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RÜCKENSCHMERZEN Konflikte zwischen individueller und Public Health Perspektiveund Qualitätsmessung
Abteilung für Allgemeinmedizin
Institut für Community Medicine
Jean‐François Chenot
Potentielle Interessenkonflikte ChenotMitglied der DEGAM, GHA, Hausärzteverband, DNebM und der AkdÄ, Sachverständiger beim GBA für das DMP chronischer RückenschmerzAls angestellter Arzt kassenärztlich tätig, Aufträge und Honorare von Kassen, KVen, LÄK, IhF, MDK und GerichtenMitarbeit im Faktencheck Rücken der Bertelsmann‐Stiftung
Abteilung Allgemeinmedizin, Institut für Community Medicine
LERNZIELE
Am Ende dieser Vorlesung sollen Sie
• … am Beispiel Rückenschmerzen verstehen warum es Leitlinien gibt
• … wie Leitlinien entstehen
• … wie Leitlinien zur Qualitätssicherung genutzt werden können
• … was die Grenzen von Leitlinien sind
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EPIDEMIOLOGIE DER SCHMERZEN
Kohlmann T:Muskuloskelettale Schmerzen in der BevölkerungSchmerz 2003; 17: 405‐11
26,4% aller Erwachsenen waren in 2010 wenigstens einmal wegen Rückenschmerzen beim Arzt
Versorgungsreport 2013
URSACHEN DER ARBEITSUNFÄHIGKEIT
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Quelle: AU‐Daten der DAK‐Gesundheit 2013
AU‐Tage AU‐Fälle
Durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit wegen Rückenschmerzen 2010 11,7 Tage
WidO 2012
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WELCHE FAKTOREN BEEINFLUSSEN DIE PROGNOSE
ER
80‐90 70‐80 40‐50 25‐45 20‐30
70‐8055‐7550‐6020‐3010‐20
Chronische Rückenschmerzen
Depression Gelenkrheuma Asthma Bluthochdruck
KRANKHEITSKOSTEN DEUTSCHLAND
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Quelle: Bertelsmann/Booz & CompanyGrafik: Ärztezeitung
Volkswirtschaftliche Gesamtkosten der Erkrankungen im Vergleich
Medizinische Kosten (in %)
Produktivitätsverluste (in %) Krankheitskosten Rückenschmerzen
2008 ca. 9 Milliarden €Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft‐53 2012
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Eine 32‐jähriger Bankkaufmann hat seit heute Morgenbeim Aufstehen Rückenschmerzen, jede Bewegung sticht.Keine Schmerzausstrahlung in die Beine.
„Ich muss in die Röhre, es muss doch geklärt werden woher die Schmerzen kommen !“
HEXENSCHUSS
Abteilung Allgemeinmedizin, Institut für Community Medicine
Abteilung Allgemeinmedizin, Institut für Community Medicine
Qualitäts‐ und Kostenmonitoring
Krankheit
Komplikationen vermeiden Arbeitsunfähigkeit Chronifizierung vermeiden
Leitlinien z.B. NVL KreuzschmerzVergütungsstrukturenVersorgungstrukturen
Management
QualitätsindikatorenProzessqualität
Geld sparenVermeiden von Über‐ und
Fehlversorgung
QualitätsindikatorenErgebnisqualität
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Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL)
• Kreuzschmerzen sind für Betroffeneund Ärzte unangenehm
• Hohe Varianz in der Versorgung• Vielzahl therapeutischer Optionen • Schon früh Leitlinien in Deutschland 2003 DEGAM• NVL 1. Auflage 2010• NVL 2. Auflage 2017
http://www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerzChenot et al. Nichtspezifischer Kreuzschmerz Dtsch Arztebl. 2017;114:883‐90
• Autoren
• Gutachterverfahren
• Gültigkeitsdauer / Aktualisierung
• Grundlagen
• Ziel der Leitlinie
• Zielgruppe
• Klarheit
• Transparenz
• Bewertungsmaßstab
• Anwendbarkeit
• Praxistest
Ollenschläger G et al.: Checkliste zur Methodischen Qualität von Leitlinien.ZaeFQ.1998; 92: 191‐4
QUALTITÄT VON LEITLINIEN
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Evidenzgrad
Bezeichnung
Empfehlungsgrad
Bezeichnung
Hoch Klasse I Starke Empfehlung A
„soll“ oder „soll nicht“
Mäßig Klasse II Empfehlung B
„sollte“ oder „sollte nicht“
Schwach Klasse III,IV,V Empfehlung offen C
„kann“ Keine Aussage möglich D
Evidenz und Grading (Empfehlungsstärke)
Kriterien für Graduierung• Konsistenz der Studienergebnisse• Klinische Relevanz• Nutzen‐Risiko –Verhältnis• Ethische Verpflichtung• Patientenpräferenzen• Umsetzbarkeit
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HEXENSCHUSS
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Soll er eine Bildgebung erhalten?
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Leitlinienempfehlung
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Anamnese und körperliche Untersuchung ausreichend
Keine Bildgebung ohne Warnhinweise „red flags“ (3‐6 )
Bei über 4‐6 Wochen anhaltenden Aktivitätseinschränkung oder progredienten Schmerzen ist eine Bildgebung indiziert (3‐7 ) modifiziert
Ohne relevante Befundänderung soll die Bildgebung nicht wiederholt werden (3‐8 ) NEU
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Henschke N et al. A systematic review identifies five "red flags“to screen for vertebral fracture in patients with low back pain.J Clin Epidemiol. 2008; 61:110‐18
Henschke N et al.Prevalence of and Screening for Serious Spinal Pathology inPatients Presenting to Primary Care Settings With Acute Low Back PainArthritis & Rheumatism 2009; 60: 3072–80
RED‐FLAG‐KONZEPT
Pathologie Klinischer Hinweis Häufigkeit
bedeutender Bandscheiben‐vorfall
• Schmerzausstrahlung in die Beine
• Fußheberschwäche
• Reflexabschwächung im Seitenvergleich
(Sensitivität 50%, Spezifität 60%)
• Positiver Lasègue‐Test (Sensitivität 80%,
Spezifität 40%)
1‐3%
Spinalkanal‐stenose
• Alter > 70 Jahre
• Schmerzausstrahlung in beide Beine
• Symptombesserung beim Vorbeugen
1‐5%
Cauda equinaSyndrom
• Reithosenanästhesie
• Mastdarmschwäche
• Blasenschwäche
0,0001 %
Neoplasie • Krebs in der Anamnese
• unerklärlicher Gewichtsverlust
• Alter> 50 oder < 17 Jahre
• Nacht‐ oder Ruheschmerzen
< 1%
Infektion • persistierendes Fieber
• intravenöse Drogen< 1%
Fraktur • systemische Steroidmedikation
• Trauma
• V.a. Osteoporose
• Alter > 70 Jahre
< 1%
Rheumatisch entzündliche
• Morgensteifigkeit
• Schmerzen > 3 Monate
• Extravertebrale Begleiterkrankungen
(z.B. Uveitis, Psoriasis)
< 1%
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Jenkins HJ, et al.Understanding patient beliefs regarding the use of imaging in the management of low back pain. Eur J Pain. 2016;20:573‐80.
PATIENTENVORSTELLUNGEN
Jeder mit Rücken‐schmerzen sollteeine Bildgebungbekommen
Bildgebung ist notwendig fürdie optimaleVersorgung vonRückenschmerzen
Leitlinienempfehlung
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Anamnese und körperliche Untersuchung ausreichend
Keine Bildgebung ohne Warnhinweise „red flags“
Ohne relevante Befundänderung soll die Bildgebung nicht wiederholt werden (3‐8 ) NEU
Warum macht die Leitlinie ein solche Empfehlung?
Jenkins HJ, et al. Imaging for low back pain: is clinical use consistent with guidelines? A systematic review and meta‐analysis. Spine J. 2018. pii: S1529‐9430(18)30203‐1.
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WENN DER SCHMERZ NICHT NACHLÄSST
Zunehmendes Chronifizierungsrisiko
Reversible Chronifizierung
Gute Prognose~80%
~15%
~5%
Irreversible Chronifizierung?
schwer organisch krank
~1%
Pengel L et al. : Acute low back pain: systematic review of its prognosisBMJ 2003; 327: 323
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WUNSCH NACH BILDGEBUNG
Ähnliche ErgebnisseAsh LM, et al.Effects of diagnostic information, per se, on patient outcomes in acuteradiculopathy and low back pain. AJNR Am J Neuroradiol. 2008; 29:1098‐103.
Kendrick D, et al. The role of radiography in primary care patients with low back pain of at least 6 weeksduration: a randomised(unblinded) controlled trial.Health Technol Assess. 2001;5:1‐69.
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Nur geringer NutzenChou et al. Imaging strategies for low‐back pain: systematic review and meta‐analysis. Lancet 2009; 373: 463‐72.
BILDGEBUNG
Brinjikji e al.MRI Findings of Disc Degeneration are More Prevalent in Adults with Low Back Pain than in Asymptomatic Controls: A Systematic Review and Meta‐Analysis. AJNR Am J Neuroradiol. 2015 ;362394‐9. Brinjikji et al.Systematic literature review of imaging features of spinal degeneration in asymptomatic populations. AJNR Am J Neuroradiol. 2015;36:811‐6.
Herzog et al. Variability in diagnostic error rates of 10 MRI centers performing lumbar spine MRI examinations on the same patient within a 3‐week period. Spine J. 2017;17:554‐61.
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Qualitäts‐ und Kostenmonitoring
Krankheit
Komplikationen vermeiden Arbeitsunfähigkeit Chronifizierung vermeiden
Leitlinien z.B. NVL KreuzschmerzVergütungsstrukturenVersorgungstrukturen
Management
QualitätsindikatorenProzessqualität
Formulieren Sie einen Qualitätsindikator
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sollten • Valide sein• Messbar sein• Beinflussbar sein• Müssen evaluiert werden
QUALITÄTSINDIKATOREN
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Anzahl Bildgebung je 1000 Versicherte mit Rückenschmerzen
Quelle: Bertelsmann Faktencheck Rücken2016
Versorgungsrealität
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Diagnostik immer sinnvoll?
Als Hausarzt erlebe ich einen hohen Druck zu technischen Untersuchung durch Patienten und Spezialisten und wenig Bereitschaft abzuwarten
Schmerzgebessert
spezifischeTherapie
spezifische Diagnose
• Anamnese• KörperlicheUntersuchung
• Bildgebung
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EINE IDEALVORSTELLUNG
Konsultation
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spezifische Diagnose
• Anamnese• KörperlicheUntersuchung
• Bildgebung
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VOM SYMPTOM ZUR DIAGNOSE
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Spezifische Diagnose
gezielte Therapie
bessere Behandlungsergebnisse
RÜCKENSCHMERZEN SIND KEINE DIAGNOSE SONDERN EIN SYMPTOM!
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Wie gut können wir Rückenschmerzen differenzieren
?• Anamnese• KörperlicheUntersuchung
• Bildgebung
86% der Patienten mit Rückenschmerzen gebenan körperlich untersucht worden zu sein
Chenot JF, Kochen MM, Schmidt CO.Das Einhalten von Leitlinien und die Qualität der ambulanten Versorgung von Rückenschmerzpatienten.In: Gesundheitsmonitor 2009, Bertelsmann‐Stiftung
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ANAMNESE
Henschke et al. Screening for malignancy in low back pain patients: a systematic review.Eur Spine J 2007; 16:1673‐9
Henschke N et al. A systematic review identifies five "red flags“to screen for vertebral fracture in patients with low back pain.J Clin Epidemiol. 2008; 61:110‐18
Donner Banzhof N, et al. Evaluating a simple heuristic to identify serious causes of low back pain.Fam Pract 2006; 23: 682‐686
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Positiv: im Dermatomausstrahlende oder sichverstärkende Schmerzen
Interpretation: Hinweis aufNervenwurzelreizung
LASÈGUE‐TEST Nervendehnungstest
Sensitivität: 92% (87‐95%)Spezifität: 28% (22‐35%)
van der Windt DA, et al.Physical examination for lumbar radiculopathy due to disc herniation in patients with low‐back pain.Cochrane Database Syst Rev. 2010
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Was kann die Bildgebung zur ätiologischenKlärung bei Rückenschmerzen
beitragen
?• Anamnese• KörperlicheUntersuchung
• Bildgebung
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SYSTEMATIK DIAGNOSTISCHER STUDIEN
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Level 1Technische Qualität
Machbarkeit, Reliabilität
Level 2Diagnostischer Impact
Sensitivität, Spezifität, prädiktive Werte
Level 3Diagnostischer Impact
Auswirkung Test auf die Diagnosefindung
Level 4Therapeutische Impact
Auswirkung Test auf das therapeutische Vorgehen
Level 5Patientennutzen
Patientenrelevante Effektivität
Level 6Gesellschaftlicher Impact
Nutzen für die Gesellschaft (Kosteneffektivität)
Fryback DG, Thornbury JR.The efficacy of diagnostic imaging.Med Decis Making 1991;11:88‐94
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Gibt es eine spezifische Therapiefür verschiedene
Ursachen Rückenschmerzen?
?spezifischeTherapie
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Eisenberg et al. Addition of choice of complementary therapies to usual carefor acute low back pain: a randomized controlled trial.Spine 2007;32:151‐8.
444 Patienten mit akuten Rückenschmerzen
Gewöhnliche Behandlung
144 Patienten
Wunsch‐behandlung
Chirotherapie Akupunktur Massage296 Patienten
Kein Unterschied
WUNSCHBEHANDLUG
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LeidensdruckSchmerzenAppell
Auftrag zu helfenWunsch zu helfenDruck etwas zu tun
.... UT FIAT ALIQUID
.... das irgendwas geschehe
Wissen Einstellungen Verhalten
Fehlende VertrautheitInformations‐umfang ZeitZugang
Fehlende Kenntnis Informations‐umfang Zeit Zugang
Externe Barrieren Patientenfaktoren Andere Patienten‐präferenzen Leitlinienfaktoren Umgebungs‐faktoren Zeitmangel Organisatorische Widerstände
Nicht einverstandenmit sp. LL Interpretation der Evidenz kein Vertrauen in die LL‐Entwickler
Allgemein nicht einverstanden mit LL Bevormundung EinschränkungTherapiefreiheit
mangelndeErfolgsaussichten
Zweifel an Selbstwirksamkeit
Mangelnde Motivation
Cabana MD et al. Barriers to physician adherence to practice guidelines in relation to behavior change.JAMA 1999;282:1458‐65
WARUM MACHEN ÄRZTE NICHT WAS SIE SOLLEN
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McGuirk et al. Safety, efficacy, and cost effectiveness of evidence‐based guidelinesfor the management of acute low back pain in primary care. Spine 2001;26:2615‐22
Nur akute Kreuzschmerzen Intervention in speziellen Rückenkliniken (n = 430)Kontrollgruppe Hausarztpraxen (n = 83)Deutlich günstiger
EVIDENZBASIERTE VERSUS ÜBLICHE VERSORGUNG
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Haynes et al.Model für evidenzbasierte klinische Entscheidungen. BMJ 2002
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HEXENSCHUSS
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Patient ist unzufrieden und akzeptiert nicht
dass er keine Überweisung zur Bildgebung
Bekommt und geht ohne Überweisung zum Orthopäden.
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• Für häufige Problem ist ein Standardisierung notwendig
• Leitlinien machen Empfehlungen von denen begründet abgewichen werden darf
• Leitlinien sind nur so gut wir die Evidenz dahinter
• Qualitätsmessung ist möglich und wird für Fragestellungenmit digital verfügbaren Daten zunehmen umgesetzt
• Patientenwünsch sind relevant können aber nicht alleiniger Maßstab sein
• Nicht‐medizinische Aspekt spielen bei der Versorgung ein große Rolle
• Einzelfallüberprüfungen sind im Rahmen der Qualitätssicherung nicht sinnvoll
FAZIT