1.
Beim ersten schmetternden Ton fuhr ich hoch und sah
mich mit blinzelnden Augen um. Augenblicklich
erkannte ich, wo ich mich befand. Ich war in Merlane,
in der geheimnisvollen Stadt aus Ruinen. Ich atmete
ein und aus; durch die dünnen Vorhänge drang
gleichzeitig mit dem Tageslicht dieses Geräusch herein.
Es war eine ausgewogene Kadenz, von hell
klirrenden Fanfaren geblasen.
Neben mir bewegte sich das liebreizende und
liebeshungrige Fräulein Honigvogel. Ihr weißblondes
Haar lag ausgebreitet wie ein dünnes Tuch auf den
Decken und Fellen des Lagers. Verlockend schimmerte
ihre weiße Haut.
Honigvogel schlug die Augen auf und flüsterte:
»Heute ist der erste Tag, Dragon! Der erste Tag von
sieben großen Tagen! Du wirst alles erfahren. Alle
deine Fragen, Schwarzer Falke, werden beantwortet
werden.«
Sie glitt vom Lager herunter, schlüpfte in ihre
hauchdünnen Kleider und sah mich lächelnd an.
»Ich werde dir an diesen sieben Tagen helfen! Alles,
was ich tun kann, werde ich gern tun!«
Ich nickte und gab zurück:
»Bis jetzt weiß ich noch gar nicht, was das alles soll.
Warum ertönen die Fanfaren?«
Honigvogel ging langsam auf das Portal zu, durch
das sie vor einer halben Nacht still hereingekommen
war. Sie drehte sich halb herum und sagte über die
Schulter:
»Diese Tür führt in den Baderaum, Herr Schwarzer
Falke. Komm hinunter in die Halle. Dort werden wir
auf dich warten.«
Ich nickte und sah zu, wie sich hinter ihr die
schweren Vorhänge bewegten. Dann stand ich auf,
ging zum Fenster und schob den Stoff zur Seite. Schräg
über mir, genau vor der aufgehenden Sonne, sah ich
eine Gruppe von Männern, die in funkelnde Rüstungen
gekleidet waren. Sie hielten lange, schlanke Fanfaren in
den Händen.
Zum erstenmal sah ich die Ruinenlandschaft richtig.
Es war dunkel gewesen, als mich gestern der
unbekannte Reiter abgeholt hatte. Nun erkannte ich
viele grüne Flächen, die augenscheinlich gepflegt
wurden. Bäume wuchsen im Boden und auf den
grünen Absätzen und manchmal auch auf den Dächern
der Ruinen. Ein ausgedehntes Gelände fiel in einigen
Absätzen nach Westen ab. Ich konnte viele breite Wege
erkennen, aber keine einzige Straße, die hier durch den
freien Raum führte. Überall waren Säulen und
heruntergefallene Teile von Säulen und steinernen
Dächern. Die Ruinen selbst waren eine Mischung aus
Verfall und Pflege, aus den Zeichen einstiger Größe
und Pracht und dem Versuch, sie bewohnbar zu halten.
Auf dem Rasen sah ich zylindrische Ringe aus hellem
Stein, die wie Brunnenfassungen wirkten.
Aus dem Augenwinkel stellte ich eine Bewegung
fest.
Gleichzeitig hoben die etwa zehn Männer ihre
Instrumente wieder an die Münder. Brustkörbe hoben
sich, die Kettenhemden und die Metallplatten der
Rüstung bewegten sich und blitzten in der Sonne.
Sogleich durchschnitten wieder diese hellen,
eindringlichen Klänge der Fanfaren die Morgenstille.
Einige Vögel flogen auf und flatterten zwischen den
Mauern hin und her. Dann ertönte eine mächtige, volle
Stimme.
»Hört den Ruf, ihr alle, die ihr in diesen Mauern
schlaft und wacht! Hört den ersten Ruf! Die sieben
Tage sind angebrochen!«
Welche sieben Tage? fragte ich mich.
Die Bläser setzten die Fanfaren wieder ab. Die
Stimme verhallte. Eine Pause trat ein. Langsam breitete
sich eine Ungewisse Spannung in mir aus. Ich befand
mich noch immer vor dem verschlossenen Tor einer
ganzen Reihe von Geheimnissen, die zwischen mir und
der Rückkehr in meine vertraute Welt standen.
Je mehr ich von der merkwürdigen und bizarren
Szenerie dort draußen sah und deuten konnte, desto
mehr fühlte ich mich mitten in die Welt einer alten
Sage aus längst vergessenen Zeiten geschleudert und
dort hilflos ausgesetzt. Ich wandelte noch immer auf
den Spuren des Träumers; noch immer trug ich sein
Juwel in der Stirn.
Ich schlug zwei weitere Vorhänge zur Seite und ging
dann durch die leichte Tür in den Baderaum. Ich
reinigte mich und zog mich an. Auch meine alte
Kleidung befand sich hier, und ich wählte eine
Kombination beider Kleidungsarten. Dann lief ich
zurück ins riesige Zimmer – das sich im hellen Licht als
weit größer und höher erwies als gestern nacht – und
schnallte das Gehänge mit dem Schwert um. Als ich
mich umwandte, schrien draußen wieder die
Blasinstrumente auf. Ich blieb stehen und lauschte.
Die Stimme kam dieses Mal aus einer anderen
Richtung und war noch lauter.
»Die sechste Stunde brach an, ihr alle! Hört, ihr
rüstigen Mannen! Hört zu und wisset also: Die Zeit des
Großen Turniers hat begonnen. Heute ist der erste Tag!
Das Große Turnier, das Fest des Kampfes zu Erthus
Ehre, beginnt heute!«
Dieser Begriff ließ mich zusammenfahren. Erthu! Ich
suchte Erthu!
Schnell begann ich zu überlegen. Das konnte die
einzige und beste Möglichkeit sein, den ersten Geist
dieser Welt zu finden und ihn zu bewegen, sich wieder
unter die Herrschaft Vestas zu beugen.
Eines war klar:
Das siebentägige Turnier – ich vermutete sicher
nicht unrichtig, wenn ich es mir als eine Art
Ausscheidungskampf vorstellte – wurde zu Ehren des
Geistes der Erde abgehalten. Ob Erthu selbst etwas
damit zu tun hatte ... ich würde es herausfinden. Und
zwar hier in Merlane!
»Hört, ihr rüstigen Streiter! Alle Männer, die gewillt
sind und sich fähig und stark fühlen, sollen sich vom
Lager erheben! Kämpfer für Erthus Ehre, gürtet und
schmückt euch!«
Mein Problem lag nicht so sehr darin, daß ich einer
dieser streitbaren Mannen sein würde, sondern es war
anders. Für mich, einen aus den goldenen Jahren
Atlantis hierher Verschlagenen, sagte der Begriff »Geist
der Erde« wenig aus.
Ich glaubte zu wissen, daß es keine Geister in
diesem Sinn gab. Alles war letzten Endes, wenn auch
schwierig, erklärbar. Aber ich begann zu ahnen, daß
ich auf meiner Suche nach dem Weltentor in einen
Zwiespalt zwischen Wunderglauben und Vernunft
geraten konnte. Das war der eigentliche Grund meiner
Unruhe, die sich immer mehr steigerte.
Ich ging hinaus in den Korridor. Ich wußte genau,
wie ich hinunter in die große Halle kam und nahm den
gleichen Weg, den man mich gestern nacht herauf
geführt hatte.
»Willkommen! Ich hoffe, du hast gut geschlafen und
auch tief, Herr Schwarzer Falke!« dröhnte die Stimme
von Roter Bär auf. Er stand hinter einem überreich
beladenen Tisch, der genau im Mittelpunkt der jetzt
leeren Halle stand. Die Öffnungen der Fenster waren
mit diesem gelblichbraunen, dünnen Stoff verhüllt. Es
drang genügend Helligkeit, aber kein einziger
Sonnenstrahl in den Raum. Neben dem Herrn dieses
Hauses saß, anmutig lächelnd und an einem Stück
Braten kauend, Fräulein Honigvogel.
»Sicher, Herr Roter Bär!« erwiderte ich, schüttelte
die dargebotene Hand und setzte mich ihm gegenüber.
»Ich wäre jedoch ausgeschlafener, wenn ich auf
hundert ernsthafte Fragen hundert gute Antworten
bekommen hätte.«
Er lachte und schlug mit der flachen Hand auf die
Tischplatte, so daß die Teller und Becher sprangen.
»Heute darfst du alles fragen. Und alle oder fast alle
Fragen werden beantwortet.«
Von draußen hörte ich die machtvolle Stimme des
wandernden Herolds.
»Gürtet und waffnet euch, edle Kämpfer zur Ehre
und zum Ruhm Erthus, des Erdgeistes und
Schutzherrn dieser prächtigen Stadt. Und seid nicht
müßig! Findet euch in der achten Stunde ein, auf dem
Platz des Handels!«
Ich häufte Braten, Früchte und Scheiben seltsamer,
aber wohlriechender Früchte auf meinen Teller und
sagte:
»Ich bin von euch allen sehr herzlich aufgenommen
worden. Der Willkomm war einmalig. Dafür danke ich
euch sehr, und ich weiß diese Freude zu würdigen.
Aber ich fragte nach dem Sitz Erthus, nach der
Geschichte der Ritter von Merlane und über die
Bräuche eures Lebens.«
Während ich aß, berichtete mir Roter Bär – der
übrigens der Vater von Singvogel war –, daß diese
große Stadt eine lange Geschichte hatte.
Merlane war in der Zeit vor dem Chaos, das der
verfluchte Namenlose verschuldet hatte, eine blühende
Metropole des Handels. Sie war die Drehscheibe
zwischen den langen Ufern zweier Meere, zwischen
kleinen Wüsten und ausgedehnten Wäldern. Sie war
förmlich überladen mit Reichtum. Achtzigtausend
Menschen, die Sklaven und die durchziehenden
Karawanen eingerechnet, wohnten hier. Riesige Felder
und Wälder umgaben die Stadt auf dem flachen Hügel.
Für jeden, der arbeitete und fleißig war, breitete sich
der Reichtum und das Ansehen aus. Die Stadt lebte,
wurde größer und prächtiger und stand kurz vor der
Vollendung als kleiner Staat, als die Elementargeister
freikamen.
Das Land ringsum verödete.
Das letzte Wasser in den Kanälen verdunstete. Es
regnete seltener und immer weniger.
Viel zu schnell wurde aus dem riesigen grünen
Gürtel um Merlane gelbe, heiße, flirrende Wüste. Selbst
die Karawanen gingen nach kurzer Zeit andere Wege.
Jeglicher Verkehr erstarb auf den Handelsstraßen.
Jeder, der sich eine Möglichkeit ausrechnete, an
anderer Stelle überleben zu können, verließ mit seiner
Habe die Stadt.
Das weißhäutige und bartlose Gesicht des
wuchtigen Mannes vor mir war sehr ernst, als er sagte:
»Ungefähr achtmal tausend Menschen blieben hier.
Dann kam Erthu und nahm seinen Sitz in den Höhlen
und Kavernen unter der Stadt.
Das waren unsere Vorfahren. Übrigens leben auch
heute nicht viel mehr Menschen hier.«
Ich beendete mein Essen mit einem Schluck
wasserverdünnten Wein und lehnte mich zurück.
»Und warum haltet ihr dieses Turnier ab?«
»Wir ermitteln den Jahreskönig!«
»Ich verstehe. Erzähle mir etwas über das ›Große
Turnier‹, bitte!«
Roter Bär war ungeachtet des phantastischen
Aufzugs und der nicht weniger rätselhaften und
übertriebenen Umgebung ein starker, ruhiger Mann.
Wenn er redete, so sprach er mit einer natürlichen
Autorität. Seine Gestik war sparsam, aber sehr
überzeugend. Er schien gutes Essen, Prunk und Musik
zu lieben. Eigentlich fügten er und seinesgleichen sich
sehr gut in diese unwirkliche Kulisse aus Säulen und
Quadern, aus Bäumen und wehenden Stoffbahnen ein.
»Ich bin Jahreskönig. Also bin ich auch der Leiter
dieser siebentägigen Turniere. In ihnen wird der neue
Jahreskönig ermittelt. Er ist einer der Auserwählten,
denen Erthu begegnen wird!«
Ich murmelte überrascht:
»Ist das sicher?« Erthu wird einigen Siegern der
Turniere begegnen?«
»Er ist auch mir begegnet«, erwiderte Roter Bär
ruhig. »Und du bist eingeladen, an den Turnieren
teilzunehmen. Eine Stunde Kampf am Tag, und neun
Stunden Ruhe. Und dazwischen Gastmähler, Musik,
Speise und Trank. Du kannst sogar Jahreskönig
werden, Herr Schwarzer Falke!«
»Das liegt mir fern«, sagte ich. »Aber es ist mein
erklärtes Ziel, Erthu zu finden.«
»Das sagtest du schon, bevor wir den ersten Becher
miteinander geleert hatten«, versicherte Roter Bär.
Honigvogel saß schweigend neben ihm und sah uns
abwechselnd ins Gesicht.
»Einmal im Jahr«, erklärte Roter Bär weiter, »und du
bist gerade am letzten Abend vor Anbruch der sieben
Tage angekommen, begehen wir feierlich und unter
Beachtung aller Regeln und Gebote das große Turnier.
Alle Männer von Ehre, Stand und Kraft kämpfen
miteinander und gegeneinander. Auch gibt es natürlich
Verletzte und bisweilen auch Tote. Die Toten gehen
ehrenvoll in Erthu ein. Wir versenken sie in die
Höhlen, die in die Welt Erthus führen.«
Ich war ausgeruht und fühlte mich ausgezeichnet in
Form. Wie ein schlechter Traum lagen die Erlebnisse in
der Oase der Sklavenjäger hinter mir. Nach allem, was
ich gesehen und erlebt hatte, und nach den
Erzählungen des Mannes vor mir ...
Ich hatte wohl keine andere Wahl. Ich beugte mich
vor, noch immer das Schmettern der Fanfaren und die
Rufe der Herolde in den Ohren, und fragte mit großer
Spannung:
»Ich bin der Erbe des Träumers. Ich trage, wie du
siehst, das Auge Vestas an meiner Stirn. Mein Ziel ist
es, all das ungeschehen zu machen, was der Namenlose
angerichtet hat. Ich muß also Erthu treffen oder mit
ihm reden. Ich frage dich, Herr Roter Bär, gibt es einen
anderen Weg, Erthu zu finden, als über die Turniere?«
Er schüttelte seinen kantigen Schädel und erwiderte
dann:
»Nein, Herr Schwarzer Falke. Meri-Meri hier, meine
zauberhafte Tochter, wird es dir bestätigen. Es gibt
keinen anderen Weg. Nur ein würdiger und guter
Kämpfer, der neben der Kraft des Körpers auch im
hohen Maß die Klugheit und Schnelligkeit des
Verstandes besitzt, kann das Angesicht Erthus sehen!«
Das war eine deutliche und klare Antwort. Ich goß
noch einen Schluck Wein in den Pokal und stand auf.
»Der Platz des Handels – es ist die Mitte der Stadt?
Ich glaube, ich habe ihn gestern kurz gesehen, als die
Sonne unterging.«
»Kaum möglich, Herr Falke! Der Platz des Handels
ist eine lange Geschichte. Er liegt in der Mitte der Stadt
und er war einst der Ort, an dem die Karawanen
zusammentrafen und Handel getrieben wurde, aber
wir nennen ihn während des Großen Turniers den
Platz der Erwählten!«
»Also«, sagte ich und stand auf, »ich werde, wenn
du als der Leiter der Turniere es gestattest, an diesen
Ausscheidungen teilnehmen!«
»Von einem Mann wie dir, Herr Dragon und
Schwarzer Falke, habe ich nichts anderes erwartet!«
erwiderte Roter Bär dröhnend und schlug mir auf die
rechte Schulter. »Du kannst wählen unter allen
Ausrüstungen und Waffen dieses Hauses. Du kannst
auch in den Ställen wählen. Benutze die besten und
stärksten Sarths.«
»So nennt ihr die hellen Reittiere ?«
»Erraten!«
Herr Roter Bär, Jahreskönig und Leiter der Turniere,
deutete auf Honigvogel, deren Gesicht eine zarte Röte
überzog.
»Honigvogel wird dir alles zeigen, wird dich
begleiten, wird deine Wunden verbinden und dein
Haar streicheln, wenn du aus den Kämpfen
zurückkommst. Natürlich weißt du, daß sich das
Turnier in sieben Stufen steigert?«
»Das dachte ich mir, Jahreskönig!« erwiderte ich.
Wir verließen die Halle. Zusammen mit Honigvogel
und Roter Bär machte ich einen Rundgang durch die
Waffenkammern und durch die Ställe. Dabei merkte
ich, daß es zwei Arten von Sarths gab. Reittiere für den
normalen Gebrauch, von denen ich gestern eines
kennengelernt hatte. Und dann sah ich mächtige Tiere
mit wuchtigen Muskeln und Hornplatten,
Knochenschilden und furchterregenden Gebissen, mit
wild rollenden Augen und starken Hälsen. Mit diesen
Tieren, erklärte Honigvogel, würden die Turniere
durchgeführt.
Ich begann mich auszurüsten, nachdem wir darüber
gesprochen hatten, welche Art von Ausscheidungen
oder Kämpfen heute stattfinden würde. Roter Bär
sprach von etwa einem halben Tausend kräftiger und
schneller Männer, die sich zu dem Turnier melden
würden.
Gerade zu der Zeit, als die Sonne zu brennen
begann, etwa um die achte Stunde des Tages, verließen
wir den Palast des Jahreskönigs.
Es mußten alle Einwohner der Stadt sein, die sich, aus
Seitengassen kommend und aus allen nur denkbaren
Eingängen, über Treppen herunter, aus Gärten und
ehemals prunkvollen Höfen schreitend, auf der breiten
Straße versammelten. Auch diese Prunkallee wurde
noch von Wasserleitungen oder unsichtbaren Kanälen
erreicht und von der geschrumpften Einwohnerschaft
vom Sand befreit.
Vier Reihen uralter Bäume und breite Streifen aus
wunderbar saftigem Rasen und dicken Büschen voller
Früchte führten geradeaus.
Überall gab es Gruppen und Einzelpersonen, die
nach Süden gingen, der Mitte der Stadt zu. Zwischen
ihnen bewegten sich mit straff angezogenen Zügeln die
Reiter in voller Rüstung. Meist führten Mädchen die
Tiere oder gingen daneben her. Zwischen unseren
beiden Tieren – es waren riesige, fast weiße
Kampf-Sarths – ging Honigvogel.
Ich hob das Visier eines schweren Helmes, der in
meinen Nacken drückte und mir den Schweiß ins
Gesicht trieb, dann rief ich leise hinüber zu Roter Bär:
»Fürwahr! Ein feierlicher Zug!«
Der Jahreskönig, der eine riesige Lanze in der Hand
hielt, nickte kurz. Von der Lanze hing schlaff ein langer
Wimpel herunter, der hinter dem Reittier auf dem
Boden schleifte. Der Stoff war leuchtend rot, eine Farbe,
die in den Augen schmerzte, wenn das Sonnenlicht
darauffiel.
»Ich weiß, daß jeder, der noch gehen kann, jetzt auf
dieser Straße ist!« sagte der Turnierleiter.
Licht und Hitze nahmen zu. Immer mehr Personen
erschienen, immer mehr Reiter. Aus diesem Zug wurde
im Lauf von fünfhundert Mannslängen Strecke ein
Bild, das seinesgleichen suchte. Farben und Metalle
leuchteten auf. Stimmen erklangen, Gelächter schwebte
zwischen den vielfarbigen Säulen hin und her. Noch
gingen die Tiere ruhig und etwas träge unter den
hochlehnigen Sätteln mit den breiten ledernen Gurten,
aber die Unruhe, die in allen Gesichtern geschrieben
stand, übertrug sich auch auf die Sarths.
Der feierliche Zug bewegte sich auf den Platz des
Handels zu. Herr Roter Bär hatte mir gesagt, daß er
bereits zum drittenmal Jahreskönig war. Wir erreichten
jetzt, unter der Rüstung und der schweren,
zeremoniellen Kleidung schwitzend und dampfend,
eine Stelle, an der sich in mehreren Reihen die Reiter
versammelt hatten. Roter Bär nickte Honigvogel zu,
grüßte mich kurz und sagte:
»Vorsichtig! Ich muß den Zug anführen!«
Er setzte sich zurück, faßte mit der Linken die Lanze
und mit der Rechten in die Zügel. Dann setzte er die
Sporen ein, riß das Sarth hoch. Das Tier brach in einen
markerschütternden Schrei aus. Alle Köpfe wandten
sich in unsere Richtung. Roter Bär sprengte durch die
breite Gasse und blieb weit vorn stehen. Er schwenkte
die schwere Zeremonienlanze, als wäre sie eine dürre
Holzstange. Dann schrie er donnernd:
»Folgt mir, edle Streiter um Erthus Ehre! Steigt von
den Tieren und folgt mit wie jedes Jahr in den
geheiligten Sand des Turnierplatzes!«
Ein ungeheurer Jubel erscholl. Die Menschen schrien
und schlugen in die Hände. Die Sarths kreischten auf.
Die Ritter donnerten mit den Waffen an die Schilde. Es
war ein höllischer Spektakel.
Wieder erhob Roter Bär seine Stimme und rief:
»Nach einer rituellen Reinigung im Sand der Arena,
der uns jetzt sieben Tage lang sehen wird, beginnen die
Kämpfe des ersten Tages.«
Die Männer stießen wieder in ihre Fanfaren und
schmetterten lange Tonfolgen. Ich sah, daß die ersten
Ritter von den Tieren kletterten und schwang mein
Bein über den Sattel. Das Tier, seinen neuen Reiter
nicht gewohnt, scheute. Es stand heute, das sagte mir
Honigvogel jetzt, noch unter der einschläfernden
Wirkung eines weißen Pilzes. Morgen aber würde
diese Wirkung verflogen sein. Ich schüttelte mich, als
ich auf dem Boden aus leuchtendem Mosaik stand und
auf die anderen Ritter zuging, die sich jetzt in Reihen
zu je zehn formierten.
Langsam setzte sich ein zweiter, kleinerer Zug zu
Fuß in Bewegung. Es waren etwa fünfzig Reihen zu je
zehn Männern, die hinter dem tänzelnden Sarth des
Jahreskönigs dahinschritten. Wir näherten uns durch
eine Art Hohlweg aus farbigen Platten, der hier mitten
in der Straße begann, der Arena. Endlich stand Roter
Bär in der Mitte des großen Platzes.
Eine kreisrunde Sandfläche war von einer
mannshohen Mauer umschlossen, deren Krone voller
Lücken war. Der Durchmesser dieser sandigen Arena
betrug kaum weniger als dreihundert Mannslängen.
Die Mauer war durch mehrere breite Tore, Eingänge
und Treppen unterbrochen, die nach allen Seiten und
nach oben führten. Ich konnte mir sehr gut vorstellen,
daß es hier früher einmal von Leben geradezu
gewimmelt hatte. In konzentrischen Ringen waren dort
verschiedene Ebenen zu sehen, von denen aus man
einen großen Überblick
hatte.
Viele tausend Menschen verteilten sich auf die
Ränge und sahen uns zu. Das Lärmen hatte
nachgelassen, aber noch immer hörten wir das
Murmeln unzählbarer Unterhaltungen.
Wieder ließ Roter Bär sein Reittier hochsteigen,
schwenkte den langen Wimpel und rief:
»Entledigt euch der Waffen und der Kleider, tapfere
Streiter in Erthu! Und badet den Körper im Sand der
Arena!«
Wir gehorchten. Mäntel flogen in den Sand,
Rüstungsteile hinterher, Schilde und Waffen. Ich sah
zu, was die Männer trieben. Ihre weißhäutigen Körper
wurden bis zum Gürtel entblößt, dann fielen etwa
fünfhundert Männer in den Sand, knieten nieder und
schütteten sich langsam und feierlich, in einer Reihe
traditioneller Bewegungen, Hände voller Sand über
Nacken und Rücken. Ich ahmte es ihnen nach und
stand auf, als die meisten von ihnen aufstanden.
Die Zeremonie war beendet, auch Roter Bär
schüttelte den letzten Sand aus dem Haar.
Die Sonne brannte heiß auf meine Schultern, aber
ich war es gewohnt. Diese bleichhäutigen Männer,
deren eigentliches Lebenselement das Innere von
Häusern und die Dunkelheit war, mußten unerhört
leiden.
»Wie jedes Jahr beginnen die Turniere mit der
leichtesten Übung. Der lange, schwierige Lauf. Er
beginnt hier, führt um die Stadt und endet wieder hier.
Es ist die Aufgabe, auf alle Fälle sechsundneunzig
Männer zu finden. Sie nennen sich dann, wenn sie das
Ziel erreicht haben, die Ritter der Wüste. Stellt euch
auf, meine Freunde! Holt Atem, rüstige Mannen.«
Ich runzelte die Stirn. Ich kannte den Weg nicht,
aber die anderen Männer, die in schweigender
Konzentration verharrten und meist nicht mehr trugen
als Gürtel, Hosen und Stiefel, zeigten es mir abermals.
Sie bildeten mehrere Staffeln, die sich mit dem
Gesicht zu der breitesten Treppe aufstellten.
Sicherlich war der lange Weg, der Schwierige Lauf,
irgendwie gekennzeichnet. Es schien eine Übung zu
sein, in der Schnelligkeit und Ausdauer ermittelt
wurden. Flüchtig zählte ich noch einmal. Es waren
rund fünfhundert Männer einer bestimmten, nicht zu
fortgeschrittenen Altersstufe.
War ich ihnen überlegen?
Ich mußte es einfach sein! Ich mußte einer der
sechsundneunzig Ritter der Wüste sein. Jeden Tag
würde sich die Anzahl der Träger eines bestimmten
zeremoniellen Begriffs verringern, bis am Schluß nur
noch ein Sieger übrigblieb.
»Wir bilden zehn Gruppen!« rief Roter Bär. »Die
erste Gruppe beginnt, wenn ich das Signal gebe!«
Schnell zählten wir untereinander ab. Es erwies sich,
daß es fünfhundertzwanzig Männer waren.
Zweiundfünfzig stellten sich in einer Reihe auf. Dann
ließ Roter Bär einen Schrei hören, senkte die Standarte
– und die Männer rannten los.
Ich befand mich in der letzten Phalanx.
Ich rechnete damit, daß sich diese riesige Menge von
Läufern derart auseinanderziehen würde, daß ich, der
die Regeln nicht kannte, eine Chance hatte. Ich mußte
mich richtig verhalten und gewinnen.
Nach einer Wartezeit, die nicht nur mir sehr lange
vorkam, setzte sich schwitzend die letzte Phalanx in
Bewegung. Ich rannte ganz links außen.
Und jetzt folgte ein mörderischer Lauf.
Eine dünne Reihe von Zuschauern säumte den Weg.
Er führte die Stufen hinauf, über die verschiedenen
Ringe der Ebenen, zwischen zwei Säulenreihen
hindurch und in einen der verlassenen Teile der Stadt.
Schon nach fünfhundert Schritten fielen die ersten
meiner Gruppe zurück; ältere Männer und solche, die
zu gut gelebt hatten. Ich lief langsam und gleichmäßig
und ahnte, daß ich den Lauf in der stechenden Sonne
weit besser überstehen würde als alle anderen.
Tausend Mannslängen ging es im Zickzack zwischen
Ruinen, sich schlängelnden Straßen, über mächtige
Trümmer und durch verwilderte Gärten. Es war nicht
einfach ein Lauf, sondern ein Rennen, das von jedem
das Äußerste forderte. Wir mußten laufen und
springen, über Hürden setzen, durch Gebüsch kriechen
und uns unter schweren, durchhängenden Steinplatten
hindurchschlängeln.
Ich gab es auf, diejenigen zu zählen, die ich
überholte oder die keuchend und mit hochrotem
Gesicht und blauen Lippen neben der Bahn saßen oder
von Verwandten oder Helfern weggeschleppt wurden.
Langsam lief ich weiter.
Eine Stunde später hatten wir die letzten, im Sand
versunkenen Gebäude der Stadt hinter uns gelassen.
Wir befanden uns in der Wüste. Jetzt gab es nur wenige
Zuschauer, es waren meist Reiter oder junge Leute, die
ihre Favoriten anfeuerten. Immer wieder kam ich an
einem vorbei, der keuchend und gurgelnd im Sand lag
oder an einem Mann, der taumelnd vor mir lief und die
gesamte Breite der ausgetretenen Spur brauchte.
Der Sand verwandelte sich auf den nächsten
tausend Mannslängen in schleimigen und zähen Sirup.
Die Füße wurden schwer, vor den Augen flimmerte es,
gnadenlos hämmerte die Sonne herunter. Mein
gesamter Rachen war ausgedörrt. Meine Lippen rissen
auf, die keuchenden und rasselnden Lungen arbeiteten
wie Blasebälge. Ich lief wie ein Automat weiter.
Es ging hinunter in eine Senke. Sie war mit den
brockig zusammengebackenen Resten einer
Schlammschicht angefüllt. Der Boden wirkte wie ein
zertrümmertes Mosaik. In diesem glühenden Boden,
dessen Rückstrahlung in den Augen höllische
Schmerzen hervorrief, standen unzählige Steine mit
rauher Oberfläche, so groß wie zwei Männer. Ein
Labyrinth. Ich sprang über einen Mann, der mitten im
Hang zusammenbrach und begann einen wilden
Zickzacklauf durch die Steine. Rechts, geradeaus, links,
die Schulter schrammte entlang der Oberfläche,
verbrannte Haut schmerzte, als Schweißtropfen in die
kleinen Schnitte und Risse sickerten. Es schien endlos
so weiterzugehen, aber es war wohl eine Täuschung.
Endlich kämpfte ich mich den jenseitigen Hang
wieder hinauf und rannte und stolperte weiter.
Wieder näherte sich der Weg der Stadt, aber
inzwischen mußten wir mehr als die Hälfte
überwunden haben. Die Sonne stand genau über uns,
und nicht einmal der Anblick eines langen Schattens
lenkte von diesem wahnsinnigen Rennen ab.
Ich glaubte, wahnsinnig geworden zu sein, als ich
einen langen Hang hinunterrannte und einen runden
See mit Schilf, Bäumen und einigen kleinen Nachen
darauf vor mir sah. Dann aber erkannte ich, daß es
keine Täuschung war, denn am gegenüberliegenden
Ufer standen winkende Menschen. Außerdem
schwammen einige Männer im Wasser.
Ich verzog mein schweißüberströmtes, heißes
Gesicht zu einer Grimasse des Lachens, dann sprang
ich los und hechtete ins Wasser.
Es war eine Erlösung.
Langsam schwamm ich geradeaus. Ich überholte nur
einen jungen Mann, der sichtlich um Atem rang. Aber
vermutlich war mein Keuchen nicht eben leiser. Ich
trank Wasser in kleinen Schlucken und fühlte den
kühlen, weichen Kontakt der Flüssigkeit auf meiner
Haut und in den Stiefeln. Langsam beruhigte ich mich,
langsam kam ich wieder zu Kräften, die Benommenheit
wich.
Und schon hatte ich wieder Grund unter den Füßen,
nahm einen letzten Schluck und kroch hinaus auf das
Ufer. Einige Männer lagen dort und wurden gerade auf
Reittiere gehoben.
Weiter ...
Die ersten tausend Mannslängen, jetzt wieder in
größerer Nähe der Stadt, waren verhältnismäßig leicht.
Während das Wasser von der Haut verdunstete und
auch der Stoff und das Haar trocken wurden, lief ich
ein wenig schneller und überholte mindestens zwanzig
Männer. Dann fiel ich wieder in den kräftesparenden
Trab zurück und sah endlich, daß der Weg wieder in
die Spur mündete, die wir gelaufen waren. Jetzt lag
also abermals dieser Hindernislauf vor uns.
Wieder in langen Sätzen über große Quadern, in
deren Zwischenräumen Büsche und Dornen wuchsen.
Einmal fiel ich und riß mir die Haut am ganzen Körper
auf.
Dann durch Tunnels aus Steinen, durch kratzende
Zweige und auf einen kleinen Platz. Hier zweigte die
Spur des Rennens wieder ab.
»Halt!«
Einige junge Männer sprangen in meinen Weg. Sie
trugen kurze Wurfspeere und reichten sie mir. Ich
begriff, als ich der Richtung folgte, in die ihre
ausgestreckten Arme deuteten.
In fünfundzwanzig Mannslängen Entfernung waren
fünf Scheiben aufgestellt. Sie sahen aus wie Krieger mit
runden, farbigen Schilden.
»Ich verstehe!« sagte ich. »Gibt es eine bestimmte
Reihenfolge?«
»Nein. Wirf einfach! Der Schild ist das Ziel!«
Ich wischte meine Handfläche an der Hose ab, faßte
das erste Ziel ins Auge und griff nach dem ersten
Speer. Dabei merkte ich, daß ein blauer Ring in den
Schaft eingelassen war. Ich holte aus und visierte die
blaue Scheibe an. Blitzschnell erinnerte ich mich an
alles, was ich von Partho gelernt hatte. Mein Arm, mein
ganzer Körper schnellten sich nach vorn, und der Speer
traf fast in den Mittelpunkt des blauen Schildes. Ich
sandte einen weißen Speer an den inneren Rand des
weißen Schildes, dann traf ich sehr gut mit einem roten
Speer den roten Schild. Im silbernen Ziel, dem letzten,
war ein kleiner Punkt. Dorthin jagte ich den letzten,
silbern markierten Speer und rannte los, als mir einer
der Männer zunickte.
Als ich an der Zielscheibe vorbeirannte, saß der
zitternde Speer genau in dem halb handgroßen Punkt.
Ich rannte weiter, als hätte ich eben erst den Lauf
begonnen.
Eine Probe mit Steinen, die weit und zielsicher
geworfen werden mußten, unterbrach abermals das
Rennen. Dazwischen überholte ich wieder einige
Männer, die am absoluten Ende der Kräfte waren.
Gegner aus meiner Gruppe, oder solche, die vor mir
gestartet waren? Ich wußte es nicht, und ich konnte
auch mein Tempo nicht mehr steigern.
Sieben Steine wurden geworfen, und ich traf sechs
der aufgestellten Köpfe aus Holz. Dem siebenten riß
mein vorletzter Wurf den Helm herunter, und es gab
einen harten, hallenden Schlag.
Aber jetzt hörte ich schon den Jubel, mit dem die
Laufenden vor mir begrüßt wurden.
Abermals schlängelte sich der Weg dieses harten
Laufes durch Unterholz und über Treppen, durch
Ruinenhöfe und durch einen langen, eiskalten Keller,
der sorgfältig geräumt war. Wieder gelang es mir,
einige Männer zu überholen. Und dann endlich war ich
wieder in der belebten Doppelreihe von Säulen, die
zurück in die Arena führte.
Abermals sprangen mir Männer entgegen und
hielten mich auf.
Sie trugen große Bögen aus einer hornigen, glatten
Substanz. Fünf Pfeile wurden mir gereicht, und das
Ziel war sehr weit entfernt. Neben einem Mäuerchen,
vor einer riesigen Quadermauer, stand ein
Baumstamm, alt und verkrüppelt. Daran hing ein
Schild.
»Einen Probeschuß!« sagte ein alter Mann in einem
weißen Gewand und mit zerknittertem Gesicht. Er
reichte mir einen metallenen Armschutz.
Ich legte einen Pfeil auf, probierte den Bogen aus
und zielte.
Der Bogen war gut, die Sehne schnitt in meine
Fingerspitzen. Ich versuchte, mit dem Ziel eins zu
werden. So wie vorhin, als ich gemerkt hatte, wie mir
das Wasser geholfen hatte, schien mir jetzt die Luft zu
helfen. Oder sonst etwas, das ich nicht kannte. Das
Auge Vestas. Hart hämmerte die Sehne gegen meinen
Unterarm. Der Pfeil schwirrte fast geradeaus los,
drehte sich leicht und schlug ins Zentrum des Schildes.
Schon lag der zweite Pfeil auf der Sehne, flog davon
und bohrte sich, kaum daß der Schild seine
schaukelnden Bewegungen eingestellt hatte, in das
Ziel. Der dritte, der vierte und der fünfte. Als der
sechste Pfeil zwischen meinen wunden Fingern ruhte,
flog von links nach rechts ein Vogel durch den
Zielraum, flatternd wie eine Taube.
Ich grinste, spannte mit einer schnellen Bewegung
die Waffe und verfolgte die Bewegung des Vogels.
Dann hielt ich vor, löste die Sehne und starrte den Pfeil
an, als könne ich ihn beeinflussen.
Er traf den Vogel!
Ich warf den Bogen dem Helfer zu, riß den
Armschutz herunter und rannte weiter. Ich kam durch
ein Tor, lief hinaus auf die breite Prachtstraße und
zählte vor mir sechs torkelnde und schwankende
Läufer. Ich holte tief Luft, spannte ein letztes Mal
meine Muskeln und rannte los, überholte einen nach
dem anderen, stolperte und sprang die lange Reihe der
Stufen hinunter und sah, daß sieben große Zelte am
äußersten Rand der Arena aufgestellt worden waren.
Ich rannte mit der letzten Kraftreserve auf das mittlere
Zelt zu und sah Roter Bär, der eben den Vorhang
zurückschlug.
Er blickte mich an, als sähe er ein Gespenst.
»Du bist der dreißigste Mann, der hier eingetroffen
ist!« sagte er verwundert. Ich torkelte ins Zelt, fiel in
einen Sessel und bemerkte gerade noch, daß
Honigvogel mit einem großen Pokal auf mich zukam.
Nach dem dritten Schluck fiel ich in einen Schlaf der
Erstarrung und merkte nichts mehr.
Ich erwachte erst wieder im Badesaal des Hauses,
das Herr Roter Bär bewohnte.
2.
Honigvogel neigte sich über mich. Ihr langes Haar
berührte meine Stirn und meine Brust.
»Dieser Trunk hat dich wieder geweckt.«
Ich fühlte mich leicht und beschwingt. Nur noch ein
dumpfer, weit entfernter Rest Schwäche saß noch in
meinen Gliedern. Ich war nackt, und mehrere Mädchen
massierten mich mit öltriefenden Händen. Die vielen
kleinen Wunden meiner Haut hatten sich geschlossen,
das sah ich im Licht der vielen Öllampen und Kerzen.
Jeder Fingerbreit meiner Muskeln wurde
durchgeknetet und behandelt.
Honigvogel flüsterte:
»Ich bin stolz, Herr Schwarzer Falke, daß du mir
deine Liebe geschenkt hast!«
Ich versuchte, mich aufzurichten, aber sie drückte
den Kopf vorsichtig wieder zurück in das nasse Kissen.
»Wie ... wo ... was denn?« fragte ich verwirrt.
»Du bist in aller Munde, Herr!« In ihre Augen kam
ein stolzes Funkeln. »Der Schuß, mit dem du am Ende
des Laufes den Crandotvogel trafest! Das hat noch nie
jemand geschafft!«
Ich stotterte:
»Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein! Das war ein meisterlicher Schuß! Nicht
einmal mein Vater hat dies je zustande gebracht!«
Ich nickte. Dann fühlte ich, wie mich die Mädchen
auf ein Netz hoben und zu einem Becken trugen. Sie
ließen mich einfach hineinfallen. Ich tauchte tief in
eiskaltes Wasser ein, in dem Eisstücke schwammen.
Schreiend und gurgelnd kam ich wieder an die
Oberfläche. Aber sie warteten einige Augenblicke, bis
sie mich hinauszogen und in ein Becken mit warmem
Wasser senkten, das betäubend nach Kräutern und
Essenzen roch. Diese Prozedur wiederholte sich
mehrmals. Ich wurde immer leichter, immer weniger
müde, immer frischer. Schließlich rieben sie mich mit
großen, weichen Tüchern ab, und zwischendurch trank
ich aus dem Pokal. Nach einer Stunde durfte ich mich
aufsetzen und wurde in leichte, warme Kleidung
gehüllt.
»In sechs Stunden ist der erste Tag vorbei. Du wirst
schlafen wie ein Säugling, mein liebster Dragon!«
wisperte Honigvogel an meinem Ohr.
»Aber vorher werde ich essen!« beharrte ich.
Ich schlüpfte in weite, weiche Stiefel. Honigvogel
umarmte mich und führte mich heute nicht in die
Halle, sondern in einen großen Erker. Dort saßen einige
Männer und Herr Roter Bär. Zwei Plätze waren frei,
und wir setzten uns.
Ich sah Herrn Roter Bär kopfschüttelnd an und sagte
mit einer Stimme, die mir selbst fremd erschien:
»Ich glaubte, Herr, daß ich wie tot zwei Tage
schlafen müsse. Aber die Mädchen und deine Tochter,
besungen sei ihr Liebreiz, haben ein Wunder
vollbracht!«
»Alle sechsundneunzig Ritter der Wüste werden so
behandelt. Die anderen Krieger können ausschlafen!«
erklärte einer der Männer. Sie waren alt und hatten am
Lauf nicht teilgenommen.
Einer hob den Pokal, trank mir zu und sagte mit
brüchiger, aber angenehmer Stimme:
»Drei Männer sind gestorben. Sie wurden bereits
Erthu übergeben. Sieben sind noch ohne Bewußtsein,
aber sie werden sich erholen. Von den
fünfhundertzwanzig sind dreihundertvier
zurückgekommen. Du hast den neunzehnten Rang
erworben, Herr Schwarzer Falke, obwohl du als einer
der letzten Gruppe begonnen hast.«
Ich trank einen langen Schluck von einem
aromatischen, starken Wein.
»Es war hart genug!«
»Und morgen wird es kürzer sein, aber nicht minder
hart. Von den Rittern der Wüste werden die
vierundvierzig Streiter Erthus ermittelt.«
Roter Bär brummte:
»Sehr schwere Bedingungen. Aber davon später.
Nun wollen wir schmausen und tafeln!«
»Wohlan!« meinte ich. Meine Laune hob sich mit
jedem Augenblick. Ich hatte eines der Ziele meisterhaft
geschafft. »Ich will tüchtig zulangen!«
Während ich trank und aß, berichteten die Männer
über den Verlauf des Rennens und darüber, welche
Kämpfe und Ausscheidungen morgen ausgetragen
werden würden. Gegen Mittag würden sich
dreihundertvier Kämpfer treffen. In dieser Zahl waren
die sechsundneunzig Ritter der Wüste enthalten. Also
konnten sich an diesem zweiten Tag auch noch solche
Männer qualifizieren, die eigentlich nicht mehr zu den
Ausgewählten gehörten. Ich hörte gespannt zu, als sich
die Männer über die Regeln unterhielten, und dabei
wurde ich müde und schläfrig. Schließlich brachte
mich Honigvogel hinauf in mein saalähnlichen Räume.
Dort schlief ich bis in den Vormittag des zweiten Tages
der Ausscheidungen.
Vier einzelne Gänge waren für diesen Tag anberaumt
worden, und einer schien schwieriger und
erschöpfender als der andere.
Vor der Mittagsstunde galt es, sich ein Reittier
einzufangen. Wir hatten dazu soviel Zeit, wie die
Herolde ankündigten. Das Maß war eine Sanduhr, halb
mannsgroß, die umgedreht wurde.
Ich saß neben Honigvogel auf dem glutheißen Stein
der Arenamauer. Vor mir tummelten sich mindestens
einhundert Kampf-Sarths: wilde, ausgeschlafene Tiere,
die keineswegs mehr unter der Wirkung des
einschläfernden Pilzes standen. Sie liefen
ununterbrochen durcheinander und waren aufgeregt.
Honigvogel sah mich an und murmelte
aufmunternd:
»Du hast ein Wurfseil mit Gewicht, eine Peitsche
und eine Schlinge. Und ich bin sicher, daß du dein Tier
fangen wirst. Nimm eines der stärksten, die du finden
kannst. Es ist noch etwas Zeit!«
Ich war für die dritte Gruppe ausgelost worden.
Jetzt, gegenüber auf einer steinernen Kanzel, stießen
die Herolde in die Fanfaren, und der Leiter der Kämpfe
drehte die Sanduhr herum. Ein dünner Strahl Sand
sickerte durch die engste Stelle des Glasgefäßes.
Zwanzig Männer schwangen sich von der Mauer und
rannten von allen Seiten auf die fast weißen Sarths zu.
Die Seile wurden über den Köpfen geschwungen
und dann losgelassen. Sie schwirrten durch die Luft,
wickelten sich um einzelne Gliedmaße der Tiere oder
fielen in den Sand. Einige prallten gegen die Bäuche
oder Schenkel der Sarths, und die Arena verwandelte
sich in einen Kessel aus menschlichen und tierischen
Körpern und Bewegungen, aus Schreien, Wiehern und
hochstäubenden Sand. Ich beobachtete einen starken
Hengst, der sich durch Schnelligkeit und ungeheure
Wendigkeit auszeichnete. Er wich sowohl den
Schlingen wie auch den Wurfseilen aus und versuchte,
immer in der Mitte des Haufens zu bleiben.
Vom Beginn bis zum Schluß dieses zweiten Tages
durften wir keinerlei Erfrischungen zu uns nehmen.
Wir waren nur mit kniehohen Stiefeln, einem breiten
Gurt und einem Lendenschurz aus Stoff bekleidet. Wer
unter den Belastungen zusammenbrach, dem durfte
niemand helfen. Es war keinerlei Spiel mehr in der
Ausscheidung – es wurde ernster und härter.
Ich lächelte, beugte mich vor und beobachtete, wie
die Männer ihre Hilfsmittel handhabten. Einige hatten
die Sarths eingefangen und zerrten sie mit Schlinge
und Peitsche aus der Arena. Andere lagen da, von
Huftritten getroffen, und wälzten sich stöhnend im
Sand. Andere versuchten noch immer, ein Tier
einzufangen.
Ich dachte an Vestas Auge und konzentrierte mich
voll auf den Hengst mit den weißen Schuppen an den
Gelenken, mit dem langen, schmalen Schädel und der
dreikantigen Knochenplatte auf der Stirn. Seine Mähne
war silberweiß und halblang, aber der Schweif schleifte
im Sand nach und wirbelte umher wie eine Peitsche.
Ich spürte, wie das Erbe des Träumers mir half. Dieses
Tier dort, das sich zwischen den aufgeregten Sarths
hindurchschob und immer wieder versuchte, den hart
kämpfenden Männern zu entgehen, warf plötzlich den
Kopf hoch und starrte mich an. Ich dachte angestrengt
und mit weit offenen Augen daran, daß dieser Hengst
mir gehorchen sollte, mir helfen, sich gegen mich nicht
wehren durfte. Das Tier wurde ruhiger.
Der Sand lief aus dem oberen Behälter ... die
Fanfaren bliesen, und sieben Männer, die die
Bewußtlosen und Verletzten mit sich schleppten,
verließen ohne Reittiere die Arena.
Schließlich ertönte mein Signal.
Ich war jetzt sicher. Ich nahm die Peitsche und die
Schlinge, sprang von der Mauer und bahnte mir
langsam einen Weg durch die Tierleiber. Wieder
begann das Juwel in meiner Stirn seine rätselhaften
Schwingungen auszusenden. Die aufgeregten Sarths
wichen aus, drängten sich zur Seite. Ich knallte ein
paarmal mit der Peitsche und ging auf den weißen
Hengst zu. Er scheute, stieg hoch und pendelte vor mir
hin und her.
Unablässig rann Sand in den unteren Behälter. Ich
rannte auf das starke Tier zu und blieb dicht vor ihm
stehen. Ich breitete meine Arme aus und dachte wieder
an die schweren Aufgaben in den nächsten Stunden.
Das Tier starrte mich mit wild rollenden Augen an. In
seinem Verstand schienen Wildheit und Gehorsam
miteinander zu ringen.
»Schwarzer Falke! Schneller! Die Zeit rinnt dahin!«
schrie Honigvogel aufgeregt und schwenkte die Arme.
Ich hatte das Tier auf die Stelle gebannt. Ich
vertraute der unsichtbaren Kraft des Juwels, und
Vestas Auge half!
Der Hengst senkte den Kopf und blieb starr vor mir
stehen. Ich schlang aus dem ledernen Seil eine Art
Halfter und wand es um den kantigen, bösartig
wirkenden Schädel des Tieres. Am Rand der Arena
kreischte Honigvogel voller Vergnügen. Dann trieb ich
mit ein paar Schlägen der Peitsche den Hengst neben
mir her, auf den Ausgang der Arena zu.
Noch ein Drittel des Sandes befand sich im oberen
Teil der Sanduhr.
Hinter mir blieb ein Durcheinander aus Schreien
und Hufgetrappel zurück. Ich führte das Tier, das auf
den geringsten Zug des improvisierten Zügels
gehorchte, aus der Arena und hinaus auf den Platz, auf
dem dreißig oder mehr Männer warteten. Sie sattelten
gerade ihre Tiere, während die Helfer die Strecke
vorbereiteten. Die Spannung stieg an, während die
einzelnen Gruppen versuchten, die Tiere einzufangen.
Niemand durfte uns helfen. Auch mir nicht. Ich
suchte mir einen Sattel aus, schleppte ihn zu dem
regungslos dastehenden Tier und schnallte ihn fest.
Das Einfangen der Reittiere war der erste Gang, der
abermals viele Männer ausscheiden ließ. Der zweite
würde ein Rennen sein – das hatte mir Roter Bär heute
gesagt –, das alle Vorstellungen überstieg.
Die Sonne kletterte höher und höher.
Die Hitze stieg. Die ersten Männer, die mit ihren
Reittieren kämpften und von dem Lauf des
vorhergehenden Tages erschöpft waren, kippten aus
den Sätteln und blieben liegen. Niemand durfte ihnen
helfen. Wer aus Erschöpfung starb, wurde in die
Höhlen gebracht. Ich wußte noch nicht genau, was
damit gemeint war.
Einfangen der Reittiere, dann ein Wettrennen über
eine unbekannte Strecke, und gegen Abend eine
Kletterei in den Ruinen. Und diesen zweiten Tag sollte
ein Wettschwimmen in einer unterirdischen Höhle
krönen.
Ich machte mich bereit für das Rennen.
Helfer brachten mir die schwere Rüstung und die
Waffen. Ich legte sie an. Eine Stunde später saßen
hundert Reiter auf ihren nervös tänzelnden Tieren. Sie
bildeten eine lange Reihe. Vor den Vorderbeinen der
Tiere spannte sich ein langes Seil. Das Eisen, das wir
trugen, war heiß. Ströme von Schweiß liefen über
unsere Haut und tränkten die Kleidung. Wir warteten.
Die Strecke lag vor uns – es war wieder ein Stück der
breiten Prachtstraße, die hinaus in die Wüste führte.
Die Herolde stellten sich auf, der Leiter der Spiele
erschien auf seinem Reittier, und ich dachte daran, daß
mein Weg zu Erthu immer schwieriger wurde. Aber
dank der Pflege Honigvogels fühlte ich mich kräftig
und stark.
Ein Murmeln ging durch die Reihe der Reiter.
Dann schmetterten die Fanfaren ein Signal, Roter
Bär senkte die Fahne, und das Seil fiel. Die hundert
Tiere sprangen vorwärts, ich wurde tief in den Sattel
gepreßt, hielt mich fest und stemmte mich dann nach
vorn. Das wilde Rennen begann. Noch immer ritten
hundert Männer nebeneinander, aber schon sprengten
die ersten aus der Reihe hervor, wurden schneller und
trieben ihre Tiere zu größerer Eile an. Ich ritt diesen
knochigen Hengst mit den langen Läufen wie ein Pferd
aus »meiner« Welt. Und ich versenkte mich in die
Natur dieses Tieres. Ohne es auszusprechen, ohne
bewußt in meinen lautlosen Wünschen daran zu
denken, stellte ich mir meine Version dieses Rennens
vor. Das Tier, das fast ohne Zügelhilfe lief, schien mich
zu verstehen – ebenso wie der Wald bei Odaliks
Leuten, der seine morschen Bäume umgeworfen hatte.
Eine plötzliche zweite Veränderung ging vor.
Bei jedem der Galoppsprünge krachten die
Metallteile, schlugen die Kanten der Rüstung gegen
meinen Körper. Das Schwert peitschte die Flanken des
Hengstes. Der Schild schlug schwer gegen meine
Schultern. Ich krallte meine Zehen in den Steigbügel,
verlagerte mein Gewicht nach vorn, bis ich tief über
dem langen Hals des Tieres kauerte. Dann rückte ich
das Schwert nach vorn, warf den Schild über die
Schultern und zurrte den Riemen fest.
Gleichzeitig reagierte das Sarth unter mir.
Es streckte sich, der Rhythmus seiner Bewegungen
wurde harmonisiert, und die Hufe klapperten in einem
rasenden Wirbel auf die sandbedeckten Steine der
Straße. Wir hatten zwei Drittel der übrigen Reiter
bereits hinter uns gelassen und ritten auf der rechten
Seite des keilförmigen Pulks, der immer schneller
wurde und schon den Rand der Wüste erreicht hatte.
Lanzen, an denen Wimpel in einem trägen
Mittagswind flatterten, kennzeichneten den Verlauf
der Bahn.
Ich ließ den Zügel locker, glich auch die
Bewegungen meines Körpers denen des schnellen
Tieres an und sah mich um. Langsam, aber durchaus
merklich, rückten wir entlang der aufgewirbelten
Sandwolke weiter vor. Jedesmal nach zwanzig
Galoppsprüngen überholten wir einen Reiter.
Die Männer in den Sätteln husteten und schwitzten
und fluchten.
Wir hatten alle die gleichen Chancen. Während wir
uns durch die stechende, dumpfe Hitze und den
beißenden und ätzenden Sandstaub quälten,
verringerte sich erstmalig die Geschwindigkeit.
Diejenigen, die ihre Tiere gleich nach Beginn
angetrieben hatten, fielen langsam zurück. Schlechtere
Reiter und solche, die ihr Tempo absichtlich
zurückgehalten hatten, holten auf.
Aber ich brauchte weder Sporen noch Peitsche.
Vestas Auge half mir. Mein Tier wurde immer
schneller und schob sich jetzt aus dem erstickenden
Staub hervor und drängte leicht zur Mitte hin. Nach
kurzer Zeit, als wir entlang der Lanzen durch die
Wüste preschten, gab es nur noch drei Tiere. Sie liefen
fast nebeneinander. Ich hielt meinen Hengst zurück
und kontrollierte abermals meinen Sitz, meine
Bewegungen und den Zustand des Tieres.
Weiter ... geradeaus ... über diese heiße Fläche ohne
Schatten. Wir ritten dahin und verloren das Zeitgefühl.
Die abgesteckte Strecke führte in einem riesigen Kreis
aus der Stadt hinaus und wieder in die Stadt zurück.
Unter den Hufen der Tiere wölkten Staub und Sand
hoch. Drei hohe, schmale Sandsäulen markierten
unseren Weg. Niemand hielt sich hier auf, um uns
zuzujubeln oder gegebenenfalls zu helfen.
Heute gab es keine Hilfe. Nicht einmal einen
Schluck Wasser durften sie uns verabreichen.
Ohne miteinander zu sprechen, nur auf die Strecke
konzentriert und auf das Tier, ritten drei Männer
nebeneinander auf die Zone zu, in der sie den
Prüfungen ausgesetzt werden würden. Die Sonne stieg
höher, und die Hitze nahm immer noch zu. Der
Schweiß und die Ausdünstungen unter den schweren
Rüstungen erstickten uns förmlich.
Dann, nachdem wir einen Wald aus Säulenstümpfen
durchritten hatten, kamen die Mauern ...
Es war eine Prüfung für Selbstmörder gewesen. Die
Tiere wurden gezwungen, im Zickzack und auf engem
Raum durch steinerne Pfähle hindurchzureiten. Es
konnte leicht geschehen, daß ein Tier seinen Reiter
gegen die Säule schmetterte oder ihn zwischen dem
eigenen schweren Körper und dem Stein zermalmte,
wenn die Hufe im Sand rutschten. Ich zwang meinen
Hengst dazu, langsamer zu werden, und schätzte mit
den Augen die einzelnen Bewegungen und die
Entfernungen ab.
Ich ließ beide anderen Reiter an mir vorbei und
mußte erleben, wie eines der Tiere mit voller Gewalt
gegen eine Säule krachte, sich das Genick brach und
den Reiter gegen eine andere Steinsäule schmetterte,
wo er betäubt oder tot liegenblieb. Vorbei – weiter,
wieder schneller. Einen langen Hang hinauf, und dann
sahen wir die Wälle.
Sie waren fast mannshoch!
Wieder verlagerte ich mein Gewicht. Seite an Seite
sprangen wir beide, die ersten Reiter, über die Mauern.
Die Tiere sprangen steil los, zogen die Beine an und
landeten jenseits der massiven Barriere. Aber weit
hinter uns, am Hang des kleinen Tales der Säulen,
sahen wir die Staubsäulen der Verfolger. Unser
Vorsprung betrug jetzt nur noch zweihundertfünfzig
Mannslängen. Wie lang die gesamte Streckte war,
wußte ich nicht, aber wir ritten jetzt so, daß die
Stadtsilhouette seitlich von uns war.
Ein Sprung löste den anderen ab.
Alle Gelenke wurden belastet, die Knochen schienen
zu krachen, die Gurte und die Metallkanten schnitten
tief in die Haut. Die Schultermuskeln begannen zu
schmerzen, als würde man sie mit glühendem Stahl
berühren. Aber noch sah ich klar, noch funktionierten
mein Verstand und mein Körper. Ebenso unverändert
wirkte das Juwel in der Stirn.
Und auch das Tier schien unerschöpfliche Kräfte zu
haben. Schon während des Laufes am gestrigen Tag
hatte ich alle meine Vorurteile geändert. Es mochte
sein, daß die Merlaner ein degeneriertes Verhalten
zeigten, aber ihre Turniere waren absolut mörderisch.
Der letzte Sprung, und noch immer hatte ich einen
ernstzunehmenden Gegner.
Wieder wechselte die Strecke.
Geröll tauchte auf, Treibsand und Löcher im Boden.
Wieder wurden an die Tiere und an die Reaktionen der
Reiter die härtesten Anforderungen gestellt.
Eine Geschwindigkeitsstrecke aus feuchtem
Wüstensand folgte. Jetzt hatten wir etwa ein Dutzend
Verfolger hinter uns, und ich besaß einen kleinen
Vorsprung. Abermals, die ersten Säulen anvisierend,
konzentrierte ich mich und versuchte, mit der belebten
Natur eins zu werden.
Der Hengst schrie auf; es klang wie
Triumphgeschrei.
Dann holte er aus seinen Lungen und seinen
Muskeln die letzten Reserven heraus, wurde schneller
und schien leichter und noch müheloser als bisher dem
Ziel entgegen zu fliegen. Wir waren die ersten, die in
einer auffliegenden Sandwolke mitten in der Arena
anhielten. Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten und ging
auf das Zelt zu, das wieder aufgestellt worden war.
Herr Roter Bär sah mich nur schweigend an. Als er
zum Sprechen ansetzte, kam mein schärfster Gegner in
die Arena. Ich fürchtete mich davor, gegen ihn in
einem der ernsthaften Kämpfe antreten zu müssen.
Zwei Stunden Wartezeit schlossen sich an.
3.
Zehn Mannslängen Seil, zwei Dolche und ein
Wurfanker. Das war die gesamte Ausrüstung, die uns
zugebilligt worden war. Nur vierundvierzig Männer
würden heute übrigbleiben. Alle anderen waren
hoffnungslos ausgeschieden.
Ich stand in einer leeren Fensterhöhle. Unter den
Sohlen meiner zerschrammten Stiefel bröckelte der
Stein. Hier befand ich mich hoch über der Stadt, in
einer der vielen Ruinen. Hundertfünf Reiter waren wir
gewesen – anstatt einer Erfrischung waren uns
Neuigkeiten zuteil geworden –, und nur achtzig waren
durch das Ziel gekommen. Sieben Männer waren
gestorben.
Später Nachmittag:
Die Schatten modellierten aus jedem Stück
Mauerwerk die Konturen heraus. Ich befand mich fast
an der höchsten Stelle dieser Ruine, die nur aus drei
Wänden voller Fensterhöhlen bestand, aus einigen
Resten von Zwischenwänden und vielen Säulen, die
zum Teil noch mit den steinernen Dachplatten
verbunden waren. Ich sah mich um – jemand war vor
Zeiten ebenfalls diese Strecke geklettert und hatte den
Stein mit einer dunklen Farbe markiert. Diesem Faden
mußten wir folgen. Es gab mehrere Wege durch die
Ruinen, hinauf und hinunter, über messerscharfe und
knisternde Stege, aber keiner der achtzig Bewerber
würde es leichter haben. Ich befand mich in einer der
ersten Gruppen.
Ich hatte rasenden Durst und nagenden Hunger.
Aber hier oben ging ein kühlender Wind, der den
Schweiß augenblicklich auftrocknete und den Eindruck
hervorrief, daß man sich in kühler Luft bewegte.
Das Ziel lag dort vorn, auf der Plattform eines gut
erhaltenen, aber buschüberwachsenen Rundturms.
Ich sah mich um und erkannte, daß ich eine
senkrechte Mauer hinauf und von dort etwa dreißig
Mannslängen weit auf der obersten und brüchigen
Mauerkrone entlangbalancieren mußte.
Ich knüpfte das kurze Seil, das am Wurfanker
befestigt war, an das längere Seil und sicherte die
Dolche im Gürtel. Dann hielt ich mich mit einer Hand
fest und ließ den Wurfanker kreisen.
Es war möglich, mich dort hinaufzuhangeln, wenn
die Spitzen des Ankers faßten. Ich ließ das Seil frei, der
schwere Anker beschrieb eine weite Kurve und fiel
jenseits der Mauer nach unten. Langsam holte ich das
Seil ein und ruckte mehrmals prüfend daran. Beim
fünften Versuch faßte der Haken.
Das Seil war aus Tiersehnen geflochten. Ich
verknotete das Ende in meinem Gürtel und begann, an
dem Seil hinaufzuklettern.
Es straffte sich, als meine Sohlen die senkrechte
Wand berührten. Langsam, Hand um Hand, zog ich
mich hoch. Jenseits der Mauer hörte ich den Haken im
morschen Gestein knirschen. Seit zwei Stunden hing
und pendelte, kletterte und schwitzte ich bereits in den
Ruinen.
Gerade, als sich mein Gesicht, direkt vor dem Seil,
über die Mauerkante hob, hörte ich rechts von mir
einen gellenden Schrei. Ich zwang mich, den Kopf nicht
zu drehen. Der Schrei verhallte zitternd zwischen den
Ruinen, dann gab es einen schmatzend-krachenden
Laut. Ein schwerer Körper war, nachdem er durch die
Luft wirbelte, auf den Trümmern zwischen den
Büschen aufgeschlagen. Das Amt des Jahreskönigs
mußte begehrenswert sein – auf alle Fälle forderte es
jeden Tag mehr Opfer.
Ich hatte ein anderes Ziel. Mein Weg würde mich
auf alle Fälle haarscharf neben dem Jahreskönig vorbei
in den Bereich Erthus führen. Ich warf einen Arm nach
vorn und klammerte mich zuerst an die Wurzeln eines
kleinen Strauches, dann zog ich mich höher, und als
sich die Wurzeln lockerten und aus den Steinfugen
rutschten, versuchte ich einen langsamen Klimmzug.
Schließlich, nachdem ich eine Handbreit
verwitterten und morschen Stein mit dem Knie
weggeschoben hatte, konnte ich ein Bein über die
Quadern schieben und saß nun rittlings auf der
obersten Mauer.
Der Abstieg dort vorn und einige Sprünge über
gefährliche Zwischenräume würden nicht mehr ganz
so hart sein.
Aber das Sonnenlicht nahm viel zu schnell ab.
Plötzlich fiel mein Blick auf eine Rasenfläche und auf
eine Gruppe von Weißgekleideten, die einen dieser
gemauerten Brunnenschächte umstanden.
Ich sah, wie sich ein kleiner schweigender Zug näherte.
Fünf Männer trugen auf ihren Schultern einen
menschlichen Körper, der in breite weiße Binden oder
ein enganliegendes Gewand gekleidet war. Der Körper
war starr, also handelte es sich vermutlich um eines der
Opfer dieser brutalen Ausscheidungskämpfe. Der Ring
aus Menschen, der die Öffnung bisher schweigend
umgeben hatte, glitt an der Stelle auseinander, an der
sich der Zug näherte. Vermutlich sangen oder
murmelten sie, aber ich konnte es aus dieser
Entfernung nicht hören. Diese Prozession hatte die
lautlose Gespenstigkeit eines Geschehens, das
außerhalb des Verstehens lag.
Die Leichenträger blieben stehen und stellten sich
dergestalt hin, daß ihre schwere Last halb über dem
Loch im Boden schwebte. Ich starrte wie gebannt
hinunter – denn die Zeit, in der einer von uns seinen
Weg hier zurücklegte, war nicht entscheidend.
Entscheidend war, daß man lebend unten ankam.
Ein wahnwitziger Gedanke zuckte durch meinen
Verstand.
Erthus Höhlen!
»Sie gehen ein in Erthu!« war mir erklärt worden.
Jetzt sah ich, was tatsächlich passierte. Während mit
häßlichen Schreien einige Rhaag-Vögel hoch über mir,
noch im vollen Sonnenlicht, ihre Kreise zogen, tanzte
dort unten mit langsamen und zeremoniellen Schritten
ein schweigendes Ballett.
Der Leichnam wurde auf ein langes Brett gelegt, das
sämtliche Umstehenden ergriffen. Es waren vermutlich
die nächsten Angehörigen des Verstorbenen. Sie
balancierten das Brett genau über der schwarzen
Öffnung, die gar kein Brunnen war, sondern ein
Stollen, der tief in die Erde unter der Stadt führte, also
in die legendären Höhlen von Erthu, dem Erdgeist.
Dann kippten die Trauernden das Brett.
Der Leichnam fiel nach unten und verschwand.
Noch einige Augenblicke blieben die Versammelten
stehen, dann formierten sie sich wieder zu einem
kleinen Zug und verließen den Platz.
Ich stand langsam auf und wickelte das Seil auf,
nachdem ich den Anker gelöst hatte. Ein Zacken des
Werkzeugs hatte sich tief in das Auge einer
ausgewaschenen Verzierung gebohrt. Ich erkannte von
hier oben nur, daß es ein weibliches Gesicht sein
mußte.
Ich ging langsam, Schritt um Schritt, geradeaus. Dort
unten, sehr weit entfernt, glitt mein Schatten über eine
andere Mauer. Nur noch eine halbe Stunde, dann war
die Sonne untergegangen.
Die Sohlen lockerten das Gestein und ließen es nach
unten prasseln. Flüchtig sah ich andere Männer, die
ihre Dolche in die Steinfugen trieben und sich daran
nach oben hangelten. Stufenweise ging es zunächst
geradeaus, nach unten, dann im rechten Winkel auf die
langen Reihen von teilweise eingebrochenen Säulen zu.
Ich ging weiter und konzentrierte mich auf den
Weg. Ich musterte jede Handbreit des unterarmbreiten
Gesimses, auf dem ich mich bewegte. Jeder weitere
Schritt war jetzt ein Kampf mit dem Tod. Die Sohlen
rutschten auf dem körnigen Gestein. Aber ich schaffte
es, bis an den Knick zu kommen, wo die Frontfassade
in die rechte Seite der Ruine überging.
Diese Mauer war breiter. Ich wurde schneller und
erreichte die erste Platte, die auf den Gesimsen der
Säulen schwebte. Ich blieb stehen.
Ich erkannte den Weg.
Er führte in einer Reihe von Stufen abwärts und auf
einen Alkoven, der eine Seillänge von der
Turmplattform entfernt war. Aber meine Route durch
die Ruinen hatte besondere Schwierigkeiten. Die
einzelnen Platten, einst Teile eines Daches, waren an
einigen Stellen weiter voneinander entfernt, als ein
Mann springen konnte. Ich nahm einen kurzen Anlauf,
zielte genau und sprang auf die nächsttiefere Platte.
Als meine Sohlen den Stein berührten, darauf
abrutschten und mich nach hintenfallen ließen, spürte
ich, daß ich in eine tödliche Falle getappt war. Unter
mir schwankten die einzelnen Elemente der Säulen. Ich
kam wieder in die Höhe, taumelte und stützte mich mit
den Handflachen ab. Die Platte, auf der ich kauerte,
bewegte sich hin und her.
Ich mußte etwas tun. Ich handelte in rasender
Schnelligkeit und versuchte, mich zu retten. Ich dachte
nicht mehr, ich konnte nicht mehr überlegen, alles ging
viel zu schnell. Ich handelte rein instinktiv.
Ich schnellte mich nach vorn, als die Platte fast die
nächste Platte berührte. Unter mir erscholl ein
grauenhaftes Knirschen. Ich landete auf allen vieren
auf der nächsten Platte und schlitterte über die
Oberflache, riß mir die Finger auf und konnte mich
gerade noch halten.
Der Stein, der mich eben nach vorn geschleudert
hatte, brach auseinander. Dadurch wurden die
schlanken Säulen, die sich zehn oder zwölf
Mannsgrößen hoch in den dunklen Himmel erhoben,
ihres oberen Haltes beraubt. Sie knickten zusammen,
die beiden Teile der Platte kippten und fielen nach
unten. Der Platz, auf dem ich verzweifelt versuchte,
einen Halt zu finden und mein Gleichgewicht zu
bewahren, erhielt einen harten Schlag und begann
ebenfalls zu schwanken. Ich sprang weiter abwärts,
und während ich von einem festen Punkt zum
nächsten hastete, brachen vier Säulen hinter mir mit
donnerndem Getöse zusammen.
Aber die stürzenden Trümmer taumelten hin und
her und schlugen gegen die noch stehenden Teile der
Ruine. Sie gerieten ebenfalls ins Schwanken und
bewegten sich hin und her. Zuerst nur wenig, dann
immer schneller. Während ich vor dieser
Kettenreaktion flüchtete und in einer Serie von
selbstmörderischen Sätzen immer weiter diesem Erker
zusprang, brach hinter mir eine Säule nach der anderen
zusammen. Über meinen Kopf wirbelte pfeifend der
Wurfanker.
Ich blickte den Erker an, starr und konzentriert.
Noch immer schien nicht ich zu flüchten, sondern
etwas in mir, das sich jeder Überlegung entzog und
mich mit einer Schnelligkeit der Reflexe versah, die ich
niemals für möglich gehalten hatte. Es war reine
Todesangst, die mich unbewußt das Richtige tun ließ.
Schließlich schnellte der Anker geradeaus und traf
irgendwo in den leeren Raum hinter der Brüstung des
Erkers. Es klirrte scharf. Ohne sichtbare Regung
beobachteten mich die prüfenden Blicke der Wächter
oder Schiedsrichter.
Jetzt befand ich mich auf der letzten schwankenden
Plattform auf der Spitze von drei Säulen. Die vierte war
schon vor unbekannter Zeit zusammengebrochen. Ihre
Reste lagen unten zwischen den Ästen und Blättern des
harten Gesträuchs. Ich zog am Seil, bis es sich straffte.
Ein furchtbarer Schlag traf eine Säule, ich fühlte, wie
der Halt schwand.
Ein neuer Ruck am Seil. Der eiskalte Schweiß brach
mir aus. Meine Knie und die Finger begannen
unkontrolliert zu zucken.
Das Seil war straff, und ich sah, daß ein
Zwischenraum von zwei Mannslängen vor mir gähnte.
Zudem wurde es dunkler und dunkler. Ich schloß kurz
die Augen und riß abermals am Seil, dann warf ich
mich, den Körper zusammengekrümmt, nach vorn. Ich
wurde von der Mauer vor mir förmlich angezogen,
streckte die Beine aus und nach vorn und prallte mit
furchtbarer Wucht gegen die Mauer.
Meine Knie gaben nach, ich riß mit einer Hand einen
Dolch aus dem Gürtel, holte aus und hieb die vierkant
geschliffene Spitze zwischen zwei Quadern hinein,
nützte den letzten Rest des Schwunges aus und zog
mich hoch. Der rechte Fuß ruhte nun halb auf der
Schneide, halb auf dem Dolchgriff.
Noch eine kurze Zeit ...
Nur noch zwei oder drei letzte Kraftanstrengungen.
Hinter mir krachten die letzten Säulen zusammen.
Gesteinsstaub, Sand und Splitter breiteten sich nach
allen Seiten aus. Donnernd und polternd brachen die
Säulen in einzelne Teile auseinander und
zerschmetterten die Büsche, spaltete die Trümmer, die
bereits dort unten lagen.
Ich zog mich langsam hoch, riß kopfüber hängend
den Dolch heraus und schwang mich über die
Brüstung in den Erker hinein.
Wenige Schritte, einige Atemzüge später, erschöpft
und mit trockenem Mund, taumelte ich hinauf auf die
Plattform und sagte keuchend:
»Ich bin hier, Väter! Schreibt meinen Namen in die
Reihe der Sieger!«
Würdevoll erwiderte einer der Alten:
»Noch ist dieser Tag nicht zu Ende. Folge diesem
Mann dort, und er wird dich zu den Höhlen bringen!«
Ich nickte nur noch und schlich erschöpft, hungrig
und mit zitternden Gliedern dem alten Mann nach.
Aber immerhin versuchte ich trotz meines Zustandes
noch, mir die einzelnen Stationen des Weges zu
merken. Schließlich ging es in eine unterirdische
Grotte, also näher heran an das Gebiet, das angeblich
zu Erthus Reich gehören sollte.
Ich war vollkommen allein.
Rings um mich war es dunkel. Das Wasser rauschte,
und ich trug nur mein Amulett, das Juwel und einen
schmalen Streifen Stoff um meine Scham. Die letzte
Prüfung dieses Tages schien jedenfalls die
geheimnisvollste zu sein. Einige Mannslängen unter
mir gurgelte das Wasser, das im Schein der wenigen
Fackeln und Öllampen schwarz wie Schreibtusche
schien.
»Es wird nicht lange dauern, aber es ist keine leichte
Prüfung!« hatte der alte Mann gemurmelt, nachdem er
mich auf diese Kanzel aus Tropfstein geführt und allein
gelassen hatte.
Der Weg zu dem Namen Streiter Erthus war auf
eine andere Art ebenso erschöpfend wie dieser Lauf
des Wahnsinns gestern. Ich fröstelte und hatte nur
noch den Gedanken, diese Prüfung so schnell wie
möglich hinter mich zu bringen.
Ich befand mich in einer niedrigen, langgestreckten
Höhle, durch die ein unterirdischer Wasserlauf führte
und durch dunkle Höhlen bis an einen Punkt, an dem
sie uns aus dem Wasser fischen würden. Hin und
wieder stand auf einem Absatz oder einem Felsen eine
Öllampe, die mit schwacher Flamme brannte und die
Wasserfläche undeutlich erhellte.
Ich zog die Beine an und ließ mich nach vorn fallen.
Das Wasser spritzte hoch auf und war eiskalt. Aber
nach alle den Torturen des Tages war es eine Erholung.
Ich streckte meinen Körper und begann zu
schwimmen. Eine Zeitlang geschah nichts. Ich trieb mit
dem schnell fließenden Wasser dahin, die Decke der
Höhle senkte und hob sich, einige der flackernden
Flammen glitten vorbei und verschwanden. Dann
wurde das Rauschen lauter und stärker.
Ich streckte die Arme nach vorn und wartete auf ein
Zeichen, das mir sagte, was ich jetzt unternehmen
sollte. Mit den Füßen und Beinen machte ich hastige
Schwimmbewegungen, die mich nach links an den
Rand der ausgewaschenen, glitschigen Felsen brachten.
Dann wurde der Sog des Wassers stärker, und in das
rauschende Geräusch mischte sich das Zischen und
Brodeln aufgewirbelten Wassers.
Ich wurde mitgerissen, tauchte tief in den
gischtenden Wirbel hinein und fühlte Stein unter
meinen Sohlen. Ich krümmte mich wieder, stieß mich
ab und tauchte schräg aus dem Schaumwirbel hoch,
schwamm weiter. Ich riß die Augen auf und sah mich
in einem riesigen Felsensaal, der durch eine Vielzahl
hellbrennender Fackeln in ein Wunderland verwandelt
wurde.
Das Wasser verbreiterte sich hier zu einem etwa
elliptischen See, der unter der Decke der Höhle lag. Ich
schwamm mit langsamen, weit ausholenden Stößen
quer durch den stillen Wasserspiegel. Weit vor mir
hörte ich einen Schwimmer qualvoll gurgeln und
schreien. Die gesamte Höhlendecke war voller
Tropfsteine. Die Ablagerungen hingen wie Eiszapfen
nach unten und sahen aus wie tödliche Speerspitzen.
Ich warf mich auf den Rücken und schwamm eine
Weile weiter. Wieder schrie der Schwimmer. Hatte er
einen Krampf bekommen, oder war er nahe daran, zu
ertrinken? Ich hielt auf ihn zu. Plötzlich, mitten in
einem weiteren qualvollen Schrei löste sich, kippend
und schwankend ein mannslanger Zapfen und zischte
senkrecht herunter.
Er schlug keine drei Mannslängen von mir entfernt
in das unruhige Wasser, das meine
Schwimmbewegungen hinterlassen hatten. Ich wurde
schneller und erreichte den Ertrinkenden.
Ich griff nach vorn und faßte voll in seine langen
Haare. Ich trat Wasser und hob seinen Kopf über die
Wellen.
»Was ist los?« fragte ich keuchend. Er gurgelte, spie
Wasser aus und ächzte dann abgehackt:
»Ich ertrinke. Ich kann ... nicht mehr ... Hilf mir!«
»Ist das gegen die Regeln?« fragte ich und zog ihn,
schnell den Griff unter sein Kinn wechselnd, »werden
sie mich deswegen bestrafen?«
Er entspannte sich langsam und machte schwache
Schwimmbewegungen. Zusammen trieben wir weiter
durch den See. Eine schwache Strömung zog uns mit
sich, aber ein zweiter Tropfstein löste sich und schlug
dicht vor uns ein, überschüttete uns mit einem Schwall
Wasser.
»Nein«, war die keuchende Antwort. »Die Ritter der
Wüste dürfen sich ... gegenseitig unterstützen!«
Das Ende der Höhlen tauchte auf. Das Licht der
Fackeln wurde geringer, und abermals schossen wir
mit der Strömung in ein immer kleiner werdendes
schwarzes Loch hinein. Die Decke senkte sich. Ich
ahnte, was jetzt kommen würde, und entsann mich
sofort meiner Macht über die Natur. Wieder half mir
und dem fast ertrunkenen Schwimmer das Auge
Vestas.
In dem Augenblick, da der Fels inmitten eines
Ringes aus schäumendem Wasser den schmalen Strom
erreichte, wallte das Wasser rund um uns auf. Zwei
große Luftblasen bildeten sich um unsere Köpfe,
gleichzeitig ergriff uns das Wasser, drückte uns nach
unten und riß unsere Körper mit sich. Wir schossen
wie Pfeile durch einen langen, korkenzieherartig
gedrehten Gang, in den sich das Wasser preßte. Ich
wagte einen Atemzug – die Luft war klar und rein. Ich
lächelte in mich hinein und fühlte, wie wir
herumgeschwenkt und über eine lange, schräge Fläche
gerissen wurden.
Wir tauchten abermals in einem domartigen Saal
auf. Aber zuerst trug uns die Welle auf den
Scheitelpunkt einer abschüssigen Bahn aus
bewachsenem Stein zu. Wir verloren jeden Halt und
rutschten dreißig Mannslängen abwärts. Der Mann,
dessen Hinterkopf an meiner Brust lag, schüttelte den
Kopf und schrie leise auf:
»Wir sind verloren! Wie ist dein Name, Edler?«
Ich warf mich halb herum und spähte, während wir
rasend schnell auf den Mittelpunkt des Wassers
zuschleuderten, nach unten.
Dann sah ich den Wirbel, den Mahlstrom, und
begriff.
Dies war die letzte Prüfung. Wer es nicht schaffte,
sich von dem Schwung des Wassers nach außen tragen
zu lassen, versank im Mittelpunkt des Strudels. Wir
näherten uns dem Außenrand mit beträchtlicher
Geschwindigkeit.
»Ich bin Schwarzer Falke!« sagte ich und
konzentrierte mich wieder auf das eiskalte Element.
Wir wurden mit furchtbarer Kraft in den Strudel
hineingerissen. Die Strömung am äußersten Rand
ergriff uns und riß uns nach links weg. Ich fühlte, wie
der Mann in meinem Arm krampfhaft zuckte.
Dann gehorchte das Wasser und rettete mich, den
Beauftragten Vestas.
Der Teil des trichterförmigen Strudels, der sich
ohnehin schon rasend schnell drehte, wurde noch
schneller. Wir sanken zuerst tief ein und auf das
gurgelnde und fauchende Loch zu, aber dann faßte uns
die Kraft des sich bewegenden Wassers und zog und
zerrte uns aufwärts. Wir rangen nach Luft, und auch
der Gerettete vollführte krampfhafte
Schwimmbewegungen. Das Wasser wirbelte uns im
Kreis herum, aber aus dem Kreis wurde eine Spirale,
die aufwärts führte.
Ich sah, daß die Höhle voller Menschen stand. Feuer
warfen Glut und Flammen in die Luft und verwandelte
den unterirdischen Dom in eine zauberische Stätte. Das
Gurgeln des Wassers übertönte alle Geräusche.
Immer höher kamen wir, eine Welle hob uns an und
schleuderte uns in einem aufspritzenden und
gischtenden Wasserwirbel auf den dunklen Sand
hinaus. Ich robbte herum und blieb liegen, nachdem
ich den Mann aus der Zone der Wellen gezerrt hatte.
Ich atmete schwer, langsam klärten sich meine
Gedanken. Meine Muskeln begannen mir wieder zu
gehorchen. Ich raffte mich hoch, kam stolpernd auf die
Beine und war grimmig entschlossen, auch den halb
besinnungslosen Mann als Sieger dieses letzten
Wettbewerbs gelten zu lassen – als einen der Sieger. Ich
bückte mich und griff unter seine Schulter.
Er half mir, so gut er es noch vermochte.
Wir stolperten auf ein Feuer zu, gingen daran vorbei
und erreichten eine Art Tunnel, in die Stufen
geschlagen waren. Dort endete die Strecke. Als wir eine
gedachte Linie überschritten hatten, war der Bann
gebrochen.
Jetzt halfen uns schlagartig alle, die in der Nähe
waren. Roter Bär kam die Treppe heruntergerannt,
hinter ihm mit fliegenden Gewändern Honigvogel.
Ich ließ den eiskalten Körper des Schwimmers in die
Arme von Helfern fallen und erklärte stockend aber
laut:
»Dieser Mann ist zusammen mit mir geschwommen.
Er hat nicht versagt!«
»Das ist völlig klar, Herr Schwarzer Falke!« dröhnte
Roter Bär auf. »Ihr beide seid jetzt schon in die Gruppe
der Vierundvierzig aufgenommen. Du kannst dich
Streiter Erthus nennen!«
Ich nickte müde. Im Augenblick war ich zu
erschöpft, um mich richtig freuen zu können.
»Bringt mich weg«, bat ich. »Wenn ich den dritten
Tag noch erleben will, so brauche ich die Hilfe deiner
Dienerinnen. Honigvogel!«
Sie lächelte mich schmelzend an und faßte meine
Hand. Jemand warf mir einen weiten Mantel über die
Schultern. Ich drückte ihn vor der Brust zusammen
und begann vor Kälte zu zittern.
»Komm! Nur noch die Treppe. Dann wirst du
eingehen in die Wärme und das Licht unseres
Palastes!«
Nach ungefähr zweihundert Stufen, die aus dem
Vorhof des Reiches Erthus hinaufführten in den
warmen, sternenerfüllten Abend, wartete ein einfacher
Wagen, von zwei kleinen, zahmen Sarths gezogen. Ich
setzte mich neben Honigvogel, die die Zügel ergriff
und die Peitsche knallen ließ. In rasender Fahrt ging es
die kurze Strecke bis zu dem Palast des Herrn Roter
Bär.
Wieder versank ich in den Wonnen dieser
eigentümlichen aber nutzbringenden Badestube und
schlief unter den Händen der Dienerinnen ein.
Die Ausscheidungskämpfe der beiden ersten Tage
waren hart gewesen, und die vierundvierzig Streiter
Erthus schienen so etwas wie eine kämpferische Elite
der kleinen Menge der Stadtbevölkerung zu sein. Ich
hatte mein Vorurteil voll zurücknehmen müssen.
Zumindest ein halbes Hundert der Männer waren
Kämpfer, die ihresgleichen suchten. Und dachte ich
daran, daß sie in glühender Sonne teilweise
unbekleidet kämpften und noch kämpfen mußten,
dann stieg meine Hochachtung.
Ich wollte nichts anderes, als den Kontakt mit Erthu.
Meine Suche nach dem Weltentor verlief über
dramatische Stationen. Eine lag wieder hinter mir, und
ich wußte, daß ich noch fünf Tage vor mir hatte. Fünf
schwere Prüfungen, an deren Ende das Treffen mit
Erthus stand. Wieder erholte sich mein Körper auf
geradezu geheimnisvolle Weise.
Ich hatte einen ganzen Tag ohne einen Schluck
Wasser kämpfen und arbeiten müssen. Morgen gab es
nur vierundvierzig Kämpfer, und zweiundzwanzig
davon sollten übrigbleiben.
Honigvogel und ich verließen die Badestube und
trafen mit Herrn Roter Bär wieder in dem Erker
zusammen.
Mit einem Humpen Bier in der Pranke begrüßte
mich der Jahreskönig.
»Du hast dich besser geschlagen, Herr Schwarzer
Falke«, sagte er laut und drückte mich auf den Sitz
nieder, »als die meisten unserer Krieger. Obwohl du
von weither kommst.«
»Kampf«, sagte ich und begann nun doch meine
Muskeln und Nerven zu spüren, »ist für mich eine
Sache, die ich gewohnt bin. Ich tue nichts dazu, aber
ich werde immer wieder in Kämpfe verwickelt.«
Alle Erfrischungen, die uns Kämpfern tagsüber
verweigert worden waren, schienen auf diesem Tisch
aufgetürmt zu sein. Langsam füllte ich meinen Teller.
»Das Leben ist ein immerwährender Kampf,
Schwarzer Falke«, erklärte der Leiter der Spiele
gutgelaunt. »Ich selbst habe diese Wettkämpfe
mehrmals durchgemacht. Ein guter Mann, schnell und
fähig, kann alle sieben Tage überstehen. So wie du,
fremder Kämpfer!«
Ich nickte und erwiderte undeutlich:
»Aber ich werde niemandem das Amt des
Jahreskönigs streitig machen!«
Roter Bär lachte und versicherte:
»Darüber sprechen wir am siebenten Tag!«
Ich erfuhr, daß drei Männer gestorben und sechs
schwer verletzt waren. Zusammenbrüche in der Hitze,
besonders während des langen Rennens, waren sehr
zahlreich gewesen. Jedenfalls gehörte ich zu den
vierundvierzig Übriggebliebenen. Ich konnte mich nun
Streiter Erthus nennen.
Als ich mit Honigvogel in meinem Raum vor dem
brennenden Kamin saß, merkte ich, daß ich diesen Tag
besser überstanden hatte, als das erste Abenteuer.
»Darf ich deine Helferin bleiben?« fragte sie mich.
Ich lachte und erwiderte:
»Es scheint tatsächlich eine Ehre für dich zu sein;
oder irre ich mich? Du fragst so eigentümlich!«
»Ja, so ist es. Natürlich helfe ich dir gern, Dragon!
Aber ich bin sicher, daß du auch die letzten Kämpfe als
Sieger beenden wirst!«
»Ich rechne damit!« sagte ich und streichelte ihr
Haar.
»Dann, am letzten Tag, mußt du dir eine Helferin
aussuchen. Eine Helferin für den Tag der Tage. Wirst
du mich wählen?«
»Natürlich!« sagte ich ein wenig verwundert. Ich
kannte die Bedeutung dieser Bezeichnung nicht, und
auch nicht die Vorgänge, die sich in dieser mir noch
sehr fernen Zeit abspielen würden. »Wen sollte ich
sonst wählen?«
Sie schien außerordentlich glücklich zu sein.
»Du mußt jetzt schlafen!« sagte sie und deutete auf
das Lager. »Morgen wirst du mit stumpfen Waffen und
mit schnellen Kampf-Sarths gegen viele Gegner
kämpfen müssen!«
Lächelnd gehorchte ich. Diese Nächte dienten der
Erholung und dem tiefen Schlaf, nicht der
Leidenschaft.
4.
Mittag des dritten Tages ...
Die Sonne strahlte ebenso heiß und senkrecht
herunter wie an den vergangenen Tagen. Die Hitze war
ebenso groß wie gestern und vorgestern, und morgen
würde es nicht weniger heiß sein. Aber die Arena und
ihre Umgebung hatten sich verändert.
Auf den Rängen breiteten sich weiße Sonnensegel
aus, die auf Stelzen gespannt waren und von Seilen
gehalten. Bunte Zelte standen hier, und im Schatten
waren die gesattelten Kampf-Sarths angebunden.
Wir vierundvierzig Streiter befanden uns in den
Zelten. Knappen und Mädchen umsorgten uns. Sie
brachten die Waffen und die Harnische und erfüllten
uns jeden Wunsch.
Zwischen den Tausenden von Zuschauern gingen
Kinder und Jugendliche umher, schenkten Wein und
Wasser aus und besorgten Botengänge. Auf einem
festlich geschmückten Erker standen die
Fanfarenbläser, und unter einem schattenspendenen
Baldachin saß der Leiter der Spiele, Herr Roter Bär. Er
würde einen kurzen, aber harten Waffengang leiten
und richten.
In jedem der großen Zelte befanden sich
zweiundzwanzig Kämpfer.
Sie wurden ausgerüstet. Man half uns in die dicke,
gepolsterte Kleidung und in leichte, aber an einigen
Stellen gepanzerte Stiefel. Überall lehnten Waffen, die
deutlich gekennzeichnet waren. Schwarze Bänder, das
wußte ich, zeigten an, daß es sich um meine Waffen
handelte. Ich hatte sie heute morgen aus den
Waffenkammern des Jahreskönigs ausgesucht.
Wir zogen lange Handschuhe an, die offensichtlich
aus weißem Leder bestanden und am Handrücken und
über den Fingern mit eisernen Schuppen verstärkt
waren. Dann halfen mir die Knappen, ein schweres
Kettenhemd überzustreifen, das bis knapp über die
Knie reichte. Schienbeinschützer, einen Harnisch mit
einem breiten metallenen Kragen, dann röhrenförmige
Manschetten für die Oberarme und die Unterarme.
Ich wurde förmlich gepanzert, schwitzte immer
mehr und sah zu, wie die anderen einundzwanzig
Männer ausgerüstet wurden.
Als ich aufstand, trug ich mehr Eisen und Waffen an
meinem Körper als zu Anbeginn des Rennens. Ich ging
schwerfällig und langsam, um mich an die
ungewohnte Ausrüstung zu gewöhnen, hinaus vor das
Zelt und sah zu, wie man mein Kampf-Sarth vorführte.
Das Tier war gesattelt und ebenfalls leicht
gepanzert.
Nacheinander kamen die Männer aus den Zelten.
Man gab uns runde, spitzkegelig zulaufende Schilde
mit verschiedenen Wappen darauf. Natürlich war auf
meinem Schild das Zeichen eines schwarzen Falken zu
sehen. Bei jedem Sarth standen Knappen und hielten
lange Lanzen mit schweren Griffen und stumpfen
Spitzen daran hoch.
Mädchen führten die Reittiere auseinander. Ein
Murmeln der Aufregung ging durch die dichten
Reihen der Zuschauer. In kurzer Zeit bildeten sich zwei
Reihen, die sich gegenüberstanden, durch die Weite
der Arena getrennt.
Wir stiegen auf und ergriffen die Lanzen.
Jetzt saßen vierundvierzig Männer, die Streiter
Erthus, in den Sätteln. Die Tiere und wir bildeten eine
gerade Linie. Die Aufregung wuchs. Die Tiere und wir
bebten förmlich vor Spannung. Die Spitzen der Lanzen
zitterten leicht. Wir kannten die Regeln ganz genau.
Roter Bär hob eine Hand, dann schmetterten die
Fanfaren los. Die Zuschauer riefen begeistert und
jubelten uns zu.
»Ihr werdet jetzt mit diesen stumpfen Waffen
gegeneinander kämpfen!« rief der Jahreskönig laut.
»Ihr seid aufgestellt in zwei Gruppen! Jeder, der zum
drittenmal aus dem Sattel geworfen wird, scheidet aus,
desgleichen jeder, der nicht mehr bis zum Ende des
Turniers mit eigener Kraft in den Sattel zurückkommt!
Wer durch seine eigene Ungeschicklichkeit während
dieses Turniers stirbt oder so stark verletzt wird, daß er
stirbt, der wird mit allen Ehren in Erthu eingehen!
Wir beginnen jetzt, und wenn genau noch
zweiundzwanzig Kämpfer in den Sätteln sitzen, endet
es. Dann haben wir die Freunde Erthus ermittelt, die
morgen weiter um mehr und höhere Ehren kämpfen
dürfen.
Blast die Fanfaren!
Und laßt das dritte Turnier beginnen, die Kämpfe
des dritten Tages zu Erthus Ehren!«
Die Zuschauer schrien und jubelten. Mädchen
schwenkten Kleidungsstücke und Fahnen, und dann
gaben die Fanfaren das Signal zum Beginn dieses
Turniers.
Und ich konzentrierte mich auf zweierlei Dinge
gleichzeitig.
Auf die Reaktionen des Tieres zwischen meinen
Schenkeln, die entscheidend waren für meinen Erfolg
oder Mißerfolg – und auf den Versuch, bis zum Ende
des Turniers auf alle Fälle im Sattel zu bleiben.
Beide weit auseinandergezogenen Reihen ritten
augenblicklich an.
Jeder Reiter auf unserer Seite hatte seinen erkannten
Gegner in der gegenüberliegenden Reihe, der auf ihn
zuritt. Die Visiere der Helme klappten rasseln herunter,
die Schilde wurden in Position gebracht, und die
langen Turnierlanzen senkten sich.
Ich beugte mich vor, während der Hengst, der
zusammen mit mir das Rennen gewonnen hatte, immer
schneller wurde und in einem jagenden Galopp über
den Sand der angefeuchteten Arena sprengte.
Kopfgroße Brocken nassen Sandes flogen nach hinten
und lösten sich in der Luft auf.
Das Ende der Lanze schlug hart in meine
Achselhöhlen.
Meine gepanzerte Faust klammerte sich um das
geschützte Griffstück. Der linke Arm schwang hinter
dem Schild herum, die linke Schulter schob sich nach
vorn. Ich zielte mit der Lanzenspitze auf eine Stelle des
gegnerischen Schildes, die sich in Magenhöhe befand.
Rasend schnell näherten sich die beiden Linien, jetzt
bereits in einiger Unordnung, aber in gleichbleibendem
Abstand. Ich vergaß augenblicklich alles andere und
konzentrierte mich nur auf meinen unbekannten
Gegner. Vielleicht war es sogar jener Mann, den ich aus
dem Wasser gefischt hatte.
In rasender Geschwindigkeit sprengten die beiden
Sarths aufeinander zu. Wir würden einander auf der
rechten Seite passieren.
Seine Lanze deutete auf mich, ich winkelte den
Schild in einer bestimmten Weise ab.
Nur noch wenige Mannslängen trennten uns.
Dann stießen wir zusammen. Die Lanzenspitze
berührte meinen Schild, schlug ihn hart gegen den
Körper und rutschte von der konisch geformten Spitze
ab, über die Schulter, riß dort einen Lederriemen auf
und schrammte mit einem häßlichen Geräusch ins
Leere.
Ich spürte im rechten Arm und in der rechten
Schulter einen harten Schlag, der mich im Sattel halb
herumwarf. Der Stoß meiner Lanze, die auf den Schild
des Gegners rammte, glitt ebenfalls ab, aber er blieb
nicht ohne Wirkung. Die Spitze rutschte über den
Schild und traf darunter die Rüstung. Ich wurde halb
aus den Steigbügeln gerissen, die Lanze rutschte weit
nach rechts ab, aber mein Gegner fiel nach hinten auf
die Kruppe des Sarths.
Dann waren wir aneinander vorbei, ich riß ihn, ohne
es zu wollen, mit dem hinteren Ende der Turnierlanze
aus dem Sattel, riß meine Lanze hoch und brachte das
Tier dazu, anzuhalten.
Kurz vor dem Ende der Arena, dicht vor der Mauer
stieg das Sarth hoch und wirbelte auf den Hinterbeinen
herum. Der lange Schweif peitschte den Boden. Ich
fällte die Lanze und sah durch den schmalen Schlitz
meines Helmvisiers.
Mein Gegner kam auf die Beine. Er taumelte hoch
und stützte sich auf seinen Schild. Ich wartete, bis alle
neunzehn Männer meiner Reihe ihre Sarths gewendet
hatten, dann heftete ich meinen Blick wieder auf den
Haufen von gestürzten Tieren, jammernden Männern
und zerbrochenen Speeren. Von allen Seiten kamen
Helfer herbei und räumten die Spuren des ersten
Waffengangs weg.
Noch neununddreißig Männer waren übrig.
Ein kurzes Warten. Zwei Männer wurden wie tot
hinausgetragen. Knappen fielen den scheuenden
Tieren in die Zügel und liefen mit ihnen hinaus. Dann
war die Arena frei. Herr Roter Bär hob die Fahne hoch
und gab den Bläsern sein Zeichen.
Ich spannte meine Muskeln; jetzt hatte ich einen
neuen Gegner. Der Mann mit dem weißen Kreis auf
dem Schild wankte jetzt aus der Arena hinaus, stützte
sich an der Mauer und brach klappernd und
scheppernd auf den Treppen zusammen. Ich packte die
Lanze fester.
Die Fahne senkte sich, die Fanfaren ertönten.
Augenblicklich sprang mein Tier vorwärts, wurde
innerhalb einer unwahrscheinlich kurzen Strecke
schneller und schneller, flog förmlich davon wie ein
Pfeil, der von der Sehne geschnellt wurde. Ich riß die
Lanze nach unten und zielte. Wieder war ich der
äußerste der Reihe. Auf dem Schild des Gegners
loderten die Flammen aus dem Schnabel eines
heraldischen Vogels.
Komm nur, dachte ich. Vorher muß ich erst dreimal
aus dem Sattel geworfen werden!
Wieder ritten wir aufeinander zu.
Und wieder zielten die Lanzen, wurden die Schilde
in günstigste Position gebracht, rasten die Männer auf
den nervösen und gespannten Tieren aufeinander zu.
Ich stemmte mich in die Bügel, versteifte mich, nahm
die Schultern nach vorn und versuchte, dem Gegner so
wenig wie möglich an Angriffsfläche zu bieten. Bei
diesem Waffengang wurden die Lanzen und gerissene
Sattelgurte ergänzt – aber keine Teile der Ausrüstung.
Nicht einmal der Schild.
Krachend prallten wir zusammen.
Der Speer des Gegners traf meinen Helm. Im selben
Moment fuhr ein Schmerz wie von glühenden Eisen
rund um mein Kinn. Der Riemen, der meinen Helm
hielt, riß auseinander, die Schnalle schlug gegen meine
Haut und riß eine längliche Wunde. Meine Lanze traf
genau die Gürtelschnalle der gegnerischen Rüstung.
Der Reiter wurde wie von einer unsichtbaren Faust
gepackt, sein Körper kippte nach hinten und wurde
hochgerissen, leitete meinen Speer nach oben ab und
flog eine Mannslänge weit durch die Luft.
Mein Helm landete weit hinter mir im Sand. Ein
Sarth trat dann darauf. Ich preschte an dem Haufen der
zusammengebrochenen Reittiere und der sich
wälzenden Männer vorbei und hielt das Tier – das ich
bis dahin ohne Zügelhilfe geritten hatte – dicht vor der
Mauer an.
Jetzt erst schlug das Schreien und Klatschen der
Zuschauer an meine Ohren. Ich hatte die gesamte Welt
um mich herum vergessen, und auch der Umstand,
daß ich es vor Hitze kaum mehr aushielt, wurde mir
erst jetzt bewußt.
Jeder von uns tat in diesem Augenblick dasselbe.
Während wir warteten, daß zwischen den beiden
Reihen der Kämpfenden die Arena wieder frei wurde,
zählten wir die Reiter der eigenen Reihe und diejenigen
der gegnerischen Phalanx. Auch die Zuschauer hatte
eine Spannung ergriffen, die kaum noch zu steigern
war.
In unserer Reihe waren es noch vierzehn Männer,
die gegenüberliegende Gruppe besaß noch fünfzehn
Männer, aber jetzt rannte einer auf unsere Reihe zu uns
bestieg sein Pferd. Sein Schild war verloren, und die
Kämpfer griffen nach neuen Turnierlanzen.
Noch dreißig Männer!
Acht mußten also noch aus den Sätteln gestoßen
werden. Ich wischte mir mit einem Stück des
heraushängenden Ärmels den Schweiß aus dem
Gesicht, dann sah ich aus dem Augenwinkel, daß Roter
Bär wieder die Fahne schwenkte.
Anfeuernde Rufe kamen aus dem Rund der
Zuschauer. Neben Roter Bär war nun Honigvogel
aufgetaucht und blickte zu mir herüber. Sie erschrak
deutlich, als sie sah, daß ich ohne schützenden Helm
kämpfte. Außer mir gab es nur noch einen Mann,
dessen Helm heruntergestoßen war. Noch immer
fühlte ich den Schmerz, den die Rißwunde und die
Druckstelle des Riemens verströmten.
Wieder tobten die Fanfaren.
Wieder ritten wir aufeinander zu. Ich hob den Schild
so hoch wie möglich und spähte über dessen Rand.
Meine Lanze senkte sich und zielte auf den Gegner. Ich
wartete bis zum letzten Augenblick, dann schwang ich
den linken Arm mit denn zerbeulten Schild hoch und
schmetterte den Lanzenschaft des Gegners zur Seite.
Ich hatte zu schlecht gezielt. Meine Lanze traf zwar den
Schild fast genau in der Mitte, aber der Ritter war zu
nahe herangekommen. Die Lanze bog sich rasend
schnell und zerfetzte dann in lange Splitter, die mir um
den Kopf schwirrten. Wir rasten aneinander vorbei,
und ein Teil der zersplitterten Lanze schrammte über
die Haut des gegnerischen Kampf-Sarths.
Ich schleuderte den abgebrochenen Stumpf nach
links, als ich die Mauer erreichte und riß den Arm
hoch.
»Knappe! Eine neue Lanze!« rief ich laut. Meine
Kehle schmerzte. Mir wurde eine Lanze zugeworfen,
und ich packte sie fester, als sich das Sarth drehte und
wieder ruhig stehenblieb. Die Flanken des Tieres
zitterten. Sein Atem ging keuchend wie ein Blasebalg.
Aber noch immer hatte ich auf dem Umweg über
Vestas Auge das Tier unter Kontrolle.
Vier Männer schieden aus ...
Noch ein Waffengang, höchstens zwei, dann war für
diesen Tag die Ausscheidung beendet. Ich war sicher,
daß ich zu den Freunden Erthus gehören würde. Aber
nur ein einziger ungeschickter Augenblick konnte mich
des Sieges berauben und somit auch der Möglichkeit,
mich Erthu zu nähern.
Wieder warteten wir ...
Dieses Mal war die Pause länger.
Ich hatte bemerkt, daß nur wenige Männer, einmal
aus dem Sattel geworfen, in der Lage waren, den
nächsten Waffengang mitzumachen. Der Stoß, mit dem
jemand aus dem Sattel gerissen, durch die Luft
gewirbelt und auf die Erde geschmettert wurde, war
stark und nachhaltig. Ich war überzeugt, daß heute
mehr Knochen gebrochen wurden als an den
vorhergehenden Tagen. Aber ich verwendete nicht
einen Gedanken auf die folgenden Tage, in denen die
Kämpfe kürzer und härter werden würden, von Mal zu
Mal.
Schweiß sickerte in meine Augen. Ich wischte ihn
weg.
Die Knappen und einige Kämpfer, die an den
vergangenen Tagen ausgeschieden waren, kamen und
trugen die Verletzten und die Toten hinaus. Ein
durchgegangenes Sarth wurde eingefangen und
hinausgezerrt. Jetzt drängten sich die Zuschauer, die
seltsamerweise kaum mehr riefen und jubelten, nach
vorn, um alles genau sehen zu können. Honigvogel
winkte in meine Richtung und wurde von ihrem Vater
an der Schulter zurückgezogen.
Wieder flatterte der Zeremonienwimpel, als Roter
Bär den Bläsern seine Signale gab.
Der Kämpfer bemächtigte sich die Erregung, die aus
Erschöpfung, Sturheit und Wut gemischt war und aus
dem festen Willen, aus dieser Ausscheidung als Sieger
hervorzugehen.
Ich hatte erfahren, daß einige Dutzend Männer, auch
wenn sie nicht die letzten Prüfungen erreichten, in
hohe Ämter dieser Stadt berufen wurden, was
abermals Ehre und Auszeichnung bedeutete.
Zweiundzwanzig Männer für achttausend Bewohner –
also kämpfte bereits diese Gruppe um durchaus
erstrebenswerte Ziele, auch wenn sie nicht zu den
letzten Gewinnern zählen würden.
Die Elite aus achttausend Bewohnern, also die
besten von rund fünfhundert guten Männern, befand
sich hier in der Arena.
Und wieder stießen die Bläser in die langen,
hallenden Instrumente. Wir griffen einander an ...
Und wieder rannte und sprang mein Sarth los, als
würde es den Rest seiner Kraft in diesen kommenden
Zusammenstoß legen. Ich versteckte mich hinter dem
Schild und visierte den Gürtel des Gegners an, stellte
den Schild gleichzeitig schräg, kippte ihn nach oben
und machte mich im Sattel so klein wie möglich. Ich
sah die Lanzenspitze, die immer drohender und größer
wurde, und mein Auge glitt an dem Schaft meiner
Turnierlanze entlang und stellte sich auf das Ziel ein.
Dann riß mich ein furchtbarer Stoß, der sich durch
meinen Arm und das Schultergelenk fortsetzte, fast aus
dem Sattel. Zwar lenkte der Schild die Lanze ab, aber
der Schaft traf mich mit der Wucht eines Schwerthiebes
auf den Kopf und blendete mich. Ich fühlte, wie meine
Lanze nach rechts gerissen wurde und sich bis zum
äußersten Punkt der Belastung durchbog, dann
wirbelte und flog ein Körper an mir vorbei, ein Fuß traf
mich am Arm, und wir waren aneinander vorbei.
Ich riß die Lanze hoch, fing mich wieder ab und
zügelte das Sarth. Ich hielt vor der Mauer und drehte
mich im Sattel. Ich sah gerade noch, wie der Mann auf
den hartgetrampelten nassen Sand aufschlug, wieder
hochgeprellt wurde und dann von einem
durchgehenden Reittier niedergetrampelt wurde.
Ich zählte die menschlichen Körper, die sich im Sand
wälzten und wußte, daß der Kampf vorbei war.
Im gleichen Augenblick schmetterten die Fanfaren
auf, die Männer bliesen lange Tonfolgen, und die
Zuschauer riß es hoch. Sie begannen auf der Stelle zu
tanzen und waren schier außer sich. Ein ungeheurer
Jubel brach los, als man laut zu zählen anfing.
Die beiden Reihen der übriggebliebenen Männer
standen sich wieder gegenüber. Auf jeder Seite waren
es genau elf.
Zweiundzwanzig ... die Freunde Erthus waren
gekürt.
Wie ein Besessener schwenkte Roter Bär die Flagge.
Er winkte, und wir ritten langsam durch die Arena und
hielten unsere Tiere an. Nun bildeten zweiundzwanzig
Männer vor dieser reich ausgeschmückten Steinkanzel,
von der aus mir Honigvogel begeistert zuwinkte, einen
lockeren Halbkreis.
»Freunde!« rief Roter Bär und meinte damit nicht
nur uns, sondern sämtliche Zuschauenden. »Wir haben
am dritten Tag der Spiele die zweiundzwanzig besten
Kämpfer herausgefunden.
Ihr alle seid nun die Freunde Erthus und werdet
morgen abermals gegeneinander antreten.
Der Kampf war kurz aber nicht leicht. Ihr habt eure
Aufgabe mit Können, Gewandtheit und Schnelligkeit
gelöst. Ganz Merlane jubelt euch zu. Auch am vierten
Tag, wenn die Favoriten Erthus und am fünften, wenn
die Erwählten Erthus übrigbleiben, werdet ihr nach
den Regeln kämpfen und tun, was seit Jahrhunderten
Brauch und Sitte ist.
Nehmt nun die Helferinnen in die Sättel, werft die
Waffen weg und reitet zurück in die Paläste. Für diesen
Tag endet jeglicher Kampf! Laßt uns Humpen
schwingen und dem Saitenspiel lauschen!«
Seine letzten Worte wurden von dem Geschmetter
der Instrumente übertönt. Ich dirigierte mein Sarth
dicht an die Mauer heran, warf die Lanze und den
Schild zu Boden und streckte beide Arme aus, um
Honigvogel aufzufangen, die über die Brüstung sprang
und sich an meinen Schultern festhielt.
Den Weg zum Palast von Herrn Roter Bär fand ich
allein.
Eine trügerische Hochstimmung ergriff mich und
ließ mich vergessen, was hinter mir lag und was
jenseits des Weltentors zurückgeblieben war – und
ebenso vergaß ich, oder ich wollte nicht daran denken,
was vor mir lag.
Meri-Meri drückte sich gegen meine Brust, meine
Arme schlossen sich um ihren Körper, meine Hände
hielten den Zügel. Ich hatte den geistigen Griff nach
dem Willen des Tieres gelockert, und das starke Sarth
lief in einem weichen Trab durch den Sand und über
das Gras neben der Straße.
»Du hast gekämpft wie ein Rasender! Aber dabei
warst du klug und umsichtig! Es gab niemals einen
besseren Kämpfer!« sagte sie und schüttelte sich leicht.
»Ausgenommen deinen Vater«, meinte ich. »Ein
Mann, der dreimal nacheinander Jahreskönig ward, ist
ein Krieger, mit dem Erthus oder Vesta streiten.«
Mit unerschütterlicher weiblicher Logik lachte sie
auf und erklärte mir:
»Vater Roter Bär ist auch älter und hat viel mehr
Erfahrung!«
»Das glaube ich auch!« sagte ich zufrieden. Ich
würde nicht gegen ihn kämpfen müssen.
Wir ritten in den großen Hof ein. Die Sonne stand
im Nachmittag. Ich vergaß meine Schmerzen und
dachte an die Wohltat, die ich nun im Badehaus über
mich ergehen lassen würde. Ich fühlte mich frisch und
ausgeruht, aber es war nur die Hochstimmung des
Siegers. Wenn die Erregung abgeklungen war, würde
ich die Schmerzen und die Müdigkeit spüren.
»Bis zum Abend werde ich schlafen, Meri-Meri«,
sagte ich.
»Ich werde an deiner Seite liegen, deinen Schlaf
bewachen und dich beschützen, Dragon!« versicherte
das blonde Mädchen.
Knappen nahmen mir die Zügel ab und halfen mir,
noch vor dem Eingang in den halb verfallenen Palast,
die schwere Rüstung abzulegen. Je leichter ich mich
fühlte, je weniger Gewicht auf meine Schultern
drückte, desto mehr machten sich der Schmerz und die
Erschöpfung breit. Honigvogel zog mich mit sich, und
wieder waren wir im Halbdunkel der duftenden und
dampferfüllten Badestube. Sie hatte für mein Leben
eine ungeahnte Bedeutung erlangt.
Ich legte mich auf die Ruhebank und entspannte
mich.
Hinter uns standen Diener und hielten die Fackeln
hoch. Ihre Flammen spiegelten sich in den Schilden.
Helmen und Rüstungsteilen, die sich hier in großer
Anzahl von Wand zu Wand erstreckten. Die
Waffenkammer des Jahreskönigs war in der Lage, ein
kleines Heer auszurüsten. Und ich kannte die Waffen
inzwischen! Sie hätten nicht besser sein können!
»Welche Waffen brauche ich morgen?« fragte ich
halblaut und betrachtete die langen und kurzen, die
schmalen und breitschneidigen Schwerter, die mit den
breiten Wehrgehängen an den Metallnägeln der Wand
hingen.
»Leichte Stiefel und eine gepanzerte Hose!« sagte
Roter Bär und nahm mich bei den Schultern. »Ein
Kettenhemd.«
Langsam und mit großem Sachverstand suchten wir
die einzelnen Gegenstände aus. Auch von ihnen hing
es ab, ob ich morgen zu den elf Siegern gehören würde.
Schließlich lagen die Gegenstände auf einem großen,
dreieckig und geschwungen gearbeiteten schweren
Wappenschild, dessen Vorderseite leer war.
»Und eine Rüstung natürlich, mitsamt dem Helm.
Aber wähle keinen Schmuckhelm, sondern einen, der
gar manchen harten Schlag aushält!« warnte mich
Roter Bär. Er deutete auf die beiden Reihen von
Helmen, die hier in allen Spielarten erschienen und auf
hölzern geschnitzten Köpfen saßen.
Ich suchte eine Rüstung aus, die mich einerseits
nicht sehr beengte, und andererseits stark genug war,
um meinen Körper vor schweren Hieb- oder
Stichwunden zu schützen.
Schließlich war es ein großer, schwerer Haufen
verschiedener Ausrüstungsgegenstände, die von den
Knappen nach oben geschleppt wurden. Herr Roter Bär
sagte ihnen, was sie zu tun hatten, und ich zog mich
wieder in meinen Raum zurück, in dessen Kamin
bereits ein Feuer brannte. Auf dem niedrigen Tisch aus
einem Säulenstumpf und schweren Holzplatten stand
ein Krug, daneben ein Pokal. Ich trank einen langen
Schluck
Wein – wieder hatte die Behandlung der Mädchen
meinen Körper auf wunderbare Weise sich erholen
lassen.
Ich wußte nicht, wie spät es war, aber die rote Glut
war die einzige Beleuchtung des Raumes. Draußen
herrschte Dunkelheit. Von fern hörte ich das Rollen
von einem langgezogenen Donnern – konnte das sein?
Ein Gewitter, das sich auf die Stadt zubewegte?
Ich berührte mein Amulett, aber es verfärbte sich
nicht, leuchtete nicht auf. Die Kette drückte mich, also
nahm ich die Metallscheibe ab und schob sie unter die
Felle. Dann legte ich mich auf den Rücken und dachte
nach.
Im Palast war es still, nur irgendwo hörte ich
verschwommene Arbeitsgeräusche. Bald würde
Honigvogel kommen und mich zum Essen abholen, zu
einem der ausgedehnten Nachtmahle dieses Hauses.
Losgelöst von allem, müde und doch von einer
besonderen Klarsichtigkeit der Gedanken und
Empfindungen, versuchte ich mir den weiteren Weg
vorzustellen. Was immer ich dachte, welche
Möglichkeiten ich auch immer in meine Vorstellungen
mit einbezog – bis zum Weltentor und von dort zurück
nach Myra und zu Amee war es auf alle Fälle ein
langer und sehr beschwerlicher Weg.
Ein Weg, auf dem ich sterben konnte.
Zuerst hatte mich Cnossos aus Atlantis
hinausgestoßen und hatte die ersten Ansätze eines
goldenen Zeitalters hinweggefegt, dann war ich hierher
geschleudert worden. All das geschah ohne meine
Schuld, aber ich war das Opfer. Und nun versuchte ich,
Dinge wahr werden zu lassen, von denen ich selbst
nicht überzeugt war. Aber ...
Es gab Erthu, den Erdgeist.
Wenn es ihn gab, dann existierten auch die anderen
freien Geister und auch Vesta!
Und sie mußten mir weiterhelfen.
Ein Geräusch lenkte mich ab. Die Tür schwang leise
auf und fiel dumpf ins Schloß. Die Vorhänge bewegten
sich in der Dunkelheit. Zwischen dem glühenden Rot
des Feuers und mir schob sich eine schlanke Gestalt
vorbei und näherte sich dem Lager. Ich roch das Öl,
mit dem sich Honigvogel massieren ließ und den
schwachen Duft ihrer seidigen Haut.
»Du bist es, Meri-Meri?« flüsterte ich.
Sie warf sich neben mich auf das Lager.
»Wer sonst würde es wagen, einen Krieger zu
stören, einen Freund Erthus?«
Ich streckte meine Hand aus und fühlte ihr Haar
zwischen den Fingern.
»Sage mir, Meri-Meri«, begann ich nach einer
kleinen Weile. »Ihr habt alles, was Menschen zum
Leben brauchen. Wein und Braten. Tiere und Früchte,
Stoffe und Waffen. Sogar Holz für die Kamine, wo
doch weit und breit kein einziger alter Baum mehr zu
sehen ist. Woher kommt all dieses?«
Sie streichelte mich und schwieg eine Weile. Sie
schien nicht sicher zu sein, ob dieses Geheimnis zu
groß war, als daß ich es wissen durfte.
»Unsere Lebensquellen sind die Höhlen. Die große
Höhle Erthus unter der Stadt gibt uns alles, was wir
brauchen. Aber wir geben Erthu unsere Toten!«
Ich stutze abermals. Noch ein weiterer Hinweis
darauf, daß ein Erdgeist dort unten tatsächlich
existierte! Zwischen zwei langen, heißen Küssen drang
ich weiter in Honigvogel.
»Ihr wacht also auf, und die Weinfässer, das Holz
und die Bratenstücke ... sie sind einfach da?«
»Frage mich nicht, Herr Schwarzer Falke!« sagte sie
leise. »Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen darf. Aber ich
bin sicher, daß du zu den sechs Auserwählten gehören
wirst. Dann erfährst du alle Geheimnisse Erthus!«
»Du kannst mir wirklich nicht mehr sagen?«
Sie schüttelte hilflos den Kopf.
»Nein. Glaube mir. Du wirst alles selbst erfahren!«
Jetzt also wußte ich, daß ich bisher richtig gehandelt
hatte, mich den Kämpfen zu stellen. Ich würde also
Erthu treffen, wenn es mir gelang, die letzten
Ausscheidungen durchzustehen und zu den sechs
Auserwählten zu gehören. Sechs? Die Hälfte von
zweiundzwanzig war elf, und die Hälfte von elf ... nun,
wir würden es sehen. Ich schob alle Gedanken an
Kämpfe, Sonnenglut und Wunden zur Seite und nahm
Honigvogel in die Arme.
5.
Die ganze Nacht über hatte es gedonnert und von fern
geblitzt. Das Wetterleuchten wanderte in der Nacht
mehrmals um die Stadt herum, aber es regnete nicht.
Die Luft wurde schwül und feucht und trieb bei jeder
Bewegung den Schweiß auf die Haut. Ich begann, mich
klebrig zu fühlen und sehr unbehaglich.
Der späte Morgen des vierten Tages sah uns wieder
in den Zelten neben der Arena. Die Sonnensegel
spannten sich noch immer über die Ränge des Platzes.
Ich erkannte, daß die lange Tradition dieser
Ausscheidungskämpfe einen vernünftigen Modus
hatte entstehen lassen. Die ersten drei Tage, in denen
die Elite der Kämpfer ausgesondert worden war,
hatten uns alle in der größten Hitze gesehen, gegen
Mittag und in den Stunden nach Mittag.
Heute sollten die Kämpfe früher beginnen, nämlich
in den Stunden zwischen Sonnenaufgang und Mittag.
Wieder wurden wir ausgerüstet und gekleidet.
Der halbe Himmel hatte sich mit schwarzen Wolken
bezogen. Hitze und Schwüle wurden unerträglicher.
Die Spannung unter uns Gladiatoren nahm ebenso zu
wie die Hitze. Dann erreichten die Wolken die
Sonnenscheibe und ließen das Licht schwinden. Alles
wurde grau, selbst das Innere der Zelte, deren Seiten
hochgeschlagen waren.
Wir konnten, während wir unsere Waffen ein letztes
Mal überprüften, aus den Zelten hinaussehen. Wieder
kamen in großen Gruppen die Bewohner der
phantastischen Ruinenstadt und setzten sich auf die
Ränge und Stufen. Binnen kurzer Zeit, schon eine halbe
Stunde, nachdem die Herolde durch die Straßen und
Höfe gezogen waren, füllte sich das weite Rund.
Die Sandarena war gesäubert und mit Rechen zu
einem unruhigen Muster geharkt worden.
Der Jahreskönig Herr Roter Bär, einige
Schiedsrichter und Honigvogel nahmen wieder vor
den Fanfarenbläsern auf der steinernen Kanzel Platz.
Wir waren schon jetzt müde und schlaff.
Konzentriert und in sich selbst versunken,
schwiegen die Kämpfer. Wir waren ausgerüstet und
fertig; die Kämpfe wurden in voller Rüstung
durchgeführt, aber nur mit Schlagwaffen. Es gab weder
Speere noch Lanzen oder Bögen, aber ich sah Keulen
und Schwerter, doppelte Äxte und Kampfbeile – aber
die Waffen waren stumpf. So sollten tödliche
Verwundungen vermieden werden. Der Grund lag auf
der Hand: Die zweiundzwanzig Freunde Erthus sollten
wichtige Ämter in der Stadt Merlane übernehmen.
Ein Wink von Roter Bär! Die Fanfarenbläser
verkündeten den Beginn der Kämpfe. Wir
marschierten in zwei langen Reihen, begleitet von den
Schild- und Waffenträgern, aus den Zelten und
nahmen Aufstellung in der Arena. Zehn Mannslängen
trennten uns voneinander. Im Lauf der letzten Tage
fanden sich, zufällig und doch nicht ganz absichtslos,
immer dieselben Männer im gleichen Zelt ein.
Die Fanfarenklänge verhallten. Eine atemlose Stille
breitete sich um die Arena aus, nur unterbrochen von
den lauter werdenden Donnerschlägen und dem
langgestreckten Rollen, das von überall zu kommen
schien. Unsere Körper warfen in dem düsteren grauen
Licht keine Schatten mehr.
»Freunde Erthus, zweiundzwanzig an der Zahl!«
begann Herr Roter Bär. »Dies ist der vierte Kampf
dieses Großen Turniers! Ihr werdet nun in voller
Rüstung und mit stumpfen Waffen kämpfen, und ihr
habt versichert, daß keiner einen Groll gegen den
anderen hat.
Ihr kennt die Regeln, Freunde! Hier seien sie noch
einmal verkündet!
Wer sich nicht mehr erheben kann und
hinausgebracht werden muß, scheidet aus. Auch
derjenige, der ein zweites Mal zu Boden geht, scheidet
aus, es sei denn, es war nicht mehr als ein Ausrutschen
des Fußes oder ein Stolpern. Darüber wachen die
Männer rund um mich, die alle schon einmal in eurer
Lage waren und einen solchen Kampf siegreich
bestritten haben.
Wir werden genau zählen, denn in dem Augenblick,
da sich nur noch elf Kämpfer in der Arena oder im
Kampf befinden, ertönt das Signal der Fanfaren! Ihr
stellt dann augenblicklich jede Kampfhandlung ein!
Elf Männer bleiben heute übrig!
Sie werden zu Favoriten Erthus ernannt und sollen
sich unter den versammelten Töchtern Erthus die
Helferin aussuchen – aber ich bin sicher, daß ich diesen
Teil der Regeln nicht mehr erklären muß. Und nun ...
beginnt die ritterlichen Kämpfe, Männer!«
Die Fanfaren gaben das Signal.
Die Kämpfer liefen aufeinander zu. Ich sah mich
Herrn Gelber Drache gegenüber, jedenfalls prunkte
dieses Bild auf seinem Schild und auf dem dünnen
Tuch, das er über dem halbkugelig vorgewölbten
Brustharnisch trug.
Ein riesiger, breitschultriger Mann, der wie ein
Teufel geritten war und nun ein zweischneidiges,
langes Kampfbeil handhabte, als wäre es ein Stück
Holz. Ich hob meinen Schild und fing den ersten Schlag
ab, ich kämpfte mit einem Schwert von mittlerer Länge
und durchschnittlichem Gewicht.
Ich sprang zur Seite, als sich mein Gegner drehte
und einen zweiten Schlag dieser Wucht einleitete. Ich
vergaß schlagartig alles um mich herum und stellte
mich auf diesen Kampf ein. Es war, als kämpfte ich in
den Ebenen des Amazonenreiches oder gegen Cnossos.
Ich fintete, wehrte die wütenden Hiebe mit dem Schild
ab und schlug zurück.
Binnen kurzer Zeit waren unsere Turnierhemden
zerfetzt und hingen in Streifen herunter. Die Schilde
zeigten tiefe Kerben. In einer langen Reihe rechts und
links von uns beiden, auseinandergezogen über die
ganze Arena, kämpften die anderen Männer, drehte
sich umeinander, schlugen aufeinander ein. Ein
donnerndes, hallendes Krachen erfüllte den Platz.
Auch der Donner war lauter geworden und kam in
einzelnen Schlägen. Hin und wieder zuckte im Westen
ein langer Blitz auf und erhellte das Halbdunkel der
näher treibenden Gewitterwolken. Hitze und Dunst
hatten sich noch mehr gesteigert. Aber wir vergaßen
sogar die Bäche von Schweiß, die uns die Kleidung an
die Haut klebten.
Ein Schlag, unter dem ich gerade noch
hinwegtauchen konnte, riß die Rammspitze von
meinem Helm. Der Konterschlag spaltete eine Hälfte
des Kampfbeils des Gegners, schlug die Klinge
auseinander und schmetterte die Waffe tief in den
Boden. Das war meine
Chance – ich sprang vor, trat schwer auf den Schaft
und riß dadurch die Waffe aus der Hand des Gegners.
Er ließ sie los, stemmte den Schild hoch und wehrte
zwei meiner Schläge ab.
Dann sprang er zurück.
Ich setzte nach, schlug fintierend gegen seine Knie.
Der Mann in der schwarzen Rüstung wirbelte den
Schild herunter, aber mein Schlag glitt in einem weiten
Bogen wieder aufwärts. Dann traf ich mit der flachen
Seite des Schwertes den Helm und versetzte dem
Gegner einen mächtigen Schlag in der Höhe des Ohres.
Das Geräusch dieses Hiebes ging unter in einem
gewaltigen Donnerschlag, der die Mauern der Stadt
erschütterte.
Der Mann wankte, ließ den Schild fahren und
schwankte nach vorn. Ich holte ein zweites Mal aus,
aber ich zögerte.
Ein gewaltiger Windstoß fuhr über die Stadt dahin,
brachte eine Wolke von feinem Sand mit sich und
verdeckte einen Augenblick lang die Sicht. Aber ich
brauchte nicht mehr zuzuschlagen. Mein Gegner sank
in die Knie, fiel krachend auf den Boden und blieb
liegen. Ich ging langsam rückwärts, versuchte in der
stauberfüllten Hitze durchzuarbeiten und sah mich
um.
Vier Männer waren ausgeschaltet worden.
Zwei von ihnen wankten zwischen den Schultern
der Helfer aus der Arena. Der einsetzende Sturm zerrte
an ihnen und ließ die Fetzen ihrer Kleidung wild
flattern. Zwei andere Freunde Erthus lagen wie tot da
und wurden aufgehoben und hinausgeschleppt. Also
kämpften noch achtzehn Männer. Einen Augenblick
lang sah ich drei, dann nur noch zwei Männer müßig
herumstehen und sich erholen, aber dies änderte sich
sofort.
Ein Krieger, dessen Schild einen drohenden Fisch
zeigte, hatte mich erspäht und kam näher.
Er schwenkte eine metallene Keule mit stumpfen,
kurzen Stacheln über seinem Helm. Ich ging in
Angriffshaltung und machte mich auf den Anprall der
Waffe gefaßt.
Durch den Staubschleier und den wütenden Stoß
des auf und abschwellenden Sturmes rannte Herr
Grüner Fisch näher, hob die Waffe zu einem
senkrechten Schlag, und ich hob den Schild zur
Abwehr.
Ich kippte den Schild, wich zur Seite aus und
versuchte, die Wucht dieses Hiebes zu schwächen, aber
die Verdickung der Keule traf mitten auf den Schild,
prellte ihn aus der linken Hand, riß eine tiefe
Schramme und schlug eine tiefe Beule hinein. Mein
Arm wurde augenblicklich taub und gefühllos.
Aber ich reagierte blitzschnell und schlug zu. Mein
Schwert traf den Krieger an der Schulter. Ich hörte
deutlich seinen Aufschrei, zog mich zurück und führte
noch im Ausweichen zwei schnelle Schläge. Einer
wurde von der Keule abgewehrt, aber der zweite traf
den Schaft der Waffe dicht über dem Handgriff. Ich
sah, wie der stumpfe Stahl meines Schwertes in die
röhrenförmige Schaffung eindrang, riß mein Schwert
zurück und drehte mich.
Mein linker Arm schwang kraftlos herum.
Inzwischen setzte der Schmerz ein und vertrieb die
Gefühllosigkeit. Der Schild schlug mit aller Wucht
gegen den Helm des Gegners und traf die
Nasenschiene. Der Mann prallte zurück und stolperte.
Ich führte den nächsten Schlag nicht mehr aus, sondern
sprang in die Höhe und trat mit dem Stiefel zu. Ich
landete einen wuchtigen Tritt auf den Brustharnisch
und warf den Mann in den Sand.
Dann stöhnte ich auf. Der linke Arm schmerzte
höllisch.
Noch während sich der Gegner im feuchten Sand
überschlug, zuckte der Blitz herunter und spaltete eine
riesige Steinsäule weit von der Arena entfernt in zwei
Teile. Der Donner machte uns alle vorübergehend taub.
Dann schlugen die ersten Regentropfen ein wie
kleine Steine, wie Geschosse aus einer Schleuder. Es
wurden immer mehr. Schließlich, nur wenige
Augenblicke später, hämmerte ein furchtbarer
Regenguß auf uns herunter und durchnäßte uns
binnen kürzester Zeit. Ich stand mit schlagbereitem
Schwert da und fühlte, wie der Regen meine Schultern
traf und mich in ein dampfendes, triefend nasses
Bündel verwandelte.
Dann dachte ich an eine Art Schirm, daran, daß ich
nicht naß werden durfte, weil dies mich beim Kämpfen
stören würde ...
Mein Gegner kam wieder auf die Füße, packte die
Keule kürzer und lief direkt in meinen Schlag hinein.
Das Schwert rutschte am obersten Rand des Schildes ab
und traf zwischen Helm und Halsblende. Der Mann
stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte
geradeaus an mir vorbei. Wieder sprang ich zur Seite
und hob mit unendlicher Mühe den Schild, holte
blitzartig ein zweitesmal aus. Ich wartete darauf, daß er
sich umdrehte, aber ...
Ich merkte, daß der Regen mich nicht mehr traf!
Vestas Auge bildete zusammen mit der Natur rund
um mich eine Art unsichtbaren Schirm. Rings um mich
floß förmlich das Wasser vom Himmel und bildete
Pfützen im Sand, aber ich blieb verschont.
Mein Gegner kam schlitternd zum Stehen und
drehte sich um.
Ich war mit zwei Schritten in der richtigen Position
und war wild entschlossen, diesen Kampf schnell zu
beenden. Aus einer Wunde sickerte Blut über die nasse
Rüstung des Kampfers. Es vermischte sich mit dem
strömenden Regenwasser und wurde hinweggerissen.
Ich schlug schnell und gezielt. Ein Hagel
erbarmungsloser Schläge traf die Arme und die Seiten
des Gegners. Seine Bewegungen und Abwehrschläge,
auch die Deckung durch den Schild, wurden
langsamer und ungenau. Dann kippte der Schild, und
mein nächster Schlag traf den Helm des Gegners genau
an der Stirn. Die stumpfgeschlagene Schneide schlug
eine tiefe Rille, und wie ein gefällter Baumstamm fiel
der Gegner um.
Herr Grüner Fisch lag still auf dem nassen Sand,
vom Regen übergossen und unfähig, sich zu bewegen.
Ich atmete tief. Die Hitze war aus der Luft gewichen,
es war wunderbar kühl geworden, aber die Sicht war
getrübt. Der Regen schlug fast waagrecht über den
Turnierplatz, aber kein einziger Zuschauer flüchtete.
Noch immer lag Grüner Fisch regungslos auf dem
Boden. Ich blickte auf die anderen Gruppen, die
erbittert miteinander kämpften.
Ich begann zu zählen. Neun ... elf ... dreizehn, mich
eingeschlossen.
Im gleichen Augenblick schrie jemand am anderen
Ende der Arena auf. Waffen und ein Schild flogen, sich
überschlagend, durch die regengeschwängerte Luft.
Wieder blitzte es, wieder krachte markerschütternd der
Donner. Ein Mann in heller Rüstung taumelte mit
kurzen Schritten, schon halb im Fallen, über die Arena
und schlug gegen die Mauer, blieb einen Augenblick
an den Steinen lehnen und sank dann langsam herab.
Der Schmerz in meinem Arm machte mich
benommen, aber ich atmete die frische, feuchte Luft ein
und erholte mich langsam.
Zwölf Männer waren noch übrig ...
Fünf kämpfende Paare und zwei Männer, die eben
einen Kampfgang beendet hatten. Der Kämpfer am
anderen Ende der Arena sah mich und hob
auffordernd seinen Schild. Trotz meiner Schmerzen
versuchte ich ebenfalls, den schweren Schild über den
Kopf zu heben. Die fünf kämpfenden Paare beachteten
uns nicht und setzten ihren Kampf in dem tobenden
Gewitter fort. Klingen blitzten auf, ununterbrochen
dröhnten und krachten die Schläge.
»Ich komme!« schrie ich laut und rannte an den
Kämpfenden vorbei. Einmal wich ich aus, als einer der
Männer an mir vorbeistürzte, auf die Knie sank und
sich wieder aufraffte.
Wir trafen irgendwo in der Mitte der Arena
zusammen. Der Regen fiel jetzt senkrecht, noch immer
mit größter Wucht. Aber selbst mein Schild war noch
trocken. Wir hoben unsere Waffen und gingen in
Angriffstellung.
»Wohlan denn!« schrie der andere Mann hinter
seinem eisernen Visier hervor. »Beginnen wir‘s!«
Er schwang das Schwert nach vorn, ich wehrte den
Schlag ab. Mitten in das Klirren der Waffen mischte
sich der Laut der Posaunen. Sie erschollen zwischen
dem Knattern der Blitze und dem Krachen des
Donners. Augenblicklich senkten wir die Schwerter.
»Hört auf, ihr Favoriten Erthus! Senkt die Waffen,
beendet den Kampf. Es sind elf Kämpfer übrig!« schrie
Herr Roter Bär aus Leibeskräften.
Noch immer regnete es in Strömen.
Wir drehten uns um und sahen, daß auch alle
anderen Kampfer aufgehört hatten. Die
Ausscheidungskämpfe des vierten Tages waren
vorüber.
»Nun eilt alle!« schrie Herr Roter Bär gegen Donner,
Sturmgeheul und das Klatschen des Regens an. »Wählt
schnell die Helferinnen! Sie warten schon, und wir
wollen nicht ertrinken!«
Selbst der Ton der vielen Fanfaren klang gedämpft
und hörte sich mehr wie ein Gurgeln an.
Durch den Jubel der Zuschauer und durch die
aufgeregten Schreie der Ritter, die jetzt ihre Waffen
wieder den Knappen übergaben, liefen wir nach allen
Richtungen auseinander. Natürlich stand inoffiziell
längst fest, wer wen als Helferin auswählen würde,
aber vermutlich rechneten einige der Schönen mit
Überraschungen. Ich bahnte mir einen Weg durch
meine Kampfgefährten und ging auf die Kanzel zu.
Herr Roter Bär breitete die Arme aus und rief:
»Heil dir, Herr Schwarzer Falke! Du kommst, um
deine Helferin zu holen?«
Ich hob den Helm, nickte ihm zu und lächelte
Honigvogel breit an.
»Ich bitte dich, Honigvogel, meine Helferin für den
›Tag der Tage‹ zu sein«, verwendete ich die
vorgeschriebene Formel.
Natürlich wurden die hübschesten Mädchen
ausgesucht. Es war sicher, keines widerstehen konnte.
»Ich will deine Helferin sein, Herr Schwarzer Falke!«
rief Honigvogel, sprang auf und kletterte über die
Brüstung. Ich fing sie auf und bemerkte, daß der
Schutz von Vestas Auge, das jetzt im Regen und
Gewitter wieder zu strahlen schien, auch sie vor dem
Regen schützte.
»Und jetzt – in den Palast!« sagte ich,
vorübergehend die Schmerzen in meinem linken Arm
vergessend. Sie nickte, und wir verließen die Arena.
Durch den Regen und das tobende Gewitter, das
über Merlane und das nahe Umland hinwegzog,
gingen wir die rund fünfhundert Mannslängen bis zum
Palast ihres Vaters. Ich wußte jetzt, am Ende der
Kämpfe des vierten Tages, noch nicht, was die
nächsten Tage bringen würden.
Und abermals ging ich Schritt für Schritt durch das
Zeremoniell, das sich in den wenigen Tagen
herausgebildet hatte.
Zuerst entkleideten mich die Knappen und brachten
die Rüstungsteile und die Waffen weg, um sie
durchzusehen und gegebenenfalls auszubessern.
Dann wanderten Honigvogel und ich Hand in Hand
in die große, dampfende Badestube, und einer der
weisen Männer kam, um meinen Arm, wie er sich
ausdrückte, »die ganze Kraft und die Beweglichkeit
wiederzugeben«. Er rieb den Arm mehrmals mit einem
stinkenden schwarzen Öl ein – und er behielt
vollkommen recht. Der Schmerz verschwand, nachdem
er sich kurz bis ins Unerträgliche gesteigert hatte. Und
ich konnte den Arm wieder bewegen, als sei nichts
geschehen.
Nach den Bädern, nach den Massagen und all den
seltsamen Tränken, nach einem kurzen Schlaf und nach
dem Schock des eiskalten Wassers kleidete ich mich
wieder an und ging hinunter in die große Halle, um
mit Herr Roter Bär und Honigvogel zu essen.
Elf Holztäfelchen wurden bemalt.
Jedes Täfelchen trug das Zeichen eines der
übriggebliebenen Kämpfer. Es gab einen Blauen
Reiher, einen Goldenen Vogel, einen Schwarzen
Falken. Und als alle Täfelchen fertig waren, als die
Farbe getrocknet war, erschien eine Hand und warf ein
zwölftes Täfelchen in den prunkvollen Helm.
Ein Tuch wurde über den Helm gelegt, dann kam
dieses Gefäß voller Lose in die Verwahrung der älteren
Schiedsrichter.
Alles war bereit für den fünften Tag.
Das Gewitter zog langsam über die Stadt hinweg,
schüttete Wassermassen über den Sand aus und verlor
sich in der Ferne. Noch während des Abends war der
Himmel wieder klar, und die Sterne funkelten.
Heute saßen wir nicht in der Halle, sondern das
Essen war auf einer Terrasse angerichtet worden. Roter
Bär, Honigvogel und ich saßen um den Tisch,
bewunderten die Pracht der Sterne und die Kulisse der
Ruinenstadt. Wieder brannten überall kleine Lampen,
und Menschengruppen spazierten durch die Parks und
über die Rasenflächen. Der Himmel und die Luft
waren mild und frisch, und alle Müdigkeit war
vergangen.
Roter Bär wandte sich an mich und fragte leutselig:
»Honigvogel hat mir gesagt, Herr Schwarzer Falke,
daß du dich nach unserem Leben erkundigt hast. Du
willst wissen, wie wir leben?«
Ich nickte und warf ihm einen fragenden Blick zu.
Vielleicht gelangte ich jetzt in den Besitz der
Geheimnisse.
»So ist es, Herr Roter Bär.«
Inzwischen schien jegliche Verwunderung darüber,
daß ich alle Kämpfe bis zum heutigen Tag bestanden
hatte, vergangen zu sein. Sie alle akzeptierten mich als
einen der Ihren.
»Erthu ernährt uns – von wenigen Ausnahmen
abgesehen, Dragon!«
Ich stützte meine Ellbogen auf die Tischplatte, hob
den Pokal hoch und sah in die hellen Augen des
weißhäutigen Mannes.
»Er ernährt euch! Und wie geschieht dies? Liefert er
euch das, was ihr brauchen könnt?«
»Ja. Du hast recht. Genauso verhält es sich.«
»Das interessiert mich brennend, Herr Roter Bär«,
gab ich zu und zügelte meine Ungeduld. »Kann ich
mehr darüber erfahren, ohne daß ich eure Geheimnisse
verletze?«
»Sicher, warum nicht?« Er machte eine kurze Pause,
dann sagte er halblaut:
»In den Höhlen unter der Stadt wächst alles, was
wir brauchen. Dort leben sogar die Sarths. Immer dann,
wenn wir etwas brauchen, schicken wir Diener an
einen bestimmten Platz. In einer Höhle gibt es Braten,
in einer anderen Früchte und Pilze, in einer dritten
zapfen wir aus riesigen steinernen Fässern unseren
Wein ab. Erthu hat alles. Höhlentiere ebenso wie
Gewebe, die wir nur zu holen brauchen. Aber sie haben
einen winzigen Fehler.«
Ich brauchte einige Zeit, um mir dies alles vorstellen
zu können. Unter der Ruinenstadt stellte dieser
mysteriöse Geist der Erde alles nur Denkbare her und
lagerte es dergestalt ab, daß die Knechte und
Dienerinnen es nur aufzuheben und mitzunehmen
brauchten. Es war fast wie die Vorstellung eines
Elementarwandlers, der ununterbrochen arbeitete, um
alle Wunsche zu erfüllen. Aber ich hatte nicht einmal in
den kühnsten Raumfahrergeschichten gehört, daß es
solche Geräte gab, die lebende Tiere produzierten.
»Welchen Fehler?«
»Seit vielen Generationen ernähren wir uns davon
und benutzen die Spenden Erthus. Daher kommen
unsere hellen Augen, unsere weiße Haut und unser
weißblondes Haar.
Du wirst in Merlane niemanden sehen können, der
nicht diese Merkmale aufweist. Du bist der einzige
Mann, der anders aussieht. Hin und wieder kommt
eine Karawane aus der Wüste hier vorbei, und dann
sehen wir schwarzhaarige Menschen mit dunklen
Augen und dunkler Haut.«
Ich schluckte trocken und murmelte:
»Das alles ist sehr wunderbar. Herr Roter Bär. Und
du hast gesagt, daß ich, wenn ich glücklicherweise
morgen zu den Siegern gehöre. Erthu bestimmt treffen
werde?«
Er grinste breit und versicherte mir:
»Ja! Abermals ja. Oder willst ein daß ich schwöre?«
»Nein!« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir.
Warum solltest du mich anlügen sollen?«
Wir aßen und tranken mäßig, aber plötzlich hatte ich
weniger Appetit. Ich stellte mir unterirdisch
wuchernde Kulturen von Pilzen vor und rätselhaft
blühende und wuchernde Gewächse, die hier auf dem
Tisch lagen, nur durch die Zubereitung veredelt. Das
leckere Fleisch der gewürzten Braten stammte von
bleichhäutigen Höhlentieren, die wie Molche ein
Dasein im ewigen Dunkel oder im Zwielicht führten.
Aber dann dachte ich an mein Kampf-Sarth, das
keineswegs den Eindruck gemacht hatte, halbblind zu
sein. Nur sein Fell und seine Mähne waren weiß
gewesen. Ich zuckte die Schultern. Es würde mich
schon nicht umbringen. Und dann, nachdem ich in
zwei, drei Tagen Erthu gesehen oder erlebt hatte,
würde ich weiterziehen. »Morgen ist nicht die letzte
Ausscheidung, aber der letzte Kampf!« erklärte Herr
Roter Bär nach einer kleinen Pause.
»Sechs Krieger bleiben übrig!« bemerkte Honigvogel
und sah mich an, in einer Weise, daß ich alle meine
Schläfrigkeit und Müdigkeit zu vergessen geneigt war.
Aber in dieser Nacht mußte ich tief und lange schlafen.
Und allein.
»Diejenigen, die den Pfad der Erwählten gehen
werden?« fragte ich.
Roter Bär nickte ernst.
»Ja. Und ich hoffe, Dragon, daß du zu ihnen gehörst.
Wenn du dich morgen ebensogut schlägst wie heute,
dann ist dein Weg schon jetzt frei. Am siebenten Tag
wirst du dann Erthu sprechen.«
In mein Ohr wisperte Honigvogel, immer wieder
von Lachen unterbrochen:
»Du kannst ihn dann nach dem anderen Weltentor
fragen! Vielleicht kennt er den Weg dorthin.«
»Zuerst werde ich versuchen, Erthu zu bereden. Er
soll sich, zusammen mit den anderen Geistern, wieder
unter die Herrschaft Vestas begeben!« sagte ich und
deutete auf das jetzt glühende Juwel.
»Wir haben darauf keinen Einfluß!« Es klang etwas
müde und resignierend, wie Roter Bär es sagte. Mir
schien, als würde auch er sich nach den vergangenen
Zeiten zurücksehnen, als sich die Stadt mit Leben
gefüllt hatte und ein wichtiger Knotenpunkt zwischen
beiden Meeren gewesen war. »Wir leben von Erthu,
und alles, was wir tun, ist zu Erthus Ehren.«
Ich stimmte zu.
»Das ist völlig richtig, Roter Bär. Und jetzt – erlaubt
bitte, daß ich mich entferne und mich ausschlafe. Wann
sind die Kämpfe?«
»Sie beginnen eine Stunde nach Sonnenaufgang. Wir
wollen weder im Regen noch in der Hitze kämpfen!«
meinte Roter Bär bestimmt.
Ich stand auf, küßte Meri-Meri auf die Stirn,
schüttelte die Hand des Jahreskönigs und ging langsam
hinauf in meine fürstlichen Gemächer. Die
Anstrengungen der letzten Tage, auch wenn sie
scheinbar durch die Massagen und Bäder vertrieben
schienen, hatten doch an meinen Kräften gezehrt. Ich
merkte es. Aber einen langen Kampf würde ich noch
durchhalten.
Was nach diesem Kampf folgte, waren mehr oder
weniger Zeremonien. Das glaubte ich noch an diesem
Abend ...
Nur noch zwei hochgehobene Fackeln erhellten die
Szene. Die Männer standen, in langen weißen
Gewändern, mit ihren persönlichen Wappentieren
darauf, in einem kleinen Park. Die Blüten, auf denen
noch die schweren Regentropfen schimmerten,
dufteten schwer in der Dunkelheit.
»Ich habe lange nachgedacht, Herr Gelber Sarth!«
sagte der große Mann mit den breiten Schultern. »Du
bist am besten geeignet, für die Dauer der Tage mein
Amt zu übernehmen.«
»Es ist eine Ehre für mich. Jahreskönig!« erwiderte
der andere. Es war ein älterer Mann mit einem faltigen
Gesicht. Er ging nach vorn gebeugt, aber aus seinen
Augen funkelten Klugheit und Umsicht.
»Weniger Ehre als Vertrauen, Herr Gelber Sarth. Du
warst bei diesen Kämpfen der oberste Schiedsrichter.«
Eine kleine Pause entstand.
Dann hörte der Jahreskönig wieder die ruhige
Stimme des anderen Mannes.
»Du bist sicher, daß du zum vierten Mal das Turnier
gewinnst?«
»Ziemlich sicher. Und wenn nicht, so ist es nicht
schlimm. Meine Ablösung stünde schon bereit, und alle
Männer sind hervorragend geeignet Ich könnte mir
kein schöneres Ende wünschen als zu enden im Kampf
um Erthus Ehre.«
Der andere nickte in der Dunkelheit.
»Recht gesprochen, Herr Roter Bär. Ich werde
morgen rechtzeitig zugegen sein und alles nach den
ewigen Regeln gestalten. Ihr alle könnt euch auf mich
verlassen.«
Die Männer wechselten einen langen, festen
Händedruck. Dann verließen sie den Park. Sie gingen
mit hoch erhobenen Fackeln in zwei verschiedene
Richtungen. Noch war es tiefe Nacht, aber der Morgen
war nicht mehr fern.
6.
Es schien eine Art Wunderregen gewesen zu sein, denn
er hatte die gesamte Landschaft in der Stadt, und
soweit ich es sehen konnte, auch außerhalb der Stadt
verwandelt. Die Feuchtigkeit hatte zahllose Samen
treiben lassen, die bisher im Sand gelegen hatten.
Überall blühte es, überall wucherte es, an allen nur
denkbaren Stellen sah ich frisches Grün und große,
vielfarbige Blüten. Die ganze Stadt roch nach ihnen.
Jetzt, kurz nach Sonnenaufgang des fünften Tages,
waren es nur noch elf Männer, die gegeneinander
kämpften, um die besten zu ermitteln.
Aus elf verschiedenen Richtungen näherten sich die
Krieger dem Turnierplatz. Neben mir gingen die
waffentragenden Knappen und Honigvogel, die
meinen schwarzen Helm in den Händen hielt.
»Ihr werdet ausgelost!« sagte sie leise. »Ich hoffe, du
triffst auf einen würdigen Kämpfer, mein Geliebter.«
Sie war reizend, aber ein wenig töricht. Aber ich
hatte sie bisher nicht anders als bezaubernde Geliebte
und sorgende Freundin kennengelernt und hatte nicht
den geringsten Grund mit ihr unzufrieden zu sein.
»Ich hoffe, ich treffe auf einen Gegner, der mich am
Leben läßt«, erwiderte ich trocken. Ihr Lachen hatte
etwas Angespanntes, Gereiztes.
»Das hoffe ich auch. Wirst du dich freiwillig
melden?«
Ich hob fragend die Brauen. In der Morgensonne
leuchtete mein »drittes Auge« strahlend auf.
»Wozu?«
»Ich meine, wirst du dich auslosen lassen, oder
willst du ein Los aus dem Helm holen?«
»Ich werde ein Los aus dem Helm nehmen. Ich
hasse Zufälle, und ich vermeide sie, wo es eben geht!«
erwiderte ich entschlossen. Wir gingen weiter durch
die blühenden Flächen, die vor dem Gewitter nichts
anderes als gelbe Sandflächen gewesen waren. Eine
dumpfe Spannung bemächtigte sich meiner. Wir traten
heute mit scharfen Waffen gegeneinander an. Ich hatte
mich mit erstklassiger Bewaffnung neu ausgerüstet,
war ausgeruht und empfand in dieser frühen
Morgenstunde so etwas wie eine kämpferische
Hochstimmung, aber ich wußte ebenso, daß es hart
werden würde. Der Weg zu Erthu wurde mir wahrlich
schwergemacht.
Inzwischen hatte ich erfahren, daß es sehr gut
gewesen war, nicht auf eigene Faust die Höhlen zu
suchen. Dieser Versuch wurde als Hochverrat bestraft,
und zwar dadurch, daß man den Frevler lebendig
einmauerte.
»Die Paare werden ausgelost, und ebenso die
Reihenfolge, in der sie kämpfen!« sagte Honigvogel
leichthin.
»Ich verstehe!« sagte ich. »Hoffentlich bin ich einer
der ersten. Ebenso, wie ich Zufälle hasse, verabscheue
ich langes Warten.«
»Das kann ich verstehen, Dragon!«
Es war wunderbar kühl. Die Sonne war gerade
aufgegangen. Es gab lange Schatten und hell
ausgeleuchtete Ruinenstücke und Säulen, die hoch
über den bewohnten Gebäuden standen. Wir gingen
die Treppen in die Arena hinunter. Es gab fast keine
Zuschauenden zu dieser frühen Morgenstunde.
Nur um die Zelte und in den Zelten herrschte rege
Geschäftigkeit. Knappen, Kämpfer und Schiedsrichter
und die »Helferinnen« standen und liefen umher. Die
steinerne Kanzel war leer, und die Fanfarenbläser
saßen untätig auf den steinernen Sitzen.
Ich ging in die Richtung des Zeltes, das ich nun
schon kannte. Dort sah ich eine Gruppe von
Schiedsrichtern, die um zwei Tische herumstanden. Ich
bedeutete meinen Knappen, meine Waffen auf dem
Tisch abzulegen, der mein Wappen trug. Die Kämpfer
waren noch die ruhigsten Menschen hier, alle anderen
schienen aufgeregt zu sein. Ein älterer Mann, auf
dessen weißem Gewand das Zeichen des Gelben Sarths
prunkte, trat auf mich zu.
»Du bist Herr Schwarzer Falke, nicht wahr?«
»So ist es. Herr Gelbes Sarth!«
»Willst du gelost werden, oder greifst du selbst
ein?«
»Ich greife selbst in den Helm, Herr Gelbes Sarth!«
sagte ich mit fester Stimme. Er nickte und verschwand
wieder in den kleinen Gruppen. Schließlich kam der
letzte der Favoriten Erthus, und wir ließen uns
ausrüsten.
Zuerst meldeten sich sechs Krieger und griffen
nacheinander in einen Helm. Auch ich war darunter.
Als ich meine Hand, bereits im eisenbewehrten
Handschuh, umdrehte und öffnete, sah ich eine
unbekannte Nummer oder Zahl. Ich zeigte die
schwarze Abbildung auf einem Stück weißen Stein
Honigvogel, und sie schlug in freudiger Erregung die
Hände zusammen.
»Du bist der erste, Herr Schwarzer Falke!«
Der Schiedsrichter, der heute offensichtlich Herrn
Roter Bär vertrat, nahm mich an der Schulter und
führte mich zu dem zweiten Tisch, der jetzt von allen
Anwesenden ehrfurchtsvoll umstanden wurde. Hinter
mir stellten sich die fünf anderen Kämpfer auf, bereits
die Helme festgezurrt auf den Köpfen.
»Greife in den Helm. Du bist der erste Kämpfer, also
hast du auch die erste Wahl!«
Ich verbeugte mich kurz, griff in den prunkvollen
Helm und wühlte in den Holzschildchen. Dann faßte
ich eines, hob es hoch und blickte es an. Ich konnte
zuerst nicht glauben, was ich sah, dann aber fielen mir
die veränderten Vorzeichen dieser Auslosung ein.
Ich wandte mich an Herrn Gelbes Sarth und fragte
heiser:
»Ich sehe hier das Zeichen des Roten Bären. Kämpfe
ich etwa gegen Herrn Roter Bär, den Jahreskönig von
Merlane?«
Der alte Schiedsrichter nickte und erwiderte in
würdigem Tonfall:
»So ist es, Herr Schwarzer Falke. Wir haben die
Reihenfolge ausgelost und die Paare. Du hast den
bisherigen Jahreskönig zu deinem Gegner gewählt,
einen würdigen Kämpfer, da er hintereinander dreimal
diesen Titel gekämpft hat. Du weißt, daß dieser Kampf
mit scharfen Waffen geführt wird?«
»Ich weiß es!«
»Ihr werdet ebenso kämpfen wie alle anderen fünf
Paarungen. Es geht um Leben und Tod.«
»Auch das weiß ich«, mußte ich zugeben. »Aber
Roter Bär ist mein Gastgeber, mein Freund, der Vater
meiner ›Helferin‹!«
»Das wird ihn nicht daran hindern, dir einen Kampf
zu schenken, der bis zum Ende geht. Aber es ist ihm,
Herrn Roter Bär, unmöglich gemacht, um Milde oder
um einen vorzeitigen Schluß des Kampfes zu bitten!«
Inzwischen zogen auch die anderen Kämpfer ihre
Gegner. Zwei von ihnen holten ihre eigenen Schilder
aus dem Helm und wählten ein zweites Mal. Dann
standen die sechs Gruppen fest. Bisher konnte ich den
Jahreskönig nirgendwo entdecken, aber er besaß mir
gegenüber einen Vorteil, der durch nichts wettgemacht
werden konnte.
Ich hatte vier Tage lang unglaubliche Strapazen auf
mich genommen, um diesen fünften Kampf zu
erreichen.
Der Jahreskönig kam völlig ausgeruht in die Arena.
Ich hatte gegen ihn nur eine geringe Chance, wenn
es mir nicht gänzlich unmöglich gemacht werden
würde, zu siegen.
Wieder einmal saß ich in einer Falle, aus der ich
wohl kaum entkommen konnte. Ich stand also in ganz
kurzer Zeit einem Gegner gegenüber, der es absolut
ernst meinte und genau wußte, was er zu verteidigen
hatte. Herr Roter Bär wollte zum viertenmal
Jahreskönig werden – und ich glaubte, genau zu
wissen, warum er so ehrgeizig war. Für mich stand
fest, daß ich es mit einem der erfahrensten Kämpfer zu
tun hatte, der je hier im Sand der Arena gestanden
hatte.
Ich wandte mich um und blickte durch die Schlitze
des schweren, doppelt gepanzerten Helms in die hellen
Augen des Schiedsrichter.
»Ich habe verstanden, Herr Gelbes Sarth. Ich werde
kämpfen!«
Er lächelte zurückhaltend und versicherte:
»Ich habe nicht daran gezweifelt. Keinen Augenblick
lang, Herr Schwarzer Falke.«
Wir verließen langsam die Zelte. Ich drehte mich, da
ich der letzte war, um und sah meinen Gegner!
Er kam langsam, vom Kopf bis zu den eisernen
Schuppen an seinen Stiefeln in düsteres Rot gekleidet,
ebenso wie ich, dessen Waffen und Ausrüstung
schwarz waren.
Die Arena lag noch immer im Schatten, aber auf den
Rängen, wo sich die ersten Zuschauer trafen, lag
stellenweise Sonnenschein.
Ich hob grüßend die Hand. Herr Roter Bär hob
ebenfalls seinen rechten Arm und kam näher. Niemand
sprach ein Wort.
Die einzelnen Paare stellten sich auf. Ich stand
ziemlich genau vor der Felsenkanzel, in der jetzt
Honigvogel, einige Schiedsrichter und die Männer mit
den Fanfaren Platz genommen hatten. Der Gegner, den
ich mir ausgesucht hatte, kam langsam durch die halbe
Arena und blieb vor mir stehen. Wir kämpften beide
mit langen Schwertern; Knappen hielten Ersatzwaffen
bereit.
Der Schiedsrichter Herr Gelbes Sarth, sah nach der
Sonne, hob die Hand und rief leise:
»Wir beginnen!
Ihr alle, Favoriten Erthus, kennt die Regeln. Es geht
um Leben und Tod oder bis zu dem Punkt, wo der
Gegner aufgibt und um ein Ende des Kampfes bittet.
Nur ein Kämpfer, nämlich Herr Roter Bär, darf als
Jahreskönig nicht um ein Kampfende in Ehren bitten.
Nützen wir die kühlen Stunden des Tages aus,
kämpfen wir. Die Fanfaren geben das Zeichen, und die
Sieger werden morgen den Pfad der Erwählten gehen.
Beginnt, edle Ritter von Merlane!«
Die Fanfaren schickten ihre hellen Signale in die
kühle Morgenluft, wir hoben die Schilde, zogen die
Schwerter, und der Kampf begann.
Ich achtete auf nichts mehr und konzentrierte mich
auf meinen schwersten Kampf, denn ich mußte
versuchen, nicht nur zu siegen, sondern so zu kämpfen,
daß ich Herrn Roter Bär nicht nur besiegte, sondern ihn
auch am Leben ließ.
Wir holten mit den Schwertern aus, rissen die Schilde
hoch und duckten uns unter diese Deckung. Klirrend
kreuzten sich die Schwerter. Schon der erste Schlag
meines Gegners bewies mir seine Stärke.
Aber noch war ich kräftig und schnell.
Ich begann einen wilden Angriff, der mich mehrere
Mannslängen vorwärts durch die Arena brachte. Ich
tastete die Kenntnisse und die Widerstandskraft des
Roten Bären ab.
Ich schlug von rechts und links, von oben und dicht
über dem Boden. Mein Schwert pfiff durch die Luft,
ritzte lange Furchen in den Sand und schlug dreieckige
Scharten in den Rand des gegnerischen Schildes, der
ebenfalls von roter Farbe war.
Die Schläge des Gegners, die ebenso schnell und
unbarmherzig auf mich einprasselten, waren genau
gezielt und verrieten, daß jeder Schlag scharf und
präzise überlegt war. Mein Schild hallte wider von den
Treffern, die ich ununterbrochen abfangen mußte.
Ich empfing einen Schlag auf die Schulter, einen
zweiten gegen den Helm und einen dritten gegen die
eiserne Schutzhülle über meinem rechten Knie.
Hingegen konnte ich zwei schwere Treffer landen;
einmal hieb ich eine tiefe Kerbe in das Eisen, das den
rechten Oberarm des Gegners verhüllte, und mit einem
zweiten Schlag zerfetzte ich das Lederband unter der
Schnalle an der Schulter, das zur Hälfte den
Brustharnisch hielt.
Ich sah nur die Augen und den Mund, kleine
Öffnungen in dem massiven Helm gaben den Blick
darauf frei. Sonst gab es keine Stelle – wie auch an
meiner
Rüstung –, die leicht zu verletzen war.
Jetzt griff ich den Gegner an.
Das Schwert und die Verteidigung mit dem Schild
ließen nur wenige Varianten von Angriff und
Verteidigung zu. Nur dann, wenn der Schild
zerschlagen oder verloren war, gab es nach den
klassischen Regeln, die von der Waffe selbst aufgestellt
worden waren, eine eindeutige Möglichkeit, einen
Mann zu töten oder lebensgefährlich zu verwunden.
Die Kunst bestand darin, Schläge zu führen, die
ungewöhnlich waren und außergewöhnlich.
Aber was Roter Bär nun entfesselte, war ein
förmlicher Hagel von Schlägen ...
Ich mußte mich darauf beschränken, sie mit Schwert
und Schild und durch schnelle Bewegungen des
Körpers zu kontern. Späne und Fetzen flogen aus
meinem Schild, dessen Rand bereits ausgezackt und
ausgeschlagen war. Die Schwerter klirrten, die
dumpfen Schläge ließen den Schild krachen, und hin
und wieder klirrte die Spitze des Schwertes über Teile
des Harnischs.
Ich wollte nicht verlieren!
Aber ich wollte auch nicht, daß mein Gegner durch
meine Hand starb! Ich mußte schneller werden und
bessere Schläge anbringen. Ich mußte den Herrn Roter
Bär ermüden, erschöpfen, aus seiner Überlegenheit in
tiefe Müdigkeit bringen. Ich wich abermals aus und
ging rückwärts, bis mir ein schneller Blick sagte, daß
ich direkt unter der Kanzel kämpfte. Ich sah flüchtig
Honigvogel, die beide Hände vor ihr Gesicht
geschlagen hatte und durch die gespreizten Finger den
Kampf zwischen ihrem Vater und ihrem Geliebten
zusah. Sie wirkte gelähmt.
Flüchtig ließ ich Schwert und Schild sinken und
verwirrte dadurch den Ritter. Er prallte zurück. Ich
stieß mich klirrend von der Mauer ab, wirbelte das
Schwert über dem Kopf und duckte mich hinter den
Schild. Dann begann ich, sorgfältig ausgesucht,
schwere Kämpfe zu führen. Ich zielte und schlug
dorthin, wo es deutliche Schwierigkeiten machte, den
Hieb aufzufangen.
Klirrend und donnernd fingen sich die Schläge auf
dem Schild, der nur noch eine Masse Beulen und
Löcher war.
Herr Roter Bär duckte sich, schwang den Schild
nach oben und nach unten, blockte meine Schläge ab
und wich im Zickzack aus. Er glitt leichtfüßig nach
rechts und links und gleichzeitig rückwärts.
Ich ging Schritt um Schritt vor.
Jeder meiner Schläge, oder fast jeder, traf auf die
Deckung. Nur hin und wieder pfiff mein Schwert am
oberen oder unteren Rand des Schildes vorbei und traf
auf den Harnisch oder einen eisernen Schutz. Aus dem
Helm des Gegners kam ein Keuchen. Er wurde
langsam müde. Ich trieb ihn rückwärts, aber unsere
Schläge wurden kräftiger, jedoch nicht mehr so schnell
und häufig geführt.
Dann schmetterte ich einen wilden Schlag, der fast
waagrecht durch die Luft ging und den Schild traf und
nach unten schleuderte. Der Schwung trug die Waffe
weiter und höher hinauf.
Krachend schlug die schartige Schneide gegen die
Halsblende, brach sie auseinander und bog sie schwer
nach innen. Der nächste Schritt, den Roter Bär machte,
war mehr ein Straucheln. Aber er fing sich sofort.
Er schlug zurück und spaltete meinen Schild von
oben bis unten. Er hielt gerade noch zusammen, aber
als Deckung taugte er soviel wie ein welkes Blatt. Ich
machte einen riesigen Sprung seitwärts, schlenkerte die
schweren Teile zur Seite und schrie nach einem
Knappen.
Aber bis einer heran war und mir einen neuen
Schild gab, konnte ich tot sein.
Drohend und rasend schnell kam das Schwert des
Gegners von oben herunter.
Ich konnte nicht mehr ausweichen. Aber meine
Hand wirbelte das Schwert herum, ich faßte mit der
Linken dicht hinter die Spitze meines Schwertes und
parierte damit den furchtbaren Schlag. Beide
Handgelenke wurden von der Wucht des Hiebes
geprellt, aber ich erkannte meine erste richtige Chance.
Ich warf mich zur Seite, holte aus und führte einen
gewaltigen Schlag, hinter dem sämtliche Kraft lag, über
die ich noch verfügte. Ich prallte von der Halbkugel ab,
die das rechte Schultergelenk schützte, die Schneide
des Schwertes kippte ab nach oben und traf die
Ausbeulung, unter der sich das Ohr des Gegners
befand.
Dann warf ich mich seitlich gegen die Waffe, die in
meine Richtung gestoßen wurde und lenkte sie mit
dem Brustharnisch ins Leere.
Wir beide prallten zusammen. Es gab einen
furchtbaren, harten Laut, und dann schleuderte uns die
Wucht des Aufpralls wieder auseinander. Jetzt war der
Knappe herangekommen und reichte mit
ausgestreckten Armen mir den Schild. Ich schob
meinen linken Unterarm hinein, während ich den roten
Ritter mir gegenüber beobachtete.
Herr Roter Bär taumelte nach hinten und dann
wieder nach vorn. Während sich seine Füße bewegten,
als wären sie selbständig, vollführte sein Körper eine
kreiselnde Bewegung.
Ich wartete, keuchend und schwitzend und voller
quälender Spannung ...
Ich wußte nicht mehr, wie lange unser Kampf
dauerte. Aus dem Augenwinkel sah ich nur noch zwei
kämpfende Paare. Ich hatte alles vergessen und
übersehen, was rund um mich geschehen war.
Mit einem neuen Schild ausgestattet, das schartig
geschlagene Schwert in der Hand, die Schwertspitze im
Sand, beobachtete ich den Kampf des Mannes vor mir.
Ich hätte ihn, dessen Deckung weit offen war, mit
einem einzige Schlag zwischen Helmrand und
Halsblende töten können, aber ich hatte es nie
vorgehabt.
Er kämpfte jetzt gegen die Besinnungslosigkeit, aber
der Schlag war zu schwer, zu hart gewesen. Schließlich
knickte Roter Bär in den Knien ein und fiel auf den
Rücken. Schwert und Schild entglitten seinen Händen
und fielen in den Sand. Ein letztes Zucken riß die Beine
hoch, dann erschlaffte der mächtige Körper.
Der Kampf war zu Ende.
Ich schob das Schwert, das völlig abgestumpft war,
zurück in die Scheide und löste das Helmband. Jetzt
erst, als ich langsam auf die Kanzel zuging und dort
sah, wie Honigvogel sich über die Mauer schwang und
auf ihren Vater zulief, überfiel mich die Erschöpfung.
Der Schiedsrichter deutete auf mich und rief durch
das Kampfgetümmel der beiden letzten Paare:
»Du, Herr Schwarzer Falke, bist Sieger. Du hast in
einem sauberen Kampf nicht nur den Jahreskönig
besiegt, sondern auch dessen Leben geschont, glaube
ich. Nimm deine Helferin, ziehe die Rüstung aus und
bereite dich vor für den Pfad der Erwählten.«
Ich nickte, versuchte ein erschöpftes Lächeln und
drehte mich um. Zwei Dinge geschahen gleichzeitig.
Einer der Streitenden rannte taumelnd und vom
Schwung seines eigenen Schlages getragen in die lange
Spitze eines Kampfbeils hinein und schrie gellend auf.
Von allen Seiten liefen Helfer und Helferinnen auf
den Jahreskönig zu, der sich schwach zu regen begann.
Um mich versammelten sich diejenigen Knappen,
die mir bisher geholfen hatten. Ich gab ihnen den
Helm, das Schwertgehänge und den Schild, dann riß
ich mir den Harnisch und die Beinschienen herunter.
Honigvogel kam auf mich zugerannt, fiel mir aufgeregt
lachend um den Hals und rief leise:
»Du hast ihn besiegt! Aber er lebt. Er ist nur etwas
wirr und erschöpft. Die Bilder drehen sich vor seinen
Augen!«
Ich lächelte sie an und nahm ihre Hand.
»Wenn er dieselben Wonnen zu spüren bekommt
wie ich in der Badestube, dann ist er in zwei Tagen
wieder der alte!«
»Ich weiß!« jubelte sie. »Ich weiß! Sie werden ihn in
den Palast bringen!«
Sie zog mich die Treppen hoch. Die Zuschauer, die
viel zahlreicher waren, schrien auf, als der letzte Sieger
seinen Gegner niederstreckte und die Arme in die
Höhe warf.
Ich sah, daß die Sonne fast im Mittag stand. Unser
Kampf hatte drei Stunden gedauert. Jetzt griff die
zweite Welle der vielen kleinen Schmerzen und der
einen großen Erschöpfung nach mir. Langsam gingen
wir durch die wuchernden und blütentreibenden
Pflanzen, die überall hervorgeschossen waren. Den
Weg kannte ich inzwischen schon.
»Das war der letzte Kampf!« stellte ich fest.
»Ja, so ist es!«
Honigvogel war glücklich, daß ich einer der
»Erwählten« war, und zu ihrer Freude trug es nicht
wenig bei, daß ihr Vater lebte. Sie schien in der rechten
Stimmung zu sein, meine drängenden Fragen zu
beantworten.
»Wir sind sechs Erwählte Erthus, nicht wahr?«
»Du bist einer davon, geliebter Dragon!« flüsterte
kichernd Meri-Meri.
»Wie werden wir es anfangen müssen, den Pfad der
Erwählten zu gehen?«
»Kannst du nicht warten, Dragon? Es ist verboten,
über diese Dinge zu sprechen. Ich weiß es selbst nicht.
Ich weiß nur, daß wir morgen gemeinsam dorthin
reiten werden. Und zwar in einer prächtigen
Prozession!«
Ich zuckte die Schultern.
»Ich wußte nicht, daß es ein solches Geheimnis ist.
Ich wollte nicht in dich dringen, Meri-Meri.«
Ich küßte sie und ließ sie dadurch diese Probleme
vergessen. Wir betraten den Palast, und die Neuigkeit
hatte sich bereits bis hierher herumgesprochen. Und
ich wartete ungeduldig und gespannt auf den nächsten
Morgen. Auf den Tag, an dem ich endlich mit Erthu
zusammenkommen würde. Vielleicht sah ich dann
auch, wie ein Geist aussah.
Heute, drei Stunden nach Sonnenaufgang des sechsten
Tages, säumte die gesamte Bevölkerung die breite
Prunkstraße, die gerade zur richtigen Zeit ihren neuen
Pflanzenschmuck angelegt hatte. Jetzt konnte ich mir
leicht vorstellen, wie Merlane vor zweitausend Jahren
tatsächlich ausgesehen hatte ... blühend, voller Leben
und mit den Gegensätzen aus Stein und vielen
Pflanzen. Meri-Meri und ich verließen den Palast, und
der Jahreskönig selbst hatte uns verabschiedet. Er lag
mit dumpfem Kopfschmerz im Bett, aber er dachte
bereits wieder klar und fühlte sich von Stunde zu
Stunde besser. Honigvogel führte mein zahmes Sarth,
das mit prächtigem Sattel und prunkvollen Decken
und Geschirr geschmückt war, am Zügel.
»Alle haben sich versammelt!« rief sie und deutete
umher. »Sie wollen mich und dich sehen.«
»Und fünf andere Paare!« beruhigte ich sie. Es war
der Tag der Tage. Wir sollten einen Pfad benutzen, den
sonst keiner der Stadtbewohner benutzte. Er führte
hinaus in die blühende, grünende Wüste vor der Stadt.
Die fröhliche Aufregung der Masse von rund
achttausend Menschen in allen Lebensaltern übertrug
sich mühelos auf mich. Ich trug ein einfaches, aber
wertvolles Gewand, aber ich hatte nicht auf mein
Amulett verzichtet, das ich um den Hals trug. Wir
waren das zweite Paar, das aus einer Nebengasse
hinaus auf die breite Prunkstraße kam.
Wir winkten nach beiden Seiten.
Hinter uns formierte sich der Zug. Schließlich waren
wir sechs Paare mit sechs Reittieren. Dann widerhallten
die Mauern, und eine überaus prächtige Kavalkade
kam auf die Straße hinausgesprengt. Es waren, soweit
ich sie erkennen konnte, die Schiedsrichter und einige
Helfer und die Fanfarenbläser. Sie saßen alle auf
Kampf-Sarths und bildeten, kaum daß sie auf unserer
Höhe waren, zwei lange Reihen und zügelten die Tiere.
Dann setzte sich der Zug unter dem dröhnenden Jubel
der Bevölkerung in Bewegung.
Wir ritten langsam geradeaus, winkten, wurden mit
Blüten beworfen und mit Jubel und Beifall bedacht.
Weit hinter uns lag die Arena, wir ritten in die
entgegengesetzte Richtung. Ruinen, herunterhängende
Girlanden, vielfarbige Säulen und Mauern glitten an
uns vorbei. Wir passierten das Tor, die Gebäude
blieben zurück und auch diejenigen, von denen die
Straße gesäumt wurde.
Schließlich waren wir allein.
Mein Vordermann hob seine Helferin in den Sattel,
und ich hielt das Sarth an, um es ihm gleichzutun.
Schließlich fiel der Zug, der etwa zweihundert
Personen umfaßte, in einen leichten Trab und ritt
weiter geradeaus.
Wir bogen ab, und schließlich waren wir in der
nackten, heißen Wüste. Hier wuchs nichts mehr.
Ich war meinem Ziel so nahe wie niemals zuvor.
Mehrmals war ich dem Tod entgangen, und
vielleicht konnte ich dank der Auskünfte Erthus schon
in wenigen Tagen ein anderes Weltentor finden und
diese Welt verlassen. Ich hielt die Zügel, Honigvogel
lehnte sich gegen meine Brust und genoß diesen Ritt
vermutlich mehr als ich. Sie war überzeugt, daß all ihre
Fürsorge jetzt ihren gerechten Lohn bekommen würde.
Und ich wußte überhaupt nichts. Ich ahnte nicht
einmal, was mich erwartete.
Nach einem kurzen Ritt preschte der gesamte Zug
eine sandige Anhöhe hinauf, und der erste der Reiter
hielt an und hob den Arm.
»Hier ist das Blaue Tal! Hier ist das Reich Erthus!
Nähert euch ihm in Schweigen und Ehrfurcht!«
Er ritt weiter. Wir erreichten die Linie, die die
Dünen und das Tal dahinter trennte, und dann lag das
kleine Tal vor unseren Blicken. Ich stieß einen Ruf des
Erstaunens aus.
Es war wirklich blauer Sand. Das Tal war wie eine
tiefe Schüssel geformt, und diese Schüssel war
angefüllt mit Zutaten, die, zusammengefügt, ein
Paradies bildeten. Als wir einen kaum sichtbaren Pfad
in das Tal hinunter ritten, sah ich mich schweigend um.
»Es ist wunderschön! Es ist Erthus Paradies! Warte
nur ... wir werden unglaublich glücklich sein, Dragon!«
Honigvogel rieb ihren Kopf an meiner Brust. Ich
flüsterte zurück:
»Ich hoffe es, Meri-Meri!«
Die Sonne und die Schatten machten aus diesem Tal
aus blauem Sand ein Wunderwerk aus Farben und
Formen. Ich sah Bäume und Sträucher, Pflanzen und
Gräser, wie ich sie noch nirgendwo auf dieser Welt
gesehen hatte. Die Blumen waren schöner und dufteten
betäubend; auch diesen Duft hatte ich noch nie
festgestellt. An den Zweigen hingen große, farbige
Früchte, die förmlich dazu einluden, sie abzureißen
und zu essen.
Über Steine und Felsen, die von leuchtendem und
schillerndem Moos bedeckt und verziert waren,
rieselten Quellen und sammelten sich zu schmalen
Bächen, die sich in bizarren Windungen durch das Tal
schlängelten. Breite Felsplatten mit blauem Sand
bedeckt, bildeten natürliche Brücken. Ich sah Teiche
und kleine Seen, deren Wasser im Boden zu versickern
schien. Die Bäume waren uralt und streckten ihre
ausladenden Äste mit den vielfarbigen Blättern über
die stillen, verträumten Wasser aus. Es war ein heiterer,
aber irgendwie verwunschen wirkender Ort, dessen
Durchmesser vielleicht dreihundert oder vierhundert
Mannslängen betrug. Und uns gegenüber, im Westen,
erhob eine Masse von phantastisch geformten, aber
nicht sehr hohen Felsen ihr Haupt. Auch die Felsen
unterlagen diesen phantastischen Farben. Ein
Schiedsrichter, der zufällig neben mir ritt, drehte sich
im Sattel und sagte halblaut, als wolle er die
Feierlichkeit des Ortes nicht entweihen:
»Für dich, einen Fremden, sage ich, daß dies eine
von Erthu beherrschte wilde Zone ist. Daß Erthus
wahres Reich unter der Stadt in einem riesigen
Höhlensystem liegt, das wirst du schon wissen, nicht
wahr? Mehr darf ich dir nicht sagen.«
Wir näherten uns auf Umwegen, die der Spur einer
verrückten Schlange glichen, dem Mittelpunkt des
Talkessels.
Selbst die Tiere schienen sich zu bemühen, ihre Hufe
leicht und leise aufzusetzen. Die Merlaner schwiegen
und waren in heiligem Schauer befangen. Meri-Meri
zitterte leicht in meinen Armen.
7.
Bald darauf befanden wir uns in dem Mittelpunkt
dieser erstaunlichen Talsenke. Die Landschaft, die uns
umgab, wirkte einschläfernd, besänftigend. Die Tiere
standen unter den Bäumen, die Schiedsrichter und alle
die anderen Würdenträger, die mit uns gekommen
waren, bildeten kleine Gruppen und sprachen leise
miteinander. Zum erstenmal konnte ich die fünf
Männer deutlich sehen, die zusammen mit mir die
Ausscheidungen durchgestanden hatten.
Sie standen, wie ich auch, mit ihren »Helferinnen«
am Rand einer kreisrunden Fläche, die nur aus Sand
bestand. Der weiche Belag aus Moos und Grashalmen
endete vollkommen abrupt vor unseren Füßen.
Aus einer der Gruppen löste sich der alte
Schiedsrichter, Herr Gelbes Sarth, der schon gestern
den Jahreskönig vertreten hatte. Er kam auf uns zwölf
Menschen zu und trug ein freudiges Lächeln in seinem
alten, klaren Gesicht.
»Betretet das Rund, ihr Auserwählten. Und auch ihr,
Helferinnen!«
Ich gehorchte verwirrt. Ich konnte hier keine einzige
Möglichkeit sehen, mit Erthu zu verkehren. Oder
würde er sich uns während des Schlafes zeigen in
dieser wilden Zone?
Jetzt bildeten wie eine Art Kreis inmitten der freien
Sandfläche.
Feierlich deutete der Schiedsrichter auf den ersten
Ritter, der den Zug angeführt hatte. Der Nächste war
ich.
»Tritt in die Mitte, mein Freund!«
Der weißhäutige Mann tat, wie ihm geheißen
wurde. Er und seine Helferin standen seitlich zu mir,
so daß ich sie beide sehen konnte. Die Stille um uns
herum vertiefte sich abermals. Nur noch das Gluckern
einer fernen Quelle war zu hören.
Ein besonders feierlicher Augenblick schien sich zu
nähern. Ich wartete mit verkrampften Muskeln.
»Und nun, Helferin, tue dein Werk!« sagte der
Schiedsrichter.
Das Mädchen, jung und strahlend schön, mit einem
entrückten Gesichtsausdruck, griff zwischen ihren
Brüsten in ihr weißes Gewand. Sie ließ die Hand dort
und sagte laut und deutlich:
»Erthu gab dir das Leben. Ich nehme es dir, auf daß
du in Erthu eingehen und zu neuem Leben erwachen
mögest.«
Ihre Hand erschien wieder. Sie hielt in den
schlanken Fingern einen langen Dolch mit rundem
Griff, dessen Schneide dreikantig zugeschliffen und
nadelspitz war. Das Mädchen war, während sie
gesprochen hatte, mehrere Schritte rückwärts gegangen
und hielt die Waffe nun vor sich, in der klassischen
Haltung eines Dolchkämpfers. Dann stieß sie dem
Ritter den Dolch bis zum Heft an der Stelle in die Brust,
unter der sich das Herz befand.
Der Ritter hatte diese Hinrichtung mit ernstem
Gesicht erwartet und sich nicht einmal mit der
Bewegung einer Hand gewehrt. Er sank in den Knien
nach rückwärts, das Madchen ließ den Dolch los. Der
Mann fiel weich zu Boden und streckte sich aus, als
schlafe er ein. Das Mädchen verließ mit einigen
schnellen Schritten, noch immer lächelnd, den
Mittelpunkt des Sandkreises.
Jetzt löste sich meine Starre.
Ich fuhr blitzschnell herum. Der Schiedsrichter, der
sich mir zugewandt hatte, lächelte noch einen
Augenblick, dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer
Grimasse des Nichtverstehenkönnens.
»Nein!« sagte ich laut und sah mich nach einem
Fluchtweg um. »Nicht mit mir. Dafür habe ich nicht
gekämpft!«
»Dragon! Schwarzer Falke! Bleibe ...!« schrie
Meri-Meri in äußerster Verzweiflung.
Ich dachte anders über ihren Vorschlag.
Der Schiedsrichter breitete beide Arme aus, als ich
an ihm vorbeirannte und eines der Kampf-Sarths ins
Auge faßte. »Halt!« donnerte er.
Ich hatte entsetzt mit angesehen, wie der Mann
lautlos und demütig gestorben war. Ich flüchtete, weil
ich sein Schicksal, unter welchen Voraussetzungen
auch immer, nicht zu teilen gewillt war. Ich mußte hier
fort! So schnell und so weit wie möglich. Ich konnte
mich dann irgendwie diesem Tal wieder nähern – aber
als Lebender, nicht als Toter.
Die anderen Schiedsrichter und die Begleiter
bildeten eine Kette, um mich abzufangen. Ich rannte
wie rasend auf die Männer zu und sprang den ersten
von ihnen mit einem Faustschlag an, benutzte dann
zweimal die Handkante und sprang über den
zusammengebrochenen Körper hinweg.
Ich lief im Zickzack zwischen den anderen Männern
hindurch, die mich festzuhalten versuchten.
Dann erreichte ich das Sarth.
Es scheute, als es mich ankommen sah, aber ich
drehte mich herum, riß es am hängenden Zügel wieder
herunter und sprang mit einem gewaltigen Satz in den
Sattel. Von rechts und links näherten sich zwei junge
Schiedsrichter und griffen nach meinen Füßen.
Ich zwang das Reittier zu einem Satz, der geradeaus
wieder zu der Gruppe hinführte, die ich eben verlassen
hatte. Blätter und Zweige der hängenden Äste
schlugen in mein Gesicht. Den linken Fuß zog ich an,
trat zu und schleuderte den Mann mit einem Tritt vor
die Brust zu Boden. Dann, als ich das Tier in einer
scharfen Wendung herumgerissen hatte, schleifte ich
den anderen Mann mit, der sich am rechten Fuß und
am Steigbügel festklammerte.
Mit einigen Sprüngen und zitternden Sätzen
galoppierte das Sarth den Weg zurück, den wir
gekommen waren. Ich bückte mich aus dem Sattel,
ballte die Faust und schlug den Mann hinters Ohr.
Augenblicklich löste sich sein Griff, und er stürzte zu
Boden.
»Schneller!« schrie ich dem weißen Tier in die
aufgeregt spielenden Ohren. Ich sprang über Büsche,
ritt durch aufspritzendes Wasser und sah nur noch
geradeaus den Abhang aus blauem Sand. Hinter mir
brach die Aufregung sich jetzt Bahn. Ein paar Männer
schwangen sich in die Sättel und machten sich daran,
mich zu verfolgen.
»Wohin?« sagte ich laut.
Ich wußte es nicht. Noch nicht. Ich ritt wie ein
Gehetzter den Hang aufwärts und setzte die Wirkung,
von Vestas Auge ein. Das Tier unter mir gehorchte
augenblicklich und rannte schneller, immer schneller.
Wie ein Geschoß preschten wir zwischen den letzten
Büschen hervor und den Hang aufwärts. Ich wurde
von der Sonne geblendet, als wir die Grenzlinie
zwischen Talkessel und Wüste erreicht hatten. Nun
nahm die Geschwindigkeit dieses starken, ausgeruhten
Reittiers abermals zu.
Wohin sollte ich fliehen?
Zurück in die Stadt, etwa in den Schutz des Palastes,
aus dem ich eben gekommen war? Sie würden mich
herauszerren und steinigen!
Zurück in die Wüste etwa?
Mit meiner Ausrüstung war ich binnen zweier Tage
ein Opfer der Hitze und der Sonne geworden. Ich
beschloß, einen riesigen Bogen zu schlagen und zu
versuchen, zunächst im Talkessel, in der wilden Zone,
Schutz zu suchen. Ich wandte mich wieder nach Osten.
Von dorther war ich nach Merlane gekommen.
Jetzt verließ ich die Stadt weitaus ärmer, als ich sie
betreten hatte. Und als Todeskandidat.
Das Sarth preschte in einem schnellen,
gleichmäßigen Galopp dahin. Ich warf einen langen
Blick nach hinten. Dort tauchten eben die ersten sechs
oder sieben Verfolger auf. Ich beugte mich nach vorn,
hängte mich über den Hals des Tieres und feuerte es
durch Schreie an. Ein rasender Galopp begann.
Plötzlich stolperte das Tier. Es krümmte die
Vorderbeine einwärts, zog den Kopf nach unten und
überschlug sich.
Ich reagierte blitzschnell, riß meine Füße aus den
Steigbügeln, ließ die Zügel los, und flog wie ein
abgefeuerter Speer durch die Luft. Ich krümmte mich
ebenfalls zusammen, sah in rasendem Wirbel Himmel
und Sonne. Sand, dann wieder Himmel ...
Ich prallte mit dem Hinterkopf auf und verlor
augenblicklich das Bewußtsein.
Die Sonne stach in meine Augen, als ich sie blinzelnd
öffnete.
Im Hinterkopf und in den Schultern tobte ein
dumpfer, pochender Schmerz. Meine Lippen waren
rauh und trocken wie der Sand, auf dem ich lag. Ich
sah um mich herum, perspektivisch verzerrt, einen
dichten Ring weißgekleideter Menschen. Blitzartig
erinnerte ich mich, was geschehen war.
»Er ist wach!« sagte jemand hart. Ich hörte Haß und
Wut in seiner Stimme. Vorsichtig versuchte ich, den
Kopf zu heben.
»Nehmt ihn hoch. Und dann erschlagt ihn wie ein
Schlachttier!« murmelte ein Mann hinter mir und
spuckte aus. Ich wurde an den Armen und Schultern
ergriffen und auf die Beine gezerrt. Vor meinen Augen
drehte sich die Landschaft, die Gesichter der Männer
wurden zu auseinanderfliegenden Bildern. Ich
versuchte einzuatmen. Langsam kam wieder Kraft in
meine Kniegelenke.
»Du ... Verräter!« stieß ein älterer Mann hervor und
ballte die Faust vor meinen Augen.
Ich versuchte etwas zu sagen, aber von allen Seiten
schrien jetzt die Männer auf mich ein. Einige von ihnen
hatten Dolche und bedrohten mich damit. Ich wehrte
mich verzweifelt gegen die Griffe von vier oder mehr
Männern, die meine Arme und meine Schultern
umklammert hatten, aber es war von Anfang an ein
aussichtsloser Kampf.
Plötzlich teilte sich der Kreis um mich herum, und
ich sah mich genau Herrn Gelbes Sarth gegenüber,
dem Schiedsrichter. Er deutete mit Fingern, die vor
Erregung zitterten, auf meine Brust. An der Hand hielt
er Honigvogel, die mich schweigend und entsetzt
anblickte.
»Du bist geflohen, Herr Schwarzer Falke!« stellte er
fest. Seine Stimme troff vor Wut über diese
unglaubliche Schändung des Zeremoniells.
»Ich habe nicht fünf Tage lang gekämpft, um zu
sterben!« sagte ich bitter. »Ich habe oft genug gefragt,
aber niemand wagte es, mir eine richtige Antwort zu
geben.«
Er bedachte mich mit einem Blick, der mich hätte
einschüchtern sollen. Langsam lockerte sich der Griff
um meine Arme.
»Du hast alle Regeln anerkannt, als du zum ersten
Kampf angetreten bist. Das genügt!«
Er richtete seine Augen auf die zitternde Meri-Meri,
die mich mit einem hoffnungslosen Ausdruck
anstarrte. Für sie war eine Welt zerbrochen, als ich
mich umgedreht hatte und geflohen war.
»Du weißt, daß du völlig entehrt worden bist.
Unwürdig und entehrt!«
Sie schluchzte laut auf und warf einen halb
trotzigen, halb ängstlichen Blick auf den Schiedsrichter
und auf mich. Er richtete sie an den Schultern wieder
auf und näherte sein Gesicht ihren Augen.
»Du bist die Helferin dieses Frevlers gegen unsere
allerhöchste Ehre! Gestehe es!«
»Ja, Herr!« wimmerte sie.
»Laßt sie in Ruhe! Sie kann nichts dafür. Ich allein
war es ...«, begann ich, aber niemand beachtete mich.
»Ich richte die Frage an dich, Honigvogel! Willst du
hier mitten in der Wüste und fern des Pfades der
Auserwählten jene Handlung vollziehen, welche dir
Erthu an der geweihten Stätte zu tun nicht erlaubte?«
Sie schwieg. Er fragte weiter:
»Wenn du dies tust, hier und vor uns als Zeugen,
kannst du als Entehrte und Unwürdige weiterhin in
unserer Mitte leben. Wenn du es nicht wagst, dann
wirst du das Schicksal erleiden, das diesem
Unglücklichen und Unwürdigen hier zugedacht ist. Du
kennst es!«
Meri-Meri besann sich, dann wand sie sich aus dem
Griff des alten Mannes und stampfte mehrmals mit
dem Fuß auf. Sie warf ihren Kopf zurück, sah mich
wild und unbeherrscht an und zuckte dann ihre
Schultern. Schließlich griff sie in ihr Gewand und
schrie auf:
»Ich will nicht als Unwürdige unter euch allen
leben! Ich hasse euch und diese Zeremonien! Es ist
wahr, was er gesagt hat! Niemand hat ihm eine
Antwort gegeben! Er wußte nicht, daß er zunächst
sterben muß, um zu leben!«
»Aber ...«, unterbrach Herr Gelbes Sarth.
Sie schrie weiter auf uns alle ein und zog dabei
diesen gefährlichen Dolch. Ich merkte, daß sich die
Männer im Augenblick nicht mehr um mich
kümmerten und spannte meine Muskeln an, um mich
mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen.
Einige Mannslängen entfernt lag das Sarth mit
durchschnittener Kehle in einer trockenen braunen
Blutlache.
»Ich werde das Schicksal Dragon teilen! Er hat durch
mich das Leben in Erthu nicht haben wollen. Aber ich
werde zu ihm halten!«
Sie machte mit dem Arm eine ausholende Bewegung
und warf den Dolch weit von sich. Er überschlug sich
mehrmals im Sonnenlicht und prallte in den Sand.
Der Schiedsrichter nickte mehrmals. Er schien zu
überlegen, dann entschloß er sich.
»Ihr wollte es nicht anders. Es muß sein. Fesselt sie
beide!«
Inzwischen waren einige andere Männer
gekommen. Sie brachten Schnüre mit sich und
Lederriemen, die von dem Zaumzeug stammten. Und
sie packten uns beide, rissen Honigvogel und mir die
Arme auf den Rücken und verschnürten die
Handgelenke.
Dann warfen sie Schlingen um unsere Hälse und
befestigten sie an den Sätteln.
Die Ritter saßen auf, und der Zug bewegte sich in
einem langsamen Trab wieder auf den Talkessel zu.
Wir mußten laufen, um nicht zusammenzubrechen und
erdrosselt zu werden.
Aber anstatt wieder ins Tal hinunterzureiten, bogen
sie auf dem Kamm der Düne ab und trabten nach links.
Der Ritt führte auf die Felsen zu.
Ich begann zu ahnen, was Meri-Meri und mir
bevorstand.
Wir waren vollständig allein.
Allein mit uns, mit unseren Gedanken und der
Hitze, die auf uns niederschlug, die Felsen zum Glühen
brachte und unsere Körper auszehrte. Die Ritter hatten
hier kurz vor Mittag haltgemacht, hatten uns auf die
Felsen gezerrt und mit einer Leidenschaft, die selbst
mich erstaunte, an die Spitze des obersten Felsens
gebunden. Wir standen in der hellen, erbarmungslosen
Sonne auf einem breiten Felsenband. Von ledernen
Riemen waren unsere Hände und Füße, die man
gewaltsam auseinandergespreizt hatte, an die Felsen
gebunden. Wir wurden vom Druck des Seiles an den
heißen Felsen gepreßt.
Schon seit über einer Stunde versuchte ich, einen
Arm zu befreien, indem ich das Handgelenk auf und
ab bewegte und das Seil gegen den Felsen scheuerte.
Die Haut meines Handrückens blutete leicht, der
Schweiß biß in der Wunde.
Neben mir flüsterte Honigvogel:
»Sie haben uns zuletzt noch verflucht, Dragon. Wir
werden hier oben sterben! O diese Schande!«
Ich gab mit rauher Kehle zurück:
»Die Schande, sie berührt mich nicht. Wichtiger ist,
daß wir freikommen.«
Ununterbrochen schabte und glitt das Seil über den
Felsen. Es war bereits etwas aufgefasert, aber es konnte
noch sehr lange dauern, bis ich die rechte Hand frei
bekam. Vermutlich waren wir bis dahin verdurstet
oder wahnsinnig geworden.
»Wir werden sterben, Dragon – so wie es Gelbes
Sarth gesagt hat!«
Ich drehte den Kopf zu ihr herum und verbrannte
mir das Ohr an dem heißen Felsen.
»Schweig jetzt, bitte«, sagte ich. »Niemand muß
sterben. Es gibt noch eine Menge Wege aus der Falle.
Lasse mich nachdenken, Meri-Meri!«
»Ja, Dragon!«
Während ich automatisch weiter versuchte, das Seil
aufzuscheuern, gingen meine Gedanken zurück. Ich
sah noch den Staub, den die Hufe der Sarths
aufwirbelten. Eben hatte die Kavalkade die Talsenke
verlassen. Aber vorher hatte noch eine merkwürdige,
gespenstische und angsteinflößende Zeremonie
stattgefunden ...
Alle waren zurückgekommen. Noch immer standen
vier Paare regungslos im Mittelpunkt des Kessels. Wir
konnten von hier oben jede Einzelheit mit bestechender
Deutlichkeit sehen. Die trockene Luft trug den Schall
eines jeden geflüsterten Wortes an unsere Ohren.
Viermal hatte sich die Ermordung wiederholt.
Vier Männer waren von den Helferinnen erdolcht
worden und waren willig gestorben. Schließlich lagen
alle fünf Erwählten Erthus im Sand.
Die Teilnehmer dieser makabren Handlung
bewegten sich plötzlich. Sie pflückten Blumen, holten
zahlreiche verschiedene Früchte aus den Bäumen,
brachten Wasser in ledernen Eimern herbei.
Andere vergruben die fünf Leichen im blauen Sand.
Die Gräber, nichts anderes als längliche, niedrige
Hügel, wurden mit den Blumen, Blüten und Früchten
geschmückt. Wasser wurde über alles gesprengt, und
dabei summten und sangen die Menschen dort unten
ein unverständliches Lied, das nach Grabgesang ganz
bestimmt nicht klang. Es war eher eine heitere
Hirtenweise.
Als sich der kleine Sandkreis in eine Grabstätte in
schreienden Farben verwandelt hatte, bestiegen sie alle
die Sarths und ritten hinweg. Als sie an uns
vorbeikamen, schrien sie Flüche und Verwünschungen
herauf, die an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen
übrigließen.
Und dann waren wir allein geblieben ...
Ich wußte inzwischen, daß ich einen Fehler gemacht
hatte. Mein Verhalten war in diesem Fall so falsch
gewesen, wie es gerade noch möglich gewesen war.
Aber was geschah wirklich? Was hatte dies alles zu
bedeuten? Ich konnte und wollte es nicht verstehen!
Ich fragte leise:
»Was geschieht jetzt mit den fünf Geopferten,
Meri-Meri, mein durstiger Liebling?«
Ununterbrochen rieb ich an der Fessel, und ebenso
ununterbrochen rief ich nach meiner großen und
mächtigen Freundin Aerula-thane. Aber bisher war
noch keine Antwort erfolgt.
»Erthu hat sie zu sich genommen, Dragon!« war die
tonlose Antwort.
»Das konnten wir deutlich sehen. Und weiter?«
Sie blieb verstockt. Nicht einmal im Angesicht des
drohenden Todes enthüllte sie die Geheimnisse ihres
merkwürdigen Volkes.
»Erthu wird sie freigeben, wenn es an der Zeit ist!«
»Wann ist es an der Zeit?« fragte ich.
»Du wirst es erleben. Du wirst es selbst sehen!« Sie
machte eine Pause der Erschöpfung. »Wenn wir bis
dahin noch leben.«
»Das ist zu hoffen«, sagte ich und fuhr damit fort, an
meinen Fesseln zu zerren und zu reiben. Ich versuchte,
einen Blick auf das Handgelenk zu werfen. Das Seil
war stärker gefasert, aber es hielt noch immer.
Wahrscheinlich hatte es einen Kern aus Leder.
Schleppend verging die Zeit.
Das Gestirn, das uns mit seinen Strahlen
bombardierte, durch die geschlossenen Augen die
Helligkeit bis ins Gehirn hineintrieb, Kopfschmerzen,
Durst und Visonen erzeugte, wanderte über den
Himmel und sank langsam dem Horizont entgegen.
Kein Laut war zu hören außer dem leisen Geräusch,
mit dem Handrücken und Fessel über den Stein
schabten.
»Aerula-thane! Meine Freundin, Wanderwolke! Ich
rufe dich! Ich bin in größter Not! Komm und hilf mir!
Komm schnell, oder ich muß sterben! Hörst du nicht
meine Gedanken!
Ihr Töchter der Wanderwolke! Helft mir, dem
Freund Aerula-thanes! Kommt und helft mir! Mitten in
der Wüste bin ich und verschmachte, wenn nicht bald
Hilfe kommt!«
Meine Gedanken schrien nach der Wanderwolke,
aber entweder war sie außer meiner Reichweite, oder
sie äste und kümmerte sich um nichts. Oder sie hatte
gerade eine Begegnung, die alle ihre Sinne erforderte.
Oder aber nur deswegen, weil meine Hände das
Amulett nicht erreichten, das den geistigen Schrei
verstärkte.
Im gleichen Maß, wie die Sonne dem Horizont
entgegensank, sanken auch meine beiden Hoffnungen
auf Hilfe.
Einerseits die Wanderwolke.
Und andererseits das Auge Vestas. Wenn ein Tier in
die Nähe kam, würde es mir helfen müssen. Aber weit
und breit war nicht einmal ein winziger Singvogel zu
sehen.
Es wurde dunkel.
»Dragon!«
»Ja, Liebste?« röchelte ich mit trockener Kehle und
wandte den Kopf. Unten im Talkessel breitete sich
erster Nebel aus.
»Wir werden sterben, nicht wahr?«
»Es sieht nur so aus!« sagte ich. »Es stirbt sich
mitunter schnell, aber nicht in dieser Schnelligkeit.
Tröste dich. Wir sind frei, noch ehe die Sonne wieder
im Mittag steht!«
»Ich glaube dir nicht!«
Ich war auch nicht überzeugt, aber ich glaubte, daß
es Wege und Möglichkeiten geben würde. Nachts
kamen sicher Wüstentiere in dieses Tal zur Tränke.
Kamen sie, dann war alles einfach. Aber auch mich
drohte nun die Schwäche zu übermannen.
Ich fuhr fort, meine Fesseln zu bearbeiten.
Die Sonne versank. Die Nacht kam in diesen Breiten
schnell und ohne lange Dämmerung.
Mit der Nacht kam die Kälte. Ein dünner Wind, der
die Sandkörner vor sich hertrieb und singende
Geräusche erzeugte, wehte von Westen. Wieder schrie
ich innerlich nach der Wanderwolke.
Nichts ...
Auch kein Tier ließ sich blicken oder hören.
Schließlich, irgendwann in den ersten Nachtstunden
konnten wir dem Schlaf nicht mehr widerstehen und
schliefen ein.
Ich erwachte, öffnete die Augen und erhielt den ersten
Schock dieses Tages. Der siebente Tag brach damit an,
daß ich zusehen mußte, wie sich der blaue Sand im
Mittelpunkt der Kreisfläche zu bewegen begann, als
wäre ein kleiner Vulkan unter dem Mittelpunkt der
Senke ausgebrochen.
Starr vor Schreck, mit eiskalter Haut und zitternden
Gliedern, ungläubig und doch von dem Ereignis
überwältigt, sah ich zu, wie sich eine Gestalt unter dem
Sand bewegte. Sie tauchte mit den langsamen
Bewegungen eines halb ertrunkenen Schwimmers auf –
und ich sah, als sich die Gestalt aus dem Sand
hervorschob, daß es einer der Erdolchten war.
Er richtete sich auf und ging langsam aus dem
Sandkreis hinaus. Dann bückte er sich, hob eine Frucht
auf und biß hinein. Ich hörte das schmatzende
Geräusch bis hier herauf. Meine Kehle war wie
zugeschnürt.
Dann begann sich der Sand erneut zu bewegen.
Der Himmel färbte sich rosa. Das Licht wurde
immer deutlicher. Ich erkannte vier Körper, die sich
selbst aus dem Sand ausgruben und auftauchten. Sie
begrüßten einander schweigend und mit langen
Händedrucken. Sie aßen ebenfalls von den Früchten,
steckten sich einige der Blüten ins Haar und gingen
dann, ohne uns einen Blick zu schenken, in die
Richtung auf einen der kleineren Teiche zu. Das
Geräusch ihrer Schritte verhallte zwischen den
taufeuchten Gewächsen.
Es war eine Wiedergeburt! Ich verstand jetzt mehr,
aber ich konnte es nicht glauben. Neben mir begann
Meri-Meri zu schluchzen.
»Der erste dort, das ist der neue Jahreskönig! Du
hättest an seiner Stelle sein können, Dragon!«
Ich war noch immer damit beschäftigt, zu verstehen,
was ich gesehen hatte. Ich gab ärgerlich zur Antwort:
»In meinem Land bin ich ein großer König, Liebes.
Glaube mir, das ist auch eine Ehre, die von vielen
überschätzt wird!«
Sie verstand mich nicht, sondern starrte immer nur
die Stelle an, an der ihr Traum im Sand versunken war.
Als die Sonne aufging und die Wärme binnen
kurzer Zeit unsere klammen Glieder ergriff, tauchten
die Männer wieder auf. Sie hatten in dem Teich
gebadet, hatten die Früchte gegessen und formierten
sich nun zu einem Zug. An ihrer Spitze ging
hocherhobenen Hauptes der neue Jahreskönig.
Sie gingen hinaus auf den Pfad, der aus dem Tal zur
Stadt führte. Die fünf Männer bewegten sich mit
eigentümlich beschwingten, stelzenden Schritten. Und
sie verhielten sich, als würden sie nicht wissen, daß
zwei Personen, an die Felsen gefesselt, sie mit
brennenden Blicken verfolgten.
Ein Schatten fiel auf mein Gesicht. Ich riß den Kopf
hoch und sah einen Vogel schräg über uns, zwischen
uns und der Sonne.
Im selben Augenblick kreischte Meri-Meri auf:
»Die Rhaags! Die Totenvögel! Sie kommen und
fressen uns! Sie werden mir die Augen aushacken!«
Ich zerrte wütend an meinen Fesseln. Einen
Augenblick lang hatte mich die Panik in ihrem
erbarmungslosen Griff. Ich vermochte nicht mehr klar
zu denken. Es waren mindestens fünfzig Vögel, die
jetzt, beim ersten Sonnenlicht, wie durch Zauberei
aufgetaucht waren. Sie zogen verschieden große Kreise
in unterschiedlichen Höhen. Wieder näherte sich einer
der Rhaags. Er war so groß wie ein Geier, wie Cnossos
in seiner gefürchteten Gestalt.
Der Flug der riesigen, pechschwarzen Vögel war
langsam und majestätisch. Am Boden waren sie
unbeholfen, aber in der Luft wahre Künstler. Wieder
strich ein Schatten vorbei, dann näherte sich der erste
Rhaag. Ich hörte, wie die Luft zischend und knatternd
durch seine Federn strich. Das Tier sah mich mit roten
Augen an, stieß einen krächzenden Laut aus und
schwang sich dicht über meinem Kopf wieder in die
Höhe. Dann griffen die Aasvögel an.
Vier Stück schwebten aus verschiedenen Richtungen
auf uns zu. Noch eben waren sie klein und sichelförmig
gewesen, und jetzt wuchsen sie ins Riesengroße. Ihre
hakenförmigen Schnäbel zielten auf meine Augen. Die
Fänge am Ende mächtiger Federbüschel waren gierig
vorgestreckt.
Zehn Mannslängen, fünf Mannslängen, ich konnte
den stechenden Geruch nach Vogelkot und faulendem
Fleisch deutlich riechen. Entsetzen packte mich ebenso
wie Meri-Meri. Sie schrie gellend auf, aber die Vögel
kamen näher und näher, drohend und schwarz. Dann
riß der Schrei des Mädchens ab, und ich wartete mit
geschlossenen Augen, das Rauschen der gewaltigen
Schwingen im Ohr, auf die erste tödliche Wunde. Das
Juwel in meiner Stirn, von den Sonnenstrahlen
getroffen, leuchtete sprühend auf.
ENDE
Dragon kämpfte zum Ruhme Erthus, des Erdgeists,
und siegte. Doch als er siegte, war er nicht gewillt, den
Tod – das Los des Siegers – zu akzeptieren.
Deshalb gilt Dragon, der Fremde aus der anderen
Welt, jetzt als verabscheuungswürdiger Verfemter. Die
Merlaner jagen ihn, als sie seiner ansichtig werden, bis
in DIE HÖHLEN DES ERDGEISTS ...
DIE HÖHLEN DES ERDGEISTS so lautet auch der
Titel des nächsten Dragon-Bandes, der ebenfalls von
Hans Kneifel geschrieben wurde.