+ All Categories
Home > Documents > Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den...

Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den...

Date post: 24-Jan-2021
Category:
Upload: others
View: 3 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
41
Thiago Reis Savignys Theorie der juristischen Tatsachen Vittorio Klostermann Frankfurt am Main 2013
Transcript
Page 1: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Thiago Reis

Savignys Theorieder juristischen Tatsachen

Vittorio KlostermannFrankfurt am Main2013

Page 2: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Datensind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Vittorio Klostermann GmbHFrankfurt am Main 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und derÜbersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet,dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigenReproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systemezu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.

Druck: Wilhelm & Adam, HeusenstammTypographie: Elmar Lixenfeld, Frankfurt am Main

Gedruckt auf Alster Werkdruck der Firma Geese, Hamburg.Alterungsbeständig und PEFC-zertifiziert

Printed in GermanyISSN 1610-6040ISBN 978-3-465-04148-1

PEFC/04-31-0880

TM

Page 3: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Para os meus pais,Luiz Antônio e Flávia

Page 4: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Inhalt

Vorwort ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... XI

Kapitel 1 Einleitung ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 1I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten ... ... ... ... ... ... ... 1II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und

drei Leitfragen ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 161. Erste Leitfrage: Rechtsdogmatisch ... ... ... ... ... ... ... 202. Zweite Leitfrage: Rechtsphilosophisch ... ... ... ... ... 243. Dritte Leitfrage: Methodisch ... ... ... ... ... ... ... ... ... 26

III. Zugriff ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 28

Kapitel 2 Faktizität ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 33I. Das Faktische als rechtswissenschaftliches Problem 33

1. Entmaterialisierung und Willensherrschaft amWendepunkt der 1850er Jahre ... ... ... ... ... ... ... ... 33

2. Juristische Tatsachen und der Umgang mitdem Faktischen im modernen Privatrecht ... ... ... ... 39

II. Emergenz und Charakteristika einer neuenFaktizitätsform im »Besitz« ... ... ... ... ... ... ... ... ... 41

1. Besitz als Faktum ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 412. Savignys Zugriff auf das »Nichtrecht«:

die Problematik der Detention ... ... ... ... ... ... ... ... 433. Faktizität als ein Bereich von physischen

Möglichkeiten ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 494. Faktizität als ein Bereich von Willensbeziehungen ... 53

III. Faktizität im »System« zwischen Willensherrschaftund juristischen Tatsachen ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 56

1. Vom Besitz zum System ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 562. Vom Besitzrecht zum System der Privatrechte ... ... 583. Willensherrschaft und Erweiterung der persönlichen

Macht im Vermögensrecht bei Savigny ... ... ... ... ... 654. Begriffsgeschichtliche Klärung: factum als juristische

Kategorie im Allgemeinen Teil ... ... ... ... ... ... ... ... 705. Juristische Tatsachen und Abstraktion in

Savignys System ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 79IV. Ergebnis... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 82

Inhalt VII

Page 5: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Kapitel 3 Normativität ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 85I. Der normative Standpunkt für die Selektion

der rechtlich relevanten Tatsachen ... ... ... ... ... ... ... 851. Anschauungsmaterial aus der Reinen Rechtslehre ... 852. Persönliche Freiheit und Selektion der juristischen

Tatsachen ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 92II. Selektion der rechtlich relevanten Tatsachen im »Besitz« 92

1. Savignys Zugriff auf das Verhältnis von Faktizitätund Recht: der Besitz als Bedingung der Möglichkeitvon Rechten ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 92

2. Der normative Standpunkt für den Schutz desBesitzfaktums: der Besitz als »angewandte Freiheit« 102

III. Selektion der rechtlich relevanten Tatsachen im »System« 1131. »Tatsache« als Problem juristischer Systembildung

bei Puchta und Stahl ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 1132. Savignys System der Rechtsverhältnisse: Freiheit

neben Freiheit als normativer Standpunktder Selektion ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 118

IV. Ergebnis... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 124

Kapitel 4 Kopplung ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 127I. Stabilisierung der Urteilskraft durch Strukturbildung 127

1. Tatsachen einer neuen Epoche oder: die Epoche derjuristischen Tatsachen ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 127

2. Juristische Tatsachen und die Kopplung vonFaktizität und Recht ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 139

II. Kopplung von Faktizität und Recht im Übergangvom 18. zum 19. Jahrhundert ... ... ... ... ... ... ... ... 141

1. Neue Verknüpfungskategorien um 1800 ... ... ... ... 1412. Gesetzgebung als Verknüpfungsfaktor: causa und

gerichtliche Wirkung an A. D. Webers Lehre dernatürlichen Verbindlichkeiten von 1784... ... ... ... ... 142

3. Wissenschaft als Verknüpfungsfaktor: Bedingungund Wirkung in Savignys Besitz von 1803... ... ... ... 148

4. Vertiefung der Kopplungsfrage: juristischesUrteilen im Beruf 1814 ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 151

III. Kopplung durch Wissenschaft und effektive Geltungder Rechte in Savignys »System« ... ... ... ... ... ... ... 158

1. Unterschiedliche Konzepte von effektiver Geltung imAnschluss an die Formel »heutiges römisches Recht« 158

VIII Inhalt

Page 6: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

2. Wissenschaftlichkeit der Praxis als Leitmotiv derVorrede zum System ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 165

3. Die Wirkung juristischer Tatsachen alsstrukturierende Kopplung im System ... ... ... ... ... ... 175

IV. Ergebnis... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 186

Schlußbetrachtung ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 189

Quellen und Literatur... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 193

Personenregister ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... 211

Inhalt IX

Page 7: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Können wir denn überhaupt ohne ein »Fixum«auskommen? Beide sind veränderlich:Denken und Tatsachen.

Ludwik Fleck

Page 8: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Vorwort

Die Arbeit hat im Wintersemester 2011/2012 dem Fachbereich Rechtswissen-schaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main alsDissertation vorgelegen. Gutachter waren Prof. Dr. Joachim Rückert undProf. Dr. Gerhard Dilcher. Den Vorsitz der Prüfungskommission hat freund-licherweise Prof. Dr. Thomas Duve übernommen. Das Manuskript wurdedanach an einigen Stellen überarbeitet, ergänzt und erweitert, ohne aber dieStruktur und die Hauptergebnisse der Arbeit zu verändern. Kurz vor derDrucklegung hat die Stadt Frankfurt am Main die Dissertation mit demWalter Kolb-Gedächtnispreis 2012 (Fakultätspreis) ausgezeichnet.

Das Interesse für Savigny und die Frage der juristischen Tatsachen geht aufselbstständige Untersuchungen über Rechts- und Wissenschaftsgeschichtezurück, die ich im Lauf des Studiums der Rechtswissenschaften in PortoAlegre (Brasilien) durchgeführt habe. Der International Max Planck ResearchSchool for Comparative Legal History (IMPRS) verdanke ich die Möglich-keit, mein Forschungsvorhaben unter hervorragenden Bedingungen fortsetzenund vertiefen zu können. Die anregenden Diskussionen in den wöchentlichenStizungen des Forschungskollegs waren eine permanente Quelle von Re-flexion über verschiedene Aspekte rechtshistorischer Arbeit. Für die stetskonstruktive Kritik und die wertvolle Unterstützung, die mir durchweg zuge-teilt wurde, danke ich den Mitgliedern des Leitungsgremiums der Jahre 2006–2009, nämlich Prof. Dr. Albrecht Cordes, Prof. Dr. Bernhard Diestelkamp,Prof. Dr. Gerhard Dilcher, Priv.-Doz. Dr. Thomas Henne, Prof. Dr. BerndKannowski (Freiburg), Prof. Dr. Inge Kroppenberg (Göttingen), Prof. Dr.Guido Pfeifer und Prof. Dr. Michael Stolleis. Unter hohem Zeitdruck hatdankenswerterweise Prof. Dr. Gerhard Dilcher das Zweitgutachten erstelltund wertvolle Hinweise gegeben.

Ein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater und akademischenLehrer, Herrn Prof. Dr. Joachim Rückert. Seit unserem ersten Savigny-Ge-spräch im Sommer 2005 hat er das Forschungsvorhaben hundertprozentigunterstützt und die Arbeit so betreut, wie man sich als Doktorand nurwünschen kann. In seinen Doktorandenseminaren wurde man mit Scharfsinnund Freundlichkeit in eine besondere, man möchte sagen: »symphiloso-phische« Art wissenschaftlicher Arbeit eingeführt, die alles anderes als selbst-verständlich ist. Für jemanden, der aus einem Kontext kommt, wo dasRechtsstudium oft nichts mehr als eine flache Praktikerausbildung anbietet,war das persönlich eine prägende Erfahrung. Wissenschaft – ein Wort, dessendeutsche Verwendung sich kaum übersetzen lässt – habe ich bei Herrn

Vorwort XI

Page 9: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Rückert gelernt, und dafür bin ich ihm sehr verbunden. Prof. Rückert dankeich auch für die ehrenvolle Aufnahme der Dissertation in die Savignyana-Reihe.

Ein Kurzzeitstipendium der Frankfurt Graduate School for the Humanitiesand Social Sciences (FGS) hat mir erlaubt, die Arbeit an der Dissertation 2010noch in Frankfurt fortzusetzen. Das Mitwirken an Projekten des Max Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte über die PrivatrechtsgeschichteLateinamerikas bot mir die Gelegenheit, seit 2011 an der Dissertation inBrasilien weiter zu arbeiten und dabei die Verbindung zu Frankfurt lebendigzu halten. Für diese wichtige Unterstützung habe ich dem Direktor desInstituts, Herrn Prof. Dr. Thomas Duve, ganz herzlich zu danken. Währendmeines Aufenthalts in Frankfurt hatte ich auch das große Glück, mitrenommierten Rechtshistorikern der ganzen Welt in Kontakt zu treten, derenForschungen und Erfahrungen mir eine neue Perspektive auf das Recht undseine Geschichte eröffnet haben. Dr. Heinz Mohnhaupt und Prof. Dr. MilošVec (Wien) haben bei vielen Mittagessen und Kaffeepausen meine Begeiste-rung für Savigny und das gewählte Thema stets geteilt und dabei wichtigeHinweise gegeben. Dr. Vincenzo Colli, Prof. Dr. Marju Luts-Sootak (Tartu),Prof. Dr. Kenichi Moriya (Osaka) verdanke ich viele anregende Diskussionen.In Brasilien verdanke ich Prof. Dr. Airton Seelaender und Prof. Dr. AlfredoFlores wichtige Hinweise und Unterstützung von Beginn bis zum Abschlussder Arbeit. Herrn Dr. Karl-Heinz Lingens sei für die Betreuung der Druck-legung herzlich gedankt.

Danken möchte ich auch Frau Carola Schurzmann und ihrem Team imMax Planck-Institut. Nur wer als ausländischer Gast in Frankfurt gewesen ist,weiß die hervorragende Unterstützung der MPI-Verwaltung zu schätzen. FrauDr. Sigrid Amedick und ihrem Team danke ich ebenfalls für die unermüdlicheHilfsbereitschaft der Bibliothek. Im Dekanat der Goethe-Universität verdankeich Frau Uta Bredemeier die großzügige Betreuung eines unter hohem Zeit-druck abgeschlossenen Promotionsverfahrens.

Zuletzt danke ich meiner Familie. Meine Eltern, Luiz Antônio und Flávia,haben das Projekt aus der Ferne stets unterstützt und auch daran geglaubt, alsich selber das Ende der Tatsachen nicht mehr erblicken konnte. Ihnen istdaher dieses Buch gewidmet. Danken möchte ich auch meinem BruderGustavo und meinen Großeltern, Domnio (in memoriam) und Helena. Meineliebe Georgia hat das Entstehen dieser Arbeit seit dem ersten Projekt inBrasilien begleitet, angeregt und die Höhen und Tiefen des Schreibensmiterlebt. Sie hat auch das Leben in Frankfurt viel schöner gemacht. Ihr istdas Buch nicht nur gewidmet, es gehört auch ihr.

Porto Alegre, Dezember 2012

XII Vorwort

Page 10: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Kapitel 1

Einleitung

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten

Im Jahr 1938 bezeichnete Alfred Manigk in einer überaus kritischen Rezen-sion1 das Anliegen zweier Publikationen Fritz von Hippels, die im Laufe derdreißiger Jahre erschienen waren, als einen Generalangriff auf die »herr-schende Lehre von den juristischen Tatsachen und den Rechtswirkungen«, dernichts weniger als die »Beseitigung einer seit einem Jahrhundert in allenGebieten des Rechts eingebürgerten Denkform« zum Zweck habe. Anlassdazu gab Hippels 1930 in Frankfurt vorgelegte, aber erst 1936 in Druckerschienene Habilitationsschrift, die schon in ihrer Einleitung zeitbedingte»Fehlaxiome« in der von der Jurisprudenz des späten 19. Jahrhundertsüberkommenen Begrifflichkeit aufzudecken angab und sich dabei explizitauf die von Manigk als herrschend bezeichnete Lehre als eine »quasinatur-wissenschaftliche« bezog. Hippel konnte sich dafür auf Ergebnisse seiner1930 im Rahmen seiner Habilitation entstandenen Schrift Zur Gesetzmäßig-keit juristischer Systembildung2 berufen, in der er den theoretischen undhistorisch-kritischen Rahmen seines späteren Werks darlegte. Seine Unter-suchung zur Privatrechtsdogmatik und Rechtstheorie des 18. und 19. Jahr-hunderts kombinierte historische Analyse mit prinzipiellen Fragestellungennicht nur mit einem heute noch beeindruckenden Scharfsinn, sondern auchmit einer überraschenden Unbefangenheit, die ihren historischen Kontextzwar deutlich erkannte, sich von der fatalen Sprache jener Jahre aber bewusstdistanzierte3 und dadurch zu einem einzigartigen Verständnis der Voraus-setzungen moderner Rechtswissenschaft gelangte.

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 1

1 Erschienen in: KritV 30 [1938], S. 54–90, hier 54. Zu Manigks Auseinander-setzung mit Hippel, s. Nörr, Zwischen den Mühlsteinen [1988], S. 46, Fn. 18.

2 Zunächst Berlin 1930, jetzt in: Hippel, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik[1964], S. 13–46. Vgl. auch Ders., Das Problem der rechtsgeschäftlichenPrivatautonomie. Beiträge zu einem Natürlichen System des privaten Verkehrs-rechts und zur Erforschung der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts [1936],Frankfurter Habilitationsschrift 1930.

3 Vgl. Hippel, Privatautonomie [1936], S. 50, Anm. *, wo er »Volksgenosse«/»Volksgemeinschaft« als terminologische Ausdrücke taktvoll zurückweist. Zur

Page 11: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Im Mittelpunkt von Hippels Diagnose der Jurisprudenz seiner Zeit standdie These, dass der »Glaube an die Existenz und Möglichkeit juristischerTatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiterendogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts« gebildet undseither die Rechtsdogmatik entscheidend geprägt habe.4 Diese 1930 nochherrschende Systematik zeichne sich methodisch dadurch aus, dass aufgrundder ihr zugrundeliegenden Vorstellung eines sich in Rechtssätzen manifestie-renden »Rechtswesens« ein spezifischer Denkstil wissenschaftlicher Bearbei-tung des Rechts entstanden sei, welcher juristische Grundtatsachen wie einenKaufvertrag oder ein Testament »in induzierender Durchforschung der ein-zelnen Rechtssätze« gewinnen und daran »Rechtswirkungen« wie ein Schuld-verhältnis oder erbrechtliche Ansprüche anknüpfen wollte.5 Aus der dogmati-schen Handhabung der Kopplung juristische Tatsache – Rechtswirkungwerde eine von der Realität verselbstständigte »Rechtswelt« erzeugt, die sicheiner entsprechenden »Rechtssprache« bediene und somit eine eigene »juris-tische Naturgesetzlichkeit«, ein eigenes »Rechtsdasein« mit sich führe. DenKernpunkt von Hippels Kritik der »Theorie der juristischen Tatsachen«bildete aber ein ganz präziser Vorwurf, nämlich dass sie ein »ständigesunzulässiges Durcheinander von Sachverhalt und rechtlicher Beurteilungvon Sachverhalten«, von »Wirklichkeit und juristischer Bewertung der Wirk-lichkeit« hervorgebracht habe.6 Wer Hippels Texte liest, kann nicht umhin zubemerken, dass seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, Normativi-tät und Faktizität strikt getrennt zu halten und auch im positivrechtlichen»Schlussergebnis« keine Verschmelzung beider zuzulassen, weder in der Formeiner Deduktion von materiellen Rechtssätzen aus Vernunftpostulaten, nochals Gewinnung von Rechtssätzen aus der Natur der zu regelnden Sachver-halte.7 Gerade hier, in der sauberen Unterscheidung zwischen Norm undTatsache, oder besser: im Fehlen einer solchen Unterscheidung, erblickteHippel den größten Fehler der auf der Vorstellung juristischer Tatsachen

2 Kapitel 1: Einleitung

Person Hippels s. den Nachruf von Ramm, Fritz von Hippel als Rechts-theoretiker und Rechtsphilosoph [1992]; jetzt auch Arnold, Dubito ergosum. Der Freiburger Rechtswissenschaftler Fritz von Hippel (1897–1991)[2005].

4 Hippel, Systembildung [1930], S. 37–38.5 Hippel, Systembildung [1930], S. 38–41.6 Hippel, Systembildung [1930], S. 39 und Privatautonomie [1936], S. VIII u.

passim.7 Vgl. Hippel, Privatautonomie [1936], S. 48: »Recht ist eine nach Wertege-

sichtspunkten abwägende Ordnungsweise, die Wirklichkeit bildet den Gegen-stand, an dem diese Ordnungsweise geübt wird«.

Page 12: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

basierenden Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt seinereigenen Zeit.

Ein erster Überblick über die Literatur der vorangegangenen fünfzig Jahrescheint Hippels Diagnose unschwer zu bestätigen, seit der späten Pandekten-wissenschaft kam eine Darstellung des geltenden Zivilrechts ohne juristischeTatsachen schwerlich aus. Die Selbstverständlichkeit aber, mit der vor allemdie Juristen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit umgehen, lässtjegliche wissenschaftstheoretische Relevanz dieses Ausdrucks geradezu be-zweifeln: »Thatsachen, positive oder negative, insofern sie Entstehung oderEndigung oder auch nur Aenderung eines Rechts bewirken, also eine juristi-sche Wirkung hervorbringen, nennt man juristische Thatsachen«, heißt esbeispielsweise bei Karl Ludwig Arndts.8 Während Arndts Verwendung desIndefinitpronomens auf die Gebräuchlichkeit der Formel in der zweiten Hälftedes 19. Jahrhunderts hinweist, heißt es hingegen bei Savigny 1840 in unver-kennbarer Originalität:

»Ich nenne die Ereignisse, wodurch der Anfang oder das Ende der Rechtsver-hältnisse bewirkt wird, juristische Thatsachen. Alle juristische Thatsachen alsokommen darin mit einander überein, daß durch sie an den Rechtsverhältnissenbestimmter Personen irgend eine Veränderung in der Zeit hervorgebrachtwird«.9

Diese »terminologisch führende« Definition,10 die Hippel freilich verschwiegund an deren Autorschaft nicht zufällig Manigk erinnerte, wurde im Lauf derJahre zum traditionellen Bestandteil der pandektistischen Sprache und zeigtesich im Blick auf die neuen intellektuellen Tendenzen des späten 19. undfrühen 20. Jahrhunderts besonders anpassungsfähig. Man sprach von»rechtserheblichen, rechtswirksamen oder juristischen Tatsachen« als den-jenigen, »die Rechtsfolgen irgendwelcher Art« nach sich ziehen;11 zu derenBeschreibung es auch gehören soll, »daß sie unmittelbar die Entstehung, denUntergang, die Veränderung der subjektiven Rechte verursachen«12 und sich

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 3

8 Lehrbuch der Pandekten [51865], S. 61. Hervorhebung T. R. An der Stellefindet sich keinen Hinweis auf Savigny, dem Arndts übrigens das Werk widmet.Ähnliche Definitionen bei Baron, Pandekten [51885], S. 79; Wächter, Pan-dekten I [1880], S. 309 ff.; Bekker, System des heutigen Pandektenrechts I[1886], S. 97; Regelsberger, Pandekten [1893], S. 436 ff.; Crome, Systemdes deutschen bürgerlichen Rechts I [1900], S. 315; Windscheid, Lehrbuch I[1862], S. 138, mit »Tatbestand« statt »juristische Tatsache« als allgemeineKategorie.

9 Savigny, System des heutigen römischen Rechts III [1840], S. 3.10 So Manigk, Tatsache, juristische [1928], S. 847.11 Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II/1 [1914],

S. 7.12 Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I [61899], S. 245.

Page 13: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

insofern als »Faktoren des Rechts im subjectiven Sinne« erweisen;13 ausjuristischen Tatsachen setzen sich nicht zuletzt die »einzelnen Momente derThatbestände [zusammen], auf Grund deren sich die Entstehung, der Unter-gang und die Veränderung der Rechte vollzieht«.14

Dass sich wiederum insbesondere Manigk in der genannten Rezension zueiner Stellungnahme aufgefordert fühlte, ergibt sich zunächst aus seinereigenen Biographie. Gegen Ende seines Lebens – er starb 1942 – ließ sichseine literarische Tätigkeit seit der Breslauer Habilitation 1901 mit dem heutenoch zitierten Das Anwendungsgebiet der Vorschriften für die Rechtsge-schäfte von der Verbreitung der angegriffenen Lehre überhaupt nicht mehrtrennen. 1873 geboren, war er Mitte der 1930er Jahre einer der letztenVertreter jener Gruppe von alten Pandektisten wie Tuhr (geb. 1864) undOertmann (1865), die auf der Grundlage des neuen normativen Texts eineentscheidende Rolle in der Rechtsdogmatik gespielt hatte, vor allem imRahmen des Allgemeinen Teils. Aus der zivilrechtlichen Literatur der erstenJahrzehnte des 20. Jahrhunderts stammen von Manigk einige der repräsenta-tivsten Arbeiten zur Problematik der juristischen Tatsachen, insbesondere zuverschiedenen Aspekten der Rechtsgeschäftslehre.15

Indem Hippel aber die »Theorie der juristischen Tatsachen« als ein »Erb-übel des 19. Jahrhunderts« bezeichnet und schließlich die zeitgenössischenJuristen aufgefordert hatte, »den Begriffshimmel zu verlassen [und] aus demMystizismus der Rechtswelt auf die Erde herabzusteigen«,16 setzte er die»Theorie der juristischen Tatsachen« für die Folgezeit auf eine geradezukritische Linie, die Manigk angesichts der sich im Laufe der 1930er Jahrewechselnden Machtverhältnisse als höchst problematisch für die Beibehaltungseiner »Denkform« empfand und der er trotz (oder auch gerade wegen) seinerZwangsemeritierung 193417 mehrfach zu entkommen suchte.18 In der ge-

4 Kapitel 1: Einleitung

13 Dernburg, Pandekten I [1884], S. 177.14 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts I [31870], § 67, S. 154.15 Vgl. außer der im Text erwähnten Habil. auch Über Rechtswirkungen und

juristische Tatsachen. Ein Beitrag zur Lehre von der Willenserklärung, in:JherJb 49 [1905], S. 459–486; Irrtum und Auslegung. Zwei Grundpfeiler derLehre von der Willenserklärung. Mit einem Beitrag zur Funktion und Metho-dik der Rechtsbegriffe [1918]; und die Einträge Tatsachen, juristische undRechtswirkungen in: Stier-Somlo/Elster (Hgg.) Handwörterbuch derRechtswissenschaft [1928].

16 Hippel, Systembildung [1930], S. 38 u. 46.17 Nagel/Sieg (Hgg.), Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus

[2000], S. 47 für eine Würdigung Manigks im NS; S. 218 ff. für seine vorzeitigeEmeritierung aufgrund einer Kampagne der Marburger Studentenschaft. Aka-demische Laufbahn: 1902 Königsberg, 1921 Breslau, 1927 Marburg.

18 Gemeint sind Die Privatautonomie im Aufbau der Rechtsquellen [1935];Neubau des Privatrechts. Grundlagen und Bausteine [1938]; Vorwort zu

Page 14: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

nannten Rezension bemühte er sich in einer konfusen, zuweilen sogar grotes-ken, weil die Sprache jener Jahre übertrieben nachahmenden Rhetorik vorallem darum, Hippels überaus grundsätzliche Kritik als lauter »Mißverständ-nisse« wegzuerklären, ohne dabei auf ihre Argumente wirklich einzugehen:»Der Verf. hat sich ein Schemen der h.L. zurecht gemacht und kämpft nungegen Windmühlen« heißt schließlich das Fazit.19 Diese ausweichende Argu-mentation ist recht offensichtlich und, da ihm eine solche defensive Haltungauch von einem Autor wie Larenz vorgeworfen wird,20 der vor einem ganzanderen, Hippel diametral entgegengesetzten Hintergrund schreibt, liegt darinwahrscheinlich weniger Befangenheit in eigenen Denkschemen als wohlbe-dachte Strategie. Der rote Faden von Manigks Rezension lässt sich in der Tatunschwer ermitteln: alle seine Argumente führen in erster Linie auf denVersuch zurück, die Plausibilität seiner »Denkform« auch »nach neuemRechtsdenken« aufrecht zu erhalten.

Dafür bietet zunächst die Sprache einen interessanten Anhaltspunkt. »Manwird nach neuem Rechtsdenken wohl dazu übergehen« – bemerkt Manigk zuBeginn seiner Rezension –, »den von der Rechtsordnung als Bedingung derRechtsfolge angenommenen Tatbestand nicht mehr den juristischen, sondernden rechtlichen zu nennen«.21 Von rechtlichen statt juristischen Tatsachen zusprechen ist an sich nichts Neues, bereits Andreas von Tuhr hatte zum Beispiel1914, freilich im Anschluss an die späte Pandektistik, von rechtserheblichenTatsachen gesprochen.22 Entscheidend ist dagegen der Kontext, in welchemManigk seine terminologische Neuerung einführt. »Juristischer Tatbestand«,»juristische Tatsache«, »juristische Handlung« – »Juristisches« überhauptwird hier abwertend verwendet und mit einer sprachlichen Welt in Ver-bindung gebracht, die Manigk mit überaus vagen, 1938 aber präzis aufge-ladenen Formeln wie »Denkformen individualistischer Art« und »Normati-vismus der Wiener Staatsrechtsschule« umschreibt.23 Damit spielt eroffensichtlich auf die damalige polemische Verwendung solcher Schlagwortegegen die bekannten Feindbilder Liberalismus, Individualismus und Positivis-mus an, deren Bekämpfung gerade der Legitimation des nationalsozialisti-schen Rechtsdenkens diente. Positivismus und Normativismus bezeichnete

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 5

Das rechtswirksame Verhalten. Systematischer Aufbau und Behandlung derRechtsakte des Bürgerlichen und Handelsrechts [1939].

19 Manigk, Rezension Hippel [1938], S. 69.20 Larenz, Neubau des Privatrechts (= Rez. zu Manigk), in: AcP 25 [1939],

S. 91–107, hier 93.21 Manigk, Rezension Hippel [1938], S. 57.22 Vgl. oben Fn. 11.23 Vgl. für beide Formeln S. 57 u. 60.

Page 15: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

etwa Larenz als »Erscheinungsform der geistigen Überfremdung«, was insbe-sondere die neukantische Trennung von Sein und Sollen der Wiener Schuleund deren Hauptvertreter Hans Kelsen betraf, dessen Lehre nach einemAusdruck von Heinrich Lange seit 1937 als »jüdisch verführt« galt.24 MitPositivismus assoziierte man das Bild eines im 19. Jahrhundert herrschendenLiberalismus, dessen individualistische, antideutsche privatrechtliche Grund-lage das römische Recht verkörperte. Insofern zeigte sich der Ausdruck»juristische Tatsache« für Manigk nicht nur als »Ursache von Mißverständ-nissen der h. L.«, sondern auch als ein wegzuschaffendes Indiz ihrer eigenenProvenienz.

»Juristisch« assoziiert Manigk ebenso mit einem bestimmten methodischenVorgehen, das seine rechtsdogmatischen Schlussfolgerungen nicht unmittelbaraus dem Wesen des Rechts und der Rechtsordnung selbst, sondern ausBegriffen zieht, die die Rechtswissenschaft sich selbst erzeugt. »Begriffsjuris-tisch« und »Begriffsjurisprudenz« sind hier die Etiketten. »Das Rechtliche istnoch nichts Juristisches« heißt es schließlich bei Manigk, und in Bezug auf dieLehre der juristischen Tatsachen bedeutet eine solche Kritik, dass »einenatürliche Tatsache zu einer rechtlichen nicht auf juristischen Wegen wird,sondern schon dadurch, daß die Rechtsordnung ihr eine solche rechtlicheErheblichkeit verleiht«.25 Damit will Manigk die Vermittlung von Rechtdurch Jurisprudenz, welche die Auffassung von »Rechtswirkungen im natu-ralistischen Sinne«, mithin die Umformung einer »natürlichen« Tatsache zueiner »juristischen« durch eine »Begriffsjurisprudenz« mit sich bringt, ver-meiden. Von einer solchen »normativistischen« Ansicht habe sich nun das»neue Rechtsdenken« schrittweise entfernt. Es habe weiterhin erkannt, juris-tische Tatsachen und Rechtswirkungen hätten »einen tiefen, wirklichkeitsge-mäßen Ursprung und kommen aus den Gedanken der Rechtsgemeinschaftund dem Wesen des Rechts überhaupt«.26 Ein flüchtiger Blick über seinefrüheren Schriften zeigt, wie zeitbedingt und opportunistisch solche Äuße-rungen waren. Hatte er zu Beginn seiner akademischen Laufbahn 1905neukantianisch von der »konstitutiven Kraft« des Rechtsgesetzes gesprochenund dabei behauptet, »der juristische Tatbestand als Ursache einer Rechts-wirkung ist der wahrnehmbare Faktor«, »nach der Wirkung wird geforscht;diese wird konstruiert«27 und noch 1928 daran festgehalten, dass die Rechts-

6 Kapitel 1: Einleitung

24 Für diese und andere Topoi der Rechtslehre im Nationalsozialismus vgl.Schröder, Zur Rechtsgeschäftslehre in nationalsozialistischer Zeit [1985],S. 8–44, hier 11–15.

25 Alles Manigk, Rezension Hippel [1938], S. 65–66.26 Manigk, Rezension Hippel [1938], S. 57, vgl. auch S. 62: »alle Bestandteile

eines Tatbestandes (= rechtliche Tatsachen)«.27 Manigk, Über Rechtswirkungen und juristische Tatsachen [1905], S. 466.

Page 16: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

ordnung Normen aufstellt, »die an gewisse Tatsachen des Lebens in derenWürdigung und Wertung rechtliche Wirkungen knüpfen«,28 so deuten 1938Sätze wie »Das Recht ist nicht nur Anordnung, sondern wirkliche Geordnet-heit« oder »Die Welt des Rechts umfaßt beide Hemisphären, die des Sollensund des Seins«29 ganz andere Denkfiguren an. Das Frappierende an dieserHerangehensweise besteht aber in ihrem paradoxen Ergebnis: Indem er sichvon seiner alten neukantischen »Denkform« distanzierte und sich dem »neuenRechtsdenken« annäherte, nahm er in seine Theorie der juristischen Tat-sachen nicht nur gerade diejenigen Komponenten auf, die sie zum Gegenstandvon Hippels Kritik erst recht qualifizierten, sondern seine Nachahmungs-bemühungen legten zugleich eine bemerkenswerte Parallele offen zwischendem von Hippel in der Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts kritisierten »Durch-einander von Sachverhalt und rechtlicher Beurteilung von Sachverhalt« unddemselben Vorgang in der Jurisprudenz der 1930er Jahre.30

Denn mit solchen und anderen effektvollen Sätzen spielte Manigk auf ganzpräzise Texte von führenden Juristen des nationalsozialistischen Regimes anund zeigte dabei deutlich, wie er im Grunde an zwei Fronten zu argumentierenversuchte. Einerseits galt es, vom Standpunkt seiner »Denkform« aus die vonHippel mit der Pandektistik verbundene und auch vom »neuen Rechtsden-ken« bekämpfte Methode um jeden Preis zurückzuweisen. Für diesen Zwecknäherte Manigk seine Darstellung an zeitgenössische Schriften von Juristenwie Karl Larenz an, wie es sich schon an seiner Sprache andeutete. In der Tathatte Larenz aus der von NS-Juristen bekämpften normativistischen »Aus-einanderreißung von Sein und Sollen« im spezifischen Fall eines Rechts-erwerbs den Schluss gezogen, die dogmatische Unterscheidung zwischen derBegründung eines Rechtsverhältnisses in der »realen Welt« und dem Rechts-

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 7

28 Manigk, Rechtswirkung [1928], S. 755.29 Beide Manigk, Rezension Hippel [1938], S. 60.30 Aus einer anderen Perspektive hat Rückert, Das »gesunde Volksempfinden« –

eine Erbschaft Savignys? [1986], insb. S. 235, 239, 241–43 auf eine metho-dische Parallele oder Affinität in der Verwendung von »Volk« bei Savigny undin NS-Texten hingewiesen, die in der Logik der Konstruktion von zentralenBegriffen der normativen Welt nach einem substantiellen Typ übereinstimmen,sich dagegen in dem Durchdringungsgrad dieses nichtempirischen Elements imRechtssystem, hier total, dort auf Rechtspolitik begrenzt, deutlich unterschei-den. In die Frage einzugehen, ob eine solche Affinität zwischen Savigny undbeispielsweise Larenz auch im Verhältnis zwischen Normativität und Faktizitätbestehen könnte, würde nicht nur die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit überSavignys Theorie der juristischen Tatsachen voraussetzen und wäre insofern andieser Stelle unangebracht, sondern auch ihre eigenen Rahmen sprengen.

Page 17: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

verhältnis selbst als einer Kategorie der »nur gedachten Rechtswelt« in eine»konkret-dialektischen Einheit« aufzulösen.31 Dies bedeutete insbesonderedie Verdrängung der Geltungsebene als einen im Gesetz verankerten normati-ven Filter zwischen juristischer Tatsache und Rechtswirkung aus dem juristi-schen Denken, indem die »völkische Ordnung« letztendlich über die Geltungeines Rechtsgeschäfts entscheidet und sich gleichzeitig als »sittliche undRechtsanschauung« im faktischen, aber gleichzeitig schon normativen Ver-halten der Glieder der Volksgemeinschaft manifestiert.32 Dass Manigk seiner-seits diese NS-Sprache und deren spezifische »Denkform« recht wenig über-zeugend reproduzieren konnte, belegen nicht nur interne Widersprüche inseinem Text,33 sondern auch die Art und Weise, wie ausgesprochen national-sozialistisch argumentierende Juristen auf seine Ansichten reagierten, etwa inSachen Privatautonomie. Bezeichnenderweise zählte einer wie Larenz Manigkoffenbar nicht zu den Seinigen.34

Aber gerade hier, in der Betonung von Privatautonomie als konstitutivesPrinzip der Privatrechtsordnung scheinen die Texte von Manigk und Hippeleinen gemeinsamen Nenner zu finden. Damit war bekanntlich eines derheiklen Themen der privatrechtlichen Diskussionen jener 1930er Jahre ange-schnitten und Manigk selber, der dafür heftige Kritik von Larenz auf sichzog,35 verweist auf Hippels richtige Erfassung der »Rechtsstellung des Ein-zelnen in der Gemeinschaft«,36 freilich seine einzige positive Bemerkung inder ganzen Rezension. In der Tat bildete der »immanente Problemzusammen-hang« einer jeden Privatrechtsordnung das zentrale Erkenntnisinteresse Hip-pels seit 1930. Zwischen »Dauerfragen« und »historischen Aufgaben« ver-mittelnd oder vielmehr die Mitte suchend, ist sein Zugriff vor allem durch die

8 Kapitel 1: Einleitung

31 Larenz, Neubau des Privatrechts [1939], S. 91–107, hier 97; weiterhin Ders.,Vertrag und Unrecht I: Vertrag und Vertragsbruch [1936], S. 12: »Vor allemkam es mir dabei darauf an, die Trennung zwischen dem Vertragsabschluß alseinem der »realen Welt« angehörenden Vorgang oder Tatbestand und demdadurch begründeten Vertragsverhältnis als einer der »nur gedachten Rechts-welt« angehörenden juristischen Beziehung zu vermeiden, in der ich eine derverhängnisvollsten Folgen des Normativismus, der Auseinanderreißung vonSein und Sollen erblicke«.

32 Larenz, Vertrag und Unrecht I [1936], S. 24. Dazu Rückert, Der Rechtsbe-griff der Deutschen Rechtsgeschichte in der NS-Zeit [1995], S. 189.

33 Insbesondere gegen Ende seiner Rez., wo es etwa ab S. 77 von Privatautonomiedie Rede ist, »verfällt« Manigk in seinen früheren Sprachgebrauch und sprichtwieder von »Kausalität der gesetzten Voraussetzungen« wie in den früherenSchriften, vgl. etwa S. 78–79 zur Gültigkeit des Rechtsgeschäfts.

34 Vgl. Larenz, Neubau des Privatrechts [1939], S. 106: »keiner von uns«.35 Zum Streit Manigk-Larenz vgl. Schröder, Zur Rechtsgeschäftslehre in na-

tionalsozialistischer Zeit [1985], S. 21 ff.36 Manigk, Rezension Hippel [1938], S. 75.

Page 18: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Zentralität eines an ein überzeitliches, formales und negatives Gerechtigkeits-gebot gebundenen Gesetzgebers geprägt, der Interessen und historische Um-stände zwar abwägt, in der Strukturierung und Setzung von Privatrecht aberauf immanente Problemzusammenhänge antwortet und somit eine präzise,auf der Selbstbestimmung des Einzelnen beruhende gesellschaftliche Ordnungwählt.37 Die Ähnlichkeiten mit Manigk trügen aber insofern, als Hippelgrundsätzlicher vorging und auf eine Begründung des Privatrechts zielte, diesowohl mit der traditionellen Theorie der juristischen Tatsachen brach, alsauch von NS-Einflüssen völlig frei war.

Der vielleicht repräsentativste Beleg für die Radikalität dieser Haltungbesteht in Hippels methodischer Anknüpfung an Gustav Hugo anlässlichseiner »engagierten«38 Frankfurter Antrittsvorlesung 1930. Die Gegenwarts-bezogenheit dieser Rede ist evident, Hippels Ausführungen zu Hugos »ein-heitliche[r] Neuorientierung« der Jurisprudenz um 1800 lassen sich von seinerSuche nach eigener Orientierung 1930 schwer unterscheiden. Dementspre-chend ging es ihm dabei weniger um historische Erkenntnis als um die»Gewinnung eines zeitlos-verpflichtenden juristischen Arbeitsprogramms«,39

folglich um eine methodische Richtung, die von den »Fehlaxiomen« derzeitgenössischen Rechtswissenschaft frei wäre und sich deshalb als vorbildlicherweisen würde. Dafür griff Hippel ausdrücklich auf Hugos »entscheidendenLösungsansatz« zurück, nach welchem »Rechtsgeschichte unter dem Gesichts-punkt der Darstellung historischer Sozialordnungen«, »Rechtsphilosophieaber als immanente Gerechtigkeitslehre im Blick auf die Dauerwesenheitunserer Welt« bearbeitet werden.40 Nicht allein die Einteilung allen Rechts-wissens in Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte ist für Hippel maßgebendin Hugos »juristischem Arbeitsplan«, sondern vor allem dessen Verständnisder Individualität beider, indem er »beide Gebiete in der richtigen Weiseaufeinander bezieht und gegeneinander verselbständigt«.41 In der Trennungzwischen Empirie und Vernunftkritik sieht Hippel den springenden Punkt von

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 9

37 Vgl. Hippel, Systembildung [1930], S. 17 ff. u. 23.38 So Rückert, Gustav Hugos Beitrag [1990], S. 105; ferner die Diagnose von

Marini, L’opera di Gustav Hugo [1969], S. 1: »ricco di giudizi penetranti, matende a sopravalutare l’opera di Hugo«.

39 Hippel, Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan (Antrittsvorlesung Frankfurta. M. 1930) [1931], S. 1 u. 7. Jetzt auch in: Rechtstheorie und Rechtsdogmatik[1964], S. 47–90.

40 Hippel, Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan [1930], S. 48; Ders., System-bildung [1930], S. 17, N. 4.

41 Hippel, Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan [1930], S. 48, (HervorhebungT. R.). Zu Hippels Würdigung von Hugos Zugriff vgl. Marini, L’opera diGustav Hugo [1969], S. 4 f.

Page 19: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Hugos Methode. Daraus erklärt sich seine Ablehnung einer Theorie, die seinerAnsicht nach die Rechtsqualität bestimmter Tatsachen nicht aus einer wer-tenden Regelung des Gesetzgebers, sondern aus einer in den positiven Rechts-sätzen aufzudeckenden Immanenz, die keine schlichten, sondern immer schonjuristische Tatsachen kennt, herleite. Gerade diesem Fehler unterliege Hugosmethodische Auffassung nicht, ganz im Gegenteil, er habe sich vielmehr »demsich ankündenden naturwissenschaftlichen Geiste des heraufziehenden19. Jahrhunderts« fern gehalten und, anders als sein »Gegenspieler« Savigny,»niemals unternommen, in quasi-naturwissenschaftlicher Schau die einzelnenpositiven Rechtssätze auf ›juristische Tatsachen‹ hin zu vereinen«.42

In der deutschsprachigen Literatur der Folgezeit knüpfen sich an dasThema »juristische Tatsachen« Problemstellungen an, die für die spezifischeprivatrechtliche Ausgangslage der Kriegs- und Nachkriegszeit aufschlussreichsind. Hippels Kritik findet Aufnahme und Fortsetzung bei Josef Esser, der1940 am Beispiel der Rechtsfiktionen der Anwendung »naturwissenschaftli-cher Untersuchungsmethoden auf das Gebiet des Sollens« in Form einerpositivistischen »Theorie der juristischen Tatsachen« nachgeht.43 Explizit –oft bloß repetitiv – auf Hippels Systembildung zurückgreifend, versucht er diedem »Positivismus« des 19. Jahrhunderts entstammenden und in das kodifi-zierte Recht aufgenommenen Fiktionen auf die »logiszistische« Begriffskon-struktion einer von der sozialen und rechtspolitischen Wirklichkeit abge-koppelten, Eigengesetzlichkeiten folgenden »Rechtswelt« zurückzuführen.Für einen Zugriff, der gerade am Spannungsverhältnis zwischen dem tradier-ten Begriffsrepertoire der Wissenschaft und einer nie genau präzisierten, demVerfasser jeweils vorschwebenden sozialpolitischen Wirklichkeit ansetzte, botdie Fiktionsfrage in der Tat viel Stoff. Gerade die »Gleichsetzung des Un-gleichen« sollte für Esser die »Verschleierung der Durchbrechung der an-geblichen Eigengesetzlichkeit jener Rechtswesen – der ›juristischenTatsachen‹«44 – bloßlegen. Sieht man aber von spezifischen Fragen desFiktionsthemas ab, so stützt sich Essers Sprache immer wieder auf einezeittypische Gegenüberstellung von Adjektiven wie »abstrakt«, »begrifflich«,»logizistisch«, »formal-systematisch«, »bloß-technisch« einerseits und »so-zial«, »politisch«, »weltanschaulich« andererseits – zuweilen auch »völ-

10 Kapitel 1: Einleitung

42 Hippel, Gustav Hugos juristischer Arbeitsplan [1930], S. 6.43 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen. Kritisches zur Technik der

Gesetzgebung und zur bisherigen Dogmatik des Privatrechts [1969, 11940].S. 131–132. Entstanden 1933–1935 als Promotion bei Hippel in Frankfurt,vgl. dazu beide Vorreden.

44 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen [1940], S. 141.

Page 20: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

kisch«.45 Hippels Worte variierend stellt er zusammenfassend fest: »Diesystematische Verwechselung von Rechts- und Naturbegriffen, Norm undTatbestand, das Operieren mit Rechtsbegriffen als einer Art zu respektie-render Naturwirklichkeit, ist in der Tat die Ursache unserer allgemein-dogmatischen Fiktionsbildung, […] das wesentliche Symptom, welches unsauf die theoretische Wurzel dieser Fiktionsbildung hinweist«.46

Während aber für Hippel die ordnende Wahl des an ein Gerechtigkeitsge-bot gebundenen Gesetzgebers maßgebend war, tritt bei Esser die rechts-politische Bewertung der sozialen Wirklichkeit in den Vordergrund. Zwarbetonte auch Hippel 1930, dass die Bejahung einer Privatrechtsordnung einerechtspolitische Wahl impliziere. Diese sei aber »formal und negativ« be-grenzt. Bei den »Tatsachenjuristen« entsteht aber für Esser eine wirklichkeits-fremde Jurisprudenz insofern, als ihnen ein »höchstes materielles Rechtsge-bot«, mithin ein konsequenter »Wertmaßstab« fehlen. Die »Durchbrechungder dogmatischen Axiomatik« – so nennt er seine Diskussion einzelnerFiktionen wie Eigentumserwerb vom Nichtberechtigten, Konfusion dinglicherRechte, Forderungsübertragung oder ex tunc-Wirkung – läuft immer aufdasselbe Ergebnis hinaus: die betroffenen Rechtsprobleme seien nämlich »nurrechtspolitisch und nicht begriffsdogmatisch zu lösen«.47 Essers Kritik der»Theorie der juristischen Tatsachen«, eigentlich der juristischen Arbeitsweisedes 19. Jahrhunderts überhaupt, löst sich somit in ein symptomatischesZurückschrecken vor Begriff und Dogmatik auf, das sich zwar argumentativimmer wieder auf Materielles und Wertungen berief, dafür aber keine kon-kreten Kriterien, sondern nur vage Andeutungen bieten konnte, was bei demVerweis aufs Politische nur konsequent war. Wertung bedeutet hier immerrechtspolitische Wertung, auch wenn der entscheidende Punkt, wer genau dieRealität rechtlich bewerten soll und unter welchen Bedingungen, scheinbaroffen gelassen wird. Auch wenn Esser die »Werte« jener Jahre nicht ganzeindeutig vertreten zu haben scheint,48 war das »Befremden des jungen

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 11

45 Symptomatisch dafür Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen [1940],S. 28.

46 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen [1940], S. 124.47 Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen [1940], S. 135, 144–145, 146,

154, 160.48 Die »offizielle« Kritik warf Esser nämlich vor, sich vom »normativistische[n]

Rationalismus« noch nicht gelöst und gelegentlich zu Formeln wie »Normen-komplexe« und »reine Rechtsbegriffe« geneigt zu haben, die ihn in die Nähedes Neukantianismus der Reinen Rechtslehre gerückt hätten, vgl. dazuWieacker, Rechtsbegriff und juristische Fiktion (= Rez. Esser), [1942],S. 181. Darauf antwortet nicht zufällig Hippel selbst im AcP, Bd. 28 [1943],S. 120: »Unter diesen Umständen wird man es dem Verfasser nachsehenmüssen, […] wenn er in berechtigter Opposition gegen eine heute vergehende

Page 21: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Juristen über unsere Befangenheit in selbstgeschaffenen dogmatischen Prämis-sen und Systemen«, wie es autobiographisch im Vorwort zur zweiten Auflage1968 heißt, weniger das Ergebnis einer historisch-kritischen Auseinander-setzung mit Begriffskonstruktionen im BGB als das Produkt der eigenenBefangenheit in zeittypischen Topoi.49

Dass ferner juristische Tatsache als privatrechtliche Kategorie der deut-schen Rechtsdogmatik heute praktisch gar nicht mehr präsent ist,50 hängtnicht zuletzt mit der positiven Anknüpfung an die Jurisprudenz des 19. Jahr-hunderts zusammen, die Werner Flume nach 1945 unternahm. Der im Vor-wort zu seinem Rechtsgeschäft 1964 programmatisch verkündete »ständigeUmgang mit den Juristen des 19. Jahrhunderts« ging mit der eigenen »Tradi-tion« selektiv um und wollte gerade diejenige Kategorie aus ihrem systemati-schen Zusammenhang isolieren und »verselbstständigen« [!], die er für eineauf dem Prinzip der Privatautonomie basierende Privatrechtsordnung derNachkriegsgesellschaft für konstitutiv hielt, eben das Rechtsgeschäft.51 Ineiner Langzeitperspektive verfestigte sich damit letzteres – und nicht diejuristischen Tatsachen – als dritte Gruppe von Vorschriften im allgemeinenTeil neben Personen und Sachen. Diese Tendenz kündigte sich bereits in derspäten Pandektistik an und prägte auch die Regelung der Materie im BGB.52

12 Kapitel 1: Einleitung

begriffsjuristische Dogmatik etwa die eigene Trennung von Natur- und Wert-erkenntnis bisweilen übersteigert«.

49 Vgl. hierzu Haferkamp, »Methodenehrlichkeit«? – Die juristische Fiktion imWandel der Zeiten [2006], S. 1082.

50 Aus der heutigen Literatur ist mir nur die Formulierung Rechtstatsachebekannt bei Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs [22006],S. 112 ff., der sich dafür hauptsächlich auf Alfred Manigk beruft. Bork scheintaber der Linie von Nipperdey zu folgen, der noch in der 15. Aufl. desEnneccerus, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts II [1960], S. 858 ff.die Lehre der juristischen Tatsachen behandelt.

51 So Flume im Vorwort zur 1. Aufl. seines Allgemeiner Teil des BürgerlichenRechts II: Das Rechtsgeschäft. Zit. hier aus der 4. Aufl. [1992], S. VII: »Es istin den Darstellungen des Allgemeinen Teils des Bürgerlichen Rechts üblich, dieLehre vom Rechtsgeschäft der Lehre von den juristischen Tatsachen einzu-ordnen und das Rechtsgeschäft als Tatbestand für die Entstehung, den Unter-gang und die Veränderung der subjektiven Rechte zu werten. […] DasEssentiale des Rechtsgeschäfts, daß es sich bei ihm handelt um die schöpfe-rische Gestaltung eines Rechtsverhältnisses kraft Selbstbestimmung, kommt indiesen Einordnungen jedoch nicht zur Geltung. Die Verselbständigung derLehre vom Rechtsgeschäft mag dazu dienen, die Eigenart und Eigenständigkeitder Lehre von der Privatautonomie klarer hervortreten zu lassen«.

52 Schon in den Motiven ist nicht mehr von juristischen Tatsachen die Rede, dervierte Abschnitt trägt wie der Entwurf die Überschrift »Rechtsgeschäfte«, vgl.Motive I, S. 126 ff. Auch Planck, Kommentar I [31906], S. 179 ff. sprichtnicht mehr von juristischen Tatsachen als allgemeiner Kategorie neben Perso-nen und Sachen.

Page 22: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Warum nun das »Essentiale« des Rechtsgeschäfts Flume zufolge nicht mehrim Rahmen einer Theorie der juristischen Tatsachen zur Geltung gebrachtwerden könnte, lässt sich aus seiner Darstellung 1964 nicht unmittelbarerschließen. Frühere Texte53 deuten aber auf den spezifischen Kontext der1960er Jahre hin, als historische und prinzipielle Voraussetzungen des Rechts-geschäfts in Rechtssprechung und Lehre auf zunehmende Kritik stoßen.Ansprüche auf »materiale Gerechtigkeit« und eine immer lauter werdendeForderung nach »Ethisierung« des Privatrechts sollen laut Flume die moderneZivilistik dazu geführt haben, den »Rechtsgeschäftsbegriff, dessen Essentialeder Wille ist«, als »primitiv, jedenfalls als überholt« zu betrachten. Die indiesen Jahren häufig verteidigte Akzentverschiebung vom »gewollten« aufden »materiell gerechten« Vertrag, vom selbstgestaltenden »Akt« oder »Han-deln« auf das »rechtlich relevante Verhalten« führe eine »Mediatisierung« desRechtsgeschäfts mit sich, welche »an die Stelle der privatautonomen dierichterliche Gestaltung des Rechtsverhältnisses setzt«.54 Flumes Auffassungzeichnet sich durch ihre Skepsis gegenüber jeder begrifflichen Neufassung derRechtsgeschäftslehre aus, welche die Entscheidungsgewalt des Einzelnen imRechtsverkehr über die geregelten Schranken hinaus durch richterliche Wer-tung beschränkt. Die Geltung eines Rechtsgeschäfts von einer richterlichenWertung abhängig zu machen, die sich weder konkret anerkannten Rechts-sätzen noch dem Willen der Parteien gebunden sieht, wird hier konsequent alsVerstoß gegen das verfassungsrechtliche Prinzip der Privatautonomie inter-pretiert.

Dabei polemisierte Flume explizit gegen Äußerungen von Ludwig Raiser55

und Franz Wieacker56 aus den frühen 1960er Jahren zum Thema Vertrags-freiheit. Beide setzten sich mit der Anwendbarkeit der klassischen, aufWillenseinigung beruhenden Vertragsstruktur in der modernen Gesellschaftauseinander, vor allem in Bezug auf die in den späten 1950er Jahren inRechtsprechung und Literatur wieder aktuell gewordene Diskussion überfaktische Vertragsverhältnisse. Sowohl Raiser als auch Wieacker strebten –freilich aus unterschiedlichen Perspektiven – eine systematische Bewältigungdes Problems an, hier durch die Betonung einer nur mit Rückgriff auf dasSozialstaatsprinzip zu überwindenden »Zweispurigkeit der Begründung von

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 13

53 Flume, Das Rechtsgeschäft und das rechtlich relevante Verhalten, in: AcP 41(1962), S. 52–76; und Rechtsgeschäft und Privatautonomie [1960].

54 Flume, Das Rechtsgeschäft und das rechtlich relevante Verhalten [1962],S. 53–54.

55 Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit [1960], S. 101–134.56 Das bürgerliche Recht im Wandel der Gesellschaftsordnungen [1960]; Ders.,

Willenserklärung und sozialtypisches Verhalten [1961].

Page 23: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Vertragswirkungen«,57 dort durch eine nicht ganz eindeutige funktionalePerspektive, die den Vertrag als »rechtliche Ordnung zwischenmenschlicherBeziehungen« begriff aber dazu »materielle Gerechtigkeit« forderte, um diefaktischen Vertragsverhältnisse ins traditionelle System zu integrieren.58 Dieunterschiedlichen Perspektiven beider Autoren werden im Ergebnis besonderssichtbar. Während Raiser versucht, Lehre und Praxis »von der Herrschaft desWillensdogmas zu befreien« ohne dabei die »Fortschritte der liberalen Dok-trin« aufzugeben,59 verfolgt Wieacker eine drastischere Linie, die das »klas-sische System der Privatautonomie« und das »sozialstaatliche der kollektivenEinordnung in typische Leistungsbezüge« für schlicht unvereinbar hält undletztlich darauf abzielt, die »klassische« Vertragsfreiheit für inkompatibel mitdem Grundgesetz zu erklären.60 Diese Nuancen sind sicherlich bedeutend,hinderten Raiser und Wieacker aber nicht daran, sich einig über den histori-schen Hintergrund zu sein, der ihre praktischen Ergebnisse motivierte. Beidegehen von einem inzwischen stark relativierten Bild61 der Pandektistik aus,das Begriffe wie Rechtsgeschäft und Willenserklärung als Produkte einerwertfreien, der unbegrenzten Durchsetzung der individuellen Willensmachtdienenden und sozial desinteressierten »naturalistischen Theorie«62 darstellt.Dass gerade in diesem Kontext Stichworte wie »Subjektivismus«, »Liberalis-mus« und »Positivismus«, bekannt aus der Debatte von Hippel, Manigk und

14 Kapitel 1: Einleitung

57 Wieacker, Das bürgerliche Recht [1960], S. 284–285: »[…] denn sie [sc. dieSozialstaatsklausel] allein würde auch der Lehre vom sozialtypischen Verhalten[…] ihre überzeugende grundsätzliche Abstützung geben können«.

58 Raiser, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit [1960], S. 114 u. 124. DieAnsicht von Raiser ist aus dem einfachen Grund unhaltbar, dass er funktionalarbeiten will, ohne für den Vertrag eine klare Funktion festzulegen. Dass derVertrag eine zwischenmenschliche Beziehung ist, ist an sich keine Funktion,sondern eine Banalität, vgl. symptomatisch S. 123: »Entscheidend für dieBewertung als Vertrag ist nur, daß das Erfordernis der selbstgeschaffenen,nicht vorgegebenen oder auferlegten zwischenmenschlichen Ordnung gewahrtist«.

59 Raiser, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit [1960], S. 104 u. 130 f.60 Wieacker, Das bürgerliche Recht [1960], S. 266 u. 284: »Indessen ist damit

die Frage noch nicht ausgeschöpft, ob jene ›klassische‹ Vertragsfreiheit wirklichdurch das Grundgesetz gedeckt ist«.

61 Siehe dazu vor allem Hofer, Freiheit ohne Grenzen? PrivatrechtstheoretischeDiskussionen im 19. Jahrhundert [2001], insb. Einleitung zu Raiser undWieacker.

62 Dies betont vor allem Wieacker, Willenserklärung und sozialtypisches Ver-halten [1961], S. 278. Vgl. auch Raiser, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit[1960], S. 116.

Page 24: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Larenz, bei Raiser und vor allem bei Wieacker63 wieder begegnen, ist einHinweis auf die Tragweite für die Dogmatik der Nachkriegszeit von einem inden 1930er und 40er Jahren geprägten Vorwurf gegen das Pandektenrechtund das BGB.64

Flumes Rechtsgeschäft ist als Reaktion65 auf die massive Kritik der 1960erJahre an der von der Pandektistik stammenden Begrifflichkeit entstanden.Zieht man die Texte von Raiser und Wieacker in Betracht, die hier als parspro toto einer ganzen Literaturreihe genommen werden, so ist es kaumzufällig, dass Flume mit dem geradezu programmatischen Abschnitt über»Die Privatautonomie als Prinzip unserer Rechtsordnung« einsetzt. DerKontext der 1960er Jahre klärt auch, warum Flume schon 1962 für »miß-verständlich« hielt, wenn man seit Savigny »das Rechtsgeschäft unter demallgemeinen Begriff der juristischen Tatsache begreift«.66 Die Hervorhebungder Willenskomponente bewahrt die Verknüpfung zum Prinzip der Privat-autonomie und verhindert zugleich den Bezug auf außerjuristische, etwaethisierende oder soziale Merkmale. In diesem Zusammenhang gehe Savignys»Theorie der juristischen Tatsachen« insofern fehl, als die Einordnung desRechtsgeschäfts als Tatsache es in die Nähe der faktischen Verhältnisse rückte.Die Pointe insbesondere von Wieackers Text bestand offenbar darin, durchdie rechtliche Anerkennung einer an »faktischen Verhältnissen« anhaftendenNormativität das klassische System – und dadurch die darin fixierten prinzi-piellen Entscheidungen über die Gestaltung des modernen Privatrechts – zusprengen. Nicht Privatautonomie und Wille, sondern richterliche Wertungund soziales Verhalten sind hier entscheidend. Flume reagiert auf diesePosition mit einer bewussten Radikalisierung der traditionellen Lehre vomRechtsgeschäft, deren Fazit lautet: »Das Großartige des Rechtsgeschäfts ist,daß der einzelne selbst die Regelung setzt, welche das Recht als Rechtensanerkennt, weil es gemäß dem Grundsatz der Privatautonomie dem einzelnendie Befugnis zuerkennt, die Regelung zu setzen«.67 Das »Essentiale« des

I. Letzte Spuren in Umbruchszeiten 15

63 Den Zusammenhang von Wieackers Privatrechtsgeschichte zu seinen histori-schen Positionen während der NS-Zeit klärt Rückert, Geschichte des Privat-rechts als Apologie des Juristen [1995], insb. S. 540.

64 Für das Beharren dieser Lektüre der deutschen klassischen JurisprudenzRückert, Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance?[2003], S. 749 ff.

65 Den Entstehungskontext bestätigt die Rez. von Lorenz in: AcP 46 [1966],S. 502 ff.

66 Flume, Das Rechtsgeschäft und das rechtlich relevante Verhalten [1962],S. 60.

67 Flume, Das Rechtsgeschäft und das rechtlich relevante Verhalten [1962],S. 76.

Page 25: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Rechtsgeschäfts muss hier auf jeden Fall erhalten bleiben, auch um den Preiseiner Tautologie.

Ob man aus dieser prinzipiellen Ordnungswahl des Zivilrechts in Bezug aufihre dogmatische Tragweite sowie auf neuere Erkenntnisse über die Voraus-setzungen der »Tradition« selbst, worauf sie zurückgreift, heute noch konsis-tent argumentieren könnte, mag hier dahingestellt bleiben.68 Eine adäquateAntwort müsste insbesondere die in der rechtshistorischen Literatur parallellaufenden Diskussionen berücksichtigen. Bezeichnenderweise stehen Themenwie »subjektives Recht«, »Privatrechtssystem« oder auch Savignys »Bedeu-tung für die gegenwärtige Rechtswissenschaft« im Mittelpunkt von repräsen-tativen Arbeiten Helmut Coings seit den 1950er Jahren.69 Bemerkenswert istaber eine markante Kontinuität von Lektüren über die Arbeitsweise derJurisprudenz des 19. Jahrhunderts, die vom Umbruch der 1930er bis in die1960er Jahre reicht und den dogmatischen Umgang mit der Kategoriejuristische Tatsache in Deutschland – sowie mit dem pandektistischen Erbeüberhaupt – auf entscheidende Weise prägt.

II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und drei Leitfragen

Die soeben vorgebrachte Interpretation zielte weniger auf eine vollständigeÜbersicht als auf eine anschauliche Einführung in die Problemstellung dervorliegenden Arbeit. Es wurde versucht, punktuell verweilend einiges Ge-nauere über ein Thema zu sagen, das seit den 1930er Jahren immer mehr ausdem Blickfeld der deutschen Zivilrechtsliteratur geriet und heute kaum nochpräsent ist. Bezeichnenderweise fällt das Verschwinden der juristischen Tat-sache aus der heutigen Rechtssprache zeitlich mit einer kritischen Distanzie-rung vom wissenschaftlichen Paradigma des 19. Jahrhunderts zusammen.Dabei zeigte sich im Verhältnis von Normativität und Faktizität ein Zusam-menhang, in dem der Bezug auf juristische Tatsachen immer wieder proble-

16 Kapitel 1: Einleitung

68 Kritisch dazu aber Rückert, Das BGB und seine Prinzipien [2003], S. 112;vgl. auch Kiefner, Der Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Zivilrechts[1969], der von Flumes Rechtsgeschäft ausgeht, auf S. 25 mit dem Hinweis,»daß die Privatautonomie, auf der unser Privatrechtssystem seit Savigny, imAnschluß an Kant, ruht, in ihrem Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit mehr alsproblematisch geworden ist«.

69 Vgl. dazu bei Coing, Gesammelte Aufsätze zu Rechtsgeschichte, Rechtsphilo-sophie und Zivilrecht 1947–1975 [1982] einfach die Titel: System, Geschichteund Interesse in der Privatrechtswissenschaft; Savignys Rechtspolitische undmethodische Anschauungen in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige deutscheRechtswissenschaft; Zur Geschichte des Begriffs ›subjektives Recht‹; Bemer-kungen zum überkommenen Zivilrechtssystem.

Page 26: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

matisch wurde. Von Hippel und Manigk bis Wieacker und Flume erkannteman darin stets eine Kategorie, welche die pandektistische Antwort auf dieFrage, wie Faktum und Recht zu trennen bzw. zu verknüpfen sind, einfluss-reich verkörperte. Nicht zufällig stieß ihre Verwendung immer dort auf dieheftigste Kritik, wo eine Neugestaltung der Grenzen des Rechts angestrebtwurde. Die Intensität der Diskussionen ist ferner ein Indiz dafür, dass esprimär nicht um begriffliche Konstruktionen ging. Im Mittelpunkt standvielmehr eine Entscheidung über die rechtliche Anerkennung gesellschaftlicherVerhältnisse mit allen Durchsetzungsmöglichkeiten, welche die juristischeHärte des Rechtssystems mit sich bringt. Gerade bei der Abgrenzung vonrechtlich relevanten Situationen scheint juristische Tatsache eine Rolle gespieltzu haben, die in den Augen mancher Juristen den Bedürfnissen des 20. Jahr-hunderts offenbar nicht mehr entsprach und Distanzierung verlangte.

Die bisher skizzierte Wirkungsgeschichte ist in mehrfacher Hinsicht weg-weisend und wirft im Blick auf Savignys Arbeitsweise eine Reihe von Fragenauf, die nun präzisiert werden müssen. Eine selbstständige Annäherung an dashier interessierende Thema, die zugleich erlauben würde, konkrete Problem-stellungen sowie den weiteren Gang der Untersuchung näher bestimmen zukönnen, kann am besten dadurch erreicht werden, dass Bedeutung undFunktion der juristischen Tatsachen bei Savigny an den Quellen selbst geprüftund in Form von Leitfragen ausgearbeitet werden. Als Anhaltspunkte für dieArgumentation werden unten gleich elf Texte aus dem System und einer ausdem Obligationenrecht angeführt, aus denen die in den einzelnen Kapitelnnäher zu erörternden Leitfragen entwickelt werden. Auch wenn der Ausdruck»juristische Tatsache« nicht in allen Quellen auftaucht – Text 1 etwa sprichtbloß von »besonderen Thatsachen« –, wird es sich aus einer verknüpfendenLektüre der Texte sowie aus anderen Belegen ergeben, dass die angeführtenQuellen in direkter Beziehung zu den unten zu entwickelnden Fragestellungenstehen. Die Texte sind nach Savignys eigener Darstellung geordnet und folgeninsofern einer chronologischen Ordnung. Um den originalen Kontext zuerhalten sowie die Nähe zu den Quellen zu bewahren, werden sie möglichstvollständig zitiert.

Text 1: System I, S. 9:»Das Urtheil über das einzelne Recht ist nur möglich durch Beziehung derbesonderen Thatsachen auf eine allgemeine Regel, von welcher die einzelnenRechte beherrscht werden. Diese Regel nennen wir das Recht schlechthin, oderdas allgemeine Recht: Manche nennen sie das Recht im objectiven Sinn.«

Text 2: System I, S. 11–12:»Auch die einzelnen Rechtsverhältnisse haben ihre Entstehungsgründe (a) [sc.Die allgemeine Lehre von diesen Entstehungsgründen ist im dritten Kapitel deszweyten Buchs enthalten], und die Verwandtschaft der Rechtsverhältnisse mit

II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und drei Leitfragen 17

Page 27: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

den Rechtsinstituten führt leicht zu einer Vermischung derselben mit denEntstehungsgründen der Rechtsregel. Will man z. B. die Bedingungen irgendeines Rechtsverhältnisses vollständig aufzählen, so gehört dazu unzweifelhaftsowohl das Daseyn einer Rechtsregel, als eine dieser Regel entsprechendeThatsache, also z. B. ein Gesetz, welches die Verträge anerkennt, und eingeschlossener Vertrag selbst. Dennoch sind diese beiden Bedingungen specifischverschieden, und es führt auf Verwirrung der Begriffe, wenn man Verträge undGesetze auf Eine Linie als Rechtsquellen stellt.«

Text 3: System I, S. 187:»Jedes Rechtsverhältniß hat eine zwiefache Grundlage, eine allgemeine undeine besondere: jene ist die Rechtsregel, diese bestehen in den Thatsachen,wodurch die Anwendung der Regel auf den einzelnen Fall vermittelt wird(§ 5).«

Text 4: System I, S. 333:»Von dem nunmehr gewonnenen Standpunkt aus erscheint uns jedes einzelneRechtsverhältniß als eine Beziehung zwischen Person und Person, durch eineRechtsregel bestimmt […] Daher lassen sich in jedem Rechtsverhältniß zweyStücke unterscheiden: erstlich ein Stoff, das heißt jene Beziehung an sich, undzweytens die rechtliche Bestimmung dieses Stoffs. Das erste Stück können wirals das materielle Element der Rechtsverhältnisse, oder als die bloße Thatsachein denselben bezeichnen: das zweyte als ihr formelles Element, das heißt alsdasjenige, wodurch die thatsächliche Beziehung zur Rechtsform erhobenwird«.

Text 5: System I, S. 393:»Soll uns eine vollständige Einsicht in das Wesen der Rechtsverhältnisseentstehen, wie sie in das wirkliche Leben eingreifen, so ist es nicht genug,ihren Inhalt zu kennen, also die Wirksamkeit, die ihnen in der gegenwärtigenZeit zuzuschreiben ist, sondern es muß uns zugleich ihr eigener Lebensprozeßklar werden, also neben der stabilen Seite ihrer Natur auch die bewegliche Seitederselben. Dazu gehört ihre Entstehung und Auflösung, ihre Entwicklung undihr möglicher Übergang in neue Gestalten (Metamorphose), vorzüglich auchihre Verfolgung wenn sie verletzt werden.«

Text 6: System III, S. 307:»Unsere Betrachtung der juristischen Thatsachen ist bis jetzt stets vom Allge-meinen zum Besonderen fortgeschritten: von der Thatsache überhaupt zurfreyen Handlung, von dieser zur Willenserklärung.«

Text 7: System III, S. 326–327:»Man unterscheidet den Rechtsirrthum und den factischen Irrthum. DerRechtsirrthum hat zum Gegenstand den Inhalt einer Rechtsregel, also dasobjective Recht; der factische Irrthum bezieht sich auf die juristischen That-sachen, dass heißt auf die thatsächlichen Bedingungen der Anwendung einerRechtsregel. Von beiden läßt sich noch derjenige Irrthum unterscheiden,welcher in der unrichtigen Subsumtion der Thatsachen unter die Rechtsregelenthalten ist; da jedoch unsere Rechtsquellen nur jene beiden Arten desIrrthums anerkennen, so muß bestimmt werden, welcher derselben dieser dritte

18 Kapitel 1: Einleitung

Page 28: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Fall hinzu zu rechnen ist. Sehen wir nun auf dessen innere Natur, so müssen wirihn als factischen Irrthum anerkennen. Denn die Rechtsregel ist als das Feste,unabänderlich Gegebene anzusehen; unsere Aufgabe ist es, die einzelnenElemente der Thatsachen, theils durch Zergliederung, theils durch Verbindung,dergestalt zu einem Ganzen zu bilden, dass die feste Rechtsregel auf dasselbeanwendbar erscheine. Wir mögen nun in der unmittelbaren Auffassung desGeschehenen selbst irren, oder in dieser Ausbildung desselben durch unserDenken, so ist es doch immer die Erkenntnis der Thatsachen, worüber wirirren, mithin der Irrthum selbst ein factischer.«

Text 8: System III, S. 328:»Der juristische Einfluß des Irrthums steht in Verbindung mit den juristischenThatsachen, oder den Gründen der Entstehung und des Untergangs der Rechts-verhältnisse. Wenn nämlich diese Thatsachen in freyen Handlungen oderUnterlassungen bestehen, und wenn auf jene oder diese irgend ein IrrthumEinfluß gehabt hat, so fragt es sich, ob etwa dieser Irrthum die regelmäßigeWirkung jener Thatsachen störe, so daß nun die Entstehung oder der Untergangdes Rechtsverhältnisses entweder ganz unterbliebe, oder doch auf andere als diegewöhnliche Weise einträte. Ja es ließe sich denken, dass der Irrthum dieWirkung der Thatsachen nicht blos ausschlösse oder verminderte, sondern inanderen Fällen sogar verstärkte, indem Dasjenige, was außerdem ein Hindernißdes Rechtsverhältnisses seyn würde, um des Irrthums willen diese hinderndeKraft nicht äußern könnte. Alle diese Verschiedenheiten lassen sich unter dengemeinsamen Gesichtspunkt bringen, dass durch den Irrthum die regelmäßigeWirksamkeit juristischer Thatsachen ausnahmsweise modificiert werden kann.«

Text 9: System IV, S. 297:»In vielen und wichtigen Rechtsinstituten findet sich ein Zeitverhältnis alsBestandtheil der durch eine allgemeine Regel begründeten Thatsachen, so dasshier die Zeit als eine der Bedingungen erscheint, wovon der Erwerb oderVerlust eines Rechts abhängig gemacht wird.«

Text 10: System VIII, S. 375–376:»Eine erste Gattung von Rechtsregeln bezieht sich auf den Erwerb der Rechte,das heißt auf die Verbindung eines Rechts mit einer einzelnen Person, oder aufdie Verwandlung eines (abstracten) Rechtsinstituts in ein (persönliches) Rechts-verhältniß (a) [sc. S. o. B. 1, § 4. 5.]. […] Wenn in einem Lande bisher dasEigenthum durch bloßen Vertrag veräußert und erworben werden konnte, einneues Gesetz aber zur Veräußerung die Tradition fordert, so betrifft dieVeränderung der Rechtsregel lediglich die Frage, unter welchen Bedingungender Einzelne Eigenthum einer Sache erwerben, also zu seinem Rechte machenkann. […] Eine zweyte Gattung von Rechtsregeln bezieht sich auf das Daseynder Rechte, also auf die Anerkennung eines Rechtsinstituts im Allgemeinen,welche stets vorausgesetzt werden muß, bevor von der Beziehung auf eineeinzelne Person, oder von der Verwandlung eines Rechtsinstituts in ein Rechts-verhältnis, die Rede seyn kann.«

Text 11: System VIII, S. 378:»Man könnte sie [die beiden Gattungen der Rechtsregeln] auch dadurch zuunterscheiden suchen, daß man die eine Gattung auf das Recht im subjectiven,

II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und drei Leitfragen 19

Page 29: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

die andere auf das Recht im objectiven Sinn bezöge (c) [sc. S. o. B. 1 § 4.5.].Oder so, daß die eine Gattung auf die bleibende Natur (das Permanente) derRechtsverhältnisse bezogen würde, die andere auf das Bewegliche in denselben[…] Die erste Gattung von Rechtsregeln wurde bezogen auf den Erwerb derRechte; indessen ist darin auch der Verlust derselben, die Auflösung derRechtsverhältnisse (ihre Abtrennung von der Person des bisherigen Inhabers)mit inbegriffen und nur der Kürze wegen nicht mit ausgedrückt (d) [sc. Es hättedaher diese Gattung auch bezeichnet werden können als: Regeln für diejuristischen Thatsachen (B. 3 § 104). Ich habe diesen Ausdruck als zu abstractlautend vermieden].«

Text 12: Obligationenrecht I, S. 18–19:»[Die juristischen Tatsachen] erscheinen zunächst in der allgemeinen, unent-behrlichen Function, als die thatsächlichen Bedingungen für die regelmäßigeAnwendung der Rechtsregeln. So, wenn das Eigenthum erworben und verlorenwird durch Uebergabe oder Ersitzung; eben so, wenn Obligationen begründetwerden durch Verträge oder Delicte, aufgehoben durch Erfüllung oder Vertrag.

Außerdem aber erscheinen sie in der besonderen, mehr zufälligen Function, alsthatsächliche Bedingung für die willkürliche Umbildung der Rechtsregeln.Hierauf bezieht sich die bei neueren Schriftstellern sehr verbreitete Auffassungund Ausdrucksweise, welche in den Rechtsverhältnissen essentialia, naturaliaund accidentalia unterscheidet«.

Allein schon die Fundstellen erlauben einige erste Beobachtungen. Ausser dersedes materiae im dritten Kapitel des zweiten Buchs knüpft Savignys Rede vonjuristischen Tatsachen an folgende Zusammenhänge an: Erstens an dieArgumentation der berühmten §§ 4 und 5 über Rechtsverhältnis und Rechts-institut zu Beginn des ersten Buchs, die für den Aufbau des System funda-mental ist; dann an die Erläuterung der Struktur der Rechtsverhältnisse imnicht minder berühmten § 52 zu Beginn des zweiten Buchs; schließlich an dieUnterscheidung zweier Gattungen von Rechtsregeln in Bezug auf die Rechts-anwendung in Raum und Zeit im dritten Buch. Ohne dem Inhalt der Quellenvorzugreifen, kann man einfach anhand dieser Stationen im System in derBeziehung zwischen Rechtsinstitut und Rechtsverhältnis, zwischen objektivemund subjektivem Recht, zwischen Regel und Tatsache eine durchgehendeProblemlage von Savignys Privatrechtskonzeption identifizieren, wo juristi-sche Tatsachen eine bedeutende Rolle spielen. Die folgenden Punkte knüpfenanalytisch an die Texte an und versuchen, unmittelbar aus den QuellenFragestellungen zu entwickeln, die dem weiteren Gang der Untersuchungals Leitfaden dienen werden.

1. Erste Leitfrage: Rechtsdogmatisch

Die systematische Rede von »Thatsache« in den angeführten Textstellenbedarf zunächst einer sprachgeschichtlichen Klärung. Dass es 1840 bei

20 Kapitel 1: Einleitung

Page 30: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Savigny offenbar relevant verwendet wurde, soll nicht darüber hinwegtäu-schen, dass es sich im Deutschen um ein relativ neues Wort handelt, dessenGebrauch erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts belegbar ist. Das Grimm-sche Wörterbuch erwähnt einen in der Sekundärliteratur oft aufgegriffenenHinweis Lessings über dieses »Wörtlein«, er wisse sich »der Zeit ganz wohl zuerinnern, da es noch in niemands Munde war«, aber wisse nicht, »aus wessenMunde oder Feder es zuerst gekommen«, noch »wodurch es eine so allge-meine Aufnahme verdient hat, da man in gewissen Schriften kein Blattumschlagen kann, ohne auf eine Thatsache zu stoßen«.70 Auch AdelungsWörterbuch (1780) erwähnt unter »Tatsache« ein »von einigen Neuernversuchtes Wort, das Lat. Factum, eine geschehene Sache, eine gewirkteVeränderung außer sich zu bezeichnen«.71 »Thatsache« hielt man also nochim späten 18. Jahrhundert für einen Neologismus, der langsam und amAnfang noch erläuterungsbedürftig auch in der Jurisprudenz Eingang fand.So beispielsweise das Preußische Landrecht von 1794, das sich auf Willens-erklärungen als »Begebenheiten oder Thatsachen« bezog.72 Eine Durchsichtder frühen Pandektenliteratur ergibt ebenfalls einen unsicheren Gebrauch desWorts, grenzt aber seinen Anwendungsbereich detaillierter ab. Dem hierzwischen »Thatumständen«, »Begebenheiten«, »rechtserzeugende Thatsa-che« oder »factum im juristischen Sinne« schwankenden Sprachgebrauchliegt die gemeinsame Vorstellung zugrunde, mit solchen Wörtern die empi-rische Realität, die die normative Welt stützt und wo diese sich verwirklicht,zu bezeichnen. Man spricht insofern von »Thatsache (factum)« als einem»Ereigniß in der Sinnenwelt, ohne Rücksicht auf seine Ursache« oder von»Thatumständen« als »etwas außer dem Gesetz existierendes«, wodurchRechte »wirklich werden«.73 »Thatsache« bezeichnet in diesem Zusammen-

II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und drei Leitfragen 21

70 Deutsches Wörterbuch, online verfügbar unter http://dwb.uni-trier.de/de/. Da-tierung von Lessings Bemerkung zwischen 1777–1781 bei Staats, Der theo-logiegeschichtliche Hintergrund des Begriffes »Tatsache« [1973], S. 328 unddann Kiefner, Zur Sprache des Allgemeinen Landrechts [1997, 11995],S. 342*/70 f., Fn. 132.

71 »Das sind Thatsachen, sind wirklich geschehene Dinge, Begebenheiten« hieß esschließlich bei Adelung, der das Wort allerdings »unschicklich und wider dieAnalogie zusammen gesetzt« fand, vgl. Grammatisch-kritisches Wörterbuchder Hochdeutschen Mundart [1811], online verfügbar unter http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/online/angebot.

72 Etwa im § 145 I 4, nach Kiefner, Zur Sprache des Allgemeinen Landrechts[1997], S. 344*/72 ff. mit den anderen wenigen Verwendungen im ALR.

73 Erstes Zitat aus Mackeldey, s. unten gleich. Dann Thibaut, System desPandektenrechts I [1803], S. 93.

Page 31: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

hang durchweg die dem Gesetz gegenübergestellte empirische »Vorausset-zung« eines Rechts, den »Grund« von Rechten und Verbindlichkeiten, wiesich etwa Gottlieb Hufeland 1808 ausdrückt.74 Die Terminologie schwankt,verknüpft aber »Thatsache« immer wieder mit Empirie.

»Juristische Thatsache« weist in den oben angeführten Quellen Ähnlich-keiten mit diesem diskursiven Rahmen auf, wird aber bei Savigny eindeutigerund allgemeiner verwendet (etwa im Text 6). Das fehlte in der früherenLiteratur. Die bis zur Mitte der 1830er Jahre erschienenen Pandektenlehrbü-cher trennten zwischen Tatsachen und Handlungen (Tatsache bezog sich hiereher auf Naturereignisse) und ließen dabei den Schwerpunkt der Entstehungs-gründe der Rechte auf letztere fallen, also auf Willenserklärungen.75 AlleinMühlenbruchs Doctrina Pandectarum bezieht »Factum« auf »jede Thatsache,wodurch Rechte begründet, verändert, oder aufgehoben werden«, nennt diesebeiläufig auch »juristische Thatsachen« und macht dabei den Leser aus-drücklich darauf aufmerksam, dass damit nicht nur die »eigentlichen Hand-lungen« gemeint waren.76 Dass Mühlenbruchs überaus knappe und präziseDarstellung eine solche Bemerkung für nötig hielt, ist an sich schon ein Indizdafür, dass »factum« und »Thatsache« 1835 semantisch nicht ohne weiteresgleichgesetzt werden konnten. Mühlenbruch leitete aber eine Vereinheitli-chung der Terminologie ein, die bei Savigny Fortsetzung fand. Die ange-führten Texte ergeben, dass sich Savigny Mühlenbruchs Sprachgebrauchinsofern anschloss, als Tatsache bei ihm zentral und allgemein verwendetwird. Paradigmatisch dafür sind die einleitenden Sätze zum Vertrag im Text 6,wo das Fortschreiten vom Allgemeinen zum Besonderen eine aus Tatsachenstrukturierte Welt, die menschliches Handeln und Natur mit einbezieht,voraussetzt. Während also Mühlenbruch übersetzte und insofern aus demSpannungsfeld von factum und Tatsache, vom Alten und Neuen nicht weg-kam, kennt Savigny nur Tatsachen zur Bezeichnung von Rechts- und Natur-welt.

Die Tragweite einer solchen auf den ersten Blick vielleicht belanglosenVeränderung in der Terminologie der Jurisprudenz des frühen 19. Jahrhun-derts wird erst deutlicher, wenn man den Kontext der ersten Verwendung vonThatsache im Deutschen näher betrachtet. Die wohl erste Verwendung von

22 Kapitel 1: Einleitung

74 Hufeland, Lehrbuch des in Deutschen Ländern geltenden gemeinen Civil-rechts [1808], S. 46–47.

75 So typisch Mackeldey, Lehrbuch des heutigen römischen Rechts [71827],S. 192, an der bereits angeführten Stelle: »Thatsache (factum) überhaupt heißtjedes Ereigniß in der Sinnenwelt, ohne Rücksicht auf seine Ursache. Handlunghingegen heißt eine durch menschliche Willkühr bewirkte Begebenheit«.

76 Alles Mühlenbruch, Lehrbuch des Pandektenrechts I [1835], S. 168–169.

Page 32: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Thatsache in der deutschen Literatur stammt bekanntlich aus Johann JoachimSpaldings 1756 zunächst anonym erschienener Übersetzung von JosephButlers The Analogy of Religion Natural and Revealed to the Constitutionand Course of Nature aus dem Jahre 1736.77 Spaldings Thatsache78 wurdeanalog zum englischen matter of fact gebildet und entspricht diesem in denmeisten Fällen der Übersetzung, gibt aber an manchen Stellen auch einfachfact wieder. Um seinen Lesern das neue Wort verständlicher zu machen,erläuterte Spalding Thatsache entweder mit dem lateinischen Ausdruck resfacti in Klammern oder mit Zusätzen wie »es ist eine Thatsache, eine wirk-liche Erfahrung«, wo das Original bloß von »it is a fact« sprach. Solche undähnliche Ergänzungen wie »eine wirkliche Thatsache, eine offenbare Erfah-rung« oder auch »in so fern dieß eine Thatsache und Erfahrung ist«, tretenerstaunlich oft auf und deuten die ontologische Dimension an, die sich mit derVerwendung des Worts verband. Interessanterweise lässt sich dieser Aspektinsbesondere an den Stellen beobachten, wo Spalding trotz des Gebrauchs vonfact oder matter of fact im Original diese nicht mit Thatsache, sondern etwasumständlicher mit »einer klaren Erfahrung«, »wirkliche[r] Erfahrung«,»wirklich geschehenen Dingen« oder einfach »Begebenheiten« wiedergibt.Thatsachen verweisen hier durchgehend auf eine unmittelbare, menschlichesHandeln sowie die physische Welt mit umfassende Erfahrung. Als Erlebnisvon göttlicher Belohnung und Strafe in der Geschichte bedeuten Thatsachenin diesem ursprünglich theologischen Kontext überzeugende Hinweise, dieaus einer gleichförmigen Erfahrung von Natur und biblischer Traditiongewonnen werden und einen möglichst hohen Grad an Wahrscheinlichkeitbeanspruchen. Im neuen Wort löst sich die alte Unterscheidung von factumund verum auf. Die Welt zerfällt nach einer solchen Interpretation in natür-liche, dafür aber keineswegs neutrale Beweise für Gottes gerechtes Handeln,was Spaldings Wortprägung eine deutliche eschatologische Färbung ver-leiht.79 Dem Wort wird wegen seiner empirisch-metaphysischen Überzeu-

II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und drei Leitfragen 23

77 Deutscher Titel: D. Joseph Butlers Bischofs zu Durham Bestätigung dernatürlichen und geoffenbarten Religion aus ihrer Gleichförmigkeit mit derEinrichtung und dem ordentlichen Laufe der Natur. Der Hinweis auf SpaldingsErfindung findet sich schon im DWb, ausführlich belegt bei Walz, Tatsache[1912], S. 9–16. Zitiert schon bei Kiefner, Zur Sprache des AllgemeinenLandrechts [1997], S. 341*/69, daselbst biographisch zum Autor und Über-setzer.

78 Nach Walz, Tatsache [1912], der auf S. 10–13 die einschlägigen Stellen(insgesamt 17) in Original und Übersetzung parallel anführt.

79 Vgl. vor allem Staats, Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffes»Tatsache« [1973], S. 325–26, und Halbfass, Tatsache, in: HistWörtPhil,Sp. 910–913.

Page 33: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

gungskraft von Geburt an die Aura eines unwiderlegbaren Beweises beigelegt,es nimmt aber schon zu Spaldings Lebzeiten die säkularisierte Bedeutung einerisolierten Gegebenheit möglichst großer Gewissheit an, die ihre Verwendungin der Sprache bis heute charakterisiert.80

Diese etwas umständliche Wortgeschichte von Tatsache zu skizzieren warnotwendig, um eine Problemstellung anschaulicher zu machen, die sonst allzuabstrakt hätte ausfallen können. Die ursprünglich theologische Verwendungdes Worts beleuchtet auch eine unten näher zu erörternde Debatte zwischenPuchta, Stahl und Savigny in den 1830er Jahren über die Grundlage juristi-scher Systembildung.81 Dabei wurden Anhaltspunkte für die Hypothesepräsentiert, dass die konsequente Rede von juristischen Tatsachen in SavignysSystem nicht nur terminologisch neu war, sondern zugleich auch eine Ver-änderung in der Art und Weise impliziert, wie Juristen die faktische, denNormen gegenüberstehende Welt konzipierten. Kapitel 2 versucht, dieseHypothese weiter zu entwickeln und zeigt, dass diese Veränderung imjuristischen Umgang mit Faktizität über das Wort Tatsache hinaus geht undAspekte mit einschließt, die mit der Lösung von einzelnen Regelungsproble-men bei Savigny unmittelbar verbunden sind. So stellt man etwa im Tatbe-stand des Besitzerwerbs eine abstrakte Auffassung von Faktizität fest, die inmehrfacher Hinsicht die allgemeine Lehre über Entstehung und Untergang derRechtsverhältnisse im System vorwegnimmt. Im Mittelpunkt steht hier alsodie Frage, inwiefern der Gebrauch von Kategorien, die wie juristische Tat-sache direkt an der Grenze von Recht und Nichtrecht angesetzt sind, eineVeränderung im Operieren mit Faktizität im Recht zum Ausdruck bringt.Damit sind nicht zuletzt methodische Prämissen der Arbeit angesprochen,worauf unten gleich zurückzukommen sein wird. Festzuhalten ist an dieserStelle, dass allein schon Savignys Verwendung von Tatsache im System eineReihe von Fragen über seine Arbeitsweise aufwirft, die auf den ersten Blicknicht selbstverständlich waren.

24 Kapitel 1: Einleitung

80 Interessanterweise zitiert Grimms Wörterbuch als Beleg zu dieser Wortbedeu-tung eine Stelle aus Savignys Erinnerungen an Niebuhr’s Wesen und Wirkenaus dem Jahr 1839: »Das ist eine Thatsache, die als unbestreitbar Jedemeinleuchten muß, der die früheren Untersuchungen über Römische Geschichtemit späteren unbefangen vergleichen will«. Jetzt in: Savigny, VermischteSchriften, Bd. IV [1850], S. 216.

81 Vgl. dazu unten Kap. 3, III, 1.

Page 34: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

2. Zweite Leitfrage: Rechtsphilosophisch

Aus der Formulierung in Quelle 3 kann man entnehmen, dass juristischeTatsachen bei Savigny eine vermittelnde Rolle zwischen Normativität undallgemeiner Faktizität spielen (dazu auch Nr. 1 und 2). Als Entstehungsgründeder Rechtsverhältnisse stehen sie auf der untersten Ebene der Architektonikdes System, an der Grenze zwischen dem bloß Faktischen und den erstenjuristischen Abstraktionen. Dabei scheint Savigny auf einer faktischen Basiszu operieren, die er in sein Rechtssystem vielmehr zu integrieren als vondiesem abzukoppeln versucht, wie es sich beispielsweise in der berühmten,oben im Text 4 angeführten Unterscheidung der »zwey Stücke« im Rechts-verhältnis zeigt. Zwischen der »bloße[n] Thatsache« als Stoff und demjenigen,»wodurch die thatsächliche Beziehung zur Rechtsform erhoben wird«, hat erzwar unterschieden, aber nicht getrennt. Die Formel »juristische Tatsache«selbst deutet schon eine solche gleichzeitige Erfassung von Recht und Tatsachean. Andererseits weist Savigny auf den Übergang von einem faktischenVerhältnis in ein Rechtsverhältnis hin, den die juristischen Tatsachen bewir-ken: Während die bloße Berührung der Menschen in der »äußeren Welt«nichts weiter als die allgemeinen Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebensdarstellt und dabei den Ausgangspunkt zur Identifizierung des Wesens derRechtsverhältnisse im § 52 des System ausmacht, charakterisiert die Bezie-hung zwischen Person und Person den Stoff des einzelnen Verhältnisses, dasdie Bestimmung durch eine Rechtsregel zum Rechtsverhältnis erhebt.82 Ent-scheidend wird in diesem Zusammenhang »dasjenige«, das in Quelle 4 dieTatsache zur Rechtsform erhebt. Handelt es sich dabei einfach um eine Frageder Regelanwendung? Was sind für Savigny die Bedingungen für die recht-liche Relevanz von gesellschaftlichen Verhältnissen? Ist es nur eine Frage derRechtsquellenlehre? Indessen bietet das System Indizien dafür, dass dieRechtsverhältnisse und mit ihnen die juristische Tatsachen schon vor derRechtsregel da sind, die Rechtsregel stelle sie einfach fest und sichere sie.83 DieBehandlung der Rechtsverhältnisse gleich zu Beginn des System würde dieseVermutung bekräftigen. Dagegen liest man in Text 9, dass die Tatsachen, vondenen der Erwerb und Verlust von Rechten abhängig gemacht wird – worineben die allgemeine und unentbehrliche Funktion der juristischen Tatsachenfür Savigny bestehen – von der Regel überhaupt erst begründet werden.Juristische Tatsachen sollen also die Anwendung der Rechtsregel bedingen, sie

II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und drei Leitfragen 25

82 Vgl. Savigny, System I, S. 331–333. Die sprachliche Nuance bemerkte bereitsBrutti, La Sovranità del Volere [1980], S. 272.

83 So Rückert, Juristische Methode und Zivilrecht [1997], S. 34; Vgl. dazu auchWilhelm, Savignys überpositive Systematik [1969], S. 127 und 131: »vor-rechtliche Bedingungen«.

Page 35: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

selbst aber werden von dieser erst begründet. Versteht man unter begründen,dass den Tatsachen ihre Rechtsqualität erst durch die Rechtsregel verliehenwird, so deutet sich hier ein offensichtlicher Zirkel in Savignys Argumentationan, der seine Auffassung des Verhältnisses von Faktizität und Normativitätdirekt betrifft.

Damit wurde die zweite Fragestellung zu Savignys Theorie der juristischenTatsachen entworfen. Hatte die erste Frage den Aspekt der Faktizität betont, sosteht hier die normative Seite der juristischen Tatsachen im Vordergrund. Hierbietet sich die Möglichkeit an, dogmatische Werke wie Besitz und System ausrechtsphilosophischer Perspektive zu hinterfragen, nämlich nach dem normati-ven Standpunkt, der bei Savigny über die Selektion der rechtlich relevantenTatsachen entscheidet. Wie grenzt er das juristisch Relevante der faktischenVerhältnisse ab? Kapitel 3 versucht diese Frage dadurch zu beantworten, dasses zunächst Savignys Zugriff auf das Verhältnis von Faktizität und Normati-vität erörtert, um anschließend die Spezifität seiner normativen Wertung zuthematisieren. Zugriff und inhaltliche Aspekte werden hier chronologischgeprüft, also wieder vom Besitz zum System, wobei auf Kontinuitäten undBrüche in Savignys Arbeitsweise besonders geachtet wird. Die normative Fragebei Savigny zu thematisieren ist besonders schwierig, denn damit verknüpfensich seit dem 19. Jahrhundert zeitbedingte Polemiken, die eine streng histori-sche Auseinandersetzung mit den Quellen sehr erschweren. Daher ist derRückgriff auf ungedrucktes Material, vor allem auf die Manuskripte zumBesitz und System, in diesem Kontext entscheidend. Sie gewähren wertvolleEinblicke in die Savignysche Werkstatt. Darüber hinaus legen sie in Bezug aufdie Normativität-Leitfrage Grundzüge seiner Privatrechtskonzeption offen, diein der bisherigen Forschung wenig berücksichtigt wurden.

3. Dritte Leitfrage: Methodisch

Im Verhältnis Rechtsinstitut – Rechtsverhältnis kündigt sich ein weiteresProblemfeld an, das an den oben angeführten Quellen vielleicht am sicht-barsten hervortritt. An mehreren Stellen werden juristische Tatsachen als die»thatsächlichen Bedingungen der Anwendung der Rechtsregel« (so wörtlichin Nr. 7 und 12, etwas anders in 3 und 9) bezeichnet. Darin besteht nacheinem besonders aussagekräftigen Passus ihre allgemeine, unentbehrlicheFunktion (Nr. 12). Diese Präzisierung der Funktion der juristischen Tatsachenin der Architektonik des allgemeinen Teils fehlt freilich im System und ihreErwähnung erst 1851 im Obligationenrecht deutet auf eine Unterscheidunghin, die Savigny erst als Abgrenzung zu einer spezifischen, darum aberkeineswegs marginalen Frage des allgemeinen Schuldrechts erforderlich wur-de (vgl. auch Text 2). Gerade im Eingang des Schuldrechts habe die umbilden-

26 Kapitel 1: Einleitung

Page 36: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

de Funktion der juristischen Tatsachen, von manchem Autonomie genannt,»den freisten Spielraum« (OR I, 21). Interpretatorisch belegt sie einen wesent-lich breiteren Anwendungsbereich der juristischen Tatsachen, der hiernachüber »eine [bloße] lehrhafte Denkhilfe ohne praktische Relevanz«, wie eineisolierte Lektüre der einleitenden Paragraphen des dritten Bandes suggerierenkönnte,84 weit hinausgeht. Als faktische Bedingungen der Regelanwendungstehen sie unmittelbar in Verbindung mit der Urteilsproblematik, die in Nr. 1angesprochen wird und die fundamentale Beziehung zwischen Rechtsinstitutund Rechtsverhältnis betrifft. Text 10 spricht im Blick auf den Rechtserwerbvon der »Verwandlung eines (abstracten) Rechtsinstituts in ein (persönliches)Rechtsverhältnis«. Könnte »das geistige Element der juristischen Praxis« fürSavigny auf dieser »Verwandlung«, auf einer nach den wechselnden Um-ständen zu bestimmenden Verbindung des Rechts als »Accidens« mit derPerson als »bleibende[r] Substanz«85 beruhen?

Savignys Rede von juristischen Tatsachen als Bedingungen einer regel-mäßigen Anwendung der Rechtsregel im Obligationenrecht deutet zugleicheine Art Stabilisierung des Urteilens durch Rechtsdogmatik an. Die veränder-ten Formulierungen der Überschrift des dritten Buchs des System 1840 und1849, also in der Übersicht des ganzen Werks im ersten Band, wo es»Anwendung der Rechtsregeln auf die Rechtsverhältnisse« heißt, und imdefinitiven achten Band, wo stattdessen von »Herrschaft der Rechtsregelnüber die Rechtsverhältnisse« die Rede ist, lassen eine Präzisierung des Ver-hältnisses zwischen Rechtsregel und Rechtsverhältnis erkennen, die vermut-lich mit einer Regelmäßigkeit im Operieren mit juristischen Tatsachen zusam-menhängt. Im Grunde handelt es sich bei der Vorstellung, dass Rechtsregelnüber Rechtsverhältnisse »herrschen« sollen, freilich um eine, die im Systemöfters begegnet und Savignys »Verbindung der Rechtsregeln mit den Rechts-verhältnissen« offenbar prägt.86 Bezeichnenderweise spricht Savigny im Kon-

II. Die Problematik bei Savigny: Zwölf Texte und drei Leitfragen 27

84 Diesen Aspekt, offenbar erst im Rahmen einer spezifischen Studie erkennbar,übersieht Hammen, Die Bedeutung Friedrich Carl von Savignys [1983],S. 77 f., und mit ihm Cappellini, Systema Iuris II [1985], S. 322 ff. Zitat imText aus Schröder, Zum Einfluss Savignys auf den allgemeinen Teil desDeutschen Bürgerlichen Rechts (Rez. zu Hammen) [1985], S. 623. Die sonstkritische Besprechung Schröders folgt hier Hammens Darstellung. Noch imfrühen 20. Jahrhundert war man sich aber der praktischen Relevanz derjuristischen Tatsachen völlig bewusst, vgl. etwa Ehrlich, Juristische Logik[1918, 21925], S. 188.

85 System III, S. 10: »Die einfachste und natürlichste Betrachtung der Rechtsver-hältnisse führt dahin, die berechtigte Person als die bleibende Substanz, dasRecht selbst aber als das Accidens anzusehen, welches nach wechselndenUmständen bald verbunden ist mit der Person, bald nicht (§ 4.52)«.

86 Savigny, System VIII, Einleitung, S. 1: »[…] diese Verbindung [sc. der Rechts-regeln mit den Rechtsverhältnissen] erscheint, von der einen Seite betrachtet,

Page 37: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

text der Irrtumslehre in Text 8 von »regelmäßig« als einer bestimmtenBeschaffenheit der Wirkung juristischer Tatsachen, die durch »Hemmungen«wie etwa einen Willensmangel »ausnahmsweise modificiert« werden kann.

Damit wurde die dritte und letzte Leitfrage der vorliegenden Arbeitskizziert. Sie geht der Beziehung von Rechtsregel und juristischen Tatsachenals faktischen Anwendungsbedingungen bei Savigny nach und beschäftigt sichinsofern mit einem zentralen Aspekt seiner Methode. Dabei werden dieErgebnisse der beiden vorherigen Leitfragen verknüpft. Gefragt wird alsonach den Voraussetzungen der Kopplung von Faktizität und Recht beiSavigny. Das vierte Kapitel versucht diese Frage dadurch zu beantworten,dass es einerseits auf die Verknüpfungskategorien, andererseits auf den Ver-knüpfungsfaktor fokussiert. Auch hier setzt die Analyse mit dem Besitz einund prüft, inwiefern die Kopplung Bedingung – Wirkung mit den Reformbe-strebungen der Jurisprudenz um 1800 zusammenhängen. Hier kündigt sichbei Savigny die Auffassung an, Faktum und Recht durch Wissenschaft zuverknüpfen, was aber erst im Beruf völlig artikuliert wird. Anders also als inden übrigen Kapiteln ist ein Blick in die Kodifikationsschrift besondershilfreich, um die methodischen und rechtspolitischen Aspekte des juristischenUrteilens bei Savigny zu klären. Von hier aus führt der Weg in das System, woSavignys Vorstellung von der Wirksamkeit juristischer Tatsachen das imBesitz neu konzipierte Begriffspaar Bedingung – Wirkung mit der im Berufentwickelten Auffassung von Wissenschaft als Rechtsbildungsfaktor zusam-mengeführt wird.

III. Zugriff

Quellen und Problemstellungen lassen bereits erkennen, dass die vorliegendeUntersuchung eine spezifische Komponente von Savignys Bearbeitung desgeltenden Rechts zum Bezugspunkt von methodischen und rechtsphilosophi-schen Fragestellungen macht. Die Theorie der juristischen Tatsachen – sonannte schon Fritz von Hippel Savignys Lehre von der Entstehung und demUntergang der Rechtsverhältnisse – bildet ein klar abgegrenztes Problemfeld,wo sich unterschiedliche Aspekte seiner Arbeitsweise thematisieren lassen. DieVermutung dabei ist, dass gerade an der Verwendung einer Kategorie, diezwischen Faktizität und Normativität im Recht zentral vermittelt, einigebisher wenig beachtete Aspekte von Savignys Konzeption von Recht undRechtswissenschaft deutlich werden.

28 Kapitel 1: Einleitung

als Herrschaft der Regeln über die Verhältnisse, von der andern Seite alsUnterwerfung der Verhältnisse unter die Regeln«.

Page 38: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Rechtshistorisch schließt sich die Arbeit an neuere Forschungen zurWissenschafts- und Privatrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts an, die so-wohl im Blick auf einzelne Autoren87 als auch auf übergreifendeProblemstellungen88 auf traditionelle Großlinienziehungen bewusst verzich-ten und stattdessen von kontextualisierten Debatten, Denkmustern undpersonenbezogenen Positionen ausgehen, um deren methodische und prinzi-pielle Voraussetzungen schwerpunktmäßig zu prüfen. Die Fokussierung aufzeitgenössische Diskussionen führte hier nicht nur zu einer differenziertenAuffassung der einzelnen Positionen in Bezug auf Fragen wie Systembildung,Interpretation, Rechtsbildungsfaktoren usw., sondern sie eröffnete zugleichauch die Möglichkeit, die konkreten rechtsdogmatischen Lösungen mit ihrenmethodischen Prämissen zu verknüpfen und insofern die methodische Aus-richtung, die rechtsphilosophische Einstellung und die rechtspolitischen Im-plikationen von Rechtsdogmatik von ihrer Anwendung her zu rekonstruieren.Vor allem dieses in der jüngeren Literatur wiedergewonnene Interesse für dieArbeit am geltenden Recht als Material einer breiter angelegten juristischenReflexion hat nicht gerade unbedeutende Geschichtsbilder der traditionellenPrivatrechtsgeschichten der Neuzeit, so wie man sie seit Mitte des 20. Jahr-hunderts kennt und betreibt, stark relativiert. »Begriffsjurisprudenz« unddamit zusammenhängende Stichwörter wie »Begriffspyramide«, »Formalis-mus« und »Positivismus« sind einige der verbreiteten Etiketten, deren pole-mische und zeitbedingte Verwendung zur Kennzeichnung der Pandektistikdurch die neuere Forschung wiederholt in ein neues Licht gerückt wurden.89

Wer sich für die international enorm einflussreiche deutsche Privatrechts-wissenschaft des 19. Jahrhunderts ernsthaft interessiert, wird diese Erkennt-nisse und Zugriffe nicht unberücksichtigt lassen dürfen.

III. Zugriff 29

87 Exemplarisch Gagnér, Paul Roth [1975]; Rückert, Savigny [1984];Kriechbaum, Bekker [1984]; Falk, Windscheid [1999, 11989]; Haferkamp,Puchta [2004].

88 Hofer, Freiheit ohne Grenzen? [2001]; Repgen, Die soziale Aufgabe desPrivatrechts [2001]; Rückert, Das BGB und seine Prinzipien: Aufgabe,Lösung, Erfolg [2003].

89 Zu den polemischen Formeln »Begriffsjurisprudenz« und »Begriffspyramide«insbesondere im Blick auf Puchta vgl. schon Landau, Puchta und Aristoteles[1992], S. 3, Fn. 6; und jetzt Haferkamp, Puchta [2004], S. 78 ff., 94 ff., insb.die Ergebnisse zur Systemfrage ab S. 443 ff.; im Blick auf Windscheid, s. dieeingehende Analyse von Falk, Windscheid [1989], S. 2 ff., Ergebnisse bei215 ff.; ferner Rückert, Formalismus und vergleichbare Konzepte im19. Jahrhundert [1990], S. 169 ff.; Schröder, Gab es im deutschen Kaiser-reich einen Gesetzespositivismus? [2005], S. 586; Ders., Recht als Wissen-schaft [2012], S. 326 ff.

Page 39: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Auf Savignys Arbeit am geltenden (römischen) Recht zu fokussieren bietetinterpretatorisch zugleich auch den Vorzug, ihm so »auf seinem eigenenFelde« begegnen, seine »eigentliche Stärke« untersuchen zu können.90 Be-zeichnenderweise knüpfen an diese wegweisende Deutung Wolfgang Kunkelsdie neuesten Analysen der rechtsdogmatischen Meisterwerke Besitz undSystem an,91 auf deren Ergebnisse die vorliegende Untersuchung in mehr-facher Hinsicht aufbaut. Diese versucht aber eigene Wege insofern zu gehen,als sie sich Savigny nicht werkimmanent, sondern immer von außen herannähert, also von zeitgenössischen Diskussionen, kritischen Lektüren undRezeptionen seiner Werke, die sich aus relevanten Perspektiven mit demThema beschäftigen. Der eingangs berichtete Streit zwischen Alfred Manigkund Fritz von Hippel in den 1930er Jahren stellte bereits ein erstes Beispieldieser Herangehensweise dar, worauf im Folgenden vor allem in der Ein-leitung zu den einzelnen Kapiteln zurückgegriffen wird. So werden aufanschauliche Weise Probleme präsentiert, deren zeitgenössische Relevanzdem heutigen Leser sonst schwerlich einleuchten würde. Der Vorteil diesesim Lauf der Arbeit eher zufällig als geplant entstandenen Vorgehens bestehtnicht zuletzt darin, einerseits Fragestellungen, die leicht zur abstraktenSpekulation verleiten können,92 in rechtshistorischen Grenzen zu halten undsomit die gebotene Nähe zu den Quellen zu bewahren. Andererseits bietet dieTheorie der juristischen Tatsachen einen besonders ertragreichen roten Faden,um zugleich auch die immer wieder betonte »Schlüsselrolle« sichtbar zumachen, die Savignys Werk in der modernen Rechtswissenschaftsgeschichtezukommt.93 Im Rahmen der unten näher zu erörternden Leitfragen lässt sichvor allem die bahnbrechende Bedeutung des System aus verschiedenen Per-spektiven konkret rekonstruieren und thematisieren, vom Wendepunkt der1850er Jahre bis hin zu Kelsens Reine Rechtslehre von 1934.

30 Kapitel 1: Einleitung

90 So bereits Kunkel, Rez. zur 1. Aufl. von Wieacker, Privatrechtsgeschichte derNeuzeit [1952] und Wesenberg, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte[1954], in: ZRG RA, 21 [1954], S. 535 ff., insbes. 538.

91 Gemeint sind Moriya, Savignys Gedanke im Recht des Besitzes [2003];Rückert, Savignys Dogmatik im »System« [2007] und Ders., Recht alsWissenschaft: Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) [2009]. Wenn ich dieLiteratur recht überblicke, sind diese die einzigen Studien, die – freilich ausverschiedenen Perspektiven – die beiden dogmatischen Werke Savignys syste-matisch untersucht haben.

92 Vgl. aber aus rechtstheoretischer Perspektive etwa Upmeier, Fakten im Recht[2006], dessen Schwerpunkt auf dem Prozess liegt; in dieser Linie schonHruschka, Die Konstitution des Rechtsfalles [1965].

93 Savignys Schlüsselrolle in der modernen Privatrechtsgeschichte, worauf untenimmer wieder zurückzukommen sein wird, wurde besonders hervorgehobenvon Rückert, Savigny [1984], S. 57 f.

Page 40: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

Dass man gerade im Anschluss an die Frage der juristischen Tatsachendiese permanente Auseinandersetzung mit Savigny bis ins frühe 20. Jahr-hundert exemplarisch verfolgen kann, hängt nicht zuletzt mit der gewähltenSchwerpunktsetzung auf dem Verhältnis zwischen Faktizität und Normativi-tät zusammen. Erst eine Problemstruktur, die auf das Verhältnis beiderKomponenten fokussiert, eröffnet diese Langzeitperspektive und bietet zu-gleich auch eine Klassifikation der zeitgenössischen und späteren Kombina-tionsweisen im Vergleich zu Savigny.94 Juristische Tatsache interessiert dabeinicht als Begriff, sondern als eine spezifische und besonders einflussreiche Art,Fakten und Normen in Beziehung zu setzen. Der Punkt ist wichtig, denn dieubiquitäre Verwendung von factum in der Rechtssprache von Rom bis gesternwirft wichtige Abgrenzungsfragen zu Savignys Konzept auf, so etwa zurRechtstatsachenforschung.95 Kürzlich zeigte sich auch die französisch in-spirierte juristische Epistemologie besonders interessiert an dem Verhältniszwischen Faktum und Recht, etwa bei der Faktenkonstruktion im juristischenDenken,96 wobei die rechtshistorische Perspektive hier eher eine sekundäreRolle spielte. Wie aber schon das eingangs zitierte Wort Ludwik Flecksankündigte,97 versucht die vorliegende Arbeit Problemstellungen der histori-schen Epistemologie98 für die Rechtsgeschichte fruchtbar zu machen. Denndie interessantesten Zugriffe auf die Geschichte von Tatsache als zentralerKategorie des modernen Wissenschaftsverständnisses stammen gerade aus derWissenschaftsgeschichte. Tatsache wird dabei nicht nur als Wort oder Begriff,

III. Zugriff 31

94 Zur Schwerpunktsetzung auf dem Verhältnis von Faktizität und Normativitätsowie zur Klassifikation der Positionen einzelner Autoren anhand der ver-schiedenen Kombinationsweisen beider Komponenten, vgl. Duve, Normativi-tät und Empirie [1998], 215 ff., der mit dieser Problemstruktur schematischeEtiketten wie etwa »Positivismus« vermeiden will. Zu diesem Zugriff positivjüngst Schröder, Recht als Wissenschaft [2012], S. 328, Fn. 267. Faktizitätbezieht sich aber im Folgenden auf den empirischem Umgang mit dem Nicht-recht und hat insofern eine breitere Bedeutung als Empirie, die bei Duve»Erkenntnis der Tatsachen aus der sinnlichen Erfahrung« bezeichnet (S. 216).

95 Nussbaum, Die Rechtstatsachenforschung [1914], dessen Zugriff auf Tat-sachen gerichtet ist, »deren Kenntnis für ein volles Verständnis und einesachgemäße Anwendung der Normen erforderlich ist« (S. 6), wozu die Er-forschung etwa der »Formen der tatsächlichen Anwendung des Gesetzes« (11)oder der »Verkehrsformen und Verkehrsgebräuchen« (17) gehört.

96 Vgl. Atias, Épistémologie juridique [2002], S. 97 ff.; daran vielfach anknüp-fend Samuel, Epistemology and Method in Law [2003], S. 1–9, aber insb.173 ff.

97 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [1935],S. 69.

98 Vgl. zu einer Definition etwa Rheinberger, Historische Epistemologie zurEinführung [2007], S. 11: »[…] Reflexion auf die historischen Bedingungen,

Page 41: Savignys Theorie der juristischen Tatsachen · Tatsachen« die »eigentliche Grundlage und den Angelpunkt der weiteren dogmatischen Forschung und Systematik des 19. Jahrhunderts«

sondern als eine Erfahrungsform verstanden, als eine »besondere Weise desSortierens und Aufschlüsselns von Erfahrung, als eine von vielen möglichenSpielarten von Erfahrung«.99 Gefragt wird nämlich nach den »Kategorien,durch die unser Denken und unsere Erfahrung strukturiert werden, an denensich unsere Begründungs- und Beweisverfahren ausrichten und die unsereErklärungsmaßstäbe rechtfertigen«.100 Dass dieser Zugriff im Hinblick aufdie unten zu erörternden Leitfragen wichtige Erkenntnismöglichkeiten er-öffnet, liegt nach den obigen Skizzen eigentlich nahe. Allein schon dieVerwendung von Tatsache in der frühen Pandektenliteratur hat darauf hin-gewiesen, dass auch die Rechtswissenschaftsgeschichte von einer Herange-hensweise profitieren könnte, die nach den Bedingungen fragt, anhand dererman mit Empirie im Recht umgeht. Wenn also Rechtswissenschaft nicht nurangesichts ihrer normativen Ansprüche, sondern auch der empirischen Basis,auf der sie arbeitet und auf die sie ihre Problemlösungen bezieht, eineGeschichte hat, so werden auch die Kategorien, die das Verhältnis vonNormativität und Faktizität strukturieren, zum rechtshistorischen Problem.Gerade in diesem Zusammenhang gewinnt Savignys Theorie der juristischenTatsachen eine neue, unerwartete Brisanz.

32 Kapitel 1: Einleitung

unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemachtwerden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung inGang gesetzt sowie in Gang gehalten wird«.

99 So der überaus spannende Ansatz von Daston, Baconsche Tatsachen [2002],S. 37.

100 Daston, Die Biografie der Athene oder Eine Geschichte der Rationalität[2001], S. 15.


Recommended