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Saul Friedländer Die Jahre der Vernichtung Das Dritte ...

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2006. S.869 ISBN 978-3-406-54966-3 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/19149 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Saul Friedländer Die Jahre der Vernichtung Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945
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Page 1: Saul Friedländer Die Jahre der Vernichtung Das Dritte ...

2006. S.869 ISBN 978-3-406-54966-3 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/19149

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Saul Friedländer Die Jahre der Vernichtung Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945

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SAUL FRIEDLÄNDER

Die Jahre derVernichtung

Das Dritte Reich und die Juden

Zweiter Band1939–1945

Aus dem Englischen übersetztvon Martin Pfeiffer

VERLAG C. H. BECK MÜNCHEN

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© 2006 Saul Friedländer

2. Auflage. 2006

Für die deutsche Ausgabe:© Verlag C.H.Beck oHG, München 2006

Satz: Fotosatz Janß, PfungstadtDruck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)

Printed in Germanyisbn-10: 3 406 54966 7

isbn-13: 978 3 406 54966 3

www.beck.de

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«Der Versuch, mein Leben zu retten, ist ohne Hoffnung … Aberdas ist nicht wichtig. Denn ich kann meinen Bericht zu Endebringen. Ich vertraue darauf, daß er das Licht des Tages sehenwird, wenn die Zeit gekommen ist. … Und die Menschen wer-den wissen, was geschehen ist. … Und sie werden fragen, ist dasdie Wahrheit? Ich antworte ihnen schon jetzt: Nein, das ist nichtdie Wahrheit. Es ist nur ein kleiner Teil, ein winziger Splitter derWahrheit. … Selbst die mächtigste Feder kann nicht die ganze,die wirkliche, die unfaßbare Wahrheit in Worte fassen.»

Stefan ErnestWarschauer Ghetto, 1943

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Inhalt

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Erster TeilTerror

(Herbst 1939 – Sommer 1941)

1. September 1939 – Mai 1940 . . . . . . . . . . . . . 29

2. Mai 1940 – Dezember 1940. . . . . . . . . . . . . . 91

3. Dezember 1940 – Juni 1941. . . . . . . . . . . . . . 155

Zweiter TeilMassenmord

(Sommer 1941 – Sommer 1942)

4. Juni 1941 – September 1941 . . . . . . . . . . . . . 225

5. September 1941 – Dezember 1941 . . . . . . . . . . 289

6. Dezember 1941 – Juli 1942 . . . . . . . . . . . . . . 357

Dritter TeilShoah

(Sommer 1942 – Frühjahr 1945)

7. Juli 1942 – März 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . 427

8. März 1943 – Oktober 1943 . . . . . . . . . . . . . . 497

9. Oktober 1943 – März 1944 . . . . . . . . . . . . . . 568

10. März 1944 – Mai 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . 630

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Anhang

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808

Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847

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Danksagung

Danksagung

Diesem Werk sind weitreichende Forschungsmittel zugute gekommen,die mir der «1939 Club»-Lehrstuhl an der University of California, LosAngeles, zur Verfügung gestellt hat, vor allem aber ein großzügiges Sti-pendium der John D. and Catherine T. MacArthur Foundation. Dem«1939 Club» und der MacArthur Foundation möchte ich hierfür mei-nen tiefempfundenen Dank aussprechen.

Als erstes habe ich das Bedürfnis, der mittlerweile verstorbenenFreunde zu gedenken, mit denen mich im Hinblick auf die hier behan-delte Geschichte vieles verbunden hat: Léon Poliakov, Uriel Tal, AmosFunkenstein und George Mosse.

Professor Michael Wildt vom Hamburger Institut für Sozialforschunghatte die Freundlichkeit und die Geduld, eine frühere Fassung des Ma-nuskripts zu lesen. Ich bin ihm für seine Kommentare sehr dankbar: Erhat meine Aufmerksamkeit auf neuere deutsche Forschungsarbeiten ge-lenkt und mir vor allem geholfen, einige Fehler zu vermeiden. ProfessorNorbert Frei (Universität Jena) weiß ich mich für die aufmerksame Lek-türe der Übersetzung zu besonderem Dank verpflichtet. Ebenfalls dank-bar bin ich den Professoren Omer Bartov (Brown University) und DanDiner (Hebrew University, Jerusalem; Simon-Dubnow-Institut, Leipzig)für Kommentare zu verschiedenen Teilen des Textes.

Auch wenn mir immer wieder Zweifel kamen, haben mich im Laufeder Zeit viele Kollegen dazu ermutigt, die Arbeit zum Abschluß zubringen; ich denke an die Professoren Yehuda Bauer, Dov Kulka undSteve Aschheim (alle Hebrew University, Jerusalem), Shulamit Volkov(Universität Tel Aviv), Philippe Burrin (Direktor des Hochschulinstitutsfür Internationale Studien in Genf) und an die verstorbene Dr. SybilMilton, eine wunderbare Wissenschaftlerin und außerordentlich selbst-lose Kollegin, deren frühes Hinscheiden ein schmerzlicher Verlust ge-wesen ist. Die Verantwortung für die (gewiß zahlreichen) Fehler, dieder Text noch enthält, liegt, wie die Formel lautet, selbstverständlich al-lein bei mir.

Da ich wahrscheinlich der letzte Akademiker bin, der nicht in derLage ist, mit einem Computer umzugehen, war ich während des gesam-ten Projekts von einer Reihe von Forschungsstudenten abhängig, derenGeschick ich nur bewundern konnte. Stellvertretend für alle soll hiermeinen beiden letzten Assistenten gedankt sein: Deborah Brown undJoshua Sternfeld.

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Die Veröffentlichung der deutschen Übersetzung dieses BuchesMonate vor dem amerikanischen Original ist eine wahre tour de force.Was mir im Verlag C. H. Beck zuteil wurde, war die beständige Unter-stützung durch Dr. Wolfgang Beck selbst ebenso wie das nie erlah-mende Engagement und der wunderbare Optimismus des CheflektorsDr. Detlef Felken sowie das große sprachliche Können des ÜbersetzersDr. Martin Pfeiffer. Der Einsatz und die Freundlichkeit, mit denen mirDr. Felkens Assistentin, Frau Janna Rösch, und die hochmotiviertenMitarbeiter in seinem Lektorat begegneten, haben den reibungslosenAblauf eines temporeichen Prozesses erheblich erleichtert.

Mehr, als ich sagen kann, verdankt dieses Werk dem emotionalenund intellektuellen Band, das mich mit Orna Kenan verbindet, mit derich mein Leben teile. Gewidmet ist dieses Buch meinem kürzlich gebo-renen vierten Enkel.

Danksagung10

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Einleitung

EinleitungEinleitung

David Moffie wurde am 18. September 1942 an der Universität Amster-dam zum Doktor der Medizin promoviert. Auf einem anläßlich diesesEreignisses aufgenommenen Photo stehen Professor C. U. Ariens Kap-pers, Moffies Doktorvater, und Professor H. T. Deelman zur Rechten desfrischgebackenen Doktors, der Assistent D. Granaat zu seiner Linken.Ein weiteres Mitglied des Lehrkörpers, das von hinten zu sehen ist,möglicherweise der Dekan der medizinischen Fakultät, steht ihnen ge-genüber auf der anderen Seite eines großen Schreibtisches. Im Hinter-grund sind – etwas unscharf – die Gesichter einiger der Menschen zuerkennen, die sich in dem kleinen Saal drängen – zweifellos Familien-mitglieder und Freunde. Die Angehörigen des Lehrkörpers sind in ihreakademischen Festgewänder gekleidet, während Moffie und AssistentGranaat einen Smoking und einen weißen Schlips tragen. Am linkenRevers seiner Smokingjacke trägt Moffie einen handtellergroßen Sternmit dem Aufdruck «Jood»: Moffie war der letzte jüdische Student an derUniversität Amsterdam in der Zeit der deutschen Besatzung.1

Dem akademischen Ritual entsprechend fielen gewiß die üblichenWorte des Lobes und der Dankbarkeit. Von anderen Kommentaren wis-sen wir nichts. Kurz darauf wurde Moffie nach Auschwitz-Birkenau de-portiert. Ebenso wie zwanzig Prozent der niederländischen Juden hat erüberlebt; der größte Teil der bei dieser Zeremonie anwesenden Juden istumgekommen.

Das Bild wirft einige Fragen auf. Wie war es beispielsweise möglich,daß die Zeremonie am 18. September 1942 stattfand, obgleich jüdischeStudenten mit Wirkung vom 18. September aus den niederländischenUniversitäten ausgeschlossen worden waren? Die Herausgeber des Ban-des Photography and the Holocaust fanden die Antwort: Der letzte Tag desakademischen Jahres 1941/42 war Freitag, der 18. September 1942; dasWintersemester 1942/43 begann am Montag, dem 21. September 1942.Die dreitägige Zwischenzeit ermöglichte Moffies Promotion, obwohl derAusschluß jüdischer Studenten bereits obligatorisch geworden war.

Eigentlich war die Unterbrechung genau auf ein Wochenende – vonFreitag, den 18., bis Montag, den 21. – beschränkt; das heißt, die Uni-versitätsbehörden haben sich bereiterklärt, den administrativen Kalen-der gegen die Intentionen des deutschen Erlasses anzuwenden. DieseEntscheidung spricht von einer Haltung, die seit Herbst 1940 an nieder-ländischen Universitäten weit verbreitet war; die Photographie doku-

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mentiert eine Form des trotzigen Eigensinns gegenüber den Gesetzenund Verfügungen des Besatzers.2

Es gibt noch mehr zu sagen. Die Deportationen aus den Niederlan-den begannen am 14. Juli 1942. Fast jeden Tag verhafteten die Deutschenund die einheimische Polizei auf den Straßen niederländischer StädteJuden, um ihr wöchentliches Soll zu erfüllen. Moffie hätte an dieseröffentlichen akademischen Zeremonie nicht teilnehmen können, hätteer nicht eine der speziellen (und nur zeitweilig gültigen) 17 000 Ausnah-mebescheinigungen erhalten, welche die Deutschen dem Judenrat zu-geteilt hatten. Indirekt evoziert das Bild somit die Kontroverse um dieMethoden des Rates, mit denen zumindest vorübergehend einige derJuden Amsterdams geschützt und die große Mehrheit ihrem Schicksalüberlassen wurden.

Allgemein betrachtet sind wir Zeugen einer recht alltäglichen Zere-monie. In einem gemäßigt festlichen Rahmen erhielt ein junger Manndie offizielle Bestätigung für das erworbene Recht, als Arzt zu praktizie-ren, Kranke zu behandeln und im Rahmen des Menschenmöglichensein berufliches Wissen anzuwenden, um Gesundheit wiederherzustel-len. Doch das an Moffies Jackett angeheftete «Jood» vermittelt eine ganzandere Botschaft: Wie alle Angehörigen seiner «Rasse» auf dem gesam-ten Kontinent sollte der frischgebackene Doktor der Medizin ermordetwerden.

Das «Jood», das nur schwach zu sehen ist, erscheint nicht in Block-buchstaben oder in irgendeiner anderen gebräuchlichen Schrift. DieSchriftzeichen wurden eigens für diesen speziellen Zweck entworfen(und in den Sprachen der Länder, in denen die Deportationen vorge-nommen wurden, ähnlich gezeichnet: «Jude», «Juif», «Jood» usw.); siehatten eine krumme, abstoßende und unbestimmt bedrohliche Form,die an das hebräische Alphabet erinnern und doch leicht entzifferbarbleiben sollte. Mit dem eigentümlich gestalteten Aufdruck erscheint dieauf der Photographie abgebildete Situation wieder in ihrer Quintessenz.Die Deutschen waren darauf versessen, die Juden als Individuen auszu-rotten und das auszulöschen, was der Stern und seine Inschrift reprä-sentierten: «den Juden».

Wir vernehmen das kaum hörbare Echo eines wütenden Angriffs, derdarauf zielte, jede Spur von «Jüdischkeit», jedes Zeichen des «jüdischenGeistes», jeden Überrest jüdischer Präsenz (sei sie real oder imaginär)aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu tilgen. Zu diesemZweck setzten die Nazis auf ihrem Feldzug im Reich und im gesamtenbesetzten Europa alles ein: Propaganda, Erziehung, Forschung, Publi-kationen, Filme, Ächtungen und Tabus in allen gesellschaftlichen undkulturellen Bereichen, ja jedes überhaupt mögliche Verfahren der Aus-tilgung und Ausmerzung, vom Umschreiben religiöser Texte oder

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Opernlibretti, denen ein Makel von Jüdischkeit anhaftete, bis zur Umbe-nennung von Straßen, die mit ihrem Namen an Juden erinnerten, vomVerbot von Musik oder literarischen Werken jüdischer Komponistenund Schriftsteller bis zur Zerstörung von Denkmälern, von der Aus-schaltung «jüdischer Wissenschaft» bis zur «Säuberung» von Biblio-theken und schließlich, nach dem berühmten Wort Heinrich Heines,von der Verbrennung von Büchern bis zur Verbrennung von Menschen.

I

Die «Geschichte des Holocaust» läßt sich nicht nur auf die deutschenpolitischen Strategien, Entscheidungen und Maßnahmen beschränken,die zu diesem systematischsten und entschlossensten aller Völker-morde geführt haben. Sie muß die Reaktionen (und gelegentlich dieInitiativen) der umgebenden Welt ebenso einbeziehen wie die Stimmender Opfer, weil das Geschehen, das wir Holocaust nennen, eine Totalitätist, die durch eben dieses Konvergieren eigenständiger Elemente defi-niert ist.

Diese Geschichte wird verständlicherweise in vielen Fällen als deut-sche Geschichte geschrieben. Die Deutschen, ihre Kollaborateure undihre Hilfstruppen waren die Anstifter und Hauptakteure der Verfol-gungs- und Vernichtungspolitik und meist auch die ihrer Durchfüh-rung. Außerdem sind deutsche Dokumente, die diese politischen Strate-gien und Maßnahmen behandeln, nach der Niederlage des DeutschenReiches in erheblichem Umfang zugänglich geworden. Diese gewal-tigen Materialsammlungen, die schon kaum handhabbar waren, bevordie Archivbestände der ehemaligen Sowjetunion und des Ostblocks zu-gänglich wurden, haben seit Ende der 1980er Jahre den Fokus auf diedeutsche Dimension dieser Geschichte zwangsläufig noch weiter ver-schärft. Und in den Augen der meisten Historiker scheint eine Unter-suchung, die sich auf die deutsche Dimension dieser Geschichte kon-zentriert, der Begriffsbildung und der vergleichenden Analyse eher ent-gegenzukommen – mit anderen Worten, weniger «provinziell» zu sein –als alles, was sich aus der Sicht der Opfer oder gar derjenigen der um-gebenden Welt schreiben läßt.

Dieser Ansatz, der Deutschland in den Mittelpunkt rückt, ist inner-halb seiner Grenzen selbstverständlich legitim, die Geschichte des Ho-locaust aber erfordert eine erheblich breitere Darstellung. Auf Schrittund Tritt hing im besetzten Europa die Durchführung deutscher Maß-nahmen von der Unterwürfigkeit politischer Autoritäten ab, von derUnterstützung durch örtliche Polizeitruppen oder andere Hilfskräfte,von der passiven Hinnahme oder der Mitwirkung der Bevölkerung so-

Einleitung 13

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wie vor allem der politischen und geistlichen Eliten. Ebenso abhängigwaren die mörderischen Maßnahmen von der Bereitschaft der Opfer,Befehle zu befolgen in der Hoffnung, sie abzumildern oder Zeit zu ge-winnen und ihrer unerbittlichen Verschärfung irgendwie zu entgehen.Somit sollte die Geschichte des Holocaust eine integrative und integrier-te Geschichte sein.

*

Kein einzelner Begriffsrahmen kann die vielfältigen und konvergieren-den Stränge einer derartigen Geschichte umfassen. Selbst deren deut-sche Dimension läßt sich nicht nur aus einem einzigen konzeptionellenBlickwinkel interpretieren. Der Historiker steht vor der Interaktion sehrverschiedenartiger Faktoren, von denen sich jeder einzelne definierenund deuten läßt; gerade ihr Konvergieren läßt sich jedoch nicht miteiner übergreifenden analytischen Kategorie erfassen. Im Laufe der ver-gangenen sechzig Jahre ist eine Fülle von Erklärungsversuchen aufge-taucht – nur um einige Jahre später wieder aufgegeben und danachdann neu entdeckt zu werden –, und so ging es immer weiter, besondersim Hinblick auf die grundlegenden politischen Strategien der National-sozialisten schlechthin. Den Ursprung der «Endlösung» hat man auf ei-nen «Sonderweg» der deutschen Geschichte zurückgeführt, auf eine be-sondere Variante des deutschen Antisemitismus, auf rassenbiologischesDenken, bürokratische Politik, Totalitarismus und Faschismus, auf dieModerne, auf einen «europäischen Bürgerkrieg» (von der Linken undvon der Rechten gesehen) und anderes mehr.

Eine Analyse dieser Deutungen würde ein anderes Buch erfordern.3Hier werde ich mich im wesentlichen darauf beschränken, den Wegdarzulegen, den ich eingeschlagen habe. Gleichwohl sind an dieser Stel-le einige Bemerkungen zu zwei einander entgegengesetzten Richtungenin der gegenwärtigen Geschichtsschreibung über das «Dritte Reich» imallgemeinen und über die «Endlösung» im besonderen erforderlich.

Die erste Richtung hat die Vernichtung der Juden als ein Geschehenim Blick, das an und für sich ein herausragendes Ziel deutscher Politikgewesen ist, dessen Erforschung jedoch neue Ansätze erfordert: Zuuntersuchen sind im Detail die Aktivitäten von Akteuren auf der mittle-ren Ebene, das Geschehen in begrenzten Regionen oder die spezifischeinstitutionelle und bürokratische Dynamik, und all das sollte ein gewis-ses neues Licht auf die Funktionsweise des gesamten Systems der Ver-nichtung werfen.4 Dieser Ansatz hat unser Wissen und unser Verständ-nis erheblich erweitert; viele seiner Befunde habe ich in meine eher glo-bal orientierte Darstellung integriert.

Die andere Richtung hat im Laufe der Jahre dazu beigetragen, man-che neue Spur zu entdecken. Doch im Hinblick auf die Erforschung des

Einleitung14

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Holocaust hat jede dieser Spuren schließlich denselben Ausgangspunkt:Die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas war lediglich eine sekun-däre Konsequenz bedeutender deutscher politischer Strategien, die verfolgtwurden, um ganz andere Ziele zu erreichen. Zu den Zielen, die in diesemZusammenhang am häufigsten erwähnt werden, gehören ein neueswirtschaftliches und demographisches Gleichgewicht in Europa, Völ-kerverschiebung und deutsche Siedlung im Osten, die systematischeAusraubung der Juden zur Erleichterung der Kriegführung, ohne derdeutschen Gesellschaft oder, genauer gesagt, Hitlers Volksstaat eine allzugroße materielle Belastung auferlegen zu müssen. Ungeachtet der Per-spektiven, die derartige Studien sporadisch eröffnen, ist ihre allgemeineStoßrichtung mit den zentralen Postulaten, die meiner Interpretationzugrunde liegen, offensichtlich unvereinbar.5

Wie in Die Jahre der Verfolgung habe ich mich in diesem Band dafürentschieden, mich auf die zentrale Stellung ideologisch-kultureller Fak-toren als wesentlichen Triebkräften der nationalsozialistischen Juden-politik zu konzentrieren, abhängig selbstverständlich von den Umstän-den, von institutioneller Dynamik und – was für die hier behandelteZeit ganz wesentlich ist – vom Verlauf des Krieges.6

Die Geschichte, mit der wir es hier zu tun haben, ist ein untrennbarerBestandteil des «Zeitalters der Ideologien», und zwar, präziser und ent-scheidender, seiner Spätphase: der Krise des Liberalismus im kontinen-talen Europa. Zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Ende desZweiten Weltkriegs wurde die liberale Gesellschaft von links durch denrevolutionären Sozialismus (der dann in Rußland zum Bolschewismusund überall sonst zum Kommunismus werden sollte) und andererseitsdurch eine revolutionäre Rechte attackiert, aus der nach dem ErstenWeltkrieg in Italien und anderswo der Faschismus und in Deutschlandder Nationalsozialismus hervorgingen. In ganz Europa setzte man dieJuden mit dem Liberalismus und häufig mit dem Sozialismus wie auchmit dessen revolutionärer Variante gleich. In diesem Sinne nahmen dieantiliberalen und antisozialistischen (oder antikommunistischen) Ideo-logien der revolutionären Rechten in all ihren Erscheinungsformen dieJuden als Repräsentanten derjenigen Weltanschauungen ins Visier, diesie bekämpften, und vor allen galten sie als die Anstifter und Träger die-ser Weltanschauungen.

In Deutschland gewann diese Entwicklung in der Atmosphäre natio-nalen Ressentiments nach der Niederlage von 1918 und später als Er-gebnis der wirtschaftlichen Umbrüche, die das Land (und die Welt)erschütterten, eine Stoßkraft eigener Art. Ohne den zwanghaften Anti-semitismus und die persönliche Wirkung Adolf Hitlers, zunächst imRahmen seiner Bewegung, dann, nach dem 30. Januar 1933, auf nationa-ler Ebene, wäre der weitverbreitete deutsche Antisemitismus jener Jahre

Einleitung 15

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wahrscheinlich nicht mit einem gegen die Juden gerichteten politischenHandeln und gewiß nicht mit dessen Folgen verschmolzen.

Die Krise des Liberalismus und die Reaktion gegen den Kommunis-mus als ideologische Quellen des Antisemitismus, der auf dem deut-schen Schauplatz bis zum Äußersten getrieben wurde, wurden in ganzEuropa immer virulenter; dadurch konnte die Nazi-Botschaft mit derpositiven Reaktion zahlreicher Europäer sowie einer ganzen Schar vonUnterstützern jenseits der Küsten des alten Kontinents rechnen. Über-dies entsprachen Antiliberalismus und Antikommunismus den Haltun-gen der großen christlichen Kirchen, und der traditionelle christlicheAntisemitismus ging leicht in den ideologischen Dogmen autoritärerRegimes und faschistischer Bewegungen auf – wie zum Teil in einigenAspekten des Nationalsozialismus.

Schließlich blieben gerade infolge dieser Krise der liberalen Gesell-schaft und ihres ideologischen Unterbaus die Juden auf einem Konti-nent, auf dem der Vormarsch des Liberalismus ihre Emanzipation undsoziale Mobilität ermöglicht und gefördert hatte, in zunehmendemMaße schwach und isoliert zurück. Somit wird der hier beschriebeneideologische Hintergrund zum indirekten Bindeglied zwischen den dreiHauptkomponenten dieser Geschichte: dem nationalsozialistischenDeutschland, der umgebenden europäischen Welt und den über denganzen Kontinent verstreuten jüdischen Gemeinschaften. Ungeachtetder deutschen Entwicklung, die ich kurz angesprochen habe, reichendiese Hintergrundelemente jedoch nicht aus, um den besonderen Gangder Ereignisse in Deutschland zu erklären.

II

Die Besonderheiten des antijüdischen Kurses der Nationalsozialistenresultierten aus der von Hitler vertretenen Variante des Antisemitismus,aus der Bindung zwischen Hitler und sämtlichen Ebenen der deutschenGesellschaft, vor allem nach der Mitte der dreißiger Jahre, aus der poli-tisch-institutionellen Instrumentalisierung des Antisemitismus durchdas NS-Regime sowie natürlich, nach dem Überfall auf Polen im Sep-tember 1939, aus der sich entwickelnden Kriegslage.

In Die Jahre der Verfolgung habe ich die von Hitler vertretene Variantedes Judenhasses als «Erlösungsantisemitismus» bezeichnet; mit anderenWorten, jenseits der unmittelbaren ideologischen Konfrontation mit demLiberalismus und dem Kommunismus, bei denen es sich in den AugenHitlers um Weltanschauungen handelte, die von Juden und zugunstenjüdischer Interessen erfunden worden waren, faßte er seine Mission alseine Art Kreuzzug zur Erlösung der Welt durch die Beseitigung der

Einleitung16

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Juden auf. Er sah «den Juden» als das Prinzip des Bösen in der abend-ländischen Geschichte und Gesellschaft. Ohne einen siegreichen Kampfzum Zweck der Erlösung würde der Jude schließlich die Welt beherr-schen. Dieses übergreifende metahistorische Axiom führte zu Hitlerskonkreteren ideologisch-politischen Folgehandlungen.

Auf einer biologischen, politischen und kulturellen Ebene, hieß es,strebe der Jude danach, die Nationen dadurch zu zerstören, daß er rassi-sche Verseuchung verbreite, die Strukturen des Staates unterminiereund ganz allgemein an der Spitze der wichtigsten ideologischen Gei-ßeln des 19. und 20. Jahrhunderts stehe, als da waren Bolschewismus,Plutokratie, Demokratie, Internationalismus, Pazifismus und diverseandere Gefahren. Durch den Einsatz dieses breiten Spektrums von Mit-teln und Methoden ziele der Jude darauf, die Zersetzung des vitalenKerns aller Nationen, in denen er lebe, und insbesondere die des deut-schen Volkes zu bewirken, um danach die Weltherrschaft anzutreten.Seit der Errichtung des nationalsozialistischen Regimes in Deutschlandsei der Jude sich über die Gefahr, die das erwachende Deutsche Reichfür ihn bedeute, im klaren. Deshalb sei er zur Entfesselung eines neuenWeltkriegs bereit, durch den diese Herausforderung auf seinem Vor-marsch zur Weltherrschaft vernichtet werden solle.

Diese unterschiedlichen Ebenen der antijüdischen Ideologie lassensich auf die knappste Weise zusammenfassen: Der Jude war eine tödlicheund aktive Bedrohung für alle Nationen, für die arische Rasse und für das deut-sche Volk. Die Betonung liegt nicht nur auf «tödlich», sondern auch –und vor allem – auf «aktiv». Während sämtliche anderen Personenkrei-se, die vom NS-Regime ins Visier genommen wurden – die Geisteskran-ken, die «Asozialen» und Homosexuellen, rassisch «minderwertige»Gruppen einschließlich der Zigeuner und der Slawen –, im wesent-lichen passive Bedrohungen darstellten (solange die Slawen beispiels-weise nicht von den Juden geführt wurden), waren die Juden aus natio-nalsozialistischer Sicht die einzige Gruppe, die seit ihrem Eintritt in dieGeschichte erbarmungslos Ränke schmiedete und Manöver unternahm,um die gesamte Menschheit zu unterjochen.

Dieser antijüdische Wahn an der Spitze des Nazisystems wurde nichtin ein Vakuum geschleudert. Seit Herbst 1941 bezeichnete Hitler «denJuden» häufig als den «Weltbrandstifter». Tatsächlich loderten die Flam-men, die Hitler anfachte, nur deshalb so flächendeckend und intensiv,weil in ganz Europa und darüber hinaus ein dichtes Gestrüpp ideologi-scher und kultureller Elemente bereitstand, die Feuer fangen konnten.Ohne den Brandstifter wäre das Feuer nicht ausgebrochen; ohne dasGestrüpp hätte es sich nicht so weit ausgebreitet und eine ganze Weltvernichtet. Diese beständige Interaktion zwischen Hitler und dem Sy-stem, in dem er agierte, wird in der vorliegenden Untersuchung in glei-

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cher Weise wie in Die Jahre der Verfolgung analysiert und interpretiertwerden. Hier beschränkt sich jedoch das System nicht auf seine deut-schen Komponenten, sondern es dringt in die entlegensten Winkel deseuropäischen Raumes vor.

Für das NS-Regime brachte der Kreuzzug gegen die Juden auch eineReihe pragmatischer Vorteile auf politisch-institutioneller Ebene mitsich. Für ein Regime, das auf fortwährende Mobilisierung angewiesen war,diente der Jude gleichsam als treibende Kraft. Mit der Radikalisierung derZiele des Regimes und dann mit der Ausweitung des Krieges wurde dieantijüdische Kampagne immer extremer; und in diesem Kontext wer-den wir die Herausbildung der «Endlösung» sehen können. Wie wir be-obachten werden, paßte Hitler selbst den Feldzug gegen «den Juden»taktischen Zielen an; sobald aber die ersten Anzeichen der Niederlagesichtbar wurden, rückte der Jude in den Mittelpunkt der Propaganda,wodurch das Volk in einem verzweifelten Kampf bei der Stange gehal-ten werden sollte.

Als Resultat der kollektiven Mobilisierungsfunktion «des Juden» –und wir werden sehen, wie erbarmungslos verleumderisch die antijü-dische Nazipropaganda während des gesamten Krieges verfuhr – wardas Verhalten vieler gewöhnlicher deutscher Soldaten, Polizisten oderZivilisten gegenüber den Juden, denen sie begegneten, die sie mißhan-delten und ermordeten, nicht unbedingt Ausdruck einer tiefsitzendenund historisch einzigartigen antijüdischen Leidenschaft, wie DanielJonah Goldhagen behauptet hat.7 Es war auch nicht vorwiegend dasErgebnis einer ganzen Reihe normaler sozio-psychologischer Verstär-kungen, Zwänge und gruppendynamischen Prozesse, die von ideolo-gischen Motivationen unabhängig gewesen wären, wie ChristopherR. Browning meint.8

Das System als Ganzes hatte eine antijüdische «Kultur» hervorge-bracht, die zum Teil in historischem Antisemitismus deutscher und eu-ropäisch-christlicher Provenienz verwurzelt war, aber auch mit all denMitteln gefördert wurde, welche dem Regime zur Verfügung standen.Sie wurde bis zur Weißglut getrieben – mit unmittelbaren Auswirkun-gen auf kollektives und individuelles Verhalten. «Gewöhnliche Deut-sche» waren sich dieses Prozesses vielleicht vage bewußt, oder mög-licherweise hatten sie, was plausibler ist, die antijüdischen Bilder undGlaubensvorstellungen verinnerlicht, ohne sie als eine Ideologie zu er-kennen, die durch staatliche Propaganda und deren unentwegten Ein-satz systematisch verschärft wurde.

Während die wesentliche Mobilisierungsfunktion «des Juden» vomRegime und seinen Dienststellen manipuliert wurde, erfolgte die Förde-rung einer anderen – nicht weniger entscheidenden – Funktion eher

Einleitung18

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intuitiv. Hitlers Führung hat man oft als «charismatisch» definiert, alseine Führung, die auf jener quasi-göttlichen Rolle basierte, die charis-matischen Führern von den Volksmassen, welche ihnen folgen, zuge-schrieben wird. Im Laufe der folgenden Kapitel werden wir immerwieder auf die Bindung zurückkommen, die zwischen ihm, der Parteiund dem Volk bestand. Hier mag die Feststellung genügen, daß Hitlerspersönliche Kontrolle über die überwältigende Mehrheit der Deut-schen drei verschiedenen und übergeschichtlichen Erlösungscredosentstammte und sie, so weit der Inhalt seiner Botschaft reichte, zumAusdruck brachte: dem Glauben an die letztliche Reinheit der Rassen-gemeinschaft, an die Überwältigung von Bolschewismus und «Pluto-kratie» und an die endliche Erlösung in einem Tausendjährigen Reich(die allseits bekannten christlichen Themen entlehnt war). In jeder die-ser Traditionen repräsentierte der Jude das Böse schlechthin. In diesemSinne verwandelte sich Hitler durch seinen Kampf in einen göttlichenFührer, da er an allen drei Fronten gegen denselben metahistorischenFeind kämpfte: den Juden.

*

Überall im deutschen Machtbereich in Europa wirkten institutionelleMachtkämpfe, die allgemeine Jagd nach Vorteilen und das Gewicht eta-blierter Interessengruppen auf die Entfaltung des ideologischen Furorsein. Die ersten beiden Faktoren sind in einer Vielzahl von Untersuchun-gen beschrieben und interpretiert worden, und sie werden hier in vol-lem Umfang einbezogen; der dritte Aspekt jedoch, von dem wenigerhäufig die Rede ist, scheint mir wesentlich in dieser Geschichte zu sein.

In der hochentwickelten modernen deutschen Gesellschaft und zu-mindest in Teilen des besetzten Europa mußte selbst Hitlers Autoritätund die der Parteiführung bei der Umsetzung jeder beliebigen politi-schen Strategie die Forderungen massiver Interessengruppen berück-sichtigen, seien es diejenigen von Parteimachthabern (den Gauleitern),der Industrie, der Kirchen, der Bauernschaft oder der Kleingewerbetrei-benden usw. Mit anderen Worten, die Imperative der antijüdischenIdeologie mußten sich auch auf eine Vielzahl struktureller Hindernisseeinstellen, die sich vom Wesen und von der Dynamik moderner Gesell-schaften schlechthin herleiteten.

Niemand würde eine derartige Selbstverständlichkeit bestreiten; ge-rade deshalb ist ein Faktum von zentraler Bedeutung: Nicht eine einzi-ge gesellschaftliche Gruppe, keine Religionsgemeinschaft, keine For-schungsinstitution oder Berufsvereinigung in Deutschland und in ganzEuropa erklärte ihre Solidarität mit den Juden. (Auch von der Haltungder christlichen Kirchen wird hier zu sprechen sein.) Im Gegenteil: Vie-le Gesellschaftsgruppen, viele Machtgruppen waren unmittelbar in die

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Enteignung der Juden verwickelt und, sei es auch aus Gier, stark anihrem völligen Verschwinden interessiert. Somit konnten sich national-sozialistische und mit ihnen verwandte antijüdische politische Strategien biszu ihren extremsten Konsequenzen entfalten, ohne daß irgendwelche nennens-werten Gegenkräfte sie hieran gehindert hätten.

III

Am 27. Juni 1945 schrieb die weltberühmte jüdisch-österreichischeChemikerin Lise Meitner, die 1939 aus Deutschland nach Schwedenemigriert war, an ihren ehemaligen Kollegen und Freund Otto Hahn,der seine Arbeit im Reich fortgesetzt hatte. Nach dem Hinweis, daß erund die anderen deutschen Wissenschaftler viel über die immerschlimmere Verfolgung der Juden gewußt hätten, fuhr Meitner fort:«Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet und habt auch nienur einen passiven Widerstand zu machen versucht. Gewiß, um EuerGewissen los zu kaufen, habt Ihr hier und da einem bedrängten Men-schen geholfen, aber Millionen unschuldiger Menschen hinmordenlassen, und keinerlei Protest wurde laut.»9 Meitners cri de cœur, derüber Hahn an die prominentesten Naturwissenschaftler Deutschlandsgerichtet war, von denen keiner ein aktives Parteimitglied, keiner inverbrecherische Aktivitäten verwickelt war, hätte ebensogut für die ge-samte intellektuelle und geistliche Elite des Reiches (selbstverständlichmit einigen Ausnahmen) und für weite Teile der Eliten in den besetz-ten Ländern und in den Satellitenstaaten Europas gelten können. Undwas für die Eliten galt, das galt mit noch größerem Recht für die Bevöl-kerung der einzelnen Länder (wiederum mit Ausnahmen). Hier wa-ren, wie gesagt, das Nazisystem und der europäische Hintergrund engmiteinander verknüpft.

Einige grundlegende Fragen zu den Einstellungen und Reaktionenvon Zuschauern können wir immer noch nicht genau beantworten. Dasist entweder auf die Fragen selbst zurückzuführen oder auf das Fehlenwichtiger Dokumente. Die allgemeine Wahrnehmung der Ereignisseläßt sich zum Teil immer noch schwer einschätzen. Eine große Mengevon dokumentarischem Material wird jedoch zeigen, daß zwar in West-europa, in Skandinavien und in den Balkanländern die Wahrnehmun-gen, was das Schicksal der deportierten Juden anging, bis Ende 1943oder sogar bis Anfang 1944 verschwommen gewesen sein mögen, nichtaber in Deutschland selbst und natürlich auch in Osteuropa nicht. Ohnedie hier folgenden Interpretationen vorwegzunehmen, läßt sich sagen:Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß es Ende 1942 oder spä-testens Anfang 1943 einer gewaltigen Zahl von Deutschen, Polen, Weiß-

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russen, Ukrainern und Balten klar vor Augen stand, daß die Juden zurtotalen Ausrottung verurteilt waren.

Schwieriger zu erfassen ist die Folge einer derartigen Information.Während der Krieg, die Verfolgung und die Deportationen in ihre letztePhase eintraten und während das Wissen um die Vernichtung sich im-mer weiter verbreitete, nahm auf dem ganzen Kontinent auch der Anti-semitismus zu. Zeitgenossen registrierten diesen paradoxen Trend, des-sen Interpretation zu einem beherrschenden Thema im dritten (undletzten) Teil dieser Darstellung werden wird.

Ungeachtet aller Probleme der Interpretation sind die Einstellungenund Reaktionen von Zuschauern reichlich dokumentiert. VertraulicheStimmungsberichte des SD, des Sicherheitsdienstes der SS, bieten eben-so wie Berichte anderer Dienststellen aus Staat und Partei ein alles inallem zuverlässiges Bild deutscher Einstellungen. Die Tagebücher vonJoseph Goebbels, eine der Hauptquellen dafür, wie sehr Hitler von denJuden besessen war, beschäftigen sich ebenfalls systematisch mit deut-schen Reaktionen auf das Judenproblem, wie sie sich von der Spitze desSystems her darstellten, während Soldatenbriefe Proben der Einstellun-gen bieten, die sozusagen auf der untersten Ebene geäußert wurden. Inden meisten besetzten Ländern oder Satellitenstaaten berichteten deut-sche Diplomaten regelmäßig über die Stimmung in der Bevölkerung,beispielsweise angesichts der Deportationen, und offizielle Quellen derlokalen Verwaltung wie etwa die rapports des préfets in Frankreich, gin-gen ebenfalls auf diese Thematik ein. Individuelle Reaktionen von Zu-schauern, auch solche, die von jüdischen Tagebuchschreibern registriertwurden, werden in das Gesamtbild eingehen, und gelegentlich bietenan einem bestimmten Ort geführte Tagebücher, deren Eintragungensich, wie im Falle des polnischen Arztes Zygmunt Klukowski, über eineganze Periode hinweg erstrecken, ein lebendiges Bild der Einsichteneines Individuums über die sich wandelnde Gesamtszenerie.

Bei den Fragen nach den Zuschauern, die für uns aufgrund der Unzu-gänglichkeit entscheidender Dokumente nicht zu beantworten sind,steht die Haltung des Vatikans und vor allem die von Papst Pius XII. bisheute im Vordergrund. Ungeachtet einer umfangreichen Sekundärlitera-tur und der Verfügbarkeit einiger neuer Dokumente stellt die Tatsache,daß es Historikern nicht möglich ist, Zugang zu den Archiven des Vati-kans zu erhalten, eine erhebliche Einschränkung dar. Ich werde die Ein-stellung des Papstes so eingehend behandeln, wie es die gegenwärtigeQuellenlage zuläßt, aber der Historiker steht hier vor einem Hindernis,das sich hätte beseitigen lassen, bislang aber noch nicht aus dem Weg ge-räumt worden ist.

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In ihrem eigenen Rahmen, getrennt von der detaillierten Geschichtedeutscher politischer Strategien und Maßnahmen oder von den Einstel-lungen und Reaktionen von Zuschauern, ist die Geschichte der Opfersorgfältig dokumentiert worden, zunächst während der Kriegsjahre unddann natürlich seit dem Ende des Krieges. Hier gab es durchaus Studienüber die politischen Strategien von Herrschaft und Mord, die aber nurskizzenhaft waren. Das Schwergewicht lag von Anfang an auf dergründlichen Sammlung dokumentarischer Spuren und Zeugnisse zumLeben und Tod der Juden: Es ging um die Einstellungen und Strategiender jüdischen Führung, um die Versklavung und Vernichtung jüdischerArbeiter, die Aktivitäten verschiedener jüdischer Parteien und politischerJugendorganisationen, um den Alltag im Ghetto, die Deportationen, denbewaffneten Widerstand, den massenhaften Tod an jedem einzelnen derHunderte von Tötungsorten, die sich über das gesamte besetzte Europaverteilten. Auch wenn bald nach dem Krieg hitzige Debatten und syste-matische Interpretationen zusammen mit der fortlaufenden Sammlungvon «Spuren» zu einem untrennbaren Bestandteil dieser Geschichts-schreibung wurden, ist doch die Geschichte der Juden eine in sich ge-schlossene Welt und überwiegend die Domäne jüdischer Historiker ge-blieben. Selbstverständlich kann die Geschichte der Juden während desHolocaust nicht die Geschichte des Holocaust sein; ohne sie jedoch läßtsich die allgemeine Geschichte dieser Ereignisse nicht schreiben.10

In ihrem höchst umstrittenen Buch Eichmann in Jerusalem legte Han-nah Arendt ganz direkt einen Teil der Verantwortung für die Vernich-tung der Juden Europas auf die Schultern der verschiedenen jüdischenFührungsgruppen, der Judenräte.11 Diese weitgehend unbegründeteThese machte aus Juden Kollaborateure bei der Vernichtung ihres eige-nen Volkes. In Wirklichkeit war jeder Einfluß, den die Opfer auf denVerlauf ihrer eigenen Viktimisierung haben konnten, marginal, abermanche Interventionen fanden (mit welchem Ergebnis auch immer) ineinigen wenigen nationalen Kontexten statt. So hatten in mehreren der-artigen Situationen jüdische Führer einen beschränkten, aber nicht völ-lig unbedeutenden Einfluß (positiver oder negativer Art) auf den Ver-lauf der Entscheidungen, die von nationalen Behörden gefällt wurden.Wahrnehmbar war dies, wie wir sehen werden, in Vichy, in Budapest,Bukarest, Sofia, vielleicht in Bratislava und natürlich in den Beziehun-gen zwischen jüdischen Repräsentanten und den alliierten und neu-tralen Regierungen. Überdies hat auf eine besonders tragische Weiseder jüdische bewaffnete Widerstand – hier und da auch die Aktivitätjüdisch-kommunistischer Widerstandsgruppen wie der Gruppe Baumin Berlin –, sei es in Warschau, Treblinka oder Sobibór, möglicherweisezu einer beschleunigten Vernichtung der verbleibenden jüdischen Skla-venarbeiterschaft geführt (zumindest bis Mitte 1944).

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Von außerordentlicher Bedeutung war auch die Interaktion zwischenden Juden in den besetzten Ländern, den Satellitenstaaten, den Deut-schen und der sie umgebenden Bevölkerung auf der unteren Ebene. Vondem Augenblick an, als die Vernichtungspolitik in Gang gesetzt wurde,waren alle Schritte, die von Juden unternommen wurden, um das Be-mühen der Nazis zur Vernichtung jedes Einzelnen zu behindern, einunmittelbarer Gegenzug – und sei es auf minimaler individueller Ebe-ne: Beamte, Polizisten oder Denunzianten bestechen, Familien dafür be-zahlen, daß sie Kinder oder Erwachsene verstecken, in die Wälder oderins Gebirge fliehen, in kleine Dörfer verschwinden, konvertieren, sichWiderstandsgruppen anschließen, Lebensmittel stehlen – alles, waseinem Menschen einfiel und das Überleben ermöglichte, hieß, der deut-schen Zielsetzung ein Hindernis in den Weg zu legen. Auf dieser Mikro-Ebene fand die grundlegende und fortlaufende Interaktion der Judenmit den Kräften statt, die bei der Durchführung der «Endlösung» amWerk waren. Diese Mikro-Ebene bedarf der nachhaltigsten Untersu-chung. Und hier gibt es Dokumente in Hülle und Fülle.

Die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden läßt sich ausder Perspektive der Opfer nicht nur durch spätere Zeugnisse (Aus-sagen vor Gericht, Interviews und Memoiren) rekonstruieren, sondernauch mit Hilfe der ungewöhnlich großen Zahl von Tagebüchern (undBriefen), die während der Ereignisse geschrieben und im Laufe der dar-auffolgenden Jahrzehnte aufgefunden wurden. Diese Tagebücher undBriefe schrieben Juden aller europäischen Länder, aus allen Lebens-bereichen, allen Altersgruppen, die entweder unter unmittelbarer deut-scher Herrschaft oder mittelbar in der Sphäre der Verfolgung lebten.Selbstverständlich muß man die Tagebücher mit der gleichen kri-tischen Aufmerksamkeit benutzen wie jedes andere Dokument, vorallem dann, wenn sie nach dem Krieg von dem überlebenden Verfasseroder von überlebenden Familienmitgliedern publiziert worden sind.Als Quelle für die Geschichte des jüdischen Lebens während der Jahreder Verfolgung und Vernichtung bleiben sie jedoch entscheidend undunersetzlich.12

Ob die Mehrzahl der jüdischen Tagebuchschreiber in der Frühphasedes Krieges deshalb mit dem Schreiben begann oder die Aufzeichnun-gen fortführte, weil sie für eine künftige Geschichte über die EreignisseBuch führen wollte, läßt sich schwer feststellen; als sich aber die Verfol-gung verschlimmerte, wurden sich die meisten von ihnen ihrer Rolle alsChronisten und Memoirenschreiber ihrer Epoche sowie als Interpretenund Kommentatoren ihres persönlichen Schicksals bewußt. Bald ver-trauten Hunderte, ja wahrscheinlich Tausende von Zeugen ihre Beob-achtungen der Verschwiegenheit ihrer privaten Aufzeichnungen an.Große Ereignisse und vieles, was alltägliche Vorfälle betraf, Einstellun-

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gen und Reaktionen der umgebenden Welt verschmolzen zu einem im-mer umfassenderen, wenn auch gelegentlich widersprüchlichen Bild.Sie gestatten Einblicke in Einstellungen auf höchster politischer Ebene(beispielsweise in Vichy-Frankreich und in Rumänien), sie schildern inallen Einzelheiten die Initiativen und die alltägliche Brutalität der Täter,die Reaktionen der Bevölkerung, das Leben und die Vernichtung ihrereigenen Gemeinschaften, aber sie halten auch die Welt ihres Alltags fest.Starke Äußerungen von Hoffnung und Illusionen treten zutage; die wil-desten Gerüchte, die phantastischsten Interpretationen der Ereignisseerscheinen zumindest eine Zeitlang als plausibel. Für viele werden diekatastrophalen Ereignisse auch zu einer Herausforderung für ihre frü-heren Überzeugungen, für die Bedeutung ihres ideologischen oder reli-giösen Engagements, für die Werte, die ihr Leben bestimmt haben.

Jenseits ihrer allgemeinen historischen Bedeutung gleichen solchepersönlichen Chroniken Blitzlichtern, die Teile einer Landschaft er-leuchten: Sie bestätigen Ahnungen, sie warnen uns vor der Mühelosig-keit vager Verallgemeinerungen. Manchmal wiederholen sie nur mitunvergleichlicher Überzeugungskraft das Bekannte. Um es mit WalterLaqueur zu sagen: «Es gibt gewisse Situationen, die so extrem sind, daßes einer außerordentlichen Anstrengung bedarf, um ihre Ungeheuer-lichkeit zu begreifen, sofern man sie nicht miterlebt hat.»13

Bis heute hat man die individuelle Stimme vorwiegend als eine Spurwahrgenommen, als die Spur, welche die Juden hinterlassen haben,welche Zeugnis ablegt, ihr Schicksal bestätigt und veranschaulicht. Inden folgenden Kapiteln werden die Stimmen der Tagebuchschreiberaber noch eine ganz andere Rolle spielen. Gerade durch ihr Wesen, kraftihrer Menschlichkeit und Freiheit, kann eine individuelle Stimme, diesich plötzlich im Verlauf der gewöhnlichen historischen Erzählung vonEreignissen wie den hier dargestellten erhebt, eine glatte Interpretationund die (meist unwillkürliche) Selbstgefälligkeit wissenschaftlicherDistanz und «Objektivität» durchbrechen. In einer Geschichte des Wei-zenpreises am Vorabend der Französischen Revolution wäre eine der-artige disruptive Funktion kaum erforderlich, aber für die historischeRepräsentation von massenhafter Vernichtung und anderen Abfolgenmassenhaften Leidens, die von einer Business-as-usual-Historiographiezwangsläufig domestiziert und sozusagen «verflacht» wird, ist sie un-entbehrlich.14

Jeder von uns nimmt die Wirkung der individuellen Stimme anderswahr, und jeder Mensch wird durch die unerwarteten «Schreie und ge-flüsterten Worte», die uns immer wieder dazu zwingen, abrupt inne-zuhalten, auf andere Weise herausgefordert. Einige beiläufige Reflexio-nen über bereits wohlbekannte Ereignisse mögen genügen, entwederinfolge ihrer kraftvollen Beredsamkeit oder wegen ihrer hilflosen Unge-

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schicklichkeit; oftmals kann die Unmittelbarkeit des Schreies eines Zeu-gen, in dem Entsetzen, Verzweiflung oder unbegründete Hoffnung lie-gen, unsere emotionale Reaktion auslösen und unsere vorgängige, gutgeschützte Wahrnehmung extremer historischer Ereignisse erschüttern.

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Kehren wir zu Moffies Photographie zurück, zu dem auf sein Jackettaufgenähten Stern mit seiner abstoßenden Inschrift und zu dessen Be-deutung: Wie alle Träger dieses Zeichens sollte der junge Doktor derMedizin von der Erdoberfläche verschwinden. Sobald man ihre Bot-schaft verstanden hat, löst diese Photographie Fassungslosigkeit aus.Sie ist eine quasi-instinktive Reaktion, ehe das Wissen sich einstellt, umsie sozusagen zu unterdrücken. Mit Fassungslosigkeit ist hier etwas ge-meint, das aus der Tiefe der eigenen unmittelbaren Weltwahrnehmungaufsteigt, der Wahrnehmung dessen, was normal ist und was «unglaub-lich» bleibt. Das Ziel des historischen Wissens besteht darin, die Fas-sungslosigkeit zu domestizieren, sie wegzuerklären. In diesem Buchmöchte ich eine gründliche historische Untersuchung über die Vernich-tung der Juden Europas vorlegen, ohne das anfängliche Gefühl der Fas-sungslosigkeit völlig zu beseitigen oder einzuhegen.

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