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Ruanda 20 Jahre nach dem Völkermord

Date post: 28-Mar-2016
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In Ruanda leben Täter und Überlebende des Völkermords von 1994 Seite an Seite. Alle erinnern sich an die grausamen Ereignisse. Caritas und ihre lokalen Partner helfen den Dorfbewohnern, sich zu vergeben. In der Reportage erzählen uns Joséphine und Innocent, der Mörder ihrer Verwandten, wie das schier Unmögliche möglich wurde.
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Text: Katja Remane Bilder: Pia Zanetti Zwanzig Jahre nach dem Völkermord an den Tutsis, bei dem innerhalb von 100 Tagen knapp eine Million Menschen massakriert wurde, gibt sich Ruanda als friedlicher, moderner und gut organisierter Staat. Die Hauptstadt Kigali wirkt sehr sauber. Mi- litär und Polizei sorgen für Sicherheit. Die Verbindungsstrassen zwischen den Städten dieses kleinen Landes mit der höchsten Be- völkerungsdichte Afrikas sind in gutem Zu- stand. Der Wiederaufbau der letzten zwan- zig Jahre ist beeindruckend. Sobald man aber die Asphaltstrassen verlässt, kommt man in Dörfer ohne fliessendes Wasser und Strom, wie im Sektor Mutete, wo Caritas die Versöhnung unter den Dorfbewohnern fördert. Unter den 23 931 Einwohnern der Gemeinde befinden sich viele Frauen, die seit dem Völkermord verwitwet oder deren Männer im Gefängnis sind. Die Gebeine von 1039 Genozid-Opfern ruhen in Särgen in der Gedächtnisstätte von Mutete. Die Wunden sind noch immer nicht ver- heilt, Überlebende und Täter leben Seite an Seite. Die ethnischen Differenzierungen wurden durch die Regierung Ruandas aufge- hoben. Tutsis werden heute «Überlebende» genannt, Hutus «die nicht bedroht waren» – obwohl Hutus, die Tutsis versteckten, selbst Gefahr liefen, ermordet zu werden. Zur Ver- urteilung der zahllosen Täter richtete die Regierung zwischen 2001 und 2012 nach dem Vorbild des traditionellen Rechtssys- tems rund 12 000 Gacacas ein. In diesen dörflichen Gerichten wurden vor allem Be- fehlsempfänger verurteilt. Die Verantwort- lichen des Genozids und Vergewaltiger wur- den vor ordentliche ruandische Gerichte oder den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) gestellt, aber einige sind noch immer auf freiem Fuss. Die Opfer um Vergebung bitten «Die Gacacas sollten eigentlich Versöhnung bringen, aber sie brachten auch viel Frust», meint Viateur Rucyahana, Sekretär des Exe- kutivausschusses von ‹Noyau de Paix – Isoko ry’Amahoro›, einer lokalen Friedens- organisation, die mit Caritas Schweiz zu- sammenarbeitet. Viateur war eine Zeitlang Gacaca-Richter. «Es ist schwierig genau ab- zuschätzen, wieviel die Opfer bei Plünderun- STEINIGER WEG ZUM FRIEDEN – RUANDA 20 JAHRE NACH DEM VÖLKERMORD In Ruanda leben Täter und Überlebende des Völkermords von 1994 Seite an Seite. Alle erinnern sich an die grausamen Ereignisse. Caritas und ihre lokalen Partner helfen den Dorfbewohnern, sich zu vergeben. In der Reportage erzählen uns Joséphine und Innocent, der Mörder ihrer Verwandten, wie das schier Unmögliche möglich wurde. «Menschen» 1/14 Caritas 7
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Page 1: Ruanda 20 Jahre nach dem Völkermord

Text: Katja RemaneBilder: Pia Zanetti

Zwanzig Jahre nach dem Völkermord an den Tutsis, bei dem innerhalb von 100 Tagen knapp eine Million Menschen massakriert wurde, gibt sich Ruanda als friedlicher, moderner und gut organisierter Staat. Die Hauptstadt Kigali wirkt sehr sauber. Mi-litär und Polizei sorgen für Sicherheit. Die Verbindungsstrassen zwischen den Städten dieses kleinen Landes mit der höchsten Be-völkerungsdichte Afrikas sind in gutem Zu-stand. Der Wiederaufbau der letzten zwan-zig Jahre ist beeindruckend. Sobald man aber die Asphaltstrassen verlässt, kommt man in Dörfer ohne fliessendes Wasser und Strom, wie im Sektor Mutete, wo Caritas die Versöhnung unter den Dorfbewohnern fördert. Unter den 23 931 Einwohnern der Gemeinde befinden sich viele Frauen, die seit dem Völkermord verwitwet oder deren Männer im Gefängnis sind. Die Gebeine von 1039 Genozid-Opfern ruhen in Särgen in der Gedächtnisstätte von Mutete.

Die Wunden sind noch immer nicht ver-heilt, Überlebende und Täter leben Seite an Seite. Die ethnischen Differenzierungen wurden durch die Regierung Ruandas aufge-hoben. Tutsis werden heute «Überlebende» genannt, Hutus «die nicht bedroht waren» – obwohl Hutus, die Tutsis versteckten, selbst Gefahr liefen, ermordet zu werden. Zur Ver-urteilung der zahllosen Täter richtete die Regierung zwischen 2001 und 2012 nach dem Vorbild des traditionellen Rechtssys-tems rund 12 000 Gacacas ein. In diesen dörflichen Gerichten wurden vor allem Be-fehlsempfänger verurteilt. Die Verantwort-lichen des Genozids und Vergewaltiger wur-den vor ordentliche ruandische Gerichte oder den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) gestellt, aber einige sind noch immer auf freiem Fuss.

Die Opfer um Vergebung bitten«Die Gacacas sollten eigentlich Versöhnung bringen, aber sie brachten auch viel Frust», meint Viateur Rucyahana, Sekretär des Exe - kutivausschusses von ‹Noyau de Paix – Isoko ry’Amahoro›, einer lokalen Friedens-organisation, die mit Caritas Schweiz zu-sammenarbeitet. Viateur war eine Zeitlang Gacaca-Richter. «Es ist schwierig genau ab-zuschätzen, wieviel die Opfer bei Plünderun-

steiniger Weg zum Frieden – ruanda 20 Jahre nach dem VölkermordIn Ruanda leben Täter und Überlebende des Völkermords von 1994 Seite an Seite. Alle erinnern sich an die grausamen Ereignisse. Caritas und ihre lokalen Partner helfen den Dorfbewohnern, sich zu vergeben. In der Reportage erzählen uns Joséphine und Innocent, der Mörder ihrer Verwandten, wie das schier Unmögliche möglich wurde.

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gen verloren haben. Manche wollten mehr zurück, als sie je hatten. Irgendwann mach-ten sie die Versöhnung von Wiedergutma-chungszahlungen abhängig. Viele Frauen, deren Männer im Gefängnis waren, wurden zu Zahlungen verurteilt und sind dadurch in grosse Armut geraten. Wenn einen die Wie-dergutmachungen fast erdrücken, hat die Versöhnung keine Chance.» Diese Feststel-lung ist Grundlage des Versöhnungsansatzes der Friedensorganisation und ihrer Partner. «Wir haben den Leuten erklärt, dass glaub-würdige Aussagen der Täter und Wieder-gutmachungszahlungen zur Versöhnung ge-hören. Dieses Fenster der Vergebung, wo die Täter so viel Zahlungen leisten müssen, dass ihnen und ihren Familien noch genug zum Leben bleibt. Auch Kollektivzahlungen sind möglich», erläutert der frühere Gacaca- Richter Viateur.

«Als ich 1990 heiratete, begann der Be-freiungskrieg, man konnte die Schüsse hören. 1991 war ich mit meinem ersten Kind schwanger. 1992 fing das mit den Spitz-namen an. Sie nannten uns Schlangen, Ka-kerlaken, Komplizen. Dann kam der Krieg nach Byumba. Wir mussten zu meiner Mutter nach Mutete fliehen und konnten nur das Nötigste mitnehmen. 1993 beru-higte sich die Lage, und wir gingen in unser Haus zurück. Inzwischen war ich mit mei-nem zweiten Kind schwanger.

Als der Krieg ausbrach, richtete die RPF (vgl. Kasten Seite 14: Verlauf des Genozids) hier in der Nähe eine Pufferzone ein. Sie (die Hutus) nannten uns Komplizen. Mit dem Tod des Präsidenten (am 6. April 1994) wurde alles sehr kompliziert. Sie bombar-dierten den Markt und begannen mit den Plünderungen. Ich trug mein neun Monate altes Kind auf dem Rücken. Ich ging zu mei-nen Eltern, aber sie waren nicht da. Dann sah ich meinen Vater, der die Kühe hütete. Er sagte mir, dass Leute uns holen wollten, um uns zu töten. Wir haben unsere Sor-ghum-Vorräte geteilt. Dann begegnete ich meinen Schwagern und Schwägerinnen, die fragten: ‹Bist Du immer noch da? Bitte, sag den Leuten bei euch, dass sie eure Kühe schlachten. Morgen werden sie die Leute von Mutete töten.› Als ich zurückkam, traf ich niemanden an, mein Mann war losge-gangen um die Leute zu informieren. Später trafen wir uns zu Hause. Ein Freund meines Vaters kam und sagte, wir sollten sofort flie-hen. Ich sah, dass sie Familien töteten und deren Häuser plünderten. Mein kleiner Bru-der ging los, um das Militär (RPF) zu infor-mieren. Er kam nie zurück. Er war erst 18, als er starb.

Wir sind auf unterschiedlichen Wegen geflohen. Unterwegs traf ich meine Mutter, die eine Last auf dem Kopf trug. Dann einen meiner Brüder und zwei meiner Schwes-

tern. Die eine trug Hühner, die andere zog die Ziegen hinter sich her. Dann kamen Milizengruppen (Hutus) auf uns zu. Ich bekam Angst. Glücklicherweise wurde der Nebel sehr dicht und ich konnte mit mei-nem Kind und zwei meiner jüngeren Brü-der entkommen. Vom Markt her hörte man

Noyau de Paix ist ein Zusammenschluss mehrerer Organisationen der Zivilgesell-schaft zur Förderung von Frieden und Ver- söhnung und wird seit dem Jahr 2000 von Caritas Schweiz unterstützt. Der lokale Partner von Caritas Schweiz in Mutete ist die Kommission Justitia et Pax der Diözese Byumba. Die Kommission organisiert Be-gegnungstage, an denen die Dorfbewohner zusammen singen, tanzen und beten. In Ge-sprächskreisen sprechen Opfer und Täter offen über ihren Konflikt. Dieser offene Austausch gab den Dorfbewohnern erst den nötigen Mut, um Vergebung zu bitten und zu vergeben. In Mutete sind so 5 Versöh-nungsclubs entstanden mit 372 aktiven Mit-gliedern. 234 davon sind Täter oder deren Ehefrauen, 138 Überlebende. Die Clubmit-glieder, also Täter und Überlebende, tref-fen sich regelmässig, um Arbeiten für die

viele Schreie. Wir sind mit den Kindern und einer Notration Essen geflohen. Wir haben in der Nachbarschaft kampiert. In der Ferne sah man Leute mit Macheten. Mein Papa ist dann mit den Kindern weg. Mein Mann hiess mich bleiben. Ich versteckte mich bei meiner Schwiegerfamilie, die nicht verfolgt wurde. Zwei Tage blieb ich im Haus. Ich konnte die Milizen hören, die zu meinem

Mann sagten: ‹Wenn Du uns nicht zeigst, wo sie versteckt sind, töten wir Dich›.

Mein Mann und ein Nachbar haben mich im Wald versteckt. Es regnete in Strö-men. Dann kamen mein Mann und mein Schwager zurück, um mich in die Puffer-zone zu bringen. Wir gingen in ein Haus.

Gemeinschaft zu erledigen und Beiträge in einen gemeinsamen Topf («tontine») zu zah-len. Das so gesparte Geld hilft unter ande-rem den Tätern, ihre Zahlungen zu leisten.

Einer dieser Clubs wird von Joséphine Mukanyindo geleitet. Sie erzählt uns ihre Geschichte, und wie sie Innocent Nyirigira, der ihre Verwandten getötet hat, verzeihen konnte.

Joséphine, Überlebende des VölkermordsJoséphine Mukanyindo, 45 Jahre alt, über-lebte den Völkermord dank ihres Mannes, einem Hutu, und dessen Familie. Heute lebt sie mit ihrem zweiten Mann in Mutete. Sie hat fünf Kinder.

Die Frau hatte Angst, mich aufzunehmen. Deshalb haben sie mich unter dem Tisch, beim Abfall versteckt und mir Brei gegeben. Am Abend schickten sie mich woanders hin. Sie gaben mir eine Tasse und Mehl. Ich bin alleine los, in der Dunkelheit, mit einem Stock, einem Wickelrock und barfuss. Um 5 Uhr morgens erreichte ich die Puffer-zone. Dort traf ich meinen kleinen Bru-der, schlimm verprügelt aber in Sicherheit, und meinen Vater mit meinem ersten Kind. Meine Mutter, zwei meiner Brüder, meine Onkel, meine Tanten und meine Grossmut-ter hatten sie getötet.

Mein Mann kam dann mit unserem jün-geren Kind, dann floh er wieder, aus Angst

«Sie hatten Angst mir zu helfen. Sie haben mich dann unterm Tisch, beim Abfall versteckt und mir Brei gegeben.»

Kigali

MuteteByumba

Burundi

Dem. Rep. Kongo

Uganda

Tanzania

Ruanda in Zahlen

– Hauptstadt: Kigali– Fläche: 26 338 km2

– Einwohnerzahl: 11,2 Millionen, jährliches Bevölkerungswachstum 2,9 Prozent

– Ländliche Bevölkerung: 80 Prozent– Fruchtbarkeitsrate: 5,3 Kinder pro Frau– Lebenserwartung: 55,7 Jahre– Medianalter: 18,7 Jahre– Bevölkerung in extremer Armut:

34,7 Prozent– Parlamentarische Repräsentation:

Frauen: 52 Prozent, Männer: 48 Prozent– Sprachen: Kinyarwanda, Französisch,

Englisch– Zwischenmenschliches Vertrauen:

30 ProzentQuelle: UN-Bericht über die menschliche Entwicklung 2013

Joséphine hat überlebt. Ihr Mann, ein Hutu, hat sie beschützt.

Mutete befindet sich in den ruandischen Hügeln, abseits der asphaltierten Strassen.

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Reportage: Versöhnung in Ruanda

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vor der RPF. Unterwegs hörte er die Nach-barn sagen, dass sie ihn anstelle der Tutsis töten würden, die er versteckt hielt. Deshalb kam er in die Pufferzone zurück. Später starb er an einem natürlichen Tod. All diese Leute, die Freunde meiner Schwiegerfami-lie, die nicht verfolgt wurden, haben mir ge-holfen.

Ich war Gacaca-Richterin einer Zelle (untersten Verwaltungsebene). Viele Leute kamen und baten um Vergebung. Trotz der Gacaca-Ausbildung war das Vergeben nicht leicht. Die Wunden waren noch offen. Aber

mit der Zeit, nachdem wir unsere Leute be-graben hatten ... Sie haben uns das Mas-sengrab mit den Gebeinen gezeigt. Aber die Identifizierung war sehr schwierig.

In unserer Zelle waren wir neun Richter, davon vier Frauen. Wir haben in 162 Fällen geurteilt. Bei uns waren die meisten Verur-teilten Plünderer. Die Täter machten kaum Probleme. Man hatte ihnen mildere Strafen versprochen, wenn sie gestanden. Der Täter Innocent Nyirigira hat meine Mutter und meinen Onkel getötet. Er war Milizenchef. Er war bereit, um Vergebung zu bitten. Es war nicht leicht, ihn vor mir zu haben, aber dank meiner Gacaca-Ausbildung konnte ich sachlich urteilen. Auch beten hat mir ge- holfen. Jetzt bin ich sehr stark und kann die Vergangenheit ertragen.»

Innocent, des Völkermords schuldigInnocent Nyirigira, 48 Jahre alt, war 1994 an den Massakern und Plünderungen be-teiligt. Nach Verbüssen seiner Strafe bat er die Angehörigen der Opfer um Vergebung. Heute lebt er mit seiner Frau und vier Kin-dern in Mutete.

«Ich war 7 Jahre und 8 Monate im Ge-fängnis. Ich weiss, dass ich selbst einer Frau und einen Mann den Todesschlag gegeben habe. Ich schäme mich. Niemand hat mich zum Töten aufgefordert. Ich hörte Schreie und ging zur Gruppe. Ich sah, wie eine Gruppe tötete und plünderte und machte

Bilder links: An so genannten Begegnungs- tagen treffen sich Überlebende und Täter, um gemeinsam der Toten zu gedenken.

«Wir schauten uns an wie Leoparden»

«Ich bin der einzige Überlebende meiner Fa-milie. Als der Völkermord begann, war ich 20 Jahre alt. Wir und unsere Nachbarn schauten uns an wie Leoparden, bereit zum Angriff. Spä-ter, auch dank den Begegnungs tagen, begriff ich, was Vergeben heisst.»Jean Bosco Nteziryayo (links)

«Ich habe mich an den Massakern beteiligt. Im Gefängnis habe ich mich mit meiner Vergan-genheit beschäftigt. Ich schäme mich für alles, was ich getan habe. Ich habe meinen Nach-barn um Vergebung gebeten. Wir haben zu-sammen Sorgho-Bier getrunken, um die Ver-söhnung zu feiern.»Claudien Nteziyaremye (rechts)

«Zu Gott gebetet, damit er ihnen vergibt»

«Ich bin wegen des Genozids Witwe gewor-den. Mein ältester Sohn wurde mit seiner Frau und den vier Kindern umgebracht. Sie haben unser Haus zerstört und unsere Kühe gegessen. Danach ging ich zu meiner Toch-ter – ebenfalls Witwe – und ihren zwei Kindern. Im Gacaca-Prozess erzählte der Täter, wie sie meinen Mann totgeschlagen haben. Jener, der ihm den Todesstoss versetzte, floh nach Kongo. Er wurde von seiner eigenen Mutter verflucht. Der andere kam zu mir, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ich habe zu Gott gebetet, damit er beiden vergibt.»Agnès Nyirabwandiro, geboren etwa 1930

«Es war überhaupt nicht einfach»

«Ich habe meine Eltern, meine Geschwister, meine Tanten und Onkel verloren. Ich bin mit einer älteren und einer jüngeren Schwester zurückgeblieben. Wir haben nicht alle sterb-lichen Überreste gefunden. Gewisse Täter aus dem Versöhnungsclub haben uns um Verge-bung gebeten. Es war überhaupt nicht einfach, zu verzeihen. Unser Club hat Gemeinschafts-felder, wo wir gemeinsam mit den Tätern und ihren Frauen Gemüse anpflanzen.»Chantal Mukaniyonsaba, geboren 1972

«Das Vergeben war nicht leicht. Die Wunden waren noch offen.»

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Reportage: Versöhnung in Ruanda

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Innocent schämt sich für seine Taten. Dass ihm die Opfer verziehen haben, ist eine gewisse Erleichterung.

Patrick Karegeya in Südafrika erfahren haben. Eine der Reaktionen auf diese grundsätzli-che Verunsicherung ist möglicherweise auch das Schweigen, dem man in Ruanda in unter-schiedlichster Form begegnet: das Schweigen auf Geheiss der Regierung, Schweigen um sich konform zu verhalten, Schweigen aus Ver-zweiflung, Schweigen um die Wahrheit zu ver-schleiern, oder Schweigen aus schlechtem Gewissen, wie dies oft der internationalen Ge-meinschaft vorgehalten wird.

Wie steht es um die soziale Chancen-gleichheit?Man hört und liest über ungleichen Zugang zu politischer, wirtschaftlicher, militärischer Macht, zu Bildung oder wirtschaftlichen Res-sourcen in Ruanda. So können etwa die Kinder der Genozid-Opfer dank staatlicher Unterstüt-zung unentgeltlich Schulen und die Universität besuchen, während die meisten anderen sich dies nur schwerlich oder überhaupt nicht leis-ten können. Auch das Wohlstands-Gefälle zwi-schen Stadt und Land ist offensichtlich, wobei hier sowohl die ethnische Minder- als auch die Mehrheit betroffen sind.

Was bringt das Caritas-Projekt den Men-schen in Ruanda?Das Projekt unterstützt die Bevölkerung dabei, gewissermassen einen Puffer zwischen der vergangenen Erfahrung und Anwendung mas-sivster Gewalt und der Gegenwart zu errich-ten. Es gibt den Menschen Instrumente an die Hand, die ihnen helfen, nebeneinander zu leben, sich in die Augen zu schauen, zusam-men zu reden, zu essen, manchmal auch zu tanzen und somit gemeinsam an einem nach-haltigen Frieden zu arbeiten.

einen nachhaltigen Frieden BauenKathrin Wyss ist Programmverantwort-liche für Ruanda bei Caritas Schweiz. Sie erzählt von den riesigen Herausforderun-gen, vor denen das Land steht.

Was trägt Caritas Schweiz in Ruanda zum Versöhnungsprozess bei? Es ist sehr schwierig, auf sozio-politischer Ebene in Ruanda Friedensarbeit zu leisten. Caritas hat sich deshalb entschieden, an der Basis der Gesellschaft anzusetzen, in den Dör-fern, dort wo Täter und Opfer des Genozids un-mittelbar zusammen leben müssen. Wenn hier ein solides Fundament für friedliches Zusam-menleben geschaffen werden kann, stehen die Chancen für einen nachhaltigen Frieden besser. Konkret unterstützt Caritas Schweiz seit 2000 ein Netzwerk von Witwen- und Jugendorgani-sationen sowie kirchlicher und nichtkirchlicher Friedensorganisationen in deren Anstrengun-gen, die Bevölkerung zu einem friedlichen Zu-sammenleben zu befähigen.

Was sind die Risiken und Probleme dabei?Ruanda steht vor vielen und riesigen Heraus-forderungen. Um nur einige zu nennen: eine Geschichte wiederholter interethnischer Ge-walt und eine traumatisierte Bevölkerung, eine oft als einseitig bezeichnete und umstrittene Vergangenheitsaufarbeitung, insbesondere be-treffend den Genozid von 1994, eine höchst autoritäre Regierung, die das Recht auf freie Meinungsäusserung stark beschneidet. Weiter eine kaum gebildete und traditionell autori-tätshörige Gesellschaft, ungleicher Zugang zu Ressourcen, die grösste Bevölkerungsdichte Afrikas bei anhaltend hoher Fruchtbarkeit und knapper werdendem Boden, weitverbreitete Armut, und eine mit Blick auf die ruandische

Regierung oft unkritische internationale Geber-gemeinschaft. Angesichts dieser anhaltenden und sich teils verschärfenden Realitäten befin-det sich die Friedens- und Versöhnungsarbeit vor einem noch langen und steinigen Weg.

Hat die ruandische Bevölkerung unter-schwellig immer noch Groll?Man muss bedenken, dass der Genozid erst 20 Jahre zurück liegt und kein isoliertes Ereig-nis war. Die ungleiche Machtverteilung und Ge-walt zwischen den Ethnien ist eine Konstante der ruandischen Geschichte. Misstrauen und auch Hass prägen deshalb nach wie vor die Beziehungen zwischen den Ethnien, und vor allem auch Angst. Angst von Seiten der Bevöl-kerungsminderheit inmitten einer Mehrheit, die sie physisch eliminieren wollte. Angst, sich in den Augen der Autoritäten zu exponieren, Angst vor falschen Beschuldigungen, Angst vor der Wahrheit … Mehrere Ruander haben mir be-richtet, dass ihnen ein Schauer über den Rü-cken lief, als sie jüngst von der Ermordung des ehemaligen ruandischen Geheimdienstchefs

mit. Ich tötete mit einem Stock und der Ma-chete, und ich plünderte.

1994 bin ich mit meiner Frau und unse-rem Baby nach Kongo geflohen. Dort wur-den wir von der RPF mit Schüssen aus dem Flüchtlingslager vertrieben. Meine Frau und meine zwei Kinder sind 1997 nach Ruanda zurück, ich versteckte mich im Wald. 1999 ging ich auch zurück. Eine Nacht war ich bei meiner Familie, dann wurde ich vorge-laden und inhaftiert. Im Gefängnis konnte man sich mit einem Formular selbst anzei-gen. Gebildete Gefangene haben mir beim Ausfüllen geholfen. Ich kann weder lesen noch schreiben.

Meine Kinder wissen Bescheid. Sie lesen mir die Briefe der Richter vor, denn sie gehen in die Schule. Ich musste ihnen erklären, warum ich im Gefängnis war. Anfangs hat-ten sie Angst vor mir. Sie schämten sich, kri-

minelle Eltern zu haben. Ich rede mit ihnen, erkläre, warum ich das Vieh verkaufe, für das sie Futter holen. Für die Wiedergut-machungszahlungen an die Opfer habe ich zwanzig Hühner, sechs Ziegen, zwei Schafe, zwei Schweine und ein Rind verkauft.

2007 habe ich mich in der Gacaca öf-fentlich angezeigt. Ich wurde für die Zeit nach der Entlassung zu zwei Jahren und zwei Monaten gemeinnützige Arbeit verur-teilt und musste an sechs Familien 400 000

Ruanda-Francs (535 Schweizer Franken) Wiedergutmachung zahlen. 80 000 Ruanda- Francs muss ich jetzt noch aufbringen. Manche Familien haben meine Zahlung auf 25 000 reduziert, andere nicht. Alle Fami-

lien haben mir vergeben, obwohl ich noch nicht alles bezahlt habe. Die Angehörigen der Opfer waren erleichtert, wenn man sich anzeigte und nichts verbarg. Alle sind in Versöhnungsclubs. Der Club hat mir ge-holfen. Er gab mir eine Kuh zum Hüten, und ich durfte ihr Kalb für die Zahlungen behalten. In Mutete findet wirklich Versöh-nung statt.

Es kostet viel Zeit und Kraft, auf die Leute zuzugehen. Ich erreichte die Ange-

«Nach dem Gefängnis hatten meine Kinder Angst vor mir. Sie schämten sich, kriminelle Eltern zu haben.»

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Reportage: Versöhnung in Ruanda

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Bild rechts: In Mutete ist Versöhnung möglich. So wurde Joséphine die Patin der fünfjährigen Yvonne, obwohl ihr Vater Joséphines Verwandte getötet hat.

Verlauf des Genozids

1916 Die Belgier vertreiben die Deutschen aus Ruanda.1922 Ruanda wird eine belgische Kolonie, welche sich auf die traditionell herrschende Tutsi-Minderheit stützt. 1931 Die Kolonialverwaltung hält die ethni-sche Zugehörigkeit in den Ausweispapieren fest. 1956 Der Tutsi-König fordert vor der Uno die Unabhängigkeit Ruandas. Die Kolonialmacht schlägt sich auf die Seite der Hutus. Nach spo-radischen Massakern an Tutsis fliehen Tau-sende in die Nachbarländer. 1961 Die Partei Parmehutu erhält in der Natio- nalversammlung 78 Prozent der Sitze. 1. Juli 1962 Ruanda wird eine unabhängige Republik.60er Jahre Mehrere unkoordinierte bewaff-nete Rückkehrversuche von Tutsis aus dem Exil werden zurückgeschlagen und lösen Mas-saker an den in Ruanda gebliebenen Tutsis aus. Die Medien Ruandas, wie der Rundfunksender «Radio télévision libre des mille collines», sind weitgehend in der Hand von radikalen Hutus und spielen bei der Stigmatisierung der Tutsis und der Durchführung des Genozids eine we-sentliche Rolle. 1. Oktober 1990 Die aus Exil-Ruandern (Tut-sis und oppositionelle Hutus) bestehende Ruandische Patriotische Front (RPF) be-schliesst, die Macht mit Waffengewalt zu er-obern. Als Reaktion entsteht bei den ruandi-schen Behörden der Plan, sämtliche Tutsis des Landes zu eliminieren. Die Besetzung Ruandas

durch RPF-Rebellen ist durch Übergriffe ge-kennzeichnet, mit zahlreichen Opfern auf bei-den Seiten.6. April 1994 Der Ruandische Präsident (ein Hutu) stirbt beim Abschuss seines Flugzeugs.7. April 1994 Beginn des Völkermords durch extremistische Hutus: Innerhalb von 100 Tagen werden knapp eine Million Tutsis und gemäs-sigte Hutus massakriert. 8. April 1994 Wiedereroberungsoffensive der RPF.21. April 1994 Nach der Ermordung von 10 belgischen Blauhelmsoldaten reduziert der Uno-Sicherheitsrat die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Ruanda (Unamir) von 2500 auf 250 Mann. 30. April 1994 Der Uno-Sicherheitsrat verab-schiedet eine Resolution, in der die Massaker verurteilt, aber nicht als Völkermord bezeichnet werden. Die Uno interveniert nicht. 22. Juni 1994 Frankreich startet mit Zustim-mung der Uno die «Opération turquoise». Trotz Einrichtung einer von Frankreich kontrollierten Sicherheitszone gehen auch dort die Massa-ker weiter. 4. Juli 1994 Die RPF kontrolliert die Haupt-stadt. Zwei Wochen später bildet sie eine Re-gierung der nationalen Einheit. Ein Hutu der RPF wird Staatschef. 17. Juli 1994 Ende des Völkermords.Seit Juli 1994 kontrollieren die Tutsis die Re-gierung.Quelle: Wikipedia

hörigen der Opfer über Dritte. Oft flohen sie, wenn sie mich sahen. Joséphine habe ich über einen Freund kontaktiert um ihr zu sagen, dass ich mich schäme. Sie sagte: ‹Komm mal zu uns, ich höre mir an, was du zu sagen hast›. Ich hatte Angst davor, deshalb hat mich ein Freund, Joséphines Cousin, begleitet. Als ich dort ankam, hatte Joséphine erst Angst. Ihr Mann musste sie holen. Ich sagte zu ihr: ‹Ich bitte Sie für meine Verbrechen um Vergebung›. Sie ant-

wortete: ‹Ich bin noch nicht bereit, komm ein andermal wieder›. Das hat mich verletzt, ich hatte gedacht, sie würde mir sofort ver-geben. Am nächsten Tag traf ich den Mann von Joséphine, der mir sagte, ich solle wie-derkommen, er würde sie vorbereiten. Nach drei Tagen ging ich wieder hin. Ich bat sie um Vergebung. Erst war sie voller Vorbehalte, aber ihre Kinder haben sie überzeugt, und nach einer gewissen Zeit vergab sie mir. Ich fühlte mich erleichtert, wie befreit. Wir sind dann zum Markt gegangen, um gemein-sam etwas zu trinken und die Versöhnung zu feiern. Jetzt besuchen sich unsere Fami-lien gegenseitig. Ich habe sie gefragt, ob sie die Patin von unserem jüngsten Kind sein möchte, und sie hat ohne zu zögern ja ge-sagt. <

■ www.caritas.ch/menschenrechte/ruanda

«Ich fühlte mich erleichtert, nachdem man mir vergeben hatte.»

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Reportage: Versöhnung in Ruanda


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