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Russland HEUTE

Date post: 27-Mar-2016
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Die Ausgabe vom 7. Dezember 2011
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POINTIERT Die Demokratie verdienen E ine russische Volksweis- heit besagt, dass es nichts umsonst gibt – außer den Käse in der Mausefalle. Will man etwas erreichen, muss man etwas dafür tun. So wie bei den Duma-Wahlen am 4. Dezem- ber. Die Regierungspartei Eini- ges Russland ist ihre Zweidrit- telmehrheit im Parlament los. Und auch wenn die Wahlbetei- ligung mit rund 60 Prozent fast auf dem Niveau der letzten Du- ma-Wahlen lag: Die Bürger haben etwas getan. Jene, denen 2007 die Parlaments- wahlen noch egal waren, gingen 2011 wählen und haben für op- positionelle Parteien gestimmt. Vielleicht weil sie begriffen haben, dass es nichts umsonst gibt, erst recht keine Demokra- tie? Wir sind gespannt, ob die Opposition ihre gestärkte Rolle im Parlament nutzen wird und wünschen Ihnen Frohe Weih- nachten und einen guten Start ins neue Jahr. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR Europa hat den Januar 2009 nicht vergessen: Weil sich Gazprom und die Ukraine nicht auf einen Gas- preis einigen konnten, drehte Mos- kau dem Nachbarland kurzerhand den Hahn ab. Und weil die Ukra- ine das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Europa ist, wurde bald in Bulgarien und in der Slo- wakei das Gas knapp. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie auf Ihrem Navi demnächst das Wörtchen „Glonass“ entdecken. Fast drei Jahrzehnte nach dem Projektstart verkündete Russland Ende Oktober, dass nun auch Glo- nass, das eigene Navigationssys- tem mit 24 Satelliten, voll funk- SEITEN 6 UND 7 SEITE 3 SEITE 4 „Russland versinkt im Schnee- chaos“ – warum liest man diese Schlagzeile so selten? Weil Rus- sen sich darauf einstellen, dass es sehr viel schneien und äußerst kalt werden kann. Klar, in Moskau bricht der Ver- kehr jedes Jahr routinemäßig beim ersten Schneefall zusammen, was aber daran liegt, dass die Stadt ohnehin täglich am Rande des Verkehrskollaps taumelt. Wie sich der sibirische Amurtiger gegen Temperaturen von bis zu minus 45 Grad zu schützen weiß, warum das Zauberwort russischer Autofahrer im Winter „Webasta“ heißt und woher die als Russen- Mütze bekannte „Uschanka“ stammt, erfahren Sie in unserem Winterspezial. Wer gut vorbereitet ist, kann einen kalten und schneereichen Winter auch genießen: Man muss ja nicht gleich den „Walrössern“ nachei- fern, jenen Russen, die ihre Kör- per durch Baden in Eislöchern stählen. Aber wer sich nie nach einer ausgiebigen Banja-Prozedur im Schnee gewälzt hat, der hat Russland nicht verstanden. Streit ums Gas beendet Weg frei fürs Glonass-Navi Keine Panik vor dem Winter Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Irving Berlin aus Tjumen ließ Amerika träumen SEITE 8 Mehr Weiß Nach 18 Jahren und zähen Verhandlungen tritt Russland der WTO bei. Hat sich der Aufwand gelohnt? SEITE 10 Mehr Handel Ein Usbeke baut Möbel – und Orgeln für Kaliningrad SEITE 12 Mehr Orgeln Mittwoch, 7. Dezember 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Schönes Weiß und verschneite Zwie- beltürmchen – die Sonnenseite des russischen Wintermärchens POLITIK DUMA-WAHLEN 2011 KEINE ZWEIDRITTELMEHRHEIT FÜR EINIGES RUSSLAND Einiges Russland hat bei den Parlamentswahlen weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten, 15 weniger als 2007. Viele Russen wundern sich: Die ge- lenkte Demokratie lässt Raum für Überraschungen. Doch auch mit der ein- fachen Mehrheit wird die Partei das Parlament dominieren. Warum die „Du- ma“ trotzdem die letzte Hoffnung für die russische Demokratie ist, erklärt Wiktor Chamrajew, seit 15 Jahren Parlamentskorrespondent. SEITE 2 Was erwartet Europa in diesem Winter? Die Eröffnung der Pipe- line Nord Stream stärkt die Po- sition Moskaus gegenüber den Transitländern. Gleichzeitig wan- delt sich der Gasmarkt: An die Stelle langfristiger Verträge tritt der Handel auf dem Spotmarkt. tionsfähig sei. Das iPhone 4 ortet schon jetzt Glonass-Satelliten, Samsung und Nokia ziehen bald nach. In naher Zukunft soll das System auch ermöglichen, in Not geratene Autofahrer zu orten. REISEN SEITE 9 WIRTSCHAFT SEITE 5 FEUILLETON SEITE 11 Moskau So lässt es sich hier aushalten Skolkowo Das russi- sche Silicon Valley Abenteuer Inkognito durch die UdSSR INHALT CORBIS/FOTO SA MAXICK.RU LORI/LEGION MEDIA ITAR-TASS PRIVATARCHIV
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Page 1: Russland HEUTE

POINTIERT

Die Demokratie verdienen

Eine russische Volksweis-heit besagt, dass es nichts umsonst gibt – außer den Käse in der Mausefalle.

Will man etwas erreichen, muss man etwas dafür tun. So wie bei den Duma-Wahlen am 4. Dezem-ber. Die Regierungspartei Eini-ges Russland ist ihre Zweidrit-telmehrheit im Parlament los. Und auch wenn die Wahlbetei-ligung mit rund 60 Prozent fast auf dem Niveau der letzten Du-ma-Wahlen lag: Die Bürger haben etwas getan. Jene, denen 2007 die Parlaments-wahlen noch egal waren, gingen 2011 wählen und haben für op-positionelle Parteien gestimmt. Vielleicht weil sie begriffen haben, dass es nichts umsonst gibt, erst recht keine Demokra-tie? Wir sind gespannt, ob die Opposition ihre gestärkte Rolle im Parlament nutzen wird und wünschen Ihnen Frohe Weih-nachten und einen guten Start ins neue Jahr.

Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

Europa hat den Januar 2009 nicht vergessen: Weil sich Gazprom und die Ukraine nicht auf einen Gas-preis einigen konnten, drehte Mos-kau dem Nachbarland kurzerhand den Hahn ab. Und weil die Ukra-ine das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Europa ist, wurde bald in Bulgarien und in der Slo-wakei das Gas knapp.

Wundern Sie sich nicht, wenn Sie auf Ihrem Navi demnächst das Wörtchen „Glonass“ entdecken. Fast drei Jahrzehnte nach dem Projektstart verkündete Russland Ende Oktober, dass nun auch Glo-nass, das eigene Navigationssys-tem mit 24 Satelliten, voll funk-

SEITEN 6 UND 7

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„Russland versinkt im Schnee-chaos“ – warum liest man diese Schlagzeile so selten? Weil Rus-sen sich darauf einstellen, dass es sehr viel schneien und äußerst kalt werden kann. Klar, in Moskau bricht der Ver-kehr jedes Jahr routinemäßig beim ersten Schneefall zusammen, was aber daran liegt, dass die Stadt ohnehin täglich am Rande des Verkehrskollaps taumelt.Wie sich der sibirische Amurtiger gegen Temperaturen von bis zu minus 45 Grad zu schützen weiß, warum das Zauberwort russischer Autofahrer im Winter „Webasta“ heißt und woher die als Russen-Mütze bekannte „Uschanka“ stammt, erfahren Sie in unserem Winterspezial.Wer gut vorbereitet ist, kann einen kalten und schneereichen Winter auch genießen: Man muss ja nicht gleich den „Walrössern“ nachei-fern, jenen Russen, die ihre Kör-per durch Baden in Eislöchern stählen. Aber wer sich nie nach einer ausgiebigen Banja-Prozedur im Schnee gewälzt hat, der hat Russland nicht verstanden.

Streit ums Gas beendet

Weg frei fürs Glonass-Navi

Keine Panik vor dem Winter Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYONDTHE HEADLINES

Irving Berlin aus Tjumen ließ Amerika träumen

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Mehr WeißNach 18 Jahren und zähen Verhandlungen tritt Russland der WTO bei. Hat sich der Aufwand gelohnt?

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Mehr HandelEin Usbeke baut Möbel – und Orgeln für Kaliningrad

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Mehr Orgeln

Mittwoch, 7. Dezember 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Schönes Weiß und verschneite Zwie-beltürmchen – die Sonnenseite des russischen Wintermärchens

POLITIK

DUMA-WAHLEN 2011KEINE ZWEIDRITTELMEHRHEIT FÜR EINIGES RUSSLAND

Einiges Russland hat bei den Parlamentswahlen weniger als 50 Prozent der Stimmen erhalten, 15 weniger als 2007. Viele Russen wundern sich: Die ge-lenkte Demokratie lässt Raum für Überraschungen. Doch auch mit der ein-fachen Mehrheit wird die Partei das Parlament dominieren. Warum die „Du-ma“ trotzdem die letzte Hoffnung für die russische Demokratie ist, erklärt Wiktor Chamrajew, seit 15 Jahren Parlamentskorrespondent. SEITE 2

Was erwartet Europa in diesem Winter? Die Eröffnung der Pipe-line Nord Stream stärkt die Po-sition Moskaus gegenüber den Transitländern. Gleichzeitig wan-delt sich der Gasmarkt: An die Stelle langfristiger Verträge tritt der Handel auf dem Spotmarkt.

tionsfähig sei. Das iPhone 4 ortet schon jetzt Glonass-Satelliten, Samsung und Nokia ziehen bald nach. In naher Zukunft soll das System auch ermöglichen, in Not geratene Autofahrer zu orten.

REISEN SEITE 9

WIRTSCHAFT SEITE 5

FEUILLETON SEITE 11

Moskau So lässt es sich hier aushalten

Skolkowo Das russi-sche Silicon Valley

Abenteuer Inkognito durch die UdSSR

INHALT

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-TASS

PRIVATARCHIV

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2 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, MoskauPolitik

wiktor chaMrajewfür russland heute

seit ihrer gründung 1993 ringt die duma, das russische Parlament, um ihr selbst-verständnis. was haben die 450 abgeordneten bewegt, was können sie bewegen?

In den knapp zwanzig Jahren seit ihrer Neugründung hat die rus-sische Staatsduma es nicht ver-standen, sich zu einem richtigen Legislativorgan oder doch zumin-dest einer Institution zu mausern, die für die Interessen des einfa-chen Bürgers eintritt. Das hat auch seine historischen Gründe: Ihre ersten Gehversuche machte die Duma 1906/07. Damals war sie nur dem Namen nach ein Parlament, die Gesetze erließ wei-terhin der Zar. Nach der Okto-berrevolution von 1917 wurde die Duma vom Kongress der Volks-deputierten abgelöst, der unter dem Diktat der Kommunistischen Partei stand. Bis zur Perestrojka 1985 gab es weder Parteienplura-lismus noch parlamentarische Demokratie. Nach dem Zusam-menbruch der Sowjetunion 1991 schossen dann Parteien aller Cou-leur wie Pilze aus dem Boden. Zehn Jahre rangen Militärs, Oli-garchen, Neoliberale und Altkom-munisten in der Duma um Macht und Einfluss, während das Land unter Boris Jelzin international an Gewicht und Ansehen verlor und die Bevölkerung verarmte.Dann betrat Wladimir Putin die politische Bühne. Mit ihm wurde alles anders, und doch erinnert

seine Regierungszeit an die poli-tische Landschaft der Vor-Jelzin-Ära: Wie Frankreich und Ameri-ka hat Russland ein präsidial-par-lamentarisches Regierungssystem, Parlament und Präsident werden in getrennten Wahlgängen ge-wählt. Die Regierung bildet der Präsident, der auch den Minister-präsidenten vorschlägt. Zwar braucht er für Letzteres die Zu-stimmung der Duma, doch wird er immer das letzte Wort behal-ten. Lehnt das Parlament näm-lich dreimal einen Kandidaten ab, hat er das Recht, es aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen. Auch neue Gesetze werden in der Prä-sidialverwaltung ausgearbeitet und dann durch die Regierung be-schlossen. Zuvor werden sie der Duma vorgelegt, die ihnen zustim-men oder sie ablehnen kann. Mit der absoluten Mehrheit der Putin-Partei Einiges Russland im Parlament ist dieses demokrati-sche Regulativ nicht mehr gege-ben. Was zur Folge hat: Heute ge-hört die Duma zu jenen staatli-chen Institutionen, denen die Bevölkerung das geringste Ver-trauen entgegenbringt.

ohne wirkung und doch einzi-ger garant für demokratieWas passierte, nachdem Jelzin sei-nen Zögling Putin an die Staats-spitze gehievt hatte? Es kam zu einer Einigung der politischen Elite, die Ende der 90er-Jahre noch tief gespalten war. Das lag am zunehmenden Einfluss der führenden Militär- und Geheim-dienstkreise, der Silowiki. Ent-

scheidender waren jedoch die wachsenden Staatseinnahmen durch Öl- und Gasexporte, von denen alle profitierten: die gesam-te Bevölkerung, allen voran Poli-tik und Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund hatte Wladimir Putin ein leichtes Spiel. Hinzu kam, dass er sich auf vorteilhafte Weise von seinem Vorgänger Boris Jelzin abhob. Er war jung und dyna-misch und erlangte durch seine Volksnähe große Popularität.

Die Konsolidierung der Eliten gip-felte in der Gründung der Pro-Putin-Partei Einiges Russland, in der auch die russische Bürokra-tie eine Heimstatt fand. 2003 und 2007 errang sie sensationelle Wahl-erfolge und verfügte zuletzt mit 315 von 450 Sitzen über die ver-fassungsgebende Mehrheit in der Duma. In den 90er-Jahren sah da die po-litische Landschaft noch anders aus. Präsident, Regierung und Par-lament mussten um jedes Gesetz miteinander feilschen. So gesehen war damals die Duma ein funk-tionierendes demokratisches Organ. Andererseits war die Be-völkerung über die zum Teil cha-otischen Verhältnisse in Regierung und Parlament tief verunsichert.

Anfang der 1990er herrschte noch Aufbruchstimmung. Als die KPdSU ihre Monopolstellung auf-geben musste, zeigte die Bevölke-rung großes Interesse an Zu-kunftsvisionen und den Program-men der einzelnen Parteien. Doch am Ende des Jahrzehnts musste sie begreifen, dass Parlamentsde-batten weder mehr Lohn und Rente noch eine Verbesserung der medizinischen Versorgung ge-bracht hatten. Ganz im Gegenteil. Über alles, was den Einzelnen betraf, entschieden die direkt ge-wählten Repräsentanten – Präsi-dent, Gouverneur, Bürgermeister. Der Bürger wandte sich deswe-gen ohne Wehmut von Parteien-demokratie und Parlamentaris-mus ab und kehrte zurück zu seinem traditionell paternalisti-schen Verhältnis zur Obrigkeit. Heute verfügt die Duma zwar über alle Attribute eines Parlaments. Doch gleichen diese einer bloßen Hülle ohne Inhalt. Die Parteifrak-tionen ähneln Debattierclubs mit einem begrenzten Besucherkreis. Die meisten Abgeordneten lehnen sich untätig zurück und langwei-len sich. Andere wirtschaften in die eigene Tasche: Ehemalige Top-manager und Oligarchen begüns-tigen ihre eigenen Unternehmen, als Anwälte des Volkes taugen sie nicht. Topsportler und andere Pro-minenz sollen der ansonsten eher tristen Parteienlandschaft zu Glanz verhelfen. Natürlich gibt es auch einige hochqualifizierte und renommierte Fachleute. Sie kön-nen zwar nicht die Qualität der Gesetzesentwürfe beeinflussen,

die aus der Präsidialverwaltung stammen, ihnen bleibt aber die Möglichkeit einer Kritik, wobei sie immerhin ihr Gewissen beru-higen. Solcherart Debatten ver-leihen der Duma zumindest den Anschein eines demokratischen Organs, aber sie bleiben stets ein Kampf gegen Windmühlen.Trotz ihrer Wirkungslosigkeit, trotz verfestigter Strukturen ist die Duma dennoch der einzige Ga-rant für die Demokratie in Russ-land. Denn bei allem Traditiona-lismus der russischen Gesellschaft gilt doch, dass die letzten 20 Jahre einiges im Selbstverständnis des Bürgers in Bewegung gesetzt haben. Heute nimmt er sein de-mokratisches Recht wahr und schreitet zur Wahl. Was vor 25 Jahren noch undenkbar erschien, wird man ihm nicht mehr neh-men können. Deshalb misst die Regierung – von der Opposition als autoritär bezeichnet – dem Wahlergebnis eine so bedeutsame Rolle zu. Wenn weitere Zeit ins Land geht und das Wirtschaftsmodell Russ-lands sich von den Rohstoffexpor-ten losreißen kann, wird auch die politische Elite nicht mehr ganz so monolithisch agieren. Dieses würde zweifellos die Parteien-landschaft beleben und die Staats-duma vielleicht sogar in ein rich-tiges Parlament nach westlichem Vorbild verwandeln.

Wiktor Chamrajew ist seit 1996 Parlamentskorrespondent, seit 2004 arbeitet er für die unabhän-gige Tageszeitung Kommersant.

Moritz gathmannjournalist

Nein, ist es nicht. Jene knapp 50 Pro-zent der Stimmen kamen zustande trotz der gemeldeten Wahlfälschun-gen und trotz einer Wahlkampagne, in der die staatseigenen und -nahen Me-dien von früh bis spät die Verdienste Putins und Medwedjews – und auf re-gionaler Ebene des Gouverneurs und der Partei Einiges Russland – lobten. Und trotz Drohungen seitens der regionalen Politiker an die Wähler: Würde Einiges Russland geschwächt, bliebe auch das liebe Geld aus Mos-kau aus.

Einiges Russland hat bei den Parla-mentswahlen herbe Verluste hinneh-men müssen: Etwas weniger als 50 Prozent – anstatt der 64,3 von 2007 – erhält jene Partei, die in den letzten Jahren das Funktionieren der Macht-vertikale von Wladimir Putin gewähr-leistete. „Das ist das Resultat echter Demokratie“, hat Präsident Dmitri Medwedjew am Wahlabend gesagt.

koMMentar

der russische Wähler will ernst genommen werden

Viele Menschen sind wählen gegan-gen, die in den letzten Jahren abge-wunken hatten, weil „ohnehin schon alles entschieden“ sei.Eine große Rolle hat auch die Verbrei-tung des Internets gespielt: Heute gibt es 50 Millionen Nutzer im Land, doppelt so viele wie 2007. Das be-deutet, dass staatlich gesteuerte Me-dien an Bedeutung verlieren. Die Men-schen machen sich ihr eigenes Bild.

Der Autor arbeitet seit 2008 als freier Journalist in Russland.

Parlamentarische windmühlen

anfang der 90er, als die KPdsu ihr Monopol aufgeben musste, zeigte die Bevölkerung noch interesse an Parteien.

Parlament der Wandel der russischen staatsduma aus der sicht eines langjährigen Parlamentskorrespondenten

Voraussichtliche sitzeverteilung

itar-tass

Page 3: Russland HEUTE

3Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau Politik

keine neue eiszeit für europaenergie Die Nord-Stream-Pipeline senkt das Risiko für einen neuerlichen Streit ums Gas

ein segen für alle oder energiewirtschaftliche Bürde? Bei der eröffnung der nord-stream-Pipeline

natalia tiMakowaexkluSiv füR RuSSlaND heute

der winter ist da, und vor allem osteuropäische gas-importländer grübeln erneut darüber nach: ist der energie-bedarf gesichert? was bringt die nord-stream-Pipeline?

Bei der Einweihungsfeier der Nord-Stream-Pipeline am 8. No-vember in Lubmin wirkten Kanz-lerin Angela Merkel und der rus-sische Präsident Dmitri Medwed-jew enthusiastisch. Flammende Reden wurden gehalten, die Ener-giechefs beider Seiten gelobten eine rundum vorteilhafte Part-nerschaft. Worüber sie hinwegre-deten: 2009 gefährdete Russland sein Image als zuverlässiger Lie-ferant, indem es wegen eines Gas-streits mit der Ukraine Europa zum Frösteln brachte.Nach Eröffnung der ersten Nord- Stream-Röhre war der Energie-riese Gazprom seinem erklärten Ziel näher gerückt: nämlich einem Ausschluss sämtlicher Transitri-siken. Gemeint ist die Situation vom Januar 2009. Damals geriet der Transport von russischem Gas durch die Ukraine gänzlich außer Kontrolle. Der westliche Nachbar Russlands bediente sich aus der Röhre, konnte aber die Gasliefe-rungen nicht bezahlen, weshalb Gazprom demonstrativ das Ven-til für seine Gasexporte nach Eu-ropa schloss und sich promt har-sche Kritik aus der EU anhören musste: Die Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Österreich, Kroatien, Bosnien und Herzegowina hatten einen kalten Winter vor sich. Das Image von Gazprom war schwer angeschlagen. Vor diesem Hintergrund ist Nord Stream für Russland zwar ein kostspieliges, aber lukratives Ge-schäft. Es kann als sicher gelten, dass Gazprom bis Ende 2012 die Pipeline auf die geplante Kapa-zität von 55 Milliarden Kubikme-tern hochfahren wird. Bis dahin ist auch der zweite Strang von Nord Stream fertiggestellt, und fast 33 Milliarden Kubikmeter Gas werden aus dem ukrainischen Gastransportsystem in die neue Leitung umgelenkt. Dies ent-spricht einem Drittel des Tran-sitvolumens, über das der Eigen-tümer des ukrainischen DTS Ukrtransgas (einer Tochterfirma der nationalen Aktiengesellschaft Naftogas) verfügt. Die Transit-zahlungen Gazproms an die Ukraine werden entsprechend sinken.

der traum vom MonopolSeit Langem schon ist Gazprom das ukrainische Pipelinesystem, dessen Kontrolle es gerne selbst innehätte, ein Dorn im Auge, und mit Nord Stream hat seine Ver-handlungsposition nun an Strin-genz gewonnen. Auch in Kiew hat man begriffen, dass dem Mono-polisten für gesicherte Export-routen kein Mittel zu hoch ist. Im November deutete die Gazprom-spitze erstmalig an, dass über den Bau einer dritten Röhre diskutiert werde. Diese würde den Transit über ukrainisches Territorium mit den damit verbundenen Kosten redundant machen.

Behrooz abdolvand

eNeRGieexPeRte

Am 8. November wurde im Beisein von Präsident Dmitri Medwedjew und Kanzlerin Angela Merkel die Ost-see-pipeline eröffnet. Erstmals wird damit russisches Erdgas ohne den Transit durch andere Staaten nach Deutschland exportiert. Die Inbetrieb-nahme der Pipeline stellt einen vor-läufigen Höhepunkt der wachsenden Energiekooperation zwischen Deutschland und der Russischen Föderation dar, nachdem die BRD schon zu Sowjetzeiten trotz Wider-stands der USA begann, russisches Erdgas zu importieren. Russland er-wies sich selbst in Zeiten des Kalten Krieges und nach dem Zerfall der Sowjetunion als zuverlässiger Partner. Erst durch die Konflikte zwischen der Ukraine und Russland kam es zu Lie-fereinschränkungen. Mit dem Bau der Pipeline sind diese Transitprobleme aus der Welt geschafft. Allerdings muss Russland sich nun auch den veränderten Bedingungen auf dem globalen Gasmarkt anpassen. Der durch die Ölpreisbindung gestiegene Gaspreis führte weltweit zur verstärk-ten Förderung von unkonventionellem Gas und Flüssigerdgas (LNG). Da-durch und durch die Wirtschaftskrise entstand ein Überangebot auf dem Gasmarkt: Von einem Produzenten- wandelte er sich zu einem Verbrau-chermarkt. Wickelte man den Erd-gashandel früher mit langfristigen Verträgen ab, wird heute verstärkt auf Spotmärkten gehandelt – mit deutlich niedrigeren Preisen. Dieser Trend wird sich halten, da weiter in die Gasförde-rung investiert wird und die EU zur Diversifizierung die Kapazitäten zum Import von LNG ausbaut. Norwegen hat sich den Bedingungen bereits an-gepasst und bietet sein Erdgas zuneh-mend auf dem Spotmarkt an. In den letzten Jahren konnte das Land seinen Marktanteil deutlich zu Lasten von Gazprom ausbauen. Gazprom darf diese veränderten Gegebenheiten im Gashandel nicht verschlafen, wenn es die Vorteile der Ostseepipeline wirk-lich nutzen will.

Der Autor ist Koordinator des Studiengangs „Caspian Region Environmental and Energy Studies“ an der FU Berlin.

Gas wird mobil – Russland auch?

koMMentar

das europäische Pipeline-system für gas aus russland

Fände zuvor eine Einigung des russischen Konzerns mit der ukrainischen Regierung über das Gasleitungssystem statt, wären die Lieferengpässe nach Europa ohnehin passé. „Die Wirtschaftslage Gazproms ist heute weitaus schlechter als vor dem Gaskonflikt 2009“, sagt Michail Kortschemkin vom Ana-lysehaus East European Gas Ana-lysis mit einem kritischen Blick auf den Konzern. „Noch 2008 wirtschaftete er auf Rekordniveau. Das Unternehmen ging mit den Milliarden locker um. Heute sind seine Erträge weit niedriger, die Investitionen hingegen brechen

alle Rekorde.“ Deshalb seien neu-erliche Lieferengpässe so gut wie ausgeschlossen.

diversifizierung des MarktesEntscheidend ist auch, dass sich der europäische Gasmarkt in den letzten drei Jahren stark verän-dert hat. Nach dem Gasstreit im Januar 2009 wurde die EU-Verordnung 715/2009 zur Förderung des „grenzüberschreitenden Gashan-dels“ und zur Erhöhung der „Flexibilität auf dem Erdgasbin-nenmarkt“ erlassen. In dem Do-kument werden verschiedene Maßnahmen zur Gewährleistung

der Energieversorgung durch Gas vorgeschlagen: ein innereuropä-isches Leitungsnetz, ausreichen-de grenzüberschreitende „Gas-fernleitungskapazitäten“ und die Eingliederung von Flüssigerdgas (LNG) ins Transportsystem.Sollte es also durch Gazprom zu weiteren Engpässen kommen, wird Europa mit Lieferunterbre-chungen weit besser fertig als noch 2009, dank alternativer Routen und Lieferanten. Hinzu kommt, dass Gazprom schon jetzt Antei-le am europäischen Gasmarkt durch die vermehrten LNG-Lie-ferungen anderer Länder verlo-ren hat.

Folglich ist Europa in diesem und auch in den nächsten Wintern auf einen zeitweiligen Stillstand der Gaslieferungen besser aufgestellt als noch vor drei Jahren, käme es erneut zu Konflikten zwischen Gazprom und der ukrainischen DTS Ukrtransgas. Der Triumph der Vertragspartner bei der Er-öffnung der Nord-Stream-Pipe-line kann also nicht durch Nach-richten über die frierenden östli-chen Regionen der EU getrübt werden.

Natalia Timakowa schreibt für das unabhängige Magazin RusEnergy.

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4 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUWirtschaft

SUSANNE SPAHNFÜR RUSSLAND HEUTE

Die Russische Bahn baut ihr Streckennetz weiter aus und modernisiert Lokomotiven und Waggons. Neben Siemens kommen auch deutsche Mittelständler zum Zug.

Würde man immer geradeaus fah-ren, käme man zweimal um die Welt und könnte dann noch von Moskau an den Baikalsee rattern. Eine Strecke von 85 000 Kilome-tern bedient die Russische Eisen-bahn Rossijskije Schelesnyje Do-rogi (RSchD). Doch obwohl sie mit ihren regionalen Gesellschaften ein gigantisches Netz betreibt, herrscht gerade in entlegenen Ge-bieten großer Nachholbedarf. Nun kündigte ein RSchD-Sprecher ein milliardenschweres Investitions-programm an, 2,4 Billionen Rubel (etwa 57,1 Milliarden Euro) sol-len es bis 2015 sein. Für nächstes Jahr seien bereits Projekte im Wert von fast 10 Milliarden Euro geplant.

Milliarden für die TranssibDavon werden vor allem die Bai-kal-Amur-Magistrale (BAM) und die Transsibirische Eisenbahn pro� tieren. Auch die Transport-infrastruktur in den Hafenstäd-ten des Fernen Ostens soll ausge-baut werden. Priorität genießt auch die Erneu-erung des Maschinenparks. Hier kommen deutsche Firmen ins

Spiel: Mit großem Erfolg wird der Schnellzug Sapsan eingesetzt, zu Deutsch „Wanderfalke“. Die an russische Verhältnisse angepass-ten ICEs pendeln seit 2009 zwi-schen Moskau und Sankt Peters-burg, seit 2010 steuern sie auch Nischnij Nowgorod an. 2006 lie-ferte Siemens acht Sapsans für 276 Millionen Euro, nun sollen

acht weitere folgen. Auch bei den neuen Regionalzügen sind die Münchner beteiligt. Im Juni un-terzeichnete RSchD mit Siemens und der russischen Sinara-Grup-pe einen Vertrag über 1200 Wag-gons des Elektrozuges Desiro, der den Namen „Lastotschka“ (Schwalbe) tragen wird. Auftrags-volumen: zwei Milliarden Euro. Die Modernisierung der Russi-schen Eisenbahn bietet auch deut-schen Mittelständlern Chancen. Die Berliner Firma Prokonzept lieferte die Technologie für das Wartungswerk des Sapsan in Sankt Petersburg, ein Auftrag über mehr als 20 Millionen Euro,

Von Schwalben und WanderfalkenEisenbahn 57 Milliarden Euro will Russland bis 2015 in den Schienenverkehr stecken. Deutsche Technik ist gefragt

so Torsten Frühauf, geschäftsfüh-render Direktor. Auch die Mos-kauer und Sankt Petersburger Metro benötigten Reparaturan-lagen, er sei mit den Bahn- und Verkehrsgesellschaften im Ge-spräch, berichtet Frühauf.

Desiros aus dem UralAllerdings will die russische Re-gierung die Produktion der Züge in Zukunft im Land behalten. Als Beispiel für eine erfolgreiche „Lo-kalisierung“ nannte Wladimir Putin den Desiro Rus: Laut Ver-trag stelle man ein Drittel der Bauteile in Russland her, produ-ziert werde dann fast vollständig

in der Region Swerdlowsk, und zwar im Joint Venture Uralskiye Lokomotivy. Allein Siemens wird zur Erweiterung der Produktions-kapazitäten 200 Millionen Euro beisteuern. Schon heute baut der Konzern hier die neue elektroni-sche Güterlokomotive 2ES10. 221 dieser Lokomotiven sollen für ins-gesamt 1,1 Milliarden Euro mon-tiert werden. Die „Schwalben“ dagegen werden vorläuf ig im Krefelder Siemens-Werk produziert.

Lokalisierung gegen ZölleBei der Lokalisierung muss auch Prokonzept mitziehen, wenn es den Staatsauftrag für die War-tungstechnik erhalten will. „Min-destens 50 Prozent müssen aus Russland kommen“, so Frühauf. Vor einer vollständigen Verlage-rung der Produktion schreckt er indes zurück: „Das Qualitätsma-nagement entspricht nicht unse-rem Standard.“ Deshalb will er „erst mal lose Verbindungen“ zu russischen Unternehmen aufneh-men und „sehen, wie die reale Zusammenarbeit läuft.“ Beim Russlandgeschäft locke „die ex-trem zahlungsfähige Nachfrage“. Russen seien � xiert auf allermo-dernste technologische Lösungen. „Sie wollen nicht den Durch-schnitt“, so seine Erfahrung. Frühauf baut auch darauf, mit Hilfe der Lokalisierung die Ein-fuhrzölle umgehen zu können. „Die Abgaben machten die Sys-teme bisher um 20 bis 30 Prozent teurer.“

WLAD KUSMITSCHOWFÜR RUSSLAND HEUTE

Seit Kurzem ist Glonass online. Mit seinem integrierten Unfallmeldesystem hat das Satellitennavigationssystem insbesondere dem europäischen Galileo einiges voraus.

Glonass - bessere Ortung für Navi und Handy

Navigation Nach fast drei Jahrzehnten Entwicklung ist der russische Konkurrent von GPS einsatzbereit

Die Idee hinter dem Notfallsys-tem: Jedes Auto mit einem Glo-nass-Navi sendet bei einem Un-fall automatisch einen Hilferuf an den nächsten Notdienst. Gleichzeitig fördert der Staat Glo-nass-kompatible Endgeräte: Ab dem 1. Januar 2012 wird eine Ein-fuhrsteuer in Höhe von 25 Pro-zent auf Geräte erhoben, die nicht Glonass-kompatibel sind. Davon betroffen sind Smartphones, Lap-tops und Tablet-PCs.

Kompatible Geräte von Apple, Samsung und NokiaDer erste Mobilfunkhersteller ist im Boot. Das iPhone 4S von Apple kann nebst GPS auch rus-sische Satelliten orten. Samsung hat ein App unter dem Namen High Fidelity Position herausge-bracht, das ebenfalls Glonass-Empfang ermöglicht. Ende No-vember unterschrieb das � nnische Unternehmen Nokia eine Ab-sichtserklärung mit NIS, dem rus-sischen Hardware-Lieferanten der Glonass-Technologie. „Das schafft die Basis für die effiziente Ein-führung des Navigationssystems auf den internationalen Verbrau-chermärkten“, erklärte NIS-Ge-neraldirektor Alexander Gurko. Nokia soll die neuen Kunden auf

„Das Satellitennavigationssystem Glonass ist ab jetzt einsatzbereit“, verkündete Wladimir Popowkin, Chef der russischen Raumfahrt-agentur Roskosmos, Ende Okto-ber. 24 Glonass-Satelliten kreisen heute um die Erde, bis 2015 soll die Zahl auf 30 erhöht werden. Laut Popowkin setzte man dabei auf die Navigation von Katastro-phenfrühwarnsystemen, Meteo-rologie sowie ein landesweites Notrufsystem für Autofahrer. Das bahnbrechende Notrufsystem wurde politisch mit einem wich-tigen Schritt vorbereitet: Das Mi-nisterium für Wirtschaftsent-wicklung gab den Auftrag zu einer landesweiten Erfassung des Ver-kehrsnetzes. Demnach sollen bis 2014 alle Daten des Geoinforma-tionssystems (GIS) öffentlich ge-macht werden, das heißt Pläne von Städten, Straßen und sonstigen Verkehrswegen. Bisher wurden diese teilweise geheim gehalten.

Nach einer Pleitenserie wurde am 24. November der vorläufig letzte Glonass-Satellit in den Orbit befördert. Bis 2020 will Russland weite-re sieben Milliarden Euro in das Satellitennetz investieren.

Mit 24 Statelliten in die ErdumlaufbahnAls die Amerikaner 1974 den ersten GPS-Militärsatelliten in die Umlauf-bahn schickten, begann die Sowjet-union hektisch, ein eigenes Navigati-onssystem zu entwickeln. Der erste Glonass-Satellit (Globales Satelliten-navigationssystem) startete 1982. 13 Jahre später deckte das System mit 24 Satelliten den ganzen Globus ab. Nach dem Zusammenbruch der Sow-

In der nächsten AusgabeDie deutschen Wurzeln der Russischen Eisenbahn

Siemens liefert neben modifizierten ICEs inzwischen auch seine Nahverkehrszüge Desiro nach Russland.

jetunion fehlte es an Mitteln für die In-standhaltung. Die Satellitengruppe schrumpfte auf sechs, bis im August 2001 das Glonass-Projekt mit staatli-cher Förderung neu aufgerollt wurde. Zu dem weltweiten Netz kamen schrittweise neue Satelliten dazu. Im Oktober diesen Jahres verkündete Roskosmos-Chef Wladimir Popowkin ihre Einsatzbereitschaft.

der Produktebene unterstützen. Von der Diversi� zierung werde der Endverbraucher pro� tieren, sagen die Entwickler: Ein Navi oder Smartphone, das auf Glo-nass und GPS anspringt, kann seine Position durch den Zugriff auf mehrere Satelliten exakter bestimmen. Von großer Relevanz sei das etwa in den Häuser-schluchten von Großstädten, wo der GPS-Empfang häu� g beein-trächtigt ist. Die Herstellungskosten Glonass-kompatibler Geräte sind gering, denn schon heute setzen viele Un-ternehmen auf Chips des US-Her-stellers Qualcomm, der beide Sys-teme unterstützt. Die Hersteller müssen lediglich die entsprechen-de Software entwickeln.

Glonass gegen oder mit GPS?Die Technik von GPS und Glo-nass ist praktisch identisch, wobei das russische System weniger stör-anfällig ist. Im Gegensatz zu GPS überträgt es die Signale auf ver-schiedenen Frequenzen, fährt schneller hoch und ortet zügiger den Empfänger.Dem europäischen Konkurrenten Galileo ist das russische Naviga-tionssystem um zwanzig Jahre vo-raus: Gegenwärtig sind erst zwei

in europäischer Zusammenarbeit entwickelte Galileo-Satelliten auf Probe� ug in der Erdumlaufbahn. Bis 2020 soll das europäische Po-sitionierungssystem voll einsatz-fähig sein, so ist es jedenfalls von der Europäischen Weltraumorga-

nisation ESA geplant. – Dann, wenn Russen und Amerikaner wahrscheinlich die Positionie-rungsgenauigkeit ihrer Satelliten von derzeit mehreren Metern auf 90 Zentimeter hochgeschraubt haben.

85�000Kilometer lang ist das Schienen-netz der Russischen Eisenbahn. In Deutschland kann man nur 33�639 Kilometer mit der Bahn fahren.

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9 800 000�000Euro will Bahnchef Wladimir Jakun-in 2012 in Forschung und Entwick-lung des Schienennetzes stecken.

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eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau wirtschaft

Wer sich in Skolkowo niederlassen möchte, muss auf elektronischem We-ge ein Innovationsprojekt einreichen. Von Antragstellern wird ein Business-plan erwartet, der überzeugend dar-legt, worin das Innovative an dem Projekt besteht und wie es kommerzi-ell umgesetzt werden soll. Außerdem sind zwei Gutachten eines externen wissenschaftlichen Konsultanten und eines ausländischen Fürsprechers vor-zulegen. Das soll helfen, Kreativität im stillen Kämmerlein ohne konkrete Vorstellungen bezüglich ihrer Reali-sierbarkeit vorzubeugen.Die Projektanträge werden der Exper-tenkommission des betreffenden Clus-ters zugeleitet, die aus Russen und Ausländern besteht. Um ein maximal

unbefangenes Urteil zu erreichen, er-folgt die Prüfung zunächst anonym ohne Nennung des Absenders.Bewerber teilen sich in drei Kategori-en, je nach Größe des Unternehmens. Start-ups können bis zu 700 000 Euro an Fördergeldern für ihr Projekt bekommen, bei 30 Prozent Eigenan-teil. Mittelständischen Unternehmen winken bis zu 3,5 Millionen Euro, Großunternehmen sogar über vier Millionen Euro, bei jeweils 50 Prozent Eigenbeteiligung.Firmen, die den Zuschlag erhalten, können und müssen ihren Sitz nach Skolkowo verlegen, wenn das Inno-vationszentrum seinen Betrieb auf-nimmt. Nach jetzigem Stand ist das am 1. Januar 2014 der Fall.

wirtschafts- kalender

seMinarinterkulturelles training12. Dezember, IHK müncHen, 9 UHr

Für jene, die in Russland einsteigen wollen, aber nicht wissen wie. Wie sollen die Verhandlungen verlaufen, damit die Zusammenarbeit gelingt? Wie unterscheiden sich Werte und Rituale der Russen von unseren?

muenchen.ihk.de ›

konferenzModernisierung in russland– chancen für unternehMen13. JanUar, nIKKo Hotel, DüsselDorf Was bedeutet der Trend zur Lokalisie-rung der Produktion für deutsche Fir-men? Was wird aus der Modernisie-rung nach den Präsidentschaftswah-len? Darüber diskutieren Experten und in Russland tätige Unternehmer.

duesseldorf.ihk.de ›

Messeinterplastica 201224.-27. JanUar, mosKaU, expozentrUm

Große Wachstumschancen hat der Bereich Kunststoffe und Kautschuk in Russland. Zeitgleich mit der „Inter-plastica“ findet am gleichen Ort die „Upakovka“, die Messe der Verpa-ckungsindustrie statt.

interplastica.de ›

landwirtschaftwhere the Margin is 201231. JanUar, mosKaU, Hotel raDIsson

Vor Beginn der Landwirtschaftssaison versammelt das Forum wichtige Ver-treter aus Politik und Saatgutproduk-tion sowie Agrarproduzenten und -in-vestoren, um die Perspektiven des russischen Agrarsektors zu bewerten.

ikar.ru/wherethemarginis ›

lesen sIe meHr über DIe rUssIscHe WIrtscHaft aUfrussland-heute.de

tino künzelfür rUsslanD HeUte

Vor einem jahr wurde der grundstein für ein gigantisches forschungszentrum gelegt. in fünf kernbereichen bietet skolkowo wissenschaft und industrie eine neue heimat.

Man schrieb das Jahr 1984, als Russlands größte IT-Erfolgsge-schichte ihren Lauf nahm. Der Moskauer Programmierer Alexej Paschitnow erfand einen bunten, fesselnden Zeitvertreib: Als Ne-benprodukt seiner Arbeit für die Akademie der Wissenschaften mo-dellierte er Kästchenreihen, die

auf dem Bildschirm von oben nach unten rieselten und richtig zusam-mengesetzt werden wollten. Die Software erfreut sich bis heute großer Beliebtheit. Ihr Name ist Tetris.Ob ausgerechnet ein Computer-spiel als leuchtendes Beispiel für technischen Fortschritt fungieren kann, darüber gehen die Meinun-gen auseinander. Doch internati-onal konkurrenzfähig ist ansons-ten nicht vieles, was in Russland entsteht.

erzwungene ModernisierungJetzt ist es die Regierung, die schöpferischen Geistern aus Wirt-

schaft und Wissenschaft gleich eine ganze Stadt bauen lässt, um den Modernisierungsprozess in Gang zu setzen – zunächst auf 600 Hektar Fläche westlich von Mos-kau. Im Innovationszentrum Skol-kowo sollen in den nächsten Jahren Arbeitsplätze für 30 000 Menschen entstehen, von denen die Hälfte vor Ort auch mit Woh-nungen versorgt wird. Dieses rus-sische Silicon Valley im Kleinfor-mat, so die Entwürfe, gliedert sich in fünf Stadtbezirke. Sie entspre-chen den fünf Forschungs- und Industriezweigen der Modernisie-rungsagenda, die Präsident Dmit-ri Medwejdew bereits 2009 be-

forschung skolkowo vor den toren moskaus soll den austausch unter Wissenschaftlern in schwung bringennannt hatte: Biomedizin, Energie-technologien, IT, Kernkraft und Raumfahrt. In Skolkowo werden daraus sogenannte Cluster. Das Projekt lässt sich der Staat allein von 2011 bis 2013 rund 54 Milli-arden Rubel kosten, umgerechnet 1,3 Milliarden Euro. Noch einmal so viel soll die Privatwirtschaft beisteuern.Seit Anfang des Jahres gingen bei der Stiftung Skolkowo, die das Vorhaben realisiert, bereits mehr als 4000 Anträge von russischen Firmen ein, die sich dem Projekt anschließen wollen. 1000 wurden bisher bearbeitet, 215 davon po-sitiv bewertet. Mit der Zusage sind Fördermittel in unterschiedlicher Höhe sowie erhebliche Vergüns-tigungen verbunden, die schon heute in Kraft treten. Unter an-derem werden eventuelle Einfuhr-zölle zurückerstattet. Man biete „äußerst vorteilhafte Bedingun-gen“, sagt Roman Romanowskij, der im Fonds für die Großkunden zuständig ist. Die Firmen – im Businessjargon der Verantwort-lichen als „Residenten“ bezeich-net – verpflichten sich im Gegen-zug, nach Skolkowo umzuziehen, sobald dort die nötige Infrastruk-tur vorhanden ist.

dort, wo ideen blühenDer Grundstein für das Innova-tionszentrum wurde vor einem Jahr gelegt, zu sehen ist auf dem Gelände nahe des Moskauer Au-tobahnrings bisher kaum etwas, und selbst Mitarbeiter des Fonds Skolkowo räumen hinter vorge-haltener Hand ein, den Weg dort-hin nur vom Hörensagen zu ken-nen. Doch schon Mitte 2012 soll das erste Gebäude, der „Cube“, bezugsfertig sein. Es wird Ver-waltungssitz der Stiftung sein, die bisher exterritorial agiert.Die Spitzenämter im Innovations-zentrum sind paritätisch mit Rus-sen und Ausländern besetzt. Der Stiftungsrat wird von Wiktor Wekselberg, Besitzer der russisch-schweizerischen Renova Holding, und von Intel-Chef Craig Barrett

geleitet. Dem Wissenschaftsbei-rat stehen Schores Alfjorow (Phy-sik-Nobelpreis 2000) und Roger David Kornberg (Chemie-Nobel-preis 2006) vor. Schon einmal gab es eine ähnli-che Idee in Russland: „Wissen-schaftsstädte“ wie Obninsk oder Dubna aus Zeiten des Kalten Krie-ges, die jedoch bis heute ein Geist der Geheimhaltung umweht. Skol-kowo, auf der grünen Wiese er-richtet, soll anders sei: weltoffen, kooperativ, kommerziell. Neben russischen Unternehmen sind schon mehr als 20 namhafte west-liche Partner im Boot, große Un-ternehmen wie Microsoft, Nokia, Cisco. Sie wollen auf unterschied-liche Weise im Innovationszen-trum tätig werden. Siemens, traditionell stark in Russland en-gagiert, beziffert die Höhe seiner geplanten Investitionen auf 40 Millionen Euro und will sich an Forschungsprojekten in vier der fünf Cluster beteiligen. Au-ßerdem sei man auch an einer Verbesserung der Infrastruktur interessiert, so Alexander Awer-janow, Skolkowo-Projektleiter bei Siemens Russland.

auch kritiker machen mitSkolkowo ruft jedoch auch Kri-tiker auf den Plan. Der Oligarch Michail Prochorow kritisiert, dass alles Geld nur in ein einziges Pro-jekt fließe: Auch Wissenschaft müsse konkurrieren, sagte er jüngst der Zeitung Kommersant, man hätte lieber zehn solcher Zentren finanzieren sollen. „Skol-kowo ist doch genau das Gegen-teil des von unten gewachsenen Silicon Valley“, meint auch Geor-gij Patschikow, Gründer des Soft-ware-Unternehmens Parallel Gra-phics. „In Russland lohnt es sich nicht, erfolgreich zu sein, weil morgen schon alles anders sein kann.“ Die Idee sei aber zweifel-los richtig, deshalb habe auch er einen Antrag gestellt.

Tino Künzel ist Redakteur der Moskauer Deutschen Zeitung.

die fünf innovationscluster von skolkowoVorgaben für ausländische Bewerber

forscher aller länder vereinigt euch

westliches Management für russische Manager: die skol-kowo Business school

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6 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskaudas thema

siBirisch herB oder: wie kalt ist richtig kalt?

weiSSe pracht oder eiSige herauSforderung?

wie ruSSen mit dem klima im land fertig werden

der winter in russland

Wenn wir das Wort „Russland“ hören, assoziieren wir „sibirische Temperaturen“. Ja, in Russland kann es richtig kalt sein; auch wenn sein Klima von der Polar- bis zur subtropischen Zone an der Schwarzmeerküste reicht, wo die durchschnittliche Temperatur im

Januar bei plus 15 Grad liegt. So zum Beispiel in Sotschi, das sich mit Nizza den Breitengrad teilt. Die Sotschianer werden von den Russen anderer Regionen benei-det, am meisten wohl von den 470 Einwohnern der kleinen Ortschaft Oimjakon in Jakutien, in der vor-

letztes Jahr minus 72 Grad (!) ge-messen wurden. Der Winter prägt alle Lebensbereiche, ist aber für die Menschen so alltäglich, dass sie ihn gelassen aufnehmen. Wir servieren Ihnen einige Kostpro-ben von der russischen Lebens-welt zur kalten Jahreszeit.

autofahrer rüsten sich gegen den SchneeMobilität der russische winter fordert räumdienste wie pkw-Besitzer

in deutschland herrscht Verkehrschaos bei fünf zentimetern neuschnee, in russland wird’s erst bei 40 zentimetern brenzlig.

Wenn es in Russland wintert, dann richtig: Im November 2010 waren die Temperaturen innerhalb von 24 Stunden von über null auf minus 20 Grad gesunken. Der vor-letzte Winter war sogar noch här-ter: Das Thermometer zeigte einen Temperaturdurchschnitt von minus 28 Grad Celsius. Es war so kalt wie seit 60 Jahren nicht mehr.In Moskau dauert der Winter rund vier Monate. In dieser Zeit schneit es ungefähr 50 Tage. Pro Nacht kommen bis zu 40 Zentimeter Neuschnee herunter – eine Her-ausforderung für den städtischen Winterdienst. Mit den Schneefällen fahren die Schneepflüge los. „Drei bis fünf Zentimeter Neuschnee sind kein Problem, das ist für uns Routine“, sagt Pjotr Birjukow, Leiter der Wirtschaftsabteilung der Stadt Moskau, die den Winterdienst or-ganisiert. Komplizierter werde es erst bei heftigen, lang anhalten-den Schneefällen, dann fahren die Schneepflüge im Akkord alle zehn Minuten. Ein Pflug räumt pro Stunde rund zwölf Kilometer frei. Und seine verdienstvolle Neben-tätigkeit: Er erfasst die Schlaglö-cher auf der Fahrbahn und über-mittelt ihre Position elektronisch ans Straßenbauamt. Die Pflüge schieben den Schnee zum Straßenrand, wo die Haufen auf Kipplaster verladen und zu einer der 200 „Schneeschmelzen“ gebracht werden. Bis zu 300 Ton-nen am Tag kann eine Anlage zu Wasser machen. Der Unterhalt der Schneepflug-Armada kostet die Stadt über zwölf Millionen Euro im Jahr. Entsprechend teuer ist der Winter für den russischen Autofahrer.

winterlicher alltag in Moskau: eine schneepflug-armada räumt die straßen der hauptstadt.

winter am Flughafen: jede Maschine wird vor dem abflug enteist.

„Hast du Webasta?“ – diese Frage bekommen Autobesitzer von Park-wächtern zu hören, wenn sie ihr Fahrzeug über Nacht im Freien abstellen wollen. Gemeint sind die Standheizungen der deutschen Firma Webasto, ohne die ein Kalt-start bei minus 35 Grad unmög-lich wird.Alle Winterreifen sind zwangs-läufig mit Spikes versehen. Hinzu kommen riesige Mengen an Schei-benwischwasser: An einem Win-tertag liegt der Verbrauch bei einem Fünf-Liter-Kanister, den man an jeder Straßenecke nach-kaufen kann. Manche Autofahrer helfen sich anders: Sie bauen einen extra Wassertank ins Auto. (ali)

russische atomeisbrecher – die giganten des nordpolarmeeresMit rund 150 Metern und 75 000 PS gehören sie weltweit zu den größten und leistungsstärksten Schiffen: Seit 1957 befreien die neun russischen Atomeisbrecher die Nordostpassage – den Seeweg von Europa nach Japan – vom Packeis, damit Transportschiffe durchfahren können. Die „Arktika“ brach 1977 sogar bis zum Nordpol durch – als erstes Schiff der Welt.

„Ich geh mal eben in die Banja, heizt du solange die Petschka und den Sa-mowar?“, könnte ein typisch russi-scher Satz noch vor 50 Jahren gelau-tet haben. Die Banja ist die russische Sauna, Petschka ein großer Steinofen, wie es ihn früher in jeder Isba, dem russischen Holzhäuschen, gegeben hat. Der Samowar ist ein riesiger Tee-kessel und zugleich Symbol russischer Gastfreundschaft. Mit zunehmender Urbanisierung schwanden jedoch die Traditionen, der sowjetische Städtebau gab ihnen den Rest. Im heutigen Russland wird nur zentral geheizt, individuelle Reg-ler für die Heizkörper gibt es nicht. Angenehmes Raumklima schafft man sich durch offene Fenster bei klirren-der Kälte. Die Wohnungen sind über-heizt, trockene Heizungsluft ist ein landesweites Problem, das die Her-steller von Luftbefeuchtern reich ge-macht hat. Ein Feldversuch von Bosch und Siemens in Russland hat gezeigt, dass sich durch moderne Heizungs- und Isolierungstechnik bis zu 80 Pro-zent der Heizkosten einsparen lassen. Trotzdem sei das Modell „Zentralhei-zung“ das einzig mögliche: Damit die Leitungen nicht gefrieren, wird das Warmwasser in Kraftwerken vorge-heizt und per Überlandleitung direkt in die Haushalte gepumpt. Die Konse-quenzen dürfen die Russen im Som-mer buchstäblich aus-baden: Wegen Wartungsarbeiten an den Leitungen wird das Warmwasser für bis zu drei Wochen abgestellt. (ali)

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den frost im Juli ausbaden

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7Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau das thema

der russische Volkssport rodeln

zwei „walross“-weibchen in der freien wildbahn bei krasnojarsk

Fröhliches Eisbaden bei minus 20 GradFreizeit Russen trotzen Schnee und Eis nicht nur – sie haben auch ihren Spaß daran

Moritz gathMannRuSSland hEutE

„russkij extrim“, die Vorliebe der russen für Vergnügungen mit dem besonderen kick, zeigt sich besonders im winter. unbeschadet aber bleibt nur, wer sich an die regeln hält.

Der wichtigste Tag im Leben eines echten Walrosses ist der 19. Ja-nuar: „Morsch“, also Walross, nennen sich jene Russen, die fest davon überzeugt sind, dass regel-mäßiges Baden in Eislöchern den menschlichen Körper stählt. Und jene Nacht im Januar ist eine ganz besondere: Am 19., so glauben die russisch-orthodoxen Christen, wurde Jesus getauft. Alljährlich warten gegen Mitter-nacht ein paar Dutzend, in Mos-kau schon mal einige Tausend Walrosse darauf, dass die Pries-ter Flüsse und Seen weihen, und stürzen sich dann in die Fluten. Entgegen aller Befürchtungen kam es selbst im vorletzten Win-ter, als die Temperaturen in Mos-kau unter 20 Grad fielen, zu keinen nennenswerten Zwischen-fällen. Zur Not stehen Sanitäter des Rettungsdienstes bereit.Äußerst selten erfriert jemand im Eisloch, man muss eben die Re-geln kennen: dreimal untertau-chen, abrubbeln und dann warm anziehen oder noch besser: in die Banja gehen. Wobei wir bei der nächsten Lieb-lingsbeschäftigung der Russen im Winter wären: Die Besonderheit der Banja besteht im Zusammen-spiel von Temperaturen zwischen 80 und 100 Grad und hoher Luft-feuchtigkeit. Zwar wird die Sauna das ganze Jahr über genutzt, aber das Bad im Eisloch zwischen den einzelnen Gängen gibt den Ex-trakick. Bei Gelegenheit unbe-dingt ausprobieren!Während Kinder zur kalten Jah-reszeit Schlitten fahren und in ihre Schlittschuhe steigen, trifft

Der Sibirische Tiger, auch bekannt als Amurtiger, ist nicht nur der größte seiner Spezies, sondern auch der einzige, dessen Lebens-raum von Schnee und Eis ge-prägt ist. Bis zu minus 45 Grad können die Temperaturen am Fluss Amur im Fernen Osten Russlands fal-len. Vor dem Kältetod schützen den Tiger ein dickes, langes Fell und eine fünf Zentimeter dicke Fettschicht. Schutzlos ausgeliefert ist er dagegen dem Menschen: In den unruhigen Zei-ten nach der Oktoberrevolution wur-de er fast ausgerottet. Heute leben wieder knapp 500 Exemplare im Grenzgebiet zwischen Russland, Chi-na und Nordkorea, aber sein Lebens-raum schrumpft von Tag zu Tag, und er bleibt weiterhin auf der Liste der gefährdeten Arten.Weitaus seltener ist der Kaukasische Leopard, der lange als ausgestorben galt: Erst 2003 wurde im Kaukasus ein Exemplar wiederentdeckt, das vermutlich aus dem Iran eingewan-dert war. Seitdem versucht die World

natur

Mit langem Fell und dickem Speck gegen Kälte

wareschki: Fäustlinge wurden von den Warägern nach Russland ge-bracht, daher ihr Name „Wareschki“. Halten warm und werden gerne von Omas für ihre Enkelkinder gestrickt. walenki: Aus Schafwolle gefilzt, schützen Walenki auch vor Tempera-turen unter minus 30 Grad. Allerdings sind sie nicht wasserdicht und haben keine Sohle, weshalb man sie mit Ga-

Mode: vorbereitet auf den Frost

man Erwachsene im Wald beim Langlauf. Und lässt der neurei-che Geschäftsmann mit seinem Maybach im Alltag den Rentner im Lada links liegen – in der Loipe sind sie alle gleich: Nicht selten ist es hier der Rentner auf seinen sowjetischen Holzbrettern, der die Jüngeren auf Fiberglas lässig abhängt. Mit in den Wald nimmt man üblicherweise eine Thermos-kanne und dampfenden Tee, aber auch ein Flachmann mag gegen die Kälte im Einzelfall nützlich sein.Russische Männer auf der Flucht vor dem Lärm dieser Welt findet man auf zugefrorenen Seen: Mit

speziellen Eisbohrern bahnen sie sich den Zugang zum Wasser. Dick eingemummelt, gerne auch im Zelt, warten sie bei heftigem Frost und Schnee stundenlang vor den 20 Zentimeter breiten Löchern, in der Hoffnung, dass doch noch ein Fisch aus der Winterstar-re erwacht und anbeißt. Vorsicht: „Na, schon was gefangen?“ oder ähnliche Ver-suche, mit Eisanglern ins Ge-spräch zu kommen, werden bestenfalls mit einem grim-migen Gesichtsausdruck be-antwortet. Angler sind nicht gesprächig und vor allem keine Eisangler.

idylle mit isba und samowaren

Wildlife Foundation (WWF) mit Un-terstützung der russischen Regierung, die Raubkatze wieder anzusiedeln. Viele Russen hörten zum ersten Mal, dass es in ihrem Land überhaupt Leo-parden gibt, als das Tier vor einem Jahr zum Maskottchen für die Olym-pischen Winterspiele 2014 in Sotschi bestimmt wurde. Ähnlich wie der Amurtiger zeichnet sich der Kaukasi-sche Leopard durch seine große An-passungsfähigkeit aus: Denn die Win-ter in den Bergen des Kaukasus sind sehr kalt und schneereich, die Som-mer trocken und heiß. (mga)

loschen trägt. Jedes Jahr werden in Russland viereinhalb Millionen dieser Filzstiefel hergestellt.

uschanka: Die Mütze mit dem aus-klappbaren Ohrenschutz („Uschi“- Ohren) ist das Symbol der Russen schlechthin. Heute gibt es Uschankas in allen Varianten: vom einfachen Kunstpelz bis zur Edelausführung aus Zobel.

alle jahre wieder: repara- turen an alten heizkörpern

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eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskauzeitgeschichte

Biografie Irving Berlin emigrierte aus dem Zarenreich in die USA und wurde zur lebenden Legende des Broadway

jelena FedotowaSMENA MAgAZIN

er brachte den Broadway zum tanzen und schenkte den amerikanern den traum von einer weißen weihnacht. geboren wurde irving Berlin 1888 in der sibirischen Provinz.

Vor hundert Jahren gab es in den Cafés von New York weder Laut-sprecher, aus denen Indie-Pop oder Progressive House schallten, noch Plasmafernseher, die Fashion TV zeigten. Die Musik kam von Kell-nern, den Singing Waiters, und Caféhausbetreiber wetteiferten um die besten Interpreten. Der Besitzer des Pelham war in jenem Jahr 1902 verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Hit, die Besucher wanderten schon zur Konkurrenz ab. Die Musik liefer-te der Hauspianist, doch es fehlte an einem passenden Text. Aber wozu hatte er gerade einen jun-gen Burschen als Singing Waiter eingestellt?Der neue Song „Marie from Sunny Italy“ holte nicht nur das Publi-kum ins Pelham zurück, sondern er wurde ein solcher Erfolg, dass ihn gleich ein Musikverlag druck-te. Der singende Kellner erhielt sein erstes Honorar – und einen neuen Namen, der zur Legende werden sollte. Das Lied besang zwar eine Maria aus dem sonnigen Italien, doch der Texter stammte aus dem westsi-birischen Tjumen. Ein Schreib-fehler auf dem Titelblatt der Druckfassung machte aus Beilin „Berlin“, jenen Mann, von dem der

bekannte Broadway-Komponist Jerome Kern später sagte: „Irving Berlin hat keinen Platz in der ame-rikanischen Musik. Irving Berlin ist die amerikanische Musik.“

jüdisch-russische emigranten am BroadwayIm Russland des 19. Jahrhunderts konnte schon ein unvorsichtiges Wort antisemitische Übergriffe nach sich ziehen. Ein Pogrom in der weißrussischen Kleinstadt To-lotschin, wohin die Beilins aus Tjumen umgezogen waren, ver-anlasste Moses und Lena Beilin 1893, mit ihren sieben Kindern die beschwerliche Emigration nach Amerika zu wagen.

Broadway-aufführung des Musical-klassikers „white christmas“

der jazz und die russischen emigranten

Seit Ende des 19. Jahrhunderts flohen Hunderttausende russischer Juden aus dem Zarenreich und hinterließen ihre Spuren im amerikanischen Jazz: Der Sänger Al Jolson, Bandleader Raymond Scott, George Gershwin und der Komponist der „Westside Story“ Leonard Bernstein, Benny Goodman

und der Saxophonist Stan Getz sind nur die bekanntesten. Auch ein ande-rer wäre ohne russisch-jüdische Hilfe womöglich nicht zu jenem großarti-gen Musiker geworden: Louis Arm-strong bekam seine erste Trompete von den nach New Orleans ausgewan-derten Karnofskys.

Würde jemand ein Lexikon aller am Broadway erfolgreichen Juden russischer Abstammung erstellen, käme dabei ein dicker Wälzer he-raus: Der aus einer russisch-jüdi-schen Familie stammende King of Swing, Benny Goodman, wuchs noch heran, als Amerika den li-tauischen Entertainer Al Jolson zum Liebling des Showbusiness erkor. Morris Gershovitz, Vater von George Gershwin, war ein bekannter Petersburger Waffen-schmied, doch hätten seine Kin-der dort niemals eine solide Aus-bildung erhalten, denn ein Gesetz begrenzte den Zugang jüdischer Bewerber zu mittleren und höhe-ren Bildungsanstalten.

Die Melodien der jüdischen Emi-granten, die vor dem Pogrom-Mob in Russland geflohen waren, ähnelten erstaunlich der in Mode gekommenen „schwarzen“ Musik. Deshalb verunglimpfte die Nazi-Propaganda der 1930er-Jahre den neuen Jazz auch als „Neger- und Judengefiedel“.

komponieren ohne notenIrving Berlins gesamte musikali-sche Bildung stammte aus eini-gen Besuchen der Synagoge, in der sich sein Vater als Kantor etwas hinzuverdiente. Als der junge Ir-ving das erste Honorar in Höhe von 37 Cent in den Händen hielt, beschloss er, sich ernsthaft als Texter zu versuchen und seine Songs Komponisten anzubieten. Doch die Ergebnisse dieser Zu-sammenarbeit befriedigten ihn nicht. Also blieb ihm nichts an-deres übrig, als die Musik selbst zu schreiben. Allerdings konnte er weder Noten lesen noch besonders gut Klavier spielen. Die Vertonungen der ers-ten Lieder diktierte Berlin dem Komponisten Arthur Johnson. Seine wichtigsten Songs aber schrieb Helmy Kresa nieder, lang-jährige Sekretärin.1911 landete Irving Berlin mit „Alexander’s Ragtime Band“ sei-nen ersten Hit, den Jazz-Größen wie Al Jolson, Louis Armstrong oder Ray Charles später in ihr Re-pertoire aufnahmen. Und auch nach seiner Rückkehr aus der Armee blieb dem Komponisten der Erfolg treu. Er gründete einen Musikverlag, eröffnete am Broad-way das Theater The Music Box und gehörte zu den Initiatoren der ASCAP, der US-amerikanischen Verwertungsgesellschaft für Musikprodukte. Zwei tragische Todesfälle über-schatteten Berlins Erfolg: eine

Woche nach der Hochzeitsreise starb seine Frau Dorothy, in der Weihnachtsnacht des Jahres 1928 sein Sohn. Eines Tages kam Berlin in sein Büro gehastet und rief der Sekre-tärin zu: „Schreib das auf. Ich habe gerade mein allerbestes Lied im Kopf.“ Und Helmy Kresa brachte „White Christmas“ zu Pa-pier, jenes Lied von der glückli-chen Weihnacht, die dem Kom-ponisten seit dem Tod seines Soh-nes nicht mehr beschieden war. „I’m dreaming of a white Christ-mas“ ist bis heute das beliebteste Weihnachtslied Amerikas.

inoffizielle nationalhymne„God Bless America“, Berlins nächster großer Hit im Jahr 1938, wurde gar zu einer Art inoffizi-eller Nationalhymne der USA.Ende der 50er brachte Irving Ber-lin noch mehrere erfolgreiche Broadway-Musicals auf die Bühne, doch bald begann Amerika, die Hüften kreisen zu lassen wie Elvis Presley, kaufte wie besessen die Debütalben Bob Dylans und sang mit den Beatles „Yeah, yeah, yeah“. Berlins Stern sank, er passte nicht mehr zum Rock’n’Roll der 1960er-Jahre. „Ich bin sehr glücklich, dass Ame-rika meinen Vater nicht verges-sen hat. Er ist Fleisch und Blut der amerikanischen Kultur“, sagte seine Tochter Linda Emmet viele Jahre später. In den 1990ern besuchte sie den Geburtsort ihres Vaters. Auf einem Jazz-Festival wurden in Tjumen einige seiner Songs gespielt. – Weil sich Tjumen ebenfalls an Irving Ber-lin erinnert, wenn auch nur in Ge-stalt einiger weniger Musik-Enthusiasten.

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift Smena.

zu Berlins Melodien tanzten Broadway-stars wie eleanor Powell und Fred astaire.

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KATHRIN ALDENHOFFFÜR RUSSLAND HEUTE

Moskau ist laut, anstrengend und gefährlich: Die Straßen der Stadt gehören den Autos. Moskau ist neureich und teuer, aber sicher keine „Stadt des Lächelns“. Oder doch?

Wie man mit Moskau klarkommt

Nimm Moskau so, wie es ist, und du wirst es lieben“, lacht Marina und steigt eilig in die Metro, um es rechtzeitig zu einem ihrer drei Studentenjobs zu schaffen. Wer als Ausländer nach Moskau kommt, den erwartet Kälte, menschlich und klimatisch. Im Sommer kann es aber bis zu 40 Grad heiß werden, und die Mos-kowiter sind gar nicht so mürrisch, wie sie auf den ersten Blick schei-nen. Wer sich zu lächeln traut, be-kommt meistens auch ein Lächeln zurück. Vielleicht nicht gerade von der uniformierten Dame am Me-

In Moskau wird nicht gelebt, in Moskau wird gearbeitet: Die Ta-xifahrer und Gastarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken sind hier, um Geld zu verdienen. Die Auslandsdeutschen leben in einem eigenen Distrikt, abgeschirmt von der Außenwelt. Auch die Moskau-er selbst kapseln sich in ihren Do-mizilen ab. Wenn sie einkaufen oder spazieren gehen, laufen sie immer die gleichen Wege ab. Alle, die in Moskau heimisch sind, nut-zen die Stadt so, wie sie ist, ohne etwas an ihr ändern zu wollen.Marina Schamidowa aus Belgo-rod kam vor fünf Jahren zum Stu-dieren hierher. „Es ist anstren-gend, jeder hat es eilig. Dafür kann ich um zwei Uhr nachts noch ein-kaufen gehen. Der pulsierende Rhythmus und die Hektik stimu-lieren mich, und ich liebe das Mos-kauer Nachtleben“, sagt sie. Aber kann sie von der Vielfalt als Stu-dentin mit wenig Geld überhaupt pro� tieren? „Die Stadt ist wirk-lich sehr teuer“, gibt die 22-Jäh-rige zu. Die Mieten seien hoch und ein Coffee to go koste so viel wie ein Café au lait auf der Champs-Élysées. „Aber man verdient drei-mal mehr als in der Provinz.

troschalter, aber auf jeden Fall von der Piroggenverkäuferin auf der Straße.

Immer schön höflich bleiben„Ich habe mir angewöhnt, immer besonders hö� ich zu bleiben. Meis-tens tauen die unfreundlichen Kassiererinnen in den Super-märkten dann auf“, sagt Lena Edich, die 33-jährige Projektlei-terin des Deutsch-Russischen Forums.Moskau, das ist die Schnittstelle zwischen Ost und West. Seine Di-mensionen zeigen sich vor allem

in der Architektur: riesige Plätze, pompöse Gebäudekomplexe, am-bitionierte Wolkenkratzerprojek-te wie Moscow City. Die Größe, die Deutsche vielleicht als russische Weltmachtsansprü-che identi� zieren, ist dem Russen Alltag. Sein Land ist eben riesig, und daher sind auch sechsspuri-ge Einbahnstraßen normal. Un-wohl fühlt er sich schon eher in München oder Baden-Baden, sei-nen erklärten Lieblingsreisezie-len in Deutschland, weil dort „alles so klein und eng“ ist. „Ich hatte mir die Stadt laut, monu-

mental und sehr teuer vorgestellt. Und genauso ist sie“, sagt Micha-el Gordian. Der 27-jährige Mit-arbeiter des Deutschen Histori-schen Instituts in Moskau � ndet die Stadt auf den ersten Blick nicht schön, aber aufregend und „irgendwie wild“. Hier könne es passieren, dass einem abends auf dem Gehweg ein Auto entgegen-kommt und einen fast überfährt. Aber ebenso, dass man im Club von einem Moskauer Ehepaar auf ein Gläschen Wein eingeladen wird, um vom Leben in Deutsch-land zu erzählen.

Alle 40 Sekunden eine U-Bahn„Die Stadt macht Spaß, wenn man sich nicht einschüchtern lässt, in der Metro auch mal zurückschubst und sich auf Neues einlässt“, sagt Gordian, „im Supermarkt zum Beispiel nicht nur die überteuer-ten Westprodukte kauft, sondern auch einmal die leckeren und günstigen Lebensmittel aus Russ-land.“ Und der Tipp für das Mos-kauer Nachtleben: „Wodka in Ka-raffen.“ Dann fühle man sich gleich russischer.Moskau ist auch die Stadt der un-zähligen Theater, der kleinen Clubs mit Livekonzerten; eine eu-ropäische Stadt, deren Zentrum kunterbunte Kirchen schmücken, als seien sie dem Morgenland ent-sprungen; in der alle 40 Sekun-den eine U-Bahn fährt und es von allem zu viel und gleichzeitig zu wenig gibt; wo das Leben pulsiert und beinahe alles möglich ist – wenn man dazu bereit ist.

Kathrin Aldenhoff ist ifa-Re-dakteurin bei der Moskauer Deutschen Zeitung.

ILJA LOKTJUSCHINFÜR RUSSLAND HEUTE

Wenn sich wohlsituierte Moskauer von der Großstadt erholen wollen, ist Baden-Baden häufig das Reiseziel Nummer eins. Was macht die deutsche Idylle so anziehend für sie?

Einmal in Baden-Baden spielen und Dostojewski begegnen

den russischen Thronfolger Ale-xander I. ehelichte. Das Paar zog ins kalte Sankt Petersburg, ver-brachte aber die Sommerfrische in Baden-Baden. Daraufhin ent-deckte auch die heimische Aris-tokratie das Zarenparadies. Dem Vorbild des jungen Paares folgend, reisten viele Fürstengeschlechter zum neumodischen deutschen Kurort, was dazu führte, dass auch bald in Russland Ähnliches zu finden war: Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden Kuror-te wie Pjatigorsk und Mineralnyje Wody im Kaukasus. Und weil es für diese Art von Wellness im Rus-sischen kein Wort gab, übernahm man gleich den deutschen Begriff: Kurort heißt nämlich auch auf Russisch „Kurort“.

„Baden-Baden steht für Russen auf Platz sieben der beliebtesten Reiseziele in Deutschland“, sagt Alexander Turtschenko, Ge-schäftsführer von Tschaika Tours, das sich auf Reisen in die Bun-desrepublik spezialisiert hat. Von allen deutschen Kleinstädten sei es aber die Nummer eins. Und das bereits seit 200 Jahren. Der Ba-den-Baden-Boom ging 1793 los, als die schöne Luise von Baden

Beispiel Igor Rothmann, der 1998 aus Kischinjow nach Deutschland kam: „Anfangs habe ich mich so durchgeschlagen, dann wurde ich selbstständig.“ Er vermittelt Kur-reisen und renommierte Ärzte an zahlungskräftige Landsleute. Ob-wohl das Geschäft � oriert, blickt er zurück in den Osten: „Wir kön-

Wenn die russische Literatur Deutschland sagt, dann meinte sie Baden-Baden, zumindest gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Alle waren sie hier zur Kur und be-schrieben ihre Eindrücke in Bü-chern, die heute längst zu den Klassikern zählen: Gogol, Tols-toi, Schukowski, Dostojewski, Turgenjew, Tschechow. In Baden-Baden arbeitete Gogol an seinen „Toten Seelen“ und Dostojewski verewigte die Stadt als Rouletten-burg in „Der Spieler“, nachdem er sein Vermögen im Casino gelassen hatte. Während der Sow-jetdiktatur haben leselustige Rus-sen die Schauplätze jener Werke zu einer Traumwelt hochstilisiert. Heute dienen sie vielen Unterneh-mern als Geschäftsmodell. Zum

Gut essen, leger aussehen, elegant tanzen im Ballsaal des Kurhauses. Diese Traumwelt animierte Igor Rothmann zu einer Geschäftsidee.

nen die hiesige Lebensqualität auch in Russland etablieren.“ Mit deutschen Geschäftspartnern baut er deshalb ein „Deutsches Dorf“ und einen Vergnügungspark in der Region Krasnodar – gleich in der Nähe der ersten Kurorty und von Sotschi, wo 2014 die Olympi-ade statt� nden wird.

Moskau Russen und Ausländer erklären die Vorzüge der Megapolis, die auf den ersten Blick so abweisend wirkt

Faszinierendes Chaos: Blick vom Moskwa City-Wolkenkratzer

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eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, MoskauMeinung

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland Heute erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion der tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. Verlag: Rossijskaja Gaseta, ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation tel. +7 495 775-3114 fax +7 495 988-9213 e-mail [email protected]

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ausschließlich ihre Autoren verantwortlich. Diese Beiträge stellen nicht die Meinung der Redakteure von Russland

HEUTE oder von Rossijskaja Gaseta dar.

Nach 18-jährigem Verhand-lungsmarathon scheint es Mitte Dezember 2011 so weit

zu sein: Die Russische Föderation wird in die Welthandelsorganisa-tion (WTO) aufgenommen. Auf dem Weg dorthin wurden den Ver-handlungspartnern bereits eine Menge Zugeständnisse abgerun-gen, darunter die „Meistbegüns-tigungsklausel“, die russischen Waren den Zugang zu den inter-nationalen Märkten erleichtert. Als Vollmitglied der WTO ist Russland dann auch bei Streiten-tscheidungsverfahren beteiligt (Dispute Settlement Body). Eine Mitgliedschaft würde ausländi-sche Investoren ins Land locken und umgekehrt die Chancen für russische Investitionen in WTO-Ländern verbessern.Doch für die russische Wirtschaft könnte die WTO-Mitgliedschaft nicht nur ein Segen sein. Zum einen geht es mit Russlands pro-

Russland steht zum wieder-holten Male an der Schwel-le zur Welthandelsorganisa-

tion (WTO). Zum wiederholten Male, weil wir bereits zum drit-ten oder vierten Mal den Fuß heben, um diese Schwelle zu über-schreiten. In der Vergangenheit wurde die Tür jedoch immer im entscheidenden Moment zuge-schlagen, obwohl alle amerikani-schen Präsidenten seit Bill Clin-ton ihre konstruktive Unterstüt-zung zugesagt hatten. Unser Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit der WTO, Maxim Medwedkow, erklärte Mitte 2005 erstmalig, dass es im Dezember desselben Jahres mit dem Beitritt so weit sei. Mittler-weile neigt sich das Jahr 2011 dem Ende zu, und wieder einmal geht es um diese schicksalhafte Ent-scheidung. Wohl kaum eine an-dere Frage der Wirtschaftspolitik hat im letzten Jahrzehnt so viel Staub aufgewirbelt. Den Anhän-

Noch zu fRüh

jetzt odeR Nie

Felix gorjunow

wirtschaftsjournalist

andrejnetschajew

finanzexperte

duktbezogenem Export kontinu-ierlich bergab. Seit 20 Jahren redet der Kreml davon, die Wirtschaft zu modernisieren und auf Inno-vationen zu setzen. Aber noch immer ist die Hauptsäule der rus-sischen Ökonomie die Rohstoff-industrie. Die Einnahmen aus Öl-exporten decken die Hälfte des nationalen Budgets, was das Land in eine gefährliche Abhängigkeit zum globalen Energiemarkt bringt. Wenn man jetzt der WTO beitritt, wird man in der interna-tionalen Arbeitsteilung womög-lich nur noch als Rohstoffliefe-rant wahrgenommen.Zum anderen erklärte Minister-präsident Putin im letzten Som-mer, Russland brauche die Mit-gliedschaft, um den jährlichen Verlusten von 2,5 Milliarden Dol-lar beim Export entgegenzusteu-ern. Besonders betroffen sind die Großunternehmen der Stahl-, Eisen- und Metallindustrie. We-niger profitabel wäre ein Beitritt für den Großteil der russischen Industrie- und Dienstleistungs-unternehmen sowie für die Land-

gern eines Beitritts wurde unter-stellt, sie würden damit die Wirt-schaft Russlands in den Ruin trei-ben. Versuchen wir einmal vollkommen nüchtern, alle Vor- und Nachteile aufzuzählen.Mit dem Beitritt in die WTO wird Russland sich von allen zollpoli-tischen Instrumenten wie etwa Schutzzöllen auf Importautos ver-abschieden. Und zugleich dras-tisch die Einflussnahme der Be-hörden auf ausländische Investi-tionen und Importe drosseln. Diese jahrelange Praxis hat die einhei-mische Automobilindustrie aller-dings nicht vor ihrem Kollaps bewahrt.Ein günstiges Investitionsklima schafft man nicht durch die künst-liche Steuerung des Wettbewerbs. Solche Art Restriktionen sind eine ernsthafte Krankheit der russi-schen Wirtschaft. Wer Investoren locken will, muss vielmehr Eigen-tumsrechte schützen (einschließ-lich der Rechte am geistigen Eigentum), die Unabhängigkeit und Kompetenz der Judikative gewährleisten, die „staatliche Schutzgelderpressung“ in Form

wirtschaft. Denn ein WTO-Regel-werk sieht demnächst die Strei-chung von staatlichen Subventionen vor, ohne die die Unternehmen nicht wettbewerbsfähig sind. Drittens: Staatsfeind Nummer eins ist und bleibt die Korrupti-on. Schätzungen zufolge über-steigt die Summe an Bestechungs-geldern die staatlichen Steuerein-nahmen. Das kaum vorstellbare Maß an Korruption beschert rus-sischen Unternehmen sozusagen eine doppelte Besteuerung, die sie im internen und globalen Wett-bewerb aus der Bahn wirft. Au-ßerdem werden die Unternehmen zur leichten Beute für Bürokra-ten und bestechliche Gesetzeshü-ter, die ihren Anteil dazu verwen-den, beide Augen zuzudrücken. Diese allgemeine Praxis hindert

der aktuellen Steuergesetzgebung abschaffen, den Bürokratiedruck auf Wirtschaft und Bürger sen-ken und wirkungsvolle Maßnah-men gegen die omnipräsente Kor-ruption ergreifen.Mit dem WTO-Beitritt wird durch günstigere Importbedingungen die Konkurrenz in einigen Wirt-schaftsbereichen dramatisch zu-nehmen. Das kommt Verbrauchern und Produzenten zugute. Gleich-zeitig werden sich die Rahmen-bedingungen für den Export und unsere Investitionen im In- und Ausland verbessern – eine wesent-liche Voraussetzung, wenn es um die Modernisierung des Landes geht.Die Auflagen für einen Beitritt, die uns in den letzten Verhand-lungsrunden genannt wurden,

selbst große Unternehmen daran, in allen Teilen des Landes Fuß zu fassen, weil die Bürokraten in den Regionen lokale Unternehmen gegen Konkurrenz von außen schützen. Das hat zur Folge, dass viele inländisch produzierte Waren von hoher Qualität nicht überall angeboten werden können. Zwei Jahrzehnte nach dem Beginn der Marktreformen gibt es noch immer nur eine Handvoll landesweit be-kannter Markenartikel „Made in Russia“.Hinzu kommt die beachtliche Ka-pitalflucht ins Ausland. Die rus-sische Zentralbank schätzt, dass die Kapitalabwanderung dieses Jahr 70 Milliarden Dollar errei-chen wird. Das sind seit Mitte der Neunzigerjahre rund eine Billion Dollar.

sind durchaus moderat. Das zu-lässige Subventionsniveau für die Landwirtschaft etwa ist höher als derzeit bei uns. Den geforderten Schutz des geistigen Eigentums brauchen wir wie die Luft zum Atmen. Ohne Einigung speziell in diesem Punkt bleiben alle Gesprä-che über Modernisierung und einen Zugang zu den Außenmärk-ten mit Hightechprodukten hoh-les Geschwätz. Der unmittelbare Gewinn aus einem Beitritt wäre übrigens gar nicht so hoch – es wird geschätzt, dass gerade einmal ein paar Mil-liarden eingespart werden kön-nen. Nutznießer sind vor allem die Metallindustrie, Mineraldünger-produzenten und Getreideexpor-teure. Langfristig schafft der Bei-tritt zur WTO jedoch günstigere

Mehr als die Meistbegünstigung im Ausland, also eine Gleichbe-rechtigung aller Handelspartner, bräuchte die russische Wirtschaft den Status der Meistbegünsti-gung im eigenen Land. Es wäre kontraproduktiv, Russland zu diesem Zeitpunkt mit seiner noch in den Kinderschuhen stecken-den Marktwirtschaft in die WTO zu drängen. Es könnte dann zu wirtschaftlichen Turbulenzen und Auflösungstendenzen kom-men, die nur vergleichbar wären mit dem Zusammenbruch der So-wjetunion. Ob sich die politischen Eliten noch besinnen?

Felix Gorjunow schreibt seit 30 Jahren über das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen sowie die WTO.

Bedingungen für den Maschinen-bau und andere Hersteller for-schungsintensiver und weltmarkt-orientierter Produkte.Aber der entscheidende Vorteil liegt nicht im materiellen Nutzen, sondern in der Möglichkeit, an der Ausarbeitung von Grundregeln der Weltwirtschaft und des Han-dels mitzuwirken. Es ist kein Zu-fall, dass die Liste der WTO-Mit-gliedsländer mit der der UNO nahezu identisch ist. Niemand will aus dieser Organisation austreten, im Gegenteil – viele Staaten der Welt haben sich auf eine Mitglied-schaft beworben.

Andrej Netschajew ist Präsident der Bank Russische Finanz-vereinigung. 1992 bis 1993 war er Wirtschaftsminister.

eiN steiNigeR Weg mit happy eNdrussland international wto-Beitritt

Es ist eine unendliche Geschichte, die im Dezember hoffentlich ein glückliches Ende findet: 18 Jahre verhandelte Russland über einen Beitritt zur Welthandelsorganisati-

on (WTO). In den 90ern war es die deso-late finanzielle Lage des Landes, die den Beitritt verhinderte, in den letzten Jahren die komplizierten Beziehungen zur Ukra-

ine, zu Georgien und den USA. Am 15. Dezember soll der WTO-Beitritt unter-zeichnet werden. Das Land verpflichtet sich damit, im Laufe der nächsten sieben

Jahre die Einfuhrzölle zu senken. Kriti-ker warnen vor katastrophalen Folgen für viele russische Unternehmen, die dann nicht mehr konkurrenzfähig seien.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Feuilleton

KULTUR-KALENDER

FILMWYSSOZKIAB 1. DEZEMBER, BUNDESWEIT

Ungeliebt von den Behörden, vergöt-tert von den Menschen – das war Wladimir Wyssozki, Schauspieler und Sänger voll Leidenschaft und Lebens-lust. 31 Jahre nach seinem Tod nun „Wyssozki“ in Blockbuster-Manier.

wyssozki.de ›

DISKUSSIONRUSSISCHE PARLAMENTSWAHL13. DEZEMBER, BERLIN,HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG, 19 UHR

Wie demokratisch waren die Wahlen? Informationen aus erster Hand gibt es bei einer Diskussion mit dem Wahlbe-obachter Aleksandr Buzin und dem Politologen Nikolaj Petrow.

boell.de/calendar/ ›

KLASSIKGERGIEVS SCHOSTAKOWITSCH21./22. DEZEMBER, MÜNCHEN, PHILHARMONIE, 20 UHR

Dirigent Valery Gergiev ist mit seinem eigenwilligen Stil schon Legende. Mit den Münchner Philharmonikern prä-sentiert er die 5. und 14. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch.

gergievs-schostakowitsch.de ›

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empfiehlt

Unerkannt durch Freundesland

Dokumentation Wagemutige Ostdeutsche durchquerten mit dem Rucksack illegal die Sowjetunion – ein Reisebuch

ULRIKE GRUSKAFÜR RUSSLAND HEUTE

Von wegen sozialistische Brudervölker: Vor der Wende durften DDR-Bürger nicht auf eigene Faust durch die Sowjet-union reisen. Wer es trotzdem tat, erlebte Abenteuer.

Die Idee stammte aus einem DDR-Comic und war ebenso reizvoll wie waghalsig: Fix und Fax, zwei fre-che Mäuse, basteln sich darin aus Langeweile einen Segelschlitten und haben einen Heidenspaß, damit über’s Eis zu brausen. Als Kind liebte Uwe Wirthwein diese Geschichte. Als 27-Jähriger woll-te er sie selbst erleben. Er überre-dete Freunde, das abenteuerliche Gefährt nachzubauen und auszu-probieren – und zwar auf dem Bai-kalsee, dem fernen Sehnsuchtsort, an den Ostdeutsche auf eigene Faust eigentlich gar nicht hinfah-ren durften. So kam es, dass im Sommer 1988 fünf junge Männer aus Dresden Nylonballen über die Grenze schmuggelten, sich mit 36 Kilo-gramm schweren Rucksäcken bis nach Sibirien durchschlugen, dort Bäume fällten und schließlich einen riesigen Segler mit fünf Meter langem Mast aufs Eis des Baikal setzten. Sie reisten „Uner-kannt durch Freundesland“ (UdF)

und waren damit Teil einer Be-wegung, von der bis zum Ende der DDR nur Eingeweihte wussten.Hunderte junger Leute ent� ohen der räumlichen Enge ihres Lan-des in den 70er- und 80er-Jahren durch Schlup� öcher im bürokra-tischen System. Sie erklommen im Kaukasus schroffe Gipfel, erkun-deten märchenhaft fremde Repu-bliken in Zentralasien, streiften wochenlang durch sibirische Wei-ten – irgendwie illegal, aber von überforderten Behörden oft nur halbherzig aufgehalten. Reisen in die Sowjetunion waren damals of-� ziellen Gruppen vorbehalten und für den Individualtourismus tabu. Doch seit dem Prager Frühling 1968 kam ein Transitvisum zur Anwendung, das eine Durchreise durch die UdSSR erlaubte, um die unruhige Tschechoslowakei zu umgehen. Nie wieder abgeschafft, wurde es für viele junge Menschen zur Eintrittskarte in ein Land, das sich verheißungsvoll über elf Zeit-zonen ausdehnte. Wer es schaffte, nach der Einreise „von der offizi-ellen Route abzuhauen und ins Landesinnere zu gelangen, konn-te sich danach relativ frei bewe-gen“, erinnert sich UdF’ler Frank Böttcher.Zusammen mit der Dokumentar-� lmerin Conny Klauß hat der Ber-liner Verleger ein wunderbares

Buch herausgegeben, das die Erinnerungen der waghalsigen Reisenden versammelt. Halb Reisetagebuch, halb Geschichts-dokument, zeigt es mit Liebe zum Detail und zahlreichen Fotos, was herauskam, wenn DDR-Bürger die Parole von der deutsch-sowjeti-schen Freundschaft wörtlich nah-men. Nahezu einhellig berichten sie von überschwänglicher Herz-lichkeit, von offenen Armen, mit denen sie allerorts aufgenommen wurden. Sie erzählen von Milizi-onären, die in Verhören ratlose Fragen stellten und anschließend Fahrkarten in den nächsten Ver-waltungsbezirk organisierten, um die unliebsamen Wanderer mög-lichst schnell loszuwerden. Und sie brachten Fotos mit, die ganz und gar nicht zum Bild von der UdSSR als kommunistischem Pa-radies passten: zerfallene Wohn-häuser, bettelnde Rentner, zusam-menge� ickte Traktoren.Ein Großteil der UdF-Reisenden waren Bergsteiger, die sich mit Ausrüstung der „Marke Eigen-bau“ auf den Weg ins Gebirge machten. Sie schnitten sich Iso-matten aus Fußboden-Isolierstoff zurecht, nähten Schlafsäcke aus westlichen Katalogen nach und verfassten die Delegierungsschrei-ben für ihre Expeditionen selbst. Andere interessierten sich weni-

ger für die Fünftausender als für die Menschen jenseits der Gren-ze. Ekkehard Maaß, der zur Gi-tarre Lieder von Wolf Biermann und Bulat Okudschawa sang, besuchte auf seinen ausgedehn-ten Fahrten häu� g Dissiden-ten. In Ti� is ließ er sich von Regisseur Sergei Paradscha-now bewirten, in Kirgisien traf er Tschingis Aitmatow, der ihn als offiziell linientreuer Schriftsteller mit muslimischen Gebeten überraschte. Der Thü-ringer Pfarrer Gernot Friedrich wiederum fuhr etliche Male in die UdSSR, um versteckte deutsche Gemeinden mit Bibeln zu ver-sorgen. Außer der Schmuggel-ware hatte er meist nur ein Stück Seife und zwei Hemden in einem Stoffbeutel dabei.Eines eint diese Menschen, so unterschiedlich ihre Motive und Interessen auch gewesen sein mögen: Sie haben (Reise-)Freiheit nicht gefordert, sondern sie sich einfach genommen – und gerade deswegen sind sie vielleicht so weit gekommen.

Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich, Lukas-Verlag 2011. 444 Seiten, 24,90 Euro

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1 – Halsbrecherische Expedition zum Pik Lenin (2734 Meter) in Tadschikistan2 – Sehnsuchtsziel in Zentralasi-en: Irgenwie muss es doch nach Taschkent gehen.3 – In Usbekistan wartet an jeder Ecke eine Einladung zum Tee.4 – Vom Stiefel bis zum Steig-eisen war die Ausrüstung „Marke Eigenbau“.5 – Gut getarnt mit linientreuer Zeitung: UdF-Tourist in Moskau6 – Ruhepause mit atemberau-bendem Blick über die Gipfel des Pamir-Gebirges

Anfang der 70er fuhr man noch mit dem D auf der Heck-scheibe zum Schwarzen Meer.

Abend am Baikal: Uwe Wirthwein und seine Freundin übernachten auf dem Eis.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUPorträt

Russlands Medien und wie sie funktionieren1. Februar 2012Wahlen am 4. März 2012: Wer wird wieder Präsident?

Die Orgel und „andere Möbeln“Unternehmer Wie es dazu kam, dass ein Usbeke die Hauptorgel im Dom von Kaliningrad rekonstruierte

Maks’ Gedankengänge notierte und ordnete Igor Najdjonow für das Magazin Russki Reportjor.

Wie jeder außergewöhnliche Mensch hat Maks Ibragimow seine spezielle Weltanschauung und ist dabei stolz auf das, was er mit eigenen Händen schafft. Hören wir ihm einfach zu.

Der Dom verleiht Kaliningrad heute wieder sein unverwechsel-bares Gesicht. Aber nach 1944, als die Engländer ihn zerbombt hat-ten, war hier 60 Jahre lang eine Steinwüste. Wir sind da zum Pin-keln hingegangen.Die Orgelakustik machten die Deutschen, die Fassade ist von uns. 8250 Orgelpfeifen, 12 Register. Davor hat der Initiator des Wie-deraufbaus zwei Monate lang auf mich eingeredet. Warum ausge-rechnet auf mich, ich mache doch Möbel! Doch dann hat mich die Potsdamer Firma Schuke nach Deutschland eingeladen und mir ihre Orgeln gezeigt. Sie haben mich überzeugt. Ein phänomena-les Instrument ist dabei heraus-gekommen. Als Erstes haben wir dann „Sweet Child in Time“ von Deep Purple drauf ausprobiert. Das hat alle umgehauen!Ich bin Usbeke aus dem Dorf Bergalik bei Taschkent, das gibt’s nicht mal auf der Landkarte. Nach der vierten Klasse steckte mich mein Vater in ein Internat für Kunsterziehung. In unserer kin-derreichen Familie gab’s wenig zu essen, und dort wurde man eini-germaßen versorgt. Nach der Fachschule musste ich zur Armee. Ich kam in eine Ra-keteneinheit bei Kaliningrad. Weil ich aber dauernd riesige Lenin-Porträts nachmalen musste, habe ich nie eine Rakete aus der Nähe gesehen. Nach dem Dienst be-schloss ich zu bleiben. Nun lebe ich schon 35 Jahre hier.

Pink Floyd und „Russalka“Bevor ich an� ng, Möbel zu ent-werfen, hatte ich alles Mögliche gemacht: Hosen und Kleider ge-näht, sieben Jahre als Einfrierer auf Fischtrawlern gearbeitet, dann als Maler auf dem Bau. Unter den Abfallstoffen gab es viele Holz-spanplatten. Mit einem befreun-deten Zimmermann schreinerten wir daraus Essecken. Die ersten Sofas hab ich selbst zugeschnit-ten, genäht und bezogen. Die waren vielleicht hässlich! Man muss aber alles von Grund auf ge-lernt haben, wenn man einen Be-trieb führen will. Irgendwann fand ich gewöhnliche Sofas zu langweilig. Ich wollte in die Ober-liga – handgemachte Luxusmö-bel. Anfang der 90er schickte ich meine Mitarbeiter ins Ausland. Die Schreiner nach Italien und die Näher nach Holland. Wir besuch-ten eine Möbelfabrik in Florenz und sahen ihnen bei der Arbeit zu. Nach drei Monaten konnten wir es genauso.Ein Arbeiter muss pro Schicht fünf Armlehnen machen. Vier sind zu wenig, weil er die nachfolgen-

de Schicht im Stich lässt. Sechs sind zu viel, weil das auf Kosten der Qualität geht. Wenn man etwas selbst macht, be-kommt man den größten Kick. Erst ist nichts da, dann hast du eine Idee, und plötzlich kommt was dabei raus. Du verkaufst es und hoppla! – schon hast du Geld. Das versuche ich auch meinem Sohn zu erklären.Einmal hat ein Lokalsender meine Erfolgsstory ver� lmt. Ich hatte damals eine lange Mähne und war ganz in Leder. Ein Rocker also. Die TV-Leute wollten wissen, wel-che Musik sie einspielen sollen. „Die Neunte von Schostako-witsch“, antwortete ich. Die waren vielleicht geschockt. Nach ihrem Weltbild hatte ich als Mittelasiat ungebildet zu sein. Aber meine Frau Lena ist professionelle Mu-sikerin, Koloratur-Sopranistin. Sie können sich nicht vorstellen, wie sie das Lied der Olga aus „Rus-salka“ interpretiert. Manchmal träume ich, dass Lena in Beglei-tung eines Symphonieorchesters den Song von „The Dark Side of the Moon“ als Backround-Voka-listin von der Bühne schreit, wie Liza Strike bei Gilmour: „U-u-u-aaaa!“ Aber Lena will nicht.In Moskau hat man mir einen Preis als Russlands bester Manager aus-

gehändigt. Putin und alle ande-ren waren da. Also sagte ich von der Bühne: „Frag einen russischen Unternehmer: ‚Wie geht’s dir?‘, und er wird antworten: ‚Beschissen.‘ Obwohl er erfolgreich ist. Als würde man ihn auf der Stelle ein-sperren, sagte er, es liefe gut. Wir müssen aufhören, uns selbst schlecht zu reden. Dann wird auch das BIP wachsen. Investitionen sind in Russland sekundär.“Manchmal denke ich, dass ich mein ganzes Leben träume. Gleich wach ich auf und muss den Maul-esel einspannen.

Lernen von EuropaDass man mich als ungehobelten asiatischen Klotz ansieht, ist nicht das Schlimmste in diesem Leben. In Usbekistan nennt man die Rus-sen „Schweineohren“. Solche Leute gibt es überall.Ich spreche bis heute kein perfek-tes Russisch. Kann vorkommen, dass ich „andere Möbeln“ sage. Absichtlich. Die Leute fragen bei der Telefonauskunft: „Ich hab sei-nen Namen vergessen. Er kommt aus Asien und macht Sofas.“ Die Auskunft gibt meine Nummer weiter. Das nenne ich berühmt.Immanuel Kant arbeitete einst in der Wallenrodtschen Bibliothek. Ein großer Philosoph, dessen Werk ich sehr schätze. Auch die Biblio-thek haben wir restauriert. Wenn ich Besuch habe, zeige ich gern diese Arbeit. Dann stelle ich meine S-Klasse in der Nähe von Kants Grab ab, wo meist viele deutsche Touristen sind, die mich ganz ir-ritiert anblicken: ihr Land, ihr

nigsberger Kneipe und verkün-det: „1944 wird die Stadt von den Engländern zerbombt, aber zu Be-ginn des nächsten Jahrhunderts wird ein Usbeke nach Russisch Königsberg kommen und die Dom-Orgel restaurieren!“ Sie hät-ten diesen Fantasten garantiert mit Bierkrügen beworfen.

Ibragimow absolvierte eine Kunst-fachschule in Taschkent, dann kam er in die Armee nach Kaliningrad. Hier gründete er 1992 die Möbel-fabrik MAKSICK, die in Russland zu den besten Adressen für hand-gearbeitete Edelmöbel gehört. 2008 restaurierte seine Firma die Orgel im Königsberger Dom.

BIOGRAFIE

NAME: MAKS IBRAGIMOW

ALTER: 56

BERUF: MÖBELKÜNSTLER

Frag einen russischen Unternehmer: „Wie geht’s dir?“ Und er wird antworten: „Beschissen.“ Obwohl er erfolgreich ist.

Wie ein Phönix aus der AscheDer Königsberger Dom erhielt 2008 eine neue Chor- und eine Hauptorgel. Der Prospekt der Hauptorgel, von Ibragimows Firma gefertigt, orientiert sich weitgehend an dem Original von 1721, jedoch mit einigen Änderungen:

Der preußische Adler wurde durch ei-nen Phönix ersetzt, die Mittelfigur „David mit der Harfe“ durch eine Ma-donna. Auch der preußische Adler im Königsberger Stadtwappen wurde durch einen russischen ausgetauscht.

Grab, ihr Auto – und dann so einer wie ich mit seiner asiatischen Vi-sage. Herrlich!Der Kaliningrader ist mehr Eu-ropäer als Russe. Die Jungen rei-sen nach Europa und lernen, wie es laufen sollte. Als man den Gou-verneur verjagte, wurde niemand geschlagen oder verhaftet. Selbst die Bullen sagten: „Wir haben Demokratie.“ Manchmal stell ich mir 1938 vor. Kommt ein Hellseher in eine Kö-

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