivität(Ausdauer- und/oder Krafttraining) als nicht pharmako -logische Therapieoption eignet. So ging es im Rahmen eines systematischen Reviews vor Kurzem um den Effekteines aeroben Trainings, Krafttrainings und/oder von Be-weglichkeitsübungen auf das Gesamtwohlbefinden, aus-gewählte Symptome und die physische Leistung von Fi-bromyalgiepatienten (5). In Bezug auf ein rein aerobesTraining (6 bis 23 Wochen Dauer, Intensität gemäss Emp-fehlungen des American College of Sports Medicine,ACSM) fanden die Autoren der Übersichtsarbeit eine Evi-denz mittlerer Qualität für mittelgradig positive Effekteauf das globale Wohlbefinden und die physische Funk-tion. Die Resultate hinsichtlich Schmerz, Anzahl der druck-schmerzempfindlichen Punkte und Depression waren ent-weder widersprüchlich, oder es gab keine statistischsignifikanten Unterschiede zwischen den Patienten derverschiedenen Studienarme.Im Weiteren ergab die Analyse limitierte Evidenz für einenausgeprägt positiven Effekt eines reinen Krafttrainings aufSchmerz, Gesamtwohlbefinden, physische Leistung, Druck-

punkte und Depression. Dieses Resultat gilt zwar als sehrvielversprechend, gleichzeitig wurde darauf hingewiesen,dass weitere, qualitativ gute Studien mit grösseren Pa-tientenzahlen durchgeführt werden müssten, bevor einegenerelle Empfehlung für ein Krafttraining ausgesprochenwerden kann. Die Fachleute im sogenannten Ottawa- Panel(6) gehen allerdings in ihren vor Kurzem publizierten kli-nischen Richtlinien trotzdem bereits so weit und empfeh-len Krafttraining für Fibromyalgiepatienten.

Auch Hydrotherapie zeigt Wirkung

Eine weitere aktuelle Arbeit untersucht im Speziellen denEffekt diverser Hydrotherapien bei Fibromyalgie (7). Eineentsprechende Literaturstudie der Publikationsjahre 1999bis 2006 ergab 10 randomisierte, kontrollierte Studienhinreichender methodologischer Qualität, welche die Ein-schlusskriterien erfüllten. Es zeigten sich positive Effekteauf Schmerz, Gesundheitsstatus und Anzahl der Druck-punkte. Die Autoren sprechen in ihrer abschliessendenBeurteilung von einer starken Evidenz für den Einsatz einer Hydrotherapie bei Fibromyalgiepatienten.

Therese Schwender

Quelle:

Workshop TW41 «Nonpharmacological Treatments for Pain: CurrentEvidence», 20. August 2008

Literatur:

1. Wolfe F. et al.: The prevalence and characteristics of fibromyalgia inthe general population. Arthritis Rheum 1995; 38: 19–28.

2. Ledingham J. et al.: Primary fibromyalgia syndrome – An outcomestudy. Br J Rheumatol 1993; 32: 139–142.

3. Wolfe F. et al.: Work and disability status of persons with fibromyal-gia. J Rheumatol 1997; 24: 1171–1178.

4. Goldenberg D.L. et al.: Management of fibromyalgia syndrome. JAMA2004; 292: 2388–2395.

5. Busch A.J. et al.: Exercise for fibromyalgia: A systematic review.J. Rheumatol 2008; 35: 1130–1144.

6. Brosseau L. et al.: Ottawa Panel Evidence-Based Clinical PracticeGuidelines for Strengthening Exercises in the Management of Fibro -myalgia: Part 2. Phys Ther 2008; 88: 873–886.

7. McVeigh J.G. et al.: The effectiveness of hydrotherapy in the ma-nagement of fibromyalgia syndrome: a systematic review. RheumatolInt 2008; Aug 27 (Epup ahead of print).

29Schmerz

Positive Effekte

Sport bei FibromyalgieNeben pharmakologischen Therapieoptionen kommen bei einer Fibromyalgie auch nicht phar-

makologische Behandlungen zum Einsatz. Verschiedene aktuelle systematische Reviews haben

sich mit dem Stellenwert körperlicher Aktivität bei diesen Patienten befasst. Während die Evi-

denz für den Nutzen eines aeroben Trainings spricht, ist die Datenlage hinsichtlich des Kraft-

trainings noch ungenügend.

E

Page 25: Schmerz - Rosenfluh Publikationen AG

SONDERREPORT

31Schmerz

SONDERREPORT

30 Schmerz

Impressionen

Weite Wege zu den Sessions

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Blick vom Kongresszentrum auf den Fluss Clyde Gedränge auf der Kongress-«Hauptstrasse» Wer will schon sitzen, wenn er stehend surfen darf?

Morgenlicht im Kongresszentrum Unterwegs in der futuristischen Kongresskuppel


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