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Ritter der Wüste

Date post: 04-Jan-2017
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Page 1: Ritter der Wüste
Page 2: Ritter der Wüste

1.

Beim ersten schmetternden Ton fuhr ich hoch und sah

mich mit blinzelnden Augen um. Augenblicklich

erkannte ich, wo ich mich befand. Ich war in Merlane,

in der geheimnisvollen Stadt aus Ruinen. Ich atmete

ein und aus; durch die dünnen Vorhänge drang

gleichzeitig mit dem Tageslicht dieses Geräusch herein.

Es war eine ausgewogene Kadenz, von hell

klirrenden Fanfaren geblasen.

Neben mir bewegte sich das liebreizende und

liebeshungrige Fräulein Honigvogel. Ihr weißblondes

Haar lag ausgebreitet wie ein dünnes Tuch auf den

Decken und Fellen des Lagers. Verlockend schimmerte

ihre weiße Haut.

Honigvogel schlug die Augen auf und flüsterte:

»Heute ist der erste Tag, Dragon! Der erste Tag von

sieben großen Tagen! Du wirst alles erfahren. Alle

deine Fragen, Schwarzer Falke, werden beantwortet

werden.«

Sie glitt vom Lager herunter, schlüpfte in ihre

hauchdünnen Kleider und sah mich lächelnd an.

»Ich werde dir an diesen sieben Tagen helfen! Alles,

was ich tun kann, werde ich gern tun!«

Ich nickte und gab zurück:

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»Bis jetzt weiß ich noch gar nicht, was das alles soll.

Warum ertönen die Fanfaren?«

Honigvogel ging langsam auf das Portal zu, durch

das sie vor einer halben Nacht still hereingekommen

war. Sie drehte sich halb herum und sagte über die

Schulter:

»Diese Tür führt in den Baderaum, Herr Schwarzer

Falke. Komm hinunter in die Halle. Dort werden wir

auf dich warten.«

Ich nickte und sah zu, wie sich hinter ihr die

schweren Vorhänge bewegten. Dann stand ich auf,

ging zum Fenster und schob den Stoff zur Seite. Schräg

über mir, genau vor der aufgehenden Sonne, sah ich

eine Gruppe von Männern, die in funkelnde Rüstungen

gekleidet waren. Sie hielten lange, schlanke Fanfaren in

den Händen.

Zum erstenmal sah ich die Ruinenlandschaft richtig.

Es war dunkel gewesen, als mich gestern der

unbekannte Reiter abgeholt hatte. Nun erkannte ich

viele grüne Flächen, die augenscheinlich gepflegt

wurden. Bäume wuchsen im Boden und auf den

grünen Absätzen und manchmal auch auf den Dächern

der Ruinen. Ein ausgedehntes Gelände fiel in einigen

Absätzen nach Westen ab. Ich konnte viele breite Wege

erkennen, aber keine einzige Straße, die hier durch den

freien Raum führte. Überall waren Säulen und

heruntergefallene Teile von Säulen und steinernen

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Dächern. Die Ruinen selbst waren eine Mischung aus

Verfall und Pflege, aus den Zeichen einstiger Größe

und Pracht und dem Versuch, sie bewohnbar zu halten.

Auf dem Rasen sah ich zylindrische Ringe aus hellem

Stein, die wie Brunnenfassungen wirkten.

Aus dem Augenwinkel stellte ich eine Bewegung

fest.

Gleichzeitig hoben die etwa zehn Männer ihre

Instrumente wieder an die Münder. Brustkörbe hoben

sich, die Kettenhemden und die Metallplatten der

Rüstung bewegten sich und blitzten in der Sonne.

Sogleich durchschnitten wieder diese hellen,

eindringlichen Klänge der Fanfaren die Morgenstille.

Einige Vögel flogen auf und flatterten zwischen den

Mauern hin und her. Dann ertönte eine mächtige, volle

Stimme.

»Hört den Ruf, ihr alle, die ihr in diesen Mauern

schlaft und wacht! Hört den ersten Ruf! Die sieben

Tage sind angebrochen!«

Welche sieben Tage? fragte ich mich.

Die Bläser setzten die Fanfaren wieder ab. Die

Stimme verhallte. Eine Pause trat ein. Langsam breitete

sich eine Ungewisse Spannung in mir aus. Ich befand

mich noch immer vor dem verschlossenen Tor einer

ganzen Reihe von Geheimnissen, die zwischen mir und

der Rückkehr in meine vertraute Welt standen.

Je mehr ich von der merkwürdigen und bizarren

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Szenerie dort draußen sah und deuten konnte, desto

mehr fühlte ich mich mitten in die Welt einer alten

Sage aus längst vergessenen Zeiten geschleudert und

dort hilflos ausgesetzt. Ich wandelte noch immer auf

den Spuren des Träumers; noch immer trug ich sein

Juwel in der Stirn.

Ich schlug zwei weitere Vorhänge zur Seite und ging

dann durch die leichte Tür in den Baderaum. Ich

reinigte mich und zog mich an. Auch meine alte

Kleidung befand sich hier, und ich wählte eine

Kombination beider Kleidungsarten. Dann lief ich

zurück ins riesige Zimmer – das sich im hellen Licht als

weit größer und höher erwies als gestern nacht – und

schnallte das Gehänge mit dem Schwert um. Als ich

mich umwandte, schrien draußen wieder die

Blasinstrumente auf. Ich blieb stehen und lauschte.

Die Stimme kam dieses Mal aus einer anderen

Richtung und war noch lauter.

»Die sechste Stunde brach an, ihr alle! Hört, ihr

rüstigen Mannen! Hört zu und wisset also: Die Zeit des

Großen Turniers hat begonnen. Heute ist der erste Tag!

Das Große Turnier, das Fest des Kampfes zu Erthus

Ehre, beginnt heute!«

Dieser Begriff ließ mich zusammenfahren. Erthu! Ich

suchte Erthu!

Schnell begann ich zu überlegen. Das konnte die

einzige und beste Möglichkeit sein, den ersten Geist

Page 6: Ritter der Wüste

dieser Welt zu finden und ihn zu bewegen, sich wieder

unter die Herrschaft Vestas zu beugen.

Eines war klar:

Das siebentägige Turnier – ich vermutete sicher

nicht unrichtig, wenn ich es mir als eine Art

Ausscheidungskampf vorstellte – wurde zu Ehren des

Geistes der Erde abgehalten. Ob Erthu selbst etwas

damit zu tun hatte ... ich würde es herausfinden. Und

zwar hier in Merlane!

»Hört, ihr rüstigen Streiter! Alle Männer, die gewillt

sind und sich fähig und stark fühlen, sollen sich vom

Lager erheben! Kämpfer für Erthus Ehre, gürtet und

schmückt euch!«

Mein Problem lag nicht so sehr darin, daß ich einer

dieser streitbaren Mannen sein würde, sondern es war

anders. Für mich, einen aus den goldenen Jahren

Atlantis hierher Verschlagenen, sagte der Begriff »Geist

der Erde« wenig aus.

Ich glaubte zu wissen, daß es keine Geister in

diesem Sinn gab. Alles war letzten Endes, wenn auch

schwierig, erklärbar. Aber ich begann zu ahnen, daß

ich auf meiner Suche nach dem Weltentor in einen

Zwiespalt zwischen Wunderglauben und Vernunft

geraten konnte. Das war der eigentliche Grund meiner

Unruhe, die sich immer mehr steigerte.

Ich ging hinaus in den Korridor. Ich wußte genau,

wie ich hinunter in die große Halle kam und nahm den

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gleichen Weg, den man mich gestern nacht herauf

geführt hatte.

»Willkommen! Ich hoffe, du hast gut geschlafen und

auch tief, Herr Schwarzer Falke!« dröhnte die Stimme

von Roter Bär auf. Er stand hinter einem überreich

beladenen Tisch, der genau im Mittelpunkt der jetzt

leeren Halle stand. Die Öffnungen der Fenster waren

mit diesem gelblichbraunen, dünnen Stoff verhüllt. Es

drang genügend Helligkeit, aber kein einziger

Sonnenstrahl in den Raum. Neben dem Herrn dieses

Hauses saß, anmutig lächelnd und an einem Stück

Braten kauend, Fräulein Honigvogel.

»Sicher, Herr Roter Bär!« erwiderte ich, schüttelte

die dargebotene Hand und setzte mich ihm gegenüber.

»Ich wäre jedoch ausgeschlafener, wenn ich auf

hundert ernsthafte Fragen hundert gute Antworten

bekommen hätte.«

Er lachte und schlug mit der flachen Hand auf die

Tischplatte, so daß die Teller und Becher sprangen.

»Heute darfst du alles fragen. Und alle oder fast alle

Fragen werden beantwortet.«

Von draußen hörte ich die machtvolle Stimme des

wandernden Herolds.

»Gürtet und waffnet euch, edle Kämpfer zur Ehre

und zum Ruhm Erthus, des Erdgeistes und

Schutzherrn dieser prächtigen Stadt. Und seid nicht

müßig! Findet euch in der achten Stunde ein, auf dem

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Platz des Handels!«

Ich häufte Braten, Früchte und Scheiben seltsamer,

aber wohlriechender Früchte auf meinen Teller und

sagte:

»Ich bin von euch allen sehr herzlich aufgenommen

worden. Der Willkomm war einmalig. Dafür danke ich

euch sehr, und ich weiß diese Freude zu würdigen.

Aber ich fragte nach dem Sitz Erthus, nach der

Geschichte der Ritter von Merlane und über die

Bräuche eures Lebens.«

Während ich aß, berichtete mir Roter Bär – der

übrigens der Vater von Singvogel war –, daß diese

große Stadt eine lange Geschichte hatte.

Merlane war in der Zeit vor dem Chaos, das der

verfluchte Namenlose verschuldet hatte, eine blühende

Metropole des Handels. Sie war die Drehscheibe

zwischen den langen Ufern zweier Meere, zwischen

kleinen Wüsten und ausgedehnten Wäldern. Sie war

förmlich überladen mit Reichtum. Achtzigtausend

Menschen, die Sklaven und die durchziehenden

Karawanen eingerechnet, wohnten hier. Riesige Felder

und Wälder umgaben die Stadt auf dem flachen Hügel.

Für jeden, der arbeitete und fleißig war, breitete sich

der Reichtum und das Ansehen aus. Die Stadt lebte,

wurde größer und prächtiger und stand kurz vor der

Vollendung als kleiner Staat, als die Elementargeister

freikamen.

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Das Land ringsum verödete.

Das letzte Wasser in den Kanälen verdunstete. Es

regnete seltener und immer weniger.

Viel zu schnell wurde aus dem riesigen grünen

Gürtel um Merlane gelbe, heiße, flirrende Wüste. Selbst

die Karawanen gingen nach kurzer Zeit andere Wege.

Jeglicher Verkehr erstarb auf den Handelsstraßen.

Jeder, der sich eine Möglichkeit ausrechnete, an

anderer Stelle überleben zu können, verließ mit seiner

Habe die Stadt.

Das weißhäutige und bartlose Gesicht des

wuchtigen Mannes vor mir war sehr ernst, als er sagte:

»Ungefähr achtmal tausend Menschen blieben hier.

Dann kam Erthu und nahm seinen Sitz in den Höhlen

und Kavernen unter der Stadt.

Das waren unsere Vorfahren. Übrigens leben auch

heute nicht viel mehr Menschen hier.«

Ich beendete mein Essen mit einem Schluck

wasserverdünnten Wein und lehnte mich zurück.

»Und warum haltet ihr dieses Turnier ab?«

»Wir ermitteln den Jahreskönig!«

»Ich verstehe. Erzähle mir etwas über das ›Große

Turnier‹, bitte!«

Roter Bär war ungeachtet des phantastischen

Aufzugs und der nicht weniger rätselhaften und

übertriebenen Umgebung ein starker, ruhiger Mann.

Wenn er redete, so sprach er mit einer natürlichen

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Autorität. Seine Gestik war sparsam, aber sehr

überzeugend. Er schien gutes Essen, Prunk und Musik

zu lieben. Eigentlich fügten er und seinesgleichen sich

sehr gut in diese unwirkliche Kulisse aus Säulen und

Quadern, aus Bäumen und wehenden Stoffbahnen ein.

»Ich bin Jahreskönig. Also bin ich auch der Leiter

dieser siebentägigen Turniere. In ihnen wird der neue

Jahreskönig ermittelt. Er ist einer der Auserwählten,

denen Erthu begegnen wird!«

Ich murmelte überrascht:

»Ist das sicher?« Erthu wird einigen Siegern der

Turniere begegnen?«

»Er ist auch mir begegnet«, erwiderte Roter Bär

ruhig. »Und du bist eingeladen, an den Turnieren

teilzunehmen. Eine Stunde Kampf am Tag, und neun

Stunden Ruhe. Und dazwischen Gastmähler, Musik,

Speise und Trank. Du kannst sogar Jahreskönig

werden, Herr Schwarzer Falke!«

»Das liegt mir fern«, sagte ich. »Aber es ist mein

erklärtes Ziel, Erthu zu finden.«

»Das sagtest du schon, bevor wir den ersten Becher

miteinander geleert hatten«, versicherte Roter Bär.

Honigvogel saß schweigend neben ihm und sah uns

abwechselnd ins Gesicht.

»Einmal im Jahr«, erklärte Roter Bär weiter, »und du

bist gerade am letzten Abend vor Anbruch der sieben

Tage angekommen, begehen wir feierlich und unter

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Beachtung aller Regeln und Gebote das große Turnier.

Alle Männer von Ehre, Stand und Kraft kämpfen

miteinander und gegeneinander. Auch gibt es natürlich

Verletzte und bisweilen auch Tote. Die Toten gehen

ehrenvoll in Erthu ein. Wir versenken sie in die

Höhlen, die in die Welt Erthus führen.«

Ich war ausgeruht und fühlte mich ausgezeichnet in

Form. Wie ein schlechter Traum lagen die Erlebnisse in

der Oase der Sklavenjäger hinter mir. Nach allem, was

ich gesehen und erlebt hatte, und nach den

Erzählungen des Mannes vor mir ...

Ich hatte wohl keine andere Wahl. Ich beugte mich

vor, noch immer das Schmettern der Fanfaren und die

Rufe der Herolde in den Ohren, und fragte mit großer

Spannung:

»Ich bin der Erbe des Träumers. Ich trage, wie du

siehst, das Auge Vestas an meiner Stirn. Mein Ziel ist

es, all das ungeschehen zu machen, was der Namenlose

angerichtet hat. Ich muß also Erthu treffen oder mit

ihm reden. Ich frage dich, Herr Roter Bär, gibt es einen

anderen Weg, Erthu zu finden, als über die Turniere?«

Er schüttelte seinen kantigen Schädel und erwiderte

dann:

»Nein, Herr Schwarzer Falke. Meri-Meri hier, meine

zauberhafte Tochter, wird es dir bestätigen. Es gibt

keinen anderen Weg. Nur ein würdiger und guter

Kämpfer, der neben der Kraft des Körpers auch im

Page 12: Ritter der Wüste

hohen Maß die Klugheit und Schnelligkeit des

Verstandes besitzt, kann das Angesicht Erthus sehen!«

Das war eine deutliche und klare Antwort. Ich goß

noch einen Schluck Wein in den Pokal und stand auf.

»Der Platz des Handels – es ist die Mitte der Stadt?

Ich glaube, ich habe ihn gestern kurz gesehen, als die

Sonne unterging.«

»Kaum möglich, Herr Falke! Der Platz des Handels

ist eine lange Geschichte. Er liegt in der Mitte der Stadt

und er war einst der Ort, an dem die Karawanen

zusammentrafen und Handel getrieben wurde, aber

wir nennen ihn während des Großen Turniers den

Platz der Erwählten!«

»Also«, sagte ich und stand auf, »ich werde, wenn

du als der Leiter der Turniere es gestattest, an diesen

Ausscheidungen teilnehmen!«

»Von einem Mann wie dir, Herr Dragon und

Schwarzer Falke, habe ich nichts anderes erwartet!«

erwiderte Roter Bär dröhnend und schlug mir auf die

rechte Schulter. »Du kannst wählen unter allen

Ausrüstungen und Waffen dieses Hauses. Du kannst

auch in den Ställen wählen. Benutze die besten und

stärksten Sarths.«

»So nennt ihr die hellen Reittiere ?«

»Erraten!«

Herr Roter Bär, Jahreskönig und Leiter der Turniere,

deutete auf Honigvogel, deren Gesicht eine zarte Röte

Page 13: Ritter der Wüste

überzog.

»Honigvogel wird dir alles zeigen, wird dich

begleiten, wird deine Wunden verbinden und dein

Haar streicheln, wenn du aus den Kämpfen

zurückkommst. Natürlich weißt du, daß sich das

Turnier in sieben Stufen steigert?«

»Das dachte ich mir, Jahreskönig!« erwiderte ich.

Wir verließen die Halle. Zusammen mit Honigvogel

und Roter Bär machte ich einen Rundgang durch die

Waffenkammern und durch die Ställe. Dabei merkte

ich, daß es zwei Arten von Sarths gab. Reittiere für den

normalen Gebrauch, von denen ich gestern eines

kennengelernt hatte. Und dann sah ich mächtige Tiere

mit wuchtigen Muskeln und Hornplatten,

Knochenschilden und furchterregenden Gebissen, mit

wild rollenden Augen und starken Hälsen. Mit diesen

Tieren, erklärte Honigvogel, würden die Turniere

durchgeführt.

Ich begann mich auszurüsten, nachdem wir darüber

gesprochen hatten, welche Art von Ausscheidungen

oder Kämpfen heute stattfinden würde. Roter Bär

sprach von etwa einem halben Tausend kräftiger und

schneller Männer, die sich zu dem Turnier melden

würden.

Gerade zu der Zeit, als die Sonne zu brennen

begann, etwa um die achte Stunde des Tages, verließen

wir den Palast des Jahreskönigs.

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Es mußten alle Einwohner der Stadt sein, die sich, aus

Seitengassen kommend und aus allen nur denkbaren

Eingängen, über Treppen herunter, aus Gärten und

ehemals prunkvollen Höfen schreitend, auf der breiten

Straße versammelten. Auch diese Prunkallee wurde

noch von Wasserleitungen oder unsichtbaren Kanälen

erreicht und von der geschrumpften Einwohnerschaft

vom Sand befreit.

Vier Reihen uralter Bäume und breite Streifen aus

wunderbar saftigem Rasen und dicken Büschen voller

Früchte führten geradeaus.

Überall gab es Gruppen und Einzelpersonen, die

nach Süden gingen, der Mitte der Stadt zu. Zwischen

ihnen bewegten sich mit straff angezogenen Zügeln die

Reiter in voller Rüstung. Meist führten Mädchen die

Tiere oder gingen daneben her. Zwischen unseren

beiden Tieren – es waren riesige, fast weiße

Kampf-Sarths – ging Honigvogel.

Ich hob das Visier eines schweren Helmes, der in

meinen Nacken drückte und mir den Schweiß ins

Gesicht trieb, dann rief ich leise hinüber zu Roter Bär:

»Fürwahr! Ein feierlicher Zug!«

Der Jahreskönig, der eine riesige Lanze in der Hand

hielt, nickte kurz. Von der Lanze hing schlaff ein langer

Wimpel herunter, der hinter dem Reittier auf dem

Boden schleifte. Der Stoff war leuchtend rot, eine Farbe,

Page 15: Ritter der Wüste

die in den Augen schmerzte, wenn das Sonnenlicht

darauffiel.

»Ich weiß, daß jeder, der noch gehen kann, jetzt auf

dieser Straße ist!« sagte der Turnierleiter.

Licht und Hitze nahmen zu. Immer mehr Personen

erschienen, immer mehr Reiter. Aus diesem Zug wurde

im Lauf von fünfhundert Mannslängen Strecke ein

Bild, das seinesgleichen suchte. Farben und Metalle

leuchteten auf. Stimmen erklangen, Gelächter schwebte

zwischen den vielfarbigen Säulen hin und her. Noch

gingen die Tiere ruhig und etwas träge unter den

hochlehnigen Sätteln mit den breiten ledernen Gurten,

aber die Unruhe, die in allen Gesichtern geschrieben

stand, übertrug sich auch auf die Sarths.

Der feierliche Zug bewegte sich auf den Platz des

Handels zu. Herr Roter Bär hatte mir gesagt, daß er

bereits zum drittenmal Jahreskönig war. Wir erreichten

jetzt, unter der Rüstung und der schweren,

zeremoniellen Kleidung schwitzend und dampfend,

eine Stelle, an der sich in mehreren Reihen die Reiter

versammelt hatten. Roter Bär nickte Honigvogel zu,

grüßte mich kurz und sagte:

»Vorsichtig! Ich muß den Zug anführen!«

Er setzte sich zurück, faßte mit der Linken die Lanze

und mit der Rechten in die Zügel. Dann setzte er die

Sporen ein, riß das Sarth hoch. Das Tier brach in einen

markerschütternden Schrei aus. Alle Köpfe wandten

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sich in unsere Richtung. Roter Bär sprengte durch die

breite Gasse und blieb weit vorn stehen. Er schwenkte

die schwere Zeremonienlanze, als wäre sie eine dürre

Holzstange. Dann schrie er donnernd:

»Folgt mir, edle Streiter um Erthus Ehre! Steigt von

den Tieren und folgt mit wie jedes Jahr in den

geheiligten Sand des Turnierplatzes!«

Ein ungeheurer Jubel erscholl. Die Menschen schrien

und schlugen in die Hände. Die Sarths kreischten auf.

Die Ritter donnerten mit den Waffen an die Schilde. Es

war ein höllischer Spektakel.

Wieder erhob Roter Bär seine Stimme und rief:

»Nach einer rituellen Reinigung im Sand der Arena,

der uns jetzt sieben Tage lang sehen wird, beginnen die

Kämpfe des ersten Tages.«

Die Männer stießen wieder in ihre Fanfaren und

schmetterten lange Tonfolgen. Ich sah, daß die ersten

Ritter von den Tieren kletterten und schwang mein

Bein über den Sattel. Das Tier, seinen neuen Reiter

nicht gewohnt, scheute. Es stand heute, das sagte mir

Honigvogel jetzt, noch unter der einschläfernden

Wirkung eines weißen Pilzes. Morgen aber würde

diese Wirkung verflogen sein. Ich schüttelte mich, als

ich auf dem Boden aus leuchtendem Mosaik stand und

auf die anderen Ritter zuging, die sich jetzt in Reihen

zu je zehn formierten.

Langsam setzte sich ein zweiter, kleinerer Zug zu

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Fuß in Bewegung. Es waren etwa fünfzig Reihen zu je

zehn Männern, die hinter dem tänzelnden Sarth des

Jahreskönigs dahinschritten. Wir näherten uns durch

eine Art Hohlweg aus farbigen Platten, der hier mitten

in der Straße begann, der Arena. Endlich stand Roter

Bär in der Mitte des großen Platzes.

Eine kreisrunde Sandfläche war von einer

mannshohen Mauer umschlossen, deren Krone voller

Lücken war. Der Durchmesser dieser sandigen Arena

betrug kaum weniger als dreihundert Mannslängen.

Die Mauer war durch mehrere breite Tore, Eingänge

und Treppen unterbrochen, die nach allen Seiten und

nach oben führten. Ich konnte mir sehr gut vorstellen,

daß es hier früher einmal von Leben geradezu

gewimmelt hatte. In konzentrischen Ringen waren dort

verschiedene Ebenen zu sehen, von denen aus man

einen großen Überblick

hatte.

Viele tausend Menschen verteilten sich auf die

Ränge und sahen uns zu. Das Lärmen hatte

nachgelassen, aber noch immer hörten wir das

Murmeln unzählbarer Unterhaltungen.

Wieder ließ Roter Bär sein Reittier hochsteigen,

schwenkte den langen Wimpel und rief:

»Entledigt euch der Waffen und der Kleider, tapfere

Streiter in Erthu! Und badet den Körper im Sand der

Arena!«

Page 18: Ritter der Wüste

Wir gehorchten. Mäntel flogen in den Sand,

Rüstungsteile hinterher, Schilde und Waffen. Ich sah

zu, was die Männer trieben. Ihre weißhäutigen Körper

wurden bis zum Gürtel entblößt, dann fielen etwa

fünfhundert Männer in den Sand, knieten nieder und

schütteten sich langsam und feierlich, in einer Reihe

traditioneller Bewegungen, Hände voller Sand über

Nacken und Rücken. Ich ahmte es ihnen nach und

stand auf, als die meisten von ihnen aufstanden.

Die Zeremonie war beendet, auch Roter Bär

schüttelte den letzten Sand aus dem Haar.

Die Sonne brannte heiß auf meine Schultern, aber

ich war es gewohnt. Diese bleichhäutigen Männer,

deren eigentliches Lebenselement das Innere von

Häusern und die Dunkelheit war, mußten unerhört

leiden.

»Wie jedes Jahr beginnen die Turniere mit der

leichtesten Übung. Der lange, schwierige Lauf. Er

beginnt hier, führt um die Stadt und endet wieder hier.

Es ist die Aufgabe, auf alle Fälle sechsundneunzig

Männer zu finden. Sie nennen sich dann, wenn sie das

Ziel erreicht haben, die Ritter der Wüste. Stellt euch

auf, meine Freunde! Holt Atem, rüstige Mannen.«

Ich runzelte die Stirn. Ich kannte den Weg nicht,

aber die anderen Männer, die in schweigender

Konzentration verharrten und meist nicht mehr trugen

als Gürtel, Hosen und Stiefel, zeigten es mir abermals.

Page 19: Ritter der Wüste

Sie bildeten mehrere Staffeln, die sich mit dem

Gesicht zu der breitesten Treppe aufstellten.

Sicherlich war der lange Weg, der Schwierige Lauf,

irgendwie gekennzeichnet. Es schien eine Übung zu

sein, in der Schnelligkeit und Ausdauer ermittelt

wurden. Flüchtig zählte ich noch einmal. Es waren

rund fünfhundert Männer einer bestimmten, nicht zu

fortgeschrittenen Altersstufe.

War ich ihnen überlegen?

Ich mußte es einfach sein! Ich mußte einer der

sechsundneunzig Ritter der Wüste sein. Jeden Tag

würde sich die Anzahl der Träger eines bestimmten

zeremoniellen Begriffs verringern, bis am Schluß nur

noch ein Sieger übrigblieb.

»Wir bilden zehn Gruppen!« rief Roter Bär. »Die

erste Gruppe beginnt, wenn ich das Signal gebe!«

Schnell zählten wir untereinander ab. Es erwies sich,

daß es fünfhundertzwanzig Männer waren.

Zweiundfünfzig stellten sich in einer Reihe auf. Dann

ließ Roter Bär einen Schrei hören, senkte die Standarte

– und die Männer rannten los.

Ich befand mich in der letzten Phalanx.

Ich rechnete damit, daß sich diese riesige Menge von

Läufern derart auseinanderziehen würde, daß ich, der

die Regeln nicht kannte, eine Chance hatte. Ich mußte

mich richtig verhalten und gewinnen.

Nach einer Wartezeit, die nicht nur mir sehr lange

Page 20: Ritter der Wüste

vorkam, setzte sich schwitzend die letzte Phalanx in

Bewegung. Ich rannte ganz links außen.

Und jetzt folgte ein mörderischer Lauf.

Eine dünne Reihe von Zuschauern säumte den Weg.

Er führte die Stufen hinauf, über die verschiedenen

Ringe der Ebenen, zwischen zwei Säulenreihen

hindurch und in einen der verlassenen Teile der Stadt.

Schon nach fünfhundert Schritten fielen die ersten

meiner Gruppe zurück; ältere Männer und solche, die

zu gut gelebt hatten. Ich lief langsam und gleichmäßig

und ahnte, daß ich den Lauf in der stechenden Sonne

weit besser überstehen würde als alle anderen.

Tausend Mannslängen ging es im Zickzack zwischen

Ruinen, sich schlängelnden Straßen, über mächtige

Trümmer und durch verwilderte Gärten. Es war nicht

einfach ein Lauf, sondern ein Rennen, das von jedem

das Äußerste forderte. Wir mußten laufen und

springen, über Hürden setzen, durch Gebüsch kriechen

und uns unter schweren, durchhängenden Steinplatten

hindurchschlängeln.

Ich gab es auf, diejenigen zu zählen, die ich

überholte oder die keuchend und mit hochrotem

Gesicht und blauen Lippen neben der Bahn saßen oder

von Verwandten oder Helfern weggeschleppt wurden.

Langsam lief ich weiter.

Eine Stunde später hatten wir die letzten, im Sand

Page 21: Ritter der Wüste

versunkenen Gebäude der Stadt hinter uns gelassen.

Wir befanden uns in der Wüste. Jetzt gab es nur wenige

Zuschauer, es waren meist Reiter oder junge Leute, die

ihre Favoriten anfeuerten. Immer wieder kam ich an

einem vorbei, der keuchend und gurgelnd im Sand lag

oder an einem Mann, der taumelnd vor mir lief und die

gesamte Breite der ausgetretenen Spur brauchte.

Der Sand verwandelte sich auf den nächsten

tausend Mannslängen in schleimigen und zähen Sirup.

Die Füße wurden schwer, vor den Augen flimmerte es,

gnadenlos hämmerte die Sonne herunter. Mein

gesamter Rachen war ausgedörrt. Meine Lippen rissen

auf, die keuchenden und rasselnden Lungen arbeiteten

wie Blasebälge. Ich lief wie ein Automat weiter.

Es ging hinunter in eine Senke. Sie war mit den

brockig zusammengebackenen Resten einer

Schlammschicht angefüllt. Der Boden wirkte wie ein

zertrümmertes Mosaik. In diesem glühenden Boden,

dessen Rückstrahlung in den Augen höllische

Schmerzen hervorrief, standen unzählige Steine mit

rauher Oberfläche, so groß wie zwei Männer. Ein

Labyrinth. Ich sprang über einen Mann, der mitten im

Hang zusammenbrach und begann einen wilden

Zickzacklauf durch die Steine. Rechts, geradeaus, links,

die Schulter schrammte entlang der Oberfläche,

verbrannte Haut schmerzte, als Schweißtropfen in die

kleinen Schnitte und Risse sickerten. Es schien endlos

Page 22: Ritter der Wüste

so weiterzugehen, aber es war wohl eine Täuschung.

Endlich kämpfte ich mich den jenseitigen Hang

wieder hinauf und rannte und stolperte weiter.

Wieder näherte sich der Weg der Stadt, aber

inzwischen mußten wir mehr als die Hälfte

überwunden haben. Die Sonne stand genau über uns,

und nicht einmal der Anblick eines langen Schattens

lenkte von diesem wahnsinnigen Rennen ab.

Ich glaubte, wahnsinnig geworden zu sein, als ich

einen langen Hang hinunterrannte und einen runden

See mit Schilf, Bäumen und einigen kleinen Nachen

darauf vor mir sah. Dann aber erkannte ich, daß es

keine Täuschung war, denn am gegenüberliegenden

Ufer standen winkende Menschen. Außerdem

schwammen einige Männer im Wasser.

Ich verzog mein schweißüberströmtes, heißes

Gesicht zu einer Grimasse des Lachens, dann sprang

ich los und hechtete ins Wasser.

Es war eine Erlösung.

Langsam schwamm ich geradeaus. Ich überholte nur

einen jungen Mann, der sichtlich um Atem rang. Aber

vermutlich war mein Keuchen nicht eben leiser. Ich

trank Wasser in kleinen Schlucken und fühlte den

kühlen, weichen Kontakt der Flüssigkeit auf meiner

Haut und in den Stiefeln. Langsam beruhigte ich mich,

langsam kam ich wieder zu Kräften, die Benommenheit

wich.

Page 23: Ritter der Wüste

Und schon hatte ich wieder Grund unter den Füßen,

nahm einen letzten Schluck und kroch hinaus auf das

Ufer. Einige Männer lagen dort und wurden gerade auf

Reittiere gehoben.

Weiter ...

Die ersten tausend Mannslängen, jetzt wieder in

größerer Nähe der Stadt, waren verhältnismäßig leicht.

Während das Wasser von der Haut verdunstete und

auch der Stoff und das Haar trocken wurden, lief ich

ein wenig schneller und überholte mindestens zwanzig

Männer. Dann fiel ich wieder in den kräftesparenden

Trab zurück und sah endlich, daß der Weg wieder in

die Spur mündete, die wir gelaufen waren. Jetzt lag

also abermals dieser Hindernislauf vor uns.

Wieder in langen Sätzen über große Quadern, in

deren Zwischenräumen Büsche und Dornen wuchsen.

Einmal fiel ich und riß mir die Haut am ganzen Körper

auf.

Dann durch Tunnels aus Steinen, durch kratzende

Zweige und auf einen kleinen Platz. Hier zweigte die

Spur des Rennens wieder ab.

»Halt!«

Einige junge Männer sprangen in meinen Weg. Sie

trugen kurze Wurfspeere und reichten sie mir. Ich

begriff, als ich der Richtung folgte, in die ihre

ausgestreckten Arme deuteten.

In fünfundzwanzig Mannslängen Entfernung waren

Page 24: Ritter der Wüste

fünf Scheiben aufgestellt. Sie sahen aus wie Krieger mit

runden, farbigen Schilden.

»Ich verstehe!« sagte ich. »Gibt es eine bestimmte

Reihenfolge?«

»Nein. Wirf einfach! Der Schild ist das Ziel!«

Ich wischte meine Handfläche an der Hose ab, faßte

das erste Ziel ins Auge und griff nach dem ersten

Speer. Dabei merkte ich, daß ein blauer Ring in den

Schaft eingelassen war. Ich holte aus und visierte die

blaue Scheibe an. Blitzschnell erinnerte ich mich an

alles, was ich von Partho gelernt hatte. Mein Arm, mein

ganzer Körper schnellten sich nach vorn, und der Speer

traf fast in den Mittelpunkt des blauen Schildes. Ich

sandte einen weißen Speer an den inneren Rand des

weißen Schildes, dann traf ich sehr gut mit einem roten

Speer den roten Schild. Im silbernen Ziel, dem letzten,

war ein kleiner Punkt. Dorthin jagte ich den letzten,

silbern markierten Speer und rannte los, als mir einer

der Männer zunickte.

Als ich an der Zielscheibe vorbeirannte, saß der

zitternde Speer genau in dem halb handgroßen Punkt.

Ich rannte weiter, als hätte ich eben erst den Lauf

begonnen.

Eine Probe mit Steinen, die weit und zielsicher

geworfen werden mußten, unterbrach abermals das

Rennen. Dazwischen überholte ich wieder einige

Männer, die am absoluten Ende der Kräfte waren.

Page 25: Ritter der Wüste

Gegner aus meiner Gruppe, oder solche, die vor mir

gestartet waren? Ich wußte es nicht, und ich konnte

auch mein Tempo nicht mehr steigern.

Sieben Steine wurden geworfen, und ich traf sechs

der aufgestellten Köpfe aus Holz. Dem siebenten riß

mein vorletzter Wurf den Helm herunter, und es gab

einen harten, hallenden Schlag.

Aber jetzt hörte ich schon den Jubel, mit dem die

Laufenden vor mir begrüßt wurden.

Abermals schlängelte sich der Weg dieses harten

Laufes durch Unterholz und über Treppen, durch

Ruinenhöfe und durch einen langen, eiskalten Keller,

der sorgfältig geräumt war. Wieder gelang es mir,

einige Männer zu überholen. Und dann endlich war ich

wieder in der belebten Doppelreihe von Säulen, die

zurück in die Arena führte.

Abermals sprangen mir Männer entgegen und

hielten mich auf.

Sie trugen große Bögen aus einer hornigen, glatten

Substanz. Fünf Pfeile wurden mir gereicht, und das

Ziel war sehr weit entfernt. Neben einem Mäuerchen,

vor einer riesigen Quadermauer, stand ein

Baumstamm, alt und verkrüppelt. Daran hing ein

Schild.

»Einen Probeschuß!« sagte ein alter Mann in einem

weißen Gewand und mit zerknittertem Gesicht. Er

reichte mir einen metallenen Armschutz.

Page 26: Ritter der Wüste

Ich legte einen Pfeil auf, probierte den Bogen aus

und zielte.

Der Bogen war gut, die Sehne schnitt in meine

Fingerspitzen. Ich versuchte, mit dem Ziel eins zu

werden. So wie vorhin, als ich gemerkt hatte, wie mir

das Wasser geholfen hatte, schien mir jetzt die Luft zu

helfen. Oder sonst etwas, das ich nicht kannte. Das

Auge Vestas. Hart hämmerte die Sehne gegen meinen

Unterarm. Der Pfeil schwirrte fast geradeaus los,

drehte sich leicht und schlug ins Zentrum des Schildes.

Schon lag der zweite Pfeil auf der Sehne, flog davon

und bohrte sich, kaum daß der Schild seine

schaukelnden Bewegungen eingestellt hatte, in das

Ziel. Der dritte, der vierte und der fünfte. Als der

sechste Pfeil zwischen meinen wunden Fingern ruhte,

flog von links nach rechts ein Vogel durch den

Zielraum, flatternd wie eine Taube.

Ich grinste, spannte mit einer schnellen Bewegung

die Waffe und verfolgte die Bewegung des Vogels.

Dann hielt ich vor, löste die Sehne und starrte den Pfeil

an, als könne ich ihn beeinflussen.

Er traf den Vogel!

Ich warf den Bogen dem Helfer zu, riß den

Armschutz herunter und rannte weiter. Ich kam durch

ein Tor, lief hinaus auf die breite Prachtstraße und

zählte vor mir sechs torkelnde und schwankende

Läufer. Ich holte tief Luft, spannte ein letztes Mal

Page 27: Ritter der Wüste

meine Muskeln und rannte los, überholte einen nach

dem anderen, stolperte und sprang die lange Reihe der

Stufen hinunter und sah, daß sieben große Zelte am

äußersten Rand der Arena aufgestellt worden waren.

Ich rannte mit der letzten Kraftreserve auf das mittlere

Zelt zu und sah Roter Bär, der eben den Vorhang

zurückschlug.

Er blickte mich an, als sähe er ein Gespenst.

»Du bist der dreißigste Mann, der hier eingetroffen

ist!« sagte er verwundert. Ich torkelte ins Zelt, fiel in

einen Sessel und bemerkte gerade noch, daß

Honigvogel mit einem großen Pokal auf mich zukam.

Nach dem dritten Schluck fiel ich in einen Schlaf der

Erstarrung und merkte nichts mehr.

Ich erwachte erst wieder im Badesaal des Hauses,

das Herr Roter Bär bewohnte.

2.

Honigvogel neigte sich über mich. Ihr langes Haar

berührte meine Stirn und meine Brust.

»Dieser Trunk hat dich wieder geweckt.«

Page 28: Ritter der Wüste

Ich fühlte mich leicht und beschwingt. Nur noch ein

dumpfer, weit entfernter Rest Schwäche saß noch in

meinen Gliedern. Ich war nackt, und mehrere Mädchen

massierten mich mit öltriefenden Händen. Die vielen

kleinen Wunden meiner Haut hatten sich geschlossen,

das sah ich im Licht der vielen Öllampen und Kerzen.

Jeder Fingerbreit meiner Muskeln wurde

durchgeknetet und behandelt.

Honigvogel flüsterte:

»Ich bin stolz, Herr Schwarzer Falke, daß du mir

deine Liebe geschenkt hast!«

Ich versuchte, mich aufzurichten, aber sie drückte

den Kopf vorsichtig wieder zurück in das nasse Kissen.

»Wie ... wo ... was denn?« fragte ich verwirrt.

»Du bist in aller Munde, Herr!« In ihre Augen kam

ein stolzes Funkeln. »Der Schuß, mit dem du am Ende

des Laufes den Crandotvogel trafest! Das hat noch nie

jemand geschafft!«

Ich stotterte:

»Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein! Das war ein meisterlicher Schuß! Nicht

einmal mein Vater hat dies je zustande gebracht!«

Ich nickte. Dann fühlte ich, wie mich die Mädchen

auf ein Netz hoben und zu einem Becken trugen. Sie

ließen mich einfach hineinfallen. Ich tauchte tief in

eiskaltes Wasser ein, in dem Eisstücke schwammen.

Schreiend und gurgelnd kam ich wieder an die

Page 29: Ritter der Wüste

Oberfläche. Aber sie warteten einige Augenblicke, bis

sie mich hinauszogen und in ein Becken mit warmem

Wasser senkten, das betäubend nach Kräutern und

Essenzen roch. Diese Prozedur wiederholte sich

mehrmals. Ich wurde immer leichter, immer weniger

müde, immer frischer. Schließlich rieben sie mich mit

großen, weichen Tüchern ab, und zwischendurch trank

ich aus dem Pokal. Nach einer Stunde durfte ich mich

aufsetzen und wurde in leichte, warme Kleidung

gehüllt.

»In sechs Stunden ist der erste Tag vorbei. Du wirst

schlafen wie ein Säugling, mein liebster Dragon!«

wisperte Honigvogel an meinem Ohr.

»Aber vorher werde ich essen!« beharrte ich.

Ich schlüpfte in weite, weiche Stiefel. Honigvogel

umarmte mich und führte mich heute nicht in die

Halle, sondern in einen großen Erker. Dort saßen einige

Männer und Herr Roter Bär. Zwei Plätze waren frei,

und wir setzten uns.

Ich sah Herrn Roter Bär kopfschüttelnd an und sagte

mit einer Stimme, die mir selbst fremd erschien:

»Ich glaubte, Herr, daß ich wie tot zwei Tage

schlafen müsse. Aber die Mädchen und deine Tochter,

besungen sei ihr Liebreiz, haben ein Wunder

vollbracht!«

»Alle sechsundneunzig Ritter der Wüste werden so

behandelt. Die anderen Krieger können ausschlafen!«

Page 30: Ritter der Wüste

erklärte einer der Männer. Sie waren alt und hatten am

Lauf nicht teilgenommen.

Einer hob den Pokal, trank mir zu und sagte mit

brüchiger, aber angenehmer Stimme:

»Drei Männer sind gestorben. Sie wurden bereits

Erthu übergeben. Sieben sind noch ohne Bewußtsein,

aber sie werden sich erholen. Von den

fünfhundertzwanzig sind dreihundertvier

zurückgekommen. Du hast den neunzehnten Rang

erworben, Herr Schwarzer Falke, obwohl du als einer

der letzten Gruppe begonnen hast.«

Ich trank einen langen Schluck von einem

aromatischen, starken Wein.

»Es war hart genug!«

»Und morgen wird es kürzer sein, aber nicht minder

hart. Von den Rittern der Wüste werden die

vierundvierzig Streiter Erthus ermittelt.«

Roter Bär brummte:

»Sehr schwere Bedingungen. Aber davon später.

Nun wollen wir schmausen und tafeln!«

»Wohlan!« meinte ich. Meine Laune hob sich mit

jedem Augenblick. Ich hatte eines der Ziele meisterhaft

geschafft. »Ich will tüchtig zulangen!«

Während ich trank und aß, berichteten die Männer

über den Verlauf des Rennens und darüber, welche

Kämpfe und Ausscheidungen morgen ausgetragen

werden würden. Gegen Mittag würden sich

Page 31: Ritter der Wüste

dreihundertvier Kämpfer treffen. In dieser Zahl waren

die sechsundneunzig Ritter der Wüste enthalten. Also

konnten sich an diesem zweiten Tag auch noch solche

Männer qualifizieren, die eigentlich nicht mehr zu den

Ausgewählten gehörten. Ich hörte gespannt zu, als sich

die Männer über die Regeln unterhielten, und dabei

wurde ich müde und schläfrig. Schließlich brachte

mich Honigvogel hinauf in mein saalähnlichen Räume.

Dort schlief ich bis in den Vormittag des zweiten Tages

der Ausscheidungen.

Vier einzelne Gänge waren für diesen Tag anberaumt

worden, und einer schien schwieriger und

erschöpfender als der andere.

Vor der Mittagsstunde galt es, sich ein Reittier

einzufangen. Wir hatten dazu soviel Zeit, wie die

Herolde ankündigten. Das Maß war eine Sanduhr, halb

mannsgroß, die umgedreht wurde.

Ich saß neben Honigvogel auf dem glutheißen Stein

der Arenamauer. Vor mir tummelten sich mindestens

einhundert Kampf-Sarths: wilde, ausgeschlafene Tiere,

die keineswegs mehr unter der Wirkung des

einschläfernden Pilzes standen. Sie liefen

ununterbrochen durcheinander und waren aufgeregt.

Honigvogel sah mich an und murmelte

aufmunternd:

»Du hast ein Wurfseil mit Gewicht, eine Peitsche

Page 32: Ritter der Wüste

und eine Schlinge. Und ich bin sicher, daß du dein Tier

fangen wirst. Nimm eines der stärksten, die du finden

kannst. Es ist noch etwas Zeit!«

Ich war für die dritte Gruppe ausgelost worden.

Jetzt, gegenüber auf einer steinernen Kanzel, stießen

die Herolde in die Fanfaren, und der Leiter der Kämpfe

drehte die Sanduhr herum. Ein dünner Strahl Sand

sickerte durch die engste Stelle des Glasgefäßes.

Zwanzig Männer schwangen sich von der Mauer und

rannten von allen Seiten auf die fast weißen Sarths zu.

Die Seile wurden über den Köpfen geschwungen

und dann losgelassen. Sie schwirrten durch die Luft,

wickelten sich um einzelne Gliedmaße der Tiere oder

fielen in den Sand. Einige prallten gegen die Bäuche

oder Schenkel der Sarths, und die Arena verwandelte

sich in einen Kessel aus menschlichen und tierischen

Körpern und Bewegungen, aus Schreien, Wiehern und

hochstäubenden Sand. Ich beobachtete einen starken

Hengst, der sich durch Schnelligkeit und ungeheure

Wendigkeit auszeichnete. Er wich sowohl den

Schlingen wie auch den Wurfseilen aus und versuchte,

immer in der Mitte des Haufens zu bleiben.

Vom Beginn bis zum Schluß dieses zweiten Tages

durften wir keinerlei Erfrischungen zu uns nehmen.

Wir waren nur mit kniehohen Stiefeln, einem breiten

Gurt und einem Lendenschurz aus Stoff bekleidet. Wer

unter den Belastungen zusammenbrach, dem durfte

Page 33: Ritter der Wüste

niemand helfen. Es war keinerlei Spiel mehr in der

Ausscheidung – es wurde ernster und härter.

Ich lächelte, beugte mich vor und beobachtete, wie

die Männer ihre Hilfsmittel handhabten. Einige hatten

die Sarths eingefangen und zerrten sie mit Schlinge

und Peitsche aus der Arena. Andere lagen da, von

Huftritten getroffen, und wälzten sich stöhnend im

Sand. Andere versuchten noch immer, ein Tier

einzufangen.

Ich dachte an Vestas Auge und konzentrierte mich

voll auf den Hengst mit den weißen Schuppen an den

Gelenken, mit dem langen, schmalen Schädel und der

dreikantigen Knochenplatte auf der Stirn. Seine Mähne

war silberweiß und halblang, aber der Schweif schleifte

im Sand nach und wirbelte umher wie eine Peitsche.

Ich spürte, wie das Erbe des Träumers mir half. Dieses

Tier dort, das sich zwischen den aufgeregten Sarths

hindurchschob und immer wieder versuchte, den hart

kämpfenden Männern zu entgehen, warf plötzlich den

Kopf hoch und starrte mich an. Ich dachte angestrengt

und mit weit offenen Augen daran, daß dieser Hengst

mir gehorchen sollte, mir helfen, sich gegen mich nicht

wehren durfte. Das Tier wurde ruhiger.

Der Sand lief aus dem oberen Behälter ... die

Fanfaren bliesen, und sieben Männer, die die

Bewußtlosen und Verletzten mit sich schleppten,

verließen ohne Reittiere die Arena.

Page 34: Ritter der Wüste

Schließlich ertönte mein Signal.

Ich war jetzt sicher. Ich nahm die Peitsche und die

Schlinge, sprang von der Mauer und bahnte mir

langsam einen Weg durch die Tierleiber. Wieder

begann das Juwel in meiner Stirn seine rätselhaften

Schwingungen auszusenden. Die aufgeregten Sarths

wichen aus, drängten sich zur Seite. Ich knallte ein

paarmal mit der Peitsche und ging auf den weißen

Hengst zu. Er scheute, stieg hoch und pendelte vor mir

hin und her.

Unablässig rann Sand in den unteren Behälter. Ich

rannte auf das starke Tier zu und blieb dicht vor ihm

stehen. Ich breitete meine Arme aus und dachte wieder

an die schweren Aufgaben in den nächsten Stunden.

Das Tier starrte mich mit wild rollenden Augen an. In

seinem Verstand schienen Wildheit und Gehorsam

miteinander zu ringen.

»Schwarzer Falke! Schneller! Die Zeit rinnt dahin!«

schrie Honigvogel aufgeregt und schwenkte die Arme.

Ich hatte das Tier auf die Stelle gebannt. Ich

vertraute der unsichtbaren Kraft des Juwels, und

Vestas Auge half!

Der Hengst senkte den Kopf und blieb starr vor mir

stehen. Ich schlang aus dem ledernen Seil eine Art

Halfter und wand es um den kantigen, bösartig

wirkenden Schädel des Tieres. Am Rand der Arena

kreischte Honigvogel voller Vergnügen. Dann trieb ich

Page 35: Ritter der Wüste

mit ein paar Schlägen der Peitsche den Hengst neben

mir her, auf den Ausgang der Arena zu.

Noch ein Drittel des Sandes befand sich im oberen

Teil der Sanduhr.

Hinter mir blieb ein Durcheinander aus Schreien

und Hufgetrappel zurück. Ich führte das Tier, das auf

den geringsten Zug des improvisierten Zügels

gehorchte, aus der Arena und hinaus auf den Platz, auf

dem dreißig oder mehr Männer warteten. Sie sattelten

gerade ihre Tiere, während die Helfer die Strecke

vorbereiteten. Die Spannung stieg an, während die

einzelnen Gruppen versuchten, die Tiere einzufangen.

Niemand durfte uns helfen. Auch mir nicht. Ich

suchte mir einen Sattel aus, schleppte ihn zu dem

regungslos dastehenden Tier und schnallte ihn fest.

Das Einfangen der Reittiere war der erste Gang, der

abermals viele Männer ausscheiden ließ. Der zweite

würde ein Rennen sein – das hatte mir Roter Bär heute

gesagt –, das alle Vorstellungen überstieg.

Die Sonne kletterte höher und höher.

Die Hitze stieg. Die ersten Männer, die mit ihren

Reittieren kämpften und von dem Lauf des

vorhergehenden Tages erschöpft waren, kippten aus

den Sätteln und blieben liegen. Niemand durfte ihnen

helfen. Wer aus Erschöpfung starb, wurde in die

Höhlen gebracht. Ich wußte noch nicht genau, was

damit gemeint war.

Page 36: Ritter der Wüste

Einfangen der Reittiere, dann ein Wettrennen über

eine unbekannte Strecke, und gegen Abend eine

Kletterei in den Ruinen. Und diesen zweiten Tag sollte

ein Wettschwimmen in einer unterirdischen Höhle

krönen.

Ich machte mich bereit für das Rennen.

Helfer brachten mir die schwere Rüstung und die

Waffen. Ich legte sie an. Eine Stunde später saßen

hundert Reiter auf ihren nervös tänzelnden Tieren. Sie

bildeten eine lange Reihe. Vor den Vorderbeinen der

Tiere spannte sich ein langes Seil. Das Eisen, das wir

trugen, war heiß. Ströme von Schweiß liefen über

unsere Haut und tränkten die Kleidung. Wir warteten.

Die Strecke lag vor uns – es war wieder ein Stück der

breiten Prachtstraße, die hinaus in die Wüste führte.

Die Herolde stellten sich auf, der Leiter der Spiele

erschien auf seinem Reittier, und ich dachte daran, daß

mein Weg zu Erthu immer schwieriger wurde. Aber

dank der Pflege Honigvogels fühlte ich mich kräftig

und stark.

Ein Murmeln ging durch die Reihe der Reiter.

Dann schmetterten die Fanfaren ein Signal, Roter

Bär senkte die Fahne, und das Seil fiel. Die hundert

Tiere sprangen vorwärts, ich wurde tief in den Sattel

gepreßt, hielt mich fest und stemmte mich dann nach

vorn. Das wilde Rennen begann. Noch immer ritten

hundert Männer nebeneinander, aber schon sprengten

Page 37: Ritter der Wüste

die ersten aus der Reihe hervor, wurden schneller und

trieben ihre Tiere zu größerer Eile an. Ich ritt diesen

knochigen Hengst mit den langen Läufen wie ein Pferd

aus »meiner« Welt. Und ich versenkte mich in die

Natur dieses Tieres. Ohne es auszusprechen, ohne

bewußt in meinen lautlosen Wünschen daran zu

denken, stellte ich mir meine Version dieses Rennens

vor. Das Tier, das fast ohne Zügelhilfe lief, schien mich

zu verstehen – ebenso wie der Wald bei Odaliks

Leuten, der seine morschen Bäume umgeworfen hatte.

Eine plötzliche zweite Veränderung ging vor.

Bei jedem der Galoppsprünge krachten die

Metallteile, schlugen die Kanten der Rüstung gegen

meinen Körper. Das Schwert peitschte die Flanken des

Hengstes. Der Schild schlug schwer gegen meine

Schultern. Ich krallte meine Zehen in den Steigbügel,

verlagerte mein Gewicht nach vorn, bis ich tief über

dem langen Hals des Tieres kauerte. Dann rückte ich

das Schwert nach vorn, warf den Schild über die

Schultern und zurrte den Riemen fest.

Gleichzeitig reagierte das Sarth unter mir.

Es streckte sich, der Rhythmus seiner Bewegungen

wurde harmonisiert, und die Hufe klapperten in einem

rasenden Wirbel auf die sandbedeckten Steine der

Straße. Wir hatten zwei Drittel der übrigen Reiter

bereits hinter uns gelassen und ritten auf der rechten

Seite des keilförmigen Pulks, der immer schneller

Page 38: Ritter der Wüste

wurde und schon den Rand der Wüste erreicht hatte.

Lanzen, an denen Wimpel in einem trägen

Mittagswind flatterten, kennzeichneten den Verlauf

der Bahn.

Ich ließ den Zügel locker, glich auch die

Bewegungen meines Körpers denen des schnellen

Tieres an und sah mich um. Langsam, aber durchaus

merklich, rückten wir entlang der aufgewirbelten

Sandwolke weiter vor. Jedesmal nach zwanzig

Galoppsprüngen überholten wir einen Reiter.

Die Männer in den Sätteln husteten und schwitzten

und fluchten.

Wir hatten alle die gleichen Chancen. Während wir

uns durch die stechende, dumpfe Hitze und den

beißenden und ätzenden Sandstaub quälten,

verringerte sich erstmalig die Geschwindigkeit.

Diejenigen, die ihre Tiere gleich nach Beginn

angetrieben hatten, fielen langsam zurück. Schlechtere

Reiter und solche, die ihr Tempo absichtlich

zurückgehalten hatten, holten auf.

Aber ich brauchte weder Sporen noch Peitsche.

Vestas Auge half mir. Mein Tier wurde immer

schneller und schob sich jetzt aus dem erstickenden

Staub hervor und drängte leicht zur Mitte hin. Nach

kurzer Zeit, als wir entlang der Lanzen durch die

Wüste preschten, gab es nur noch drei Tiere. Sie liefen

fast nebeneinander. Ich hielt meinen Hengst zurück

Page 39: Ritter der Wüste

und kontrollierte abermals meinen Sitz, meine

Bewegungen und den Zustand des Tieres.

Weiter ... geradeaus ... über diese heiße Fläche ohne

Schatten. Wir ritten dahin und verloren das Zeitgefühl.

Die abgesteckte Strecke führte in einem riesigen Kreis

aus der Stadt hinaus und wieder in die Stadt zurück.

Unter den Hufen der Tiere wölkten Staub und Sand

hoch. Drei hohe, schmale Sandsäulen markierten

unseren Weg. Niemand hielt sich hier auf, um uns

zuzujubeln oder gegebenenfalls zu helfen.

Heute gab es keine Hilfe. Nicht einmal einen

Schluck Wasser durften sie uns verabreichen.

Ohne miteinander zu sprechen, nur auf die Strecke

konzentriert und auf das Tier, ritten drei Männer

nebeneinander auf die Zone zu, in der sie den

Prüfungen ausgesetzt werden würden. Die Sonne stieg

höher, und die Hitze nahm immer noch zu. Der

Schweiß und die Ausdünstungen unter den schweren

Rüstungen erstickten uns förmlich.

Dann, nachdem wir einen Wald aus Säulenstümpfen

durchritten hatten, kamen die Mauern ...

Es war eine Prüfung für Selbstmörder gewesen. Die

Tiere wurden gezwungen, im Zickzack und auf engem

Raum durch steinerne Pfähle hindurchzureiten. Es

konnte leicht geschehen, daß ein Tier seinen Reiter

gegen die Säule schmetterte oder ihn zwischen dem

Page 40: Ritter der Wüste

eigenen schweren Körper und dem Stein zermalmte,

wenn die Hufe im Sand rutschten. Ich zwang meinen

Hengst dazu, langsamer zu werden, und schätzte mit

den Augen die einzelnen Bewegungen und die

Entfernungen ab.

Ich ließ beide anderen Reiter an mir vorbei und

mußte erleben, wie eines der Tiere mit voller Gewalt

gegen eine Säule krachte, sich das Genick brach und

den Reiter gegen eine andere Steinsäule schmetterte,

wo er betäubt oder tot liegenblieb. Vorbei – weiter,

wieder schneller. Einen langen Hang hinauf, und dann

sahen wir die Wälle.

Sie waren fast mannshoch!

Wieder verlagerte ich mein Gewicht. Seite an Seite

sprangen wir beide, die ersten Reiter, über die Mauern.

Die Tiere sprangen steil los, zogen die Beine an und

landeten jenseits der massiven Barriere. Aber weit

hinter uns, am Hang des kleinen Tales der Säulen,

sahen wir die Staubsäulen der Verfolger. Unser

Vorsprung betrug jetzt nur noch zweihundertfünfzig

Mannslängen. Wie lang die gesamte Streckte war,

wußte ich nicht, aber wir ritten jetzt so, daß die

Stadtsilhouette seitlich von uns war.

Ein Sprung löste den anderen ab.

Alle Gelenke wurden belastet, die Knochen schienen

zu krachen, die Gurte und die Metallkanten schnitten

tief in die Haut. Die Schultermuskeln begannen zu

Page 41: Ritter der Wüste

schmerzen, als würde man sie mit glühendem Stahl

berühren. Aber noch sah ich klar, noch funktionierten

mein Verstand und mein Körper. Ebenso unverändert

wirkte das Juwel in der Stirn.

Und auch das Tier schien unerschöpfliche Kräfte zu

haben. Schon während des Laufes am gestrigen Tag

hatte ich alle meine Vorurteile geändert. Es mochte

sein, daß die Merlaner ein degeneriertes Verhalten

zeigten, aber ihre Turniere waren absolut mörderisch.

Der letzte Sprung, und noch immer hatte ich einen

ernstzunehmenden Gegner.

Wieder wechselte die Strecke.

Geröll tauchte auf, Treibsand und Löcher im Boden.

Wieder wurden an die Tiere und an die Reaktionen der

Reiter die härtesten Anforderungen gestellt.

Eine Geschwindigkeitsstrecke aus feuchtem

Wüstensand folgte. Jetzt hatten wir etwa ein Dutzend

Verfolger hinter uns, und ich besaß einen kleinen

Vorsprung. Abermals, die ersten Säulen anvisierend,

konzentrierte ich mich und versuchte, mit der belebten

Natur eins zu werden.

Der Hengst schrie auf; es klang wie

Triumphgeschrei.

Dann holte er aus seinen Lungen und seinen

Muskeln die letzten Reserven heraus, wurde schneller

und schien leichter und noch müheloser als bisher dem

Ziel entgegen zu fliegen. Wir waren die ersten, die in

Page 42: Ritter der Wüste

einer auffliegenden Sandwolke mitten in der Arena

anhielten. Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten und ging

auf das Zelt zu, das wieder aufgestellt worden war.

Herr Roter Bär sah mich nur schweigend an. Als er

zum Sprechen ansetzte, kam mein schärfster Gegner in

die Arena. Ich fürchtete mich davor, gegen ihn in

einem der ernsthaften Kämpfe antreten zu müssen.

Zwei Stunden Wartezeit schlossen sich an.

3.

Zehn Mannslängen Seil, zwei Dolche und ein

Wurfanker. Das war die gesamte Ausrüstung, die uns

zugebilligt worden war. Nur vierundvierzig Männer

würden heute übrigbleiben. Alle anderen waren

hoffnungslos ausgeschieden.

Ich stand in einer leeren Fensterhöhle. Unter den

Sohlen meiner zerschrammten Stiefel bröckelte der

Stein. Hier befand ich mich hoch über der Stadt, in

einer der vielen Ruinen. Hundertfünf Reiter waren wir

gewesen – anstatt einer Erfrischung waren uns

Neuigkeiten zuteil geworden –, und nur achtzig waren

Page 43: Ritter der Wüste

durch das Ziel gekommen. Sieben Männer waren

gestorben.

Später Nachmittag:

Die Schatten modellierten aus jedem Stück

Mauerwerk die Konturen heraus. Ich befand mich fast

an der höchsten Stelle dieser Ruine, die nur aus drei

Wänden voller Fensterhöhlen bestand, aus einigen

Resten von Zwischenwänden und vielen Säulen, die

zum Teil noch mit den steinernen Dachplatten

verbunden waren. Ich sah mich um – jemand war vor

Zeiten ebenfalls diese Strecke geklettert und hatte den

Stein mit einer dunklen Farbe markiert. Diesem Faden

mußten wir folgen. Es gab mehrere Wege durch die

Ruinen, hinauf und hinunter, über messerscharfe und

knisternde Stege, aber keiner der achtzig Bewerber

würde es leichter haben. Ich befand mich in einer der

ersten Gruppen.

Ich hatte rasenden Durst und nagenden Hunger.

Aber hier oben ging ein kühlender Wind, der den

Schweiß augenblicklich auftrocknete und den Eindruck

hervorrief, daß man sich in kühler Luft bewegte.

Das Ziel lag dort vorn, auf der Plattform eines gut

erhaltenen, aber buschüberwachsenen Rundturms.

Ich sah mich um und erkannte, daß ich eine

senkrechte Mauer hinauf und von dort etwa dreißig

Mannslängen weit auf der obersten und brüchigen

Mauerkrone entlangbalancieren mußte.

Page 44: Ritter der Wüste

Ich knüpfte das kurze Seil, das am Wurfanker

befestigt war, an das längere Seil und sicherte die

Dolche im Gürtel. Dann hielt ich mich mit einer Hand

fest und ließ den Wurfanker kreisen.

Es war möglich, mich dort hinaufzuhangeln, wenn

die Spitzen des Ankers faßten. Ich ließ das Seil frei, der

schwere Anker beschrieb eine weite Kurve und fiel

jenseits der Mauer nach unten. Langsam holte ich das

Seil ein und ruckte mehrmals prüfend daran. Beim

fünften Versuch faßte der Haken.

Das Seil war aus Tiersehnen geflochten. Ich

verknotete das Ende in meinem Gürtel und begann, an

dem Seil hinaufzuklettern.

Es straffte sich, als meine Sohlen die senkrechte

Wand berührten. Langsam, Hand um Hand, zog ich

mich hoch. Jenseits der Mauer hörte ich den Haken im

morschen Gestein knirschen. Seit zwei Stunden hing

und pendelte, kletterte und schwitzte ich bereits in den

Ruinen.

Gerade, als sich mein Gesicht, direkt vor dem Seil,

über die Mauerkante hob, hörte ich rechts von mir

einen gellenden Schrei. Ich zwang mich, den Kopf nicht

zu drehen. Der Schrei verhallte zitternd zwischen den

Ruinen, dann gab es einen schmatzend-krachenden

Laut. Ein schwerer Körper war, nachdem er durch die

Luft wirbelte, auf den Trümmern zwischen den

Büschen aufgeschlagen. Das Amt des Jahreskönigs

Page 45: Ritter der Wüste

mußte begehrenswert sein – auf alle Fälle forderte es

jeden Tag mehr Opfer.

Ich hatte ein anderes Ziel. Mein Weg würde mich

auf alle Fälle haarscharf neben dem Jahreskönig vorbei

in den Bereich Erthus führen. Ich warf einen Arm nach

vorn und klammerte mich zuerst an die Wurzeln eines

kleinen Strauches, dann zog ich mich höher, und als

sich die Wurzeln lockerten und aus den Steinfugen

rutschten, versuchte ich einen langsamen Klimmzug.

Schließlich, nachdem ich eine Handbreit

verwitterten und morschen Stein mit dem Knie

weggeschoben hatte, konnte ich ein Bein über die

Quadern schieben und saß nun rittlings auf der

obersten Mauer.

Der Abstieg dort vorn und einige Sprünge über

gefährliche Zwischenräume würden nicht mehr ganz

so hart sein.

Aber das Sonnenlicht nahm viel zu schnell ab.

Plötzlich fiel mein Blick auf eine Rasenfläche und auf

eine Gruppe von Weißgekleideten, die einen dieser

gemauerten Brunnenschächte umstanden.

Ich sah, wie sich ein kleiner schweigender Zug näherte.

Fünf Männer trugen auf ihren Schultern einen

menschlichen Körper, der in breite weiße Binden oder

ein enganliegendes Gewand gekleidet war. Der Körper

war starr, also handelte es sich vermutlich um eines der

Page 46: Ritter der Wüste

Opfer dieser brutalen Ausscheidungskämpfe. Der Ring

aus Menschen, der die Öffnung bisher schweigend

umgeben hatte, glitt an der Stelle auseinander, an der

sich der Zug näherte. Vermutlich sangen oder

murmelten sie, aber ich konnte es aus dieser

Entfernung nicht hören. Diese Prozession hatte die

lautlose Gespenstigkeit eines Geschehens, das

außerhalb des Verstehens lag.

Die Leichenträger blieben stehen und stellten sich

dergestalt hin, daß ihre schwere Last halb über dem

Loch im Boden schwebte. Ich starrte wie gebannt

hinunter – denn die Zeit, in der einer von uns seinen

Weg hier zurücklegte, war nicht entscheidend.

Entscheidend war, daß man lebend unten ankam.

Ein wahnwitziger Gedanke zuckte durch meinen

Verstand.

Erthus Höhlen!

»Sie gehen ein in Erthu!« war mir erklärt worden.

Jetzt sah ich, was tatsächlich passierte. Während mit

häßlichen Schreien einige Rhaag-Vögel hoch über mir,

noch im vollen Sonnenlicht, ihre Kreise zogen, tanzte

dort unten mit langsamen und zeremoniellen Schritten

ein schweigendes Ballett.

Der Leichnam wurde auf ein langes Brett gelegt, das

sämtliche Umstehenden ergriffen. Es waren vermutlich

die nächsten Angehörigen des Verstorbenen. Sie

balancierten das Brett genau über der schwarzen

Page 47: Ritter der Wüste

Öffnung, die gar kein Brunnen war, sondern ein

Stollen, der tief in die Erde unter der Stadt führte, also

in die legendären Höhlen von Erthu, dem Erdgeist.

Dann kippten die Trauernden das Brett.

Der Leichnam fiel nach unten und verschwand.

Noch einige Augenblicke blieben die Versammelten

stehen, dann formierten sie sich wieder zu einem

kleinen Zug und verließen den Platz.

Ich stand langsam auf und wickelte das Seil auf,

nachdem ich den Anker gelöst hatte. Ein Zacken des

Werkzeugs hatte sich tief in das Auge einer

ausgewaschenen Verzierung gebohrt. Ich erkannte von

hier oben nur, daß es ein weibliches Gesicht sein

mußte.

Ich ging langsam, Schritt um Schritt, geradeaus. Dort

unten, sehr weit entfernt, glitt mein Schatten über eine

andere Mauer. Nur noch eine halbe Stunde, dann war

die Sonne untergegangen.

Die Sohlen lockerten das Gestein und ließen es nach

unten prasseln. Flüchtig sah ich andere Männer, die

ihre Dolche in die Steinfugen trieben und sich daran

nach oben hangelten. Stufenweise ging es zunächst

geradeaus, nach unten, dann im rechten Winkel auf die

langen Reihen von teilweise eingebrochenen Säulen zu.

Ich ging weiter und konzentrierte mich auf den

Weg. Ich musterte jede Handbreit des unterarmbreiten

Page 48: Ritter der Wüste

Gesimses, auf dem ich mich bewegte. Jeder weitere

Schritt war jetzt ein Kampf mit dem Tod. Die Sohlen

rutschten auf dem körnigen Gestein. Aber ich schaffte

es, bis an den Knick zu kommen, wo die Frontfassade

in die rechte Seite der Ruine überging.

Diese Mauer war breiter. Ich wurde schneller und

erreichte die erste Platte, die auf den Gesimsen der

Säulen schwebte. Ich blieb stehen.

Ich erkannte den Weg.

Er führte in einer Reihe von Stufen abwärts und auf

einen Alkoven, der eine Seillänge von der

Turmplattform entfernt war. Aber meine Route durch

die Ruinen hatte besondere Schwierigkeiten. Die

einzelnen Platten, einst Teile eines Daches, waren an

einigen Stellen weiter voneinander entfernt, als ein

Mann springen konnte. Ich nahm einen kurzen Anlauf,

zielte genau und sprang auf die nächsttiefere Platte.

Als meine Sohlen den Stein berührten, darauf

abrutschten und mich nach hintenfallen ließen, spürte

ich, daß ich in eine tödliche Falle getappt war. Unter

mir schwankten die einzelnen Elemente der Säulen. Ich

kam wieder in die Höhe, taumelte und stützte mich mit

den Handflachen ab. Die Platte, auf der ich kauerte,

bewegte sich hin und her.

Ich mußte etwas tun. Ich handelte in rasender

Schnelligkeit und versuchte, mich zu retten. Ich dachte

nicht mehr, ich konnte nicht mehr überlegen, alles ging

Page 49: Ritter der Wüste

viel zu schnell. Ich handelte rein instinktiv.

Ich schnellte mich nach vorn, als die Platte fast die

nächste Platte berührte. Unter mir erscholl ein

grauenhaftes Knirschen. Ich landete auf allen vieren

auf der nächsten Platte und schlitterte über die

Oberflache, riß mir die Finger auf und konnte mich

gerade noch halten.

Der Stein, der mich eben nach vorn geschleudert

hatte, brach auseinander. Dadurch wurden die

schlanken Säulen, die sich zehn oder zwölf

Mannsgrößen hoch in den dunklen Himmel erhoben,

ihres oberen Haltes beraubt. Sie knickten zusammen,

die beiden Teile der Platte kippten und fielen nach

unten. Der Platz, auf dem ich verzweifelt versuchte,

einen Halt zu finden und mein Gleichgewicht zu

bewahren, erhielt einen harten Schlag und begann

ebenfalls zu schwanken. Ich sprang weiter abwärts,

und während ich von einem festen Punkt zum

nächsten hastete, brachen vier Säulen hinter mir mit

donnerndem Getöse zusammen.

Aber die stürzenden Trümmer taumelten hin und

her und schlugen gegen die noch stehenden Teile der

Ruine. Sie gerieten ebenfalls ins Schwanken und

bewegten sich hin und her. Zuerst nur wenig, dann

immer schneller. Während ich vor dieser

Kettenreaktion flüchtete und in einer Serie von

selbstmörderischen Sätzen immer weiter diesem Erker

Page 50: Ritter der Wüste

zusprang, brach hinter mir eine Säule nach der anderen

zusammen. Über meinen Kopf wirbelte pfeifend der

Wurfanker.

Ich blickte den Erker an, starr und konzentriert.

Noch immer schien nicht ich zu flüchten, sondern

etwas in mir, das sich jeder Überlegung entzog und

mich mit einer Schnelligkeit der Reflexe versah, die ich

niemals für möglich gehalten hatte. Es war reine

Todesangst, die mich unbewußt das Richtige tun ließ.

Schließlich schnellte der Anker geradeaus und traf

irgendwo in den leeren Raum hinter der Brüstung des

Erkers. Es klirrte scharf. Ohne sichtbare Regung

beobachteten mich die prüfenden Blicke der Wächter

oder Schiedsrichter.

Jetzt befand ich mich auf der letzten schwankenden

Plattform auf der Spitze von drei Säulen. Die vierte war

schon vor unbekannter Zeit zusammengebrochen. Ihre

Reste lagen unten zwischen den Ästen und Blättern des

harten Gesträuchs. Ich zog am Seil, bis es sich straffte.

Ein furchtbarer Schlag traf eine Säule, ich fühlte, wie

der Halt schwand.

Ein neuer Ruck am Seil. Der eiskalte Schweiß brach

mir aus. Meine Knie und die Finger begannen

unkontrolliert zu zucken.

Das Seil war straff, und ich sah, daß ein

Zwischenraum von zwei Mannslängen vor mir gähnte.

Zudem wurde es dunkler und dunkler. Ich schloß kurz

Page 51: Ritter der Wüste

die Augen und riß abermals am Seil, dann warf ich

mich, den Körper zusammengekrümmt, nach vorn. Ich

wurde von der Mauer vor mir förmlich angezogen,

streckte die Beine aus und nach vorn und prallte mit

furchtbarer Wucht gegen die Mauer.

Meine Knie gaben nach, ich riß mit einer Hand einen

Dolch aus dem Gürtel, holte aus und hieb die vierkant

geschliffene Spitze zwischen zwei Quadern hinein,

nützte den letzten Rest des Schwunges aus und zog

mich hoch. Der rechte Fuß ruhte nun halb auf der

Schneide, halb auf dem Dolchgriff.

Noch eine kurze Zeit ...

Nur noch zwei oder drei letzte Kraftanstrengungen.

Hinter mir krachten die letzten Säulen zusammen.

Gesteinsstaub, Sand und Splitter breiteten sich nach

allen Seiten aus. Donnernd und polternd brachen die

Säulen in einzelne Teile auseinander und

zerschmetterten die Büsche, spaltete die Trümmer, die

bereits dort unten lagen.

Ich zog mich langsam hoch, riß kopfüber hängend

den Dolch heraus und schwang mich über die

Brüstung in den Erker hinein.

Wenige Schritte, einige Atemzüge später, erschöpft

und mit trockenem Mund, taumelte ich hinauf auf die

Plattform und sagte keuchend:

»Ich bin hier, Väter! Schreibt meinen Namen in die

Reihe der Sieger!«

Page 52: Ritter der Wüste

Würdevoll erwiderte einer der Alten:

»Noch ist dieser Tag nicht zu Ende. Folge diesem

Mann dort, und er wird dich zu den Höhlen bringen!«

Ich nickte nur noch und schlich erschöpft, hungrig

und mit zitternden Gliedern dem alten Mann nach.

Aber immerhin versuchte ich trotz meines Zustandes

noch, mir die einzelnen Stationen des Weges zu

merken. Schließlich ging es in eine unterirdische

Grotte, also näher heran an das Gebiet, das angeblich

zu Erthus Reich gehören sollte.

Ich war vollkommen allein.

Rings um mich war es dunkel. Das Wasser rauschte,

und ich trug nur mein Amulett, das Juwel und einen

schmalen Streifen Stoff um meine Scham. Die letzte

Prüfung dieses Tages schien jedenfalls die

geheimnisvollste zu sein. Einige Mannslängen unter

mir gurgelte das Wasser, das im Schein der wenigen

Fackeln und Öllampen schwarz wie Schreibtusche

schien.

»Es wird nicht lange dauern, aber es ist keine leichte

Prüfung!« hatte der alte Mann gemurmelt, nachdem er

mich auf diese Kanzel aus Tropfstein geführt und allein

gelassen hatte.

Der Weg zu dem Namen Streiter Erthus war auf

eine andere Art ebenso erschöpfend wie dieser Lauf

des Wahnsinns gestern. Ich fröstelte und hatte nur

Page 53: Ritter der Wüste

noch den Gedanken, diese Prüfung so schnell wie

möglich hinter mich zu bringen.

Ich befand mich in einer niedrigen, langgestreckten

Höhle, durch die ein unterirdischer Wasserlauf führte

und durch dunkle Höhlen bis an einen Punkt, an dem

sie uns aus dem Wasser fischen würden. Hin und

wieder stand auf einem Absatz oder einem Felsen eine

Öllampe, die mit schwacher Flamme brannte und die

Wasserfläche undeutlich erhellte.

Ich zog die Beine an und ließ mich nach vorn fallen.

Das Wasser spritzte hoch auf und war eiskalt. Aber

nach alle den Torturen des Tages war es eine Erholung.

Ich streckte meinen Körper und begann zu

schwimmen. Eine Zeitlang geschah nichts. Ich trieb mit

dem schnell fließenden Wasser dahin, die Decke der

Höhle senkte und hob sich, einige der flackernden

Flammen glitten vorbei und verschwanden. Dann

wurde das Rauschen lauter und stärker.

Ich streckte die Arme nach vorn und wartete auf ein

Zeichen, das mir sagte, was ich jetzt unternehmen

sollte. Mit den Füßen und Beinen machte ich hastige

Schwimmbewegungen, die mich nach links an den

Rand der ausgewaschenen, glitschigen Felsen brachten.

Dann wurde der Sog des Wassers stärker, und in das

rauschende Geräusch mischte sich das Zischen und

Brodeln aufgewirbelten Wassers.

Ich wurde mitgerissen, tauchte tief in den

Page 54: Ritter der Wüste

gischtenden Wirbel hinein und fühlte Stein unter

meinen Sohlen. Ich krümmte mich wieder, stieß mich

ab und tauchte schräg aus dem Schaumwirbel hoch,

schwamm weiter. Ich riß die Augen auf und sah mich

in einem riesigen Felsensaal, der durch eine Vielzahl

hellbrennender Fackeln in ein Wunderland verwandelt

wurde.

Das Wasser verbreiterte sich hier zu einem etwa

elliptischen See, der unter der Decke der Höhle lag. Ich

schwamm mit langsamen, weit ausholenden Stößen

quer durch den stillen Wasserspiegel. Weit vor mir

hörte ich einen Schwimmer qualvoll gurgeln und

schreien. Die gesamte Höhlendecke war voller

Tropfsteine. Die Ablagerungen hingen wie Eiszapfen

nach unten und sahen aus wie tödliche Speerspitzen.

Ich warf mich auf den Rücken und schwamm eine

Weile weiter. Wieder schrie der Schwimmer. Hatte er

einen Krampf bekommen, oder war er nahe daran, zu

ertrinken? Ich hielt auf ihn zu. Plötzlich, mitten in

einem weiteren qualvollen Schrei löste sich, kippend

und schwankend ein mannslanger Zapfen und zischte

senkrecht herunter.

Er schlug keine drei Mannslängen von mir entfernt

in das unruhige Wasser, das meine

Schwimmbewegungen hinterlassen hatten. Ich wurde

schneller und erreichte den Ertrinkenden.

Ich griff nach vorn und faßte voll in seine langen

Page 55: Ritter der Wüste

Haare. Ich trat Wasser und hob seinen Kopf über die

Wellen.

»Was ist los?« fragte ich keuchend. Er gurgelte, spie

Wasser aus und ächzte dann abgehackt:

»Ich ertrinke. Ich kann ... nicht mehr ... Hilf mir!«

»Ist das gegen die Regeln?« fragte ich und zog ihn,

schnell den Griff unter sein Kinn wechselnd, »werden

sie mich deswegen bestrafen?«

Er entspannte sich langsam und machte schwache

Schwimmbewegungen. Zusammen trieben wir weiter

durch den See. Eine schwache Strömung zog uns mit

sich, aber ein zweiter Tropfstein löste sich und schlug

dicht vor uns ein, überschüttete uns mit einem Schwall

Wasser.

»Nein«, war die keuchende Antwort. »Die Ritter der

Wüste dürfen sich ... gegenseitig unterstützen!«

Das Ende der Höhlen tauchte auf. Das Licht der

Fackeln wurde geringer, und abermals schossen wir

mit der Strömung in ein immer kleiner werdendes

schwarzes Loch hinein. Die Decke senkte sich. Ich

ahnte, was jetzt kommen würde, und entsann mich

sofort meiner Macht über die Natur. Wieder half mir

und dem fast ertrunkenen Schwimmer das Auge

Vestas.

In dem Augenblick, da der Fels inmitten eines

Ringes aus schäumendem Wasser den schmalen Strom

erreichte, wallte das Wasser rund um uns auf. Zwei

Page 56: Ritter der Wüste

große Luftblasen bildeten sich um unsere Köpfe,

gleichzeitig ergriff uns das Wasser, drückte uns nach

unten und riß unsere Körper mit sich. Wir schossen

wie Pfeile durch einen langen, korkenzieherartig

gedrehten Gang, in den sich das Wasser preßte. Ich

wagte einen Atemzug – die Luft war klar und rein. Ich

lächelte in mich hinein und fühlte, wie wir

herumgeschwenkt und über eine lange, schräge Fläche

gerissen wurden.

Wir tauchten abermals in einem domartigen Saal

auf. Aber zuerst trug uns die Welle auf den

Scheitelpunkt einer abschüssigen Bahn aus

bewachsenem Stein zu. Wir verloren jeden Halt und

rutschten dreißig Mannslängen abwärts. Der Mann,

dessen Hinterkopf an meiner Brust lag, schüttelte den

Kopf und schrie leise auf:

»Wir sind verloren! Wie ist dein Name, Edler?«

Ich warf mich halb herum und spähte, während wir

rasend schnell auf den Mittelpunkt des Wassers

zuschleuderten, nach unten.

Dann sah ich den Wirbel, den Mahlstrom, und

begriff.

Dies war die letzte Prüfung. Wer es nicht schaffte,

sich von dem Schwung des Wassers nach außen tragen

zu lassen, versank im Mittelpunkt des Strudels. Wir

näherten uns dem Außenrand mit beträchtlicher

Geschwindigkeit.

Page 57: Ritter der Wüste

»Ich bin Schwarzer Falke!« sagte ich und

konzentrierte mich wieder auf das eiskalte Element.

Wir wurden mit furchtbarer Kraft in den Strudel

hineingerissen. Die Strömung am äußersten Rand

ergriff uns und riß uns nach links weg. Ich fühlte, wie

der Mann in meinem Arm krampfhaft zuckte.

Dann gehorchte das Wasser und rettete mich, den

Beauftragten Vestas.

Der Teil des trichterförmigen Strudels, der sich

ohnehin schon rasend schnell drehte, wurde noch

schneller. Wir sanken zuerst tief ein und auf das

gurgelnde und fauchende Loch zu, aber dann faßte uns

die Kraft des sich bewegenden Wassers und zog und

zerrte uns aufwärts. Wir rangen nach Luft, und auch

der Gerettete vollführte krampfhafte

Schwimmbewegungen. Das Wasser wirbelte uns im

Kreis herum, aber aus dem Kreis wurde eine Spirale,

die aufwärts führte.

Ich sah, daß die Höhle voller Menschen stand. Feuer

warfen Glut und Flammen in die Luft und verwandelte

den unterirdischen Dom in eine zauberische Stätte. Das

Gurgeln des Wassers übertönte alle Geräusche.

Immer höher kamen wir, eine Welle hob uns an und

schleuderte uns in einem aufspritzenden und

gischtenden Wasserwirbel auf den dunklen Sand

hinaus. Ich robbte herum und blieb liegen, nachdem

ich den Mann aus der Zone der Wellen gezerrt hatte.

Page 58: Ritter der Wüste

Ich atmete schwer, langsam klärten sich meine

Gedanken. Meine Muskeln begannen mir wieder zu

gehorchen. Ich raffte mich hoch, kam stolpernd auf die

Beine und war grimmig entschlossen, auch den halb

besinnungslosen Mann als Sieger dieses letzten

Wettbewerbs gelten zu lassen – als einen der Sieger. Ich

bückte mich und griff unter seine Schulter.

Er half mir, so gut er es noch vermochte.

Wir stolperten auf ein Feuer zu, gingen daran vorbei

und erreichten eine Art Tunnel, in die Stufen

geschlagen waren. Dort endete die Strecke. Als wir eine

gedachte Linie überschritten hatten, war der Bann

gebrochen.

Jetzt halfen uns schlagartig alle, die in der Nähe

waren. Roter Bär kam die Treppe heruntergerannt,

hinter ihm mit fliegenden Gewändern Honigvogel.

Ich ließ den eiskalten Körper des Schwimmers in die

Arme von Helfern fallen und erklärte stockend aber

laut:

»Dieser Mann ist zusammen mit mir geschwommen.

Er hat nicht versagt!«

»Das ist völlig klar, Herr Schwarzer Falke!« dröhnte

Roter Bär auf. »Ihr beide seid jetzt schon in die Gruppe

der Vierundvierzig aufgenommen. Du kannst dich

Streiter Erthus nennen!«

Ich nickte müde. Im Augenblick war ich zu

erschöpft, um mich richtig freuen zu können.

Page 59: Ritter der Wüste

»Bringt mich weg«, bat ich. »Wenn ich den dritten

Tag noch erleben will, so brauche ich die Hilfe deiner

Dienerinnen. Honigvogel!«

Sie lächelte mich schmelzend an und faßte meine

Hand. Jemand warf mir einen weiten Mantel über die

Schultern. Ich drückte ihn vor der Brust zusammen

und begann vor Kälte zu zittern.

»Komm! Nur noch die Treppe. Dann wirst du

eingehen in die Wärme und das Licht unseres

Palastes!«

Nach ungefähr zweihundert Stufen, die aus dem

Vorhof des Reiches Erthus hinaufführten in den

warmen, sternenerfüllten Abend, wartete ein einfacher

Wagen, von zwei kleinen, zahmen Sarths gezogen. Ich

setzte mich neben Honigvogel, die die Zügel ergriff

und die Peitsche knallen ließ. In rasender Fahrt ging es

die kurze Strecke bis zu dem Palast des Herrn Roter

Bär.

Wieder versank ich in den Wonnen dieser

eigentümlichen aber nutzbringenden Badestube und

schlief unter den Händen der Dienerinnen ein.

Die Ausscheidungskämpfe der beiden ersten Tage

waren hart gewesen, und die vierundvierzig Streiter

Erthus schienen so etwas wie eine kämpferische Elite

der kleinen Menge der Stadtbevölkerung zu sein. Ich

hatte mein Vorurteil voll zurücknehmen müssen.

Page 60: Ritter der Wüste

Zumindest ein halbes Hundert der Männer waren

Kämpfer, die ihresgleichen suchten. Und dachte ich

daran, daß sie in glühender Sonne teilweise

unbekleidet kämpften und noch kämpfen mußten,

dann stieg meine Hochachtung.

Ich wollte nichts anderes, als den Kontakt mit Erthu.

Meine Suche nach dem Weltentor verlief über

dramatische Stationen. Eine lag wieder hinter mir, und

ich wußte, daß ich noch fünf Tage vor mir hatte. Fünf

schwere Prüfungen, an deren Ende das Treffen mit

Erthus stand. Wieder erholte sich mein Körper auf

geradezu geheimnisvolle Weise.

Ich hatte einen ganzen Tag ohne einen Schluck

Wasser kämpfen und arbeiten müssen. Morgen gab es

nur vierundvierzig Kämpfer, und zweiundzwanzig

davon sollten übrigbleiben.

Honigvogel und ich verließen die Badestube und

trafen mit Herrn Roter Bär wieder in dem Erker

zusammen.

Mit einem Humpen Bier in der Pranke begrüßte

mich der Jahreskönig.

»Du hast dich besser geschlagen, Herr Schwarzer

Falke«, sagte er laut und drückte mich auf den Sitz

nieder, »als die meisten unserer Krieger. Obwohl du

von weither kommst.«

»Kampf«, sagte ich und begann nun doch meine

Muskeln und Nerven zu spüren, »ist für mich eine

Page 61: Ritter der Wüste

Sache, die ich gewohnt bin. Ich tue nichts dazu, aber

ich werde immer wieder in Kämpfe verwickelt.«

Alle Erfrischungen, die uns Kämpfern tagsüber

verweigert worden waren, schienen auf diesem Tisch

aufgetürmt zu sein. Langsam füllte ich meinen Teller.

»Das Leben ist ein immerwährender Kampf,

Schwarzer Falke«, erklärte der Leiter der Spiele

gutgelaunt. »Ich selbst habe diese Wettkämpfe

mehrmals durchgemacht. Ein guter Mann, schnell und

fähig, kann alle sieben Tage überstehen. So wie du,

fremder Kämpfer!«

Ich nickte und erwiderte undeutlich:

»Aber ich werde niemandem das Amt des

Jahreskönigs streitig machen!«

Roter Bär lachte und versicherte:

»Darüber sprechen wir am siebenten Tag!«

Ich erfuhr, daß drei Männer gestorben und sechs

schwer verletzt waren. Zusammenbrüche in der Hitze,

besonders während des langen Rennens, waren sehr

zahlreich gewesen. Jedenfalls gehörte ich zu den

vierundvierzig Übriggebliebenen. Ich konnte mich nun

Streiter Erthus nennen.

Als ich mit Honigvogel in meinem Raum vor dem

brennenden Kamin saß, merkte ich, daß ich diesen Tag

besser überstanden hatte, als das erste Abenteuer.

»Darf ich deine Helferin bleiben?« fragte sie mich.

Ich lachte und erwiderte:

Page 62: Ritter der Wüste

»Es scheint tatsächlich eine Ehre für dich zu sein;

oder irre ich mich? Du fragst so eigentümlich!«

»Ja, so ist es. Natürlich helfe ich dir gern, Dragon!

Aber ich bin sicher, daß du auch die letzten Kämpfe als

Sieger beenden wirst!«

»Ich rechne damit!« sagte ich und streichelte ihr

Haar.

»Dann, am letzten Tag, mußt du dir eine Helferin

aussuchen. Eine Helferin für den Tag der Tage. Wirst

du mich wählen?«

»Natürlich!« sagte ich ein wenig verwundert. Ich

kannte die Bedeutung dieser Bezeichnung nicht, und

auch nicht die Vorgänge, die sich in dieser mir noch

sehr fernen Zeit abspielen würden. »Wen sollte ich

sonst wählen?«

Sie schien außerordentlich glücklich zu sein.

»Du mußt jetzt schlafen!« sagte sie und deutete auf

das Lager. »Morgen wirst du mit stumpfen Waffen und

mit schnellen Kampf-Sarths gegen viele Gegner

kämpfen müssen!«

Lächelnd gehorchte ich. Diese Nächte dienten der

Erholung und dem tiefen Schlaf, nicht der

Leidenschaft.

Page 63: Ritter der Wüste

4.

Mittag des dritten Tages ...

Die Sonne strahlte ebenso heiß und senkrecht

herunter wie an den vergangenen Tagen. Die Hitze war

ebenso groß wie gestern und vorgestern, und morgen

würde es nicht weniger heiß sein. Aber die Arena und

ihre Umgebung hatten sich verändert.

Auf den Rängen breiteten sich weiße Sonnensegel

aus, die auf Stelzen gespannt waren und von Seilen

gehalten. Bunte Zelte standen hier, und im Schatten

waren die gesattelten Kampf-Sarths angebunden.

Wir vierundvierzig Streiter befanden uns in den

Zelten. Knappen und Mädchen umsorgten uns. Sie

brachten die Waffen und die Harnische und erfüllten

uns jeden Wunsch.

Zwischen den Tausenden von Zuschauern gingen

Kinder und Jugendliche umher, schenkten Wein und

Wasser aus und besorgten Botengänge. Auf einem

festlich geschmückten Erker standen die

Fanfarenbläser, und unter einem schattenspendenen

Baldachin saß der Leiter der Spiele, Herr Roter Bär. Er

würde einen kurzen, aber harten Waffengang leiten

und richten.

In jedem der großen Zelte befanden sich

zweiundzwanzig Kämpfer.

Page 64: Ritter der Wüste

Sie wurden ausgerüstet. Man half uns in die dicke,

gepolsterte Kleidung und in leichte, aber an einigen

Stellen gepanzerte Stiefel. Überall lehnten Waffen, die

deutlich gekennzeichnet waren. Schwarze Bänder, das

wußte ich, zeigten an, daß es sich um meine Waffen

handelte. Ich hatte sie heute morgen aus den

Waffenkammern des Jahreskönigs ausgesucht.

Wir zogen lange Handschuhe an, die offensichtlich

aus weißem Leder bestanden und am Handrücken und

über den Fingern mit eisernen Schuppen verstärkt

waren. Dann halfen mir die Knappen, ein schweres

Kettenhemd überzustreifen, das bis knapp über die

Knie reichte. Schienbeinschützer, einen Harnisch mit

einem breiten metallenen Kragen, dann röhrenförmige

Manschetten für die Oberarme und die Unterarme.

Ich wurde förmlich gepanzert, schwitzte immer

mehr und sah zu, wie die anderen einundzwanzig

Männer ausgerüstet wurden.

Als ich aufstand, trug ich mehr Eisen und Waffen an

meinem Körper als zu Anbeginn des Rennens. Ich ging

schwerfällig und langsam, um mich an die

ungewohnte Ausrüstung zu gewöhnen, hinaus vor das

Zelt und sah zu, wie man mein Kampf-Sarth vorführte.

Das Tier war gesattelt und ebenfalls leicht

gepanzert.

Nacheinander kamen die Männer aus den Zelten.

Man gab uns runde, spitzkegelig zulaufende Schilde

Page 65: Ritter der Wüste

mit verschiedenen Wappen darauf. Natürlich war auf

meinem Schild das Zeichen eines schwarzen Falken zu

sehen. Bei jedem Sarth standen Knappen und hielten

lange Lanzen mit schweren Griffen und stumpfen

Spitzen daran hoch.

Mädchen führten die Reittiere auseinander. Ein

Murmeln der Aufregung ging durch die dichten

Reihen der Zuschauer. In kurzer Zeit bildeten sich zwei

Reihen, die sich gegenüberstanden, durch die Weite

der Arena getrennt.

Wir stiegen auf und ergriffen die Lanzen.

Jetzt saßen vierundvierzig Männer, die Streiter

Erthus, in den Sätteln. Die Tiere und wir bildeten eine

gerade Linie. Die Aufregung wuchs. Die Tiere und wir

bebten förmlich vor Spannung. Die Spitzen der Lanzen

zitterten leicht. Wir kannten die Regeln ganz genau.

Roter Bär hob eine Hand, dann schmetterten die

Fanfaren los. Die Zuschauer riefen begeistert und

jubelten uns zu.

»Ihr werdet jetzt mit diesen stumpfen Waffen

gegeneinander kämpfen!« rief der Jahreskönig laut.

»Ihr seid aufgestellt in zwei Gruppen! Jeder, der zum

drittenmal aus dem Sattel geworfen wird, scheidet aus,

desgleichen jeder, der nicht mehr bis zum Ende des

Turniers mit eigener Kraft in den Sattel zurückkommt!

Wer durch seine eigene Ungeschicklichkeit während

dieses Turniers stirbt oder so stark verletzt wird, daß er

Page 66: Ritter der Wüste

stirbt, der wird mit allen Ehren in Erthu eingehen!

Wir beginnen jetzt, und wenn genau noch

zweiundzwanzig Kämpfer in den Sätteln sitzen, endet

es. Dann haben wir die Freunde Erthus ermittelt, die

morgen weiter um mehr und höhere Ehren kämpfen

dürfen.

Blast die Fanfaren!

Und laßt das dritte Turnier beginnen, die Kämpfe

des dritten Tages zu Erthus Ehren!«

Die Zuschauer schrien und jubelten. Mädchen

schwenkten Kleidungsstücke und Fahnen, und dann

gaben die Fanfaren das Signal zum Beginn dieses

Turniers.

Und ich konzentrierte mich auf zweierlei Dinge

gleichzeitig.

Auf die Reaktionen des Tieres zwischen meinen

Schenkeln, die entscheidend waren für meinen Erfolg

oder Mißerfolg – und auf den Versuch, bis zum Ende

des Turniers auf alle Fälle im Sattel zu bleiben.

Beide weit auseinandergezogenen Reihen ritten

augenblicklich an.

Jeder Reiter auf unserer Seite hatte seinen erkannten

Gegner in der gegenüberliegenden Reihe, der auf ihn

zuritt. Die Visiere der Helme klappten rasseln herunter,

Page 67: Ritter der Wüste

die Schilde wurden in Position gebracht, und die

langen Turnierlanzen senkten sich.

Ich beugte mich vor, während der Hengst, der

zusammen mit mir das Rennen gewonnen hatte, immer

schneller wurde und in einem jagenden Galopp über

den Sand der angefeuchteten Arena sprengte.

Kopfgroße Brocken nassen Sandes flogen nach hinten

und lösten sich in der Luft auf.

Das Ende der Lanze schlug hart in meine

Achselhöhlen.

Meine gepanzerte Faust klammerte sich um das

geschützte Griffstück. Der linke Arm schwang hinter

dem Schild herum, die linke Schulter schob sich nach

vorn. Ich zielte mit der Lanzenspitze auf eine Stelle des

gegnerischen Schildes, die sich in Magenhöhe befand.

Rasend schnell näherten sich die beiden Linien, jetzt

bereits in einiger Unordnung, aber in gleichbleibendem

Abstand. Ich vergaß augenblicklich alles andere und

konzentrierte mich nur auf meinen unbekannten

Gegner. Vielleicht war es sogar jener Mann, den ich aus

dem Wasser gefischt hatte.

In rasender Geschwindigkeit sprengten die beiden

Sarths aufeinander zu. Wir würden einander auf der

rechten Seite passieren.

Seine Lanze deutete auf mich, ich winkelte den

Schild in einer bestimmten Weise ab.

Nur noch wenige Mannslängen trennten uns.

Page 68: Ritter der Wüste

Dann stießen wir zusammen. Die Lanzenspitze

berührte meinen Schild, schlug ihn hart gegen den

Körper und rutschte von der konisch geformten Spitze

ab, über die Schulter, riß dort einen Lederriemen auf

und schrammte mit einem häßlichen Geräusch ins

Leere.

Ich spürte im rechten Arm und in der rechten

Schulter einen harten Schlag, der mich im Sattel halb

herumwarf. Der Stoß meiner Lanze, die auf den Schild

des Gegners rammte, glitt ebenfalls ab, aber er blieb

nicht ohne Wirkung. Die Spitze rutschte über den

Schild und traf darunter die Rüstung. Ich wurde halb

aus den Steigbügeln gerissen, die Lanze rutschte weit

nach rechts ab, aber mein Gegner fiel nach hinten auf

die Kruppe des Sarths.

Dann waren wir aneinander vorbei, ich riß ihn, ohne

es zu wollen, mit dem hinteren Ende der Turnierlanze

aus dem Sattel, riß meine Lanze hoch und brachte das

Tier dazu, anzuhalten.

Kurz vor dem Ende der Arena, dicht vor der Mauer

stieg das Sarth hoch und wirbelte auf den Hinterbeinen

herum. Der lange Schweif peitschte den Boden. Ich

fällte die Lanze und sah durch den schmalen Schlitz

meines Helmvisiers.

Mein Gegner kam auf die Beine. Er taumelte hoch

und stützte sich auf seinen Schild. Ich wartete, bis alle

neunzehn Männer meiner Reihe ihre Sarths gewendet

Page 69: Ritter der Wüste

hatten, dann heftete ich meinen Blick wieder auf den

Haufen von gestürzten Tieren, jammernden Männern

und zerbrochenen Speeren. Von allen Seiten kamen

Helfer herbei und räumten die Spuren des ersten

Waffengangs weg.

Noch neununddreißig Männer waren übrig.

Ein kurzes Warten. Zwei Männer wurden wie tot

hinausgetragen. Knappen fielen den scheuenden

Tieren in die Zügel und liefen mit ihnen hinaus. Dann

war die Arena frei. Herr Roter Bär hob die Fahne hoch

und gab den Bläsern sein Zeichen.

Ich spannte meine Muskeln; jetzt hatte ich einen

neuen Gegner. Der Mann mit dem weißen Kreis auf

dem Schild wankte jetzt aus der Arena hinaus, stützte

sich an der Mauer und brach klappernd und

scheppernd auf den Treppen zusammen. Ich packte die

Lanze fester.

Die Fahne senkte sich, die Fanfaren ertönten.

Augenblicklich sprang mein Tier vorwärts, wurde

innerhalb einer unwahrscheinlich kurzen Strecke

schneller und schneller, flog förmlich davon wie ein

Pfeil, der von der Sehne geschnellt wurde. Ich riß die

Lanze nach unten und zielte. Wieder war ich der

äußerste der Reihe. Auf dem Schild des Gegners

loderten die Flammen aus dem Schnabel eines

heraldischen Vogels.

Komm nur, dachte ich. Vorher muß ich erst dreimal

Page 70: Ritter der Wüste

aus dem Sattel geworfen werden!

Wieder ritten wir aufeinander zu.

Und wieder zielten die Lanzen, wurden die Schilde

in günstigste Position gebracht, rasten die Männer auf

den nervösen und gespannten Tieren aufeinander zu.

Ich stemmte mich in die Bügel, versteifte mich, nahm

die Schultern nach vorn und versuchte, dem Gegner so

wenig wie möglich an Angriffsfläche zu bieten. Bei

diesem Waffengang wurden die Lanzen und gerissene

Sattelgurte ergänzt – aber keine Teile der Ausrüstung.

Nicht einmal der Schild.

Krachend prallten wir zusammen.

Der Speer des Gegners traf meinen Helm. Im selben

Moment fuhr ein Schmerz wie von glühenden Eisen

rund um mein Kinn. Der Riemen, der meinen Helm

hielt, riß auseinander, die Schnalle schlug gegen meine

Haut und riß eine längliche Wunde. Meine Lanze traf

genau die Gürtelschnalle der gegnerischen Rüstung.

Der Reiter wurde wie von einer unsichtbaren Faust

gepackt, sein Körper kippte nach hinten und wurde

hochgerissen, leitete meinen Speer nach oben ab und

flog eine Mannslänge weit durch die Luft.

Mein Helm landete weit hinter mir im Sand. Ein

Sarth trat dann darauf. Ich preschte an dem Haufen der

zusammengebrochenen Reittiere und der sich

wälzenden Männer vorbei und hielt das Tier – das ich

bis dahin ohne Zügelhilfe geritten hatte – dicht vor der

Page 71: Ritter der Wüste

Mauer an.

Jetzt erst schlug das Schreien und Klatschen der

Zuschauer an meine Ohren. Ich hatte die gesamte Welt

um mich herum vergessen, und auch der Umstand,

daß ich es vor Hitze kaum mehr aushielt, wurde mir

erst jetzt bewußt.

Jeder von uns tat in diesem Augenblick dasselbe.

Während wir warteten, daß zwischen den beiden

Reihen der Kämpfenden die Arena wieder frei wurde,

zählten wir die Reiter der eigenen Reihe und diejenigen

der gegnerischen Phalanx. Auch die Zuschauer hatte

eine Spannung ergriffen, die kaum noch zu steigern

war.

In unserer Reihe waren es noch vierzehn Männer,

die gegenüberliegende Gruppe besaß noch fünfzehn

Männer, aber jetzt rannte einer auf unsere Reihe zu uns

bestieg sein Pferd. Sein Schild war verloren, und die

Kämpfer griffen nach neuen Turnierlanzen.

Noch dreißig Männer!

Acht mußten also noch aus den Sätteln gestoßen

werden. Ich wischte mir mit einem Stück des

heraushängenden Ärmels den Schweiß aus dem

Gesicht, dann sah ich aus dem Augenwinkel, daß Roter

Bär wieder die Fahne schwenkte.

Anfeuernde Rufe kamen aus dem Rund der

Zuschauer. Neben Roter Bär war nun Honigvogel

aufgetaucht und blickte zu mir herüber. Sie erschrak

Page 72: Ritter der Wüste

deutlich, als sie sah, daß ich ohne schützenden Helm

kämpfte. Außer mir gab es nur noch einen Mann,

dessen Helm heruntergestoßen war. Noch immer

fühlte ich den Schmerz, den die Rißwunde und die

Druckstelle des Riemens verströmten.

Wieder tobten die Fanfaren.

Wieder ritten wir aufeinander zu. Ich hob den Schild

so hoch wie möglich und spähte über dessen Rand.

Meine Lanze senkte sich und zielte auf den Gegner. Ich

wartete bis zum letzten Augenblick, dann schwang ich

den linken Arm mit denn zerbeulten Schild hoch und

schmetterte den Lanzenschaft des Gegners zur Seite.

Ich hatte zu schlecht gezielt. Meine Lanze traf zwar den

Schild fast genau in der Mitte, aber der Ritter war zu

nahe herangekommen. Die Lanze bog sich rasend

schnell und zerfetzte dann in lange Splitter, die mir um

den Kopf schwirrten. Wir rasten aneinander vorbei,

und ein Teil der zersplitterten Lanze schrammte über

die Haut des gegnerischen Kampf-Sarths.

Ich schleuderte den abgebrochenen Stumpf nach

links, als ich die Mauer erreichte und riß den Arm

hoch.

»Knappe! Eine neue Lanze!« rief ich laut. Meine

Kehle schmerzte. Mir wurde eine Lanze zugeworfen,

und ich packte sie fester, als sich das Sarth drehte und

wieder ruhig stehenblieb. Die Flanken des Tieres

zitterten. Sein Atem ging keuchend wie ein Blasebalg.

Page 73: Ritter der Wüste

Aber noch immer hatte ich auf dem Umweg über

Vestas Auge das Tier unter Kontrolle.

Vier Männer schieden aus ...

Noch ein Waffengang, höchstens zwei, dann war für

diesen Tag die Ausscheidung beendet. Ich war sicher,

daß ich zu den Freunden Erthus gehören würde. Aber

nur ein einziger ungeschickter Augenblick konnte mich

des Sieges berauben und somit auch der Möglichkeit,

mich Erthu zu nähern.

Wieder warteten wir ...

Dieses Mal war die Pause länger.

Ich hatte bemerkt, daß nur wenige Männer, einmal

aus dem Sattel geworfen, in der Lage waren, den

nächsten Waffengang mitzumachen. Der Stoß, mit dem

jemand aus dem Sattel gerissen, durch die Luft

gewirbelt und auf die Erde geschmettert wurde, war

stark und nachhaltig. Ich war überzeugt, daß heute

mehr Knochen gebrochen wurden als an den

vorhergehenden Tagen. Aber ich verwendete nicht

einen Gedanken auf die folgenden Tage, in denen die

Kämpfe kürzer und härter werden würden, von Mal zu

Mal.

Schweiß sickerte in meine Augen. Ich wischte ihn

weg.

Die Knappen und einige Kämpfer, die an den

vergangenen Tagen ausgeschieden waren, kamen und

Page 74: Ritter der Wüste

trugen die Verletzten und die Toten hinaus. Ein

durchgegangenes Sarth wurde eingefangen und

hinausgezerrt. Jetzt drängten sich die Zuschauer, die

seltsamerweise kaum mehr riefen und jubelten, nach

vorn, um alles genau sehen zu können. Honigvogel

winkte in meine Richtung und wurde von ihrem Vater

an der Schulter zurückgezogen.

Wieder flatterte der Zeremonienwimpel, als Roter

Bär den Bläsern seine Signale gab.

Der Kämpfer bemächtigte sich die Erregung, die aus

Erschöpfung, Sturheit und Wut gemischt war und aus

dem festen Willen, aus dieser Ausscheidung als Sieger

hervorzugehen.

Ich hatte erfahren, daß einige Dutzend Männer, auch

wenn sie nicht die letzten Prüfungen erreichten, in

hohe Ämter dieser Stadt berufen wurden, was

abermals Ehre und Auszeichnung bedeutete.

Zweiundzwanzig Männer für achttausend Bewohner –

also kämpfte bereits diese Gruppe um durchaus

erstrebenswerte Ziele, auch wenn sie nicht zu den

letzten Gewinnern zählen würden.

Die Elite aus achttausend Bewohnern, also die

besten von rund fünfhundert guten Männern, befand

sich hier in der Arena.

Und wieder stießen die Bläser in die langen,

hallenden Instrumente. Wir griffen einander an ...

Und wieder rannte und sprang mein Sarth los, als

Page 75: Ritter der Wüste

würde es den Rest seiner Kraft in diesen kommenden

Zusammenstoß legen. Ich versteckte mich hinter dem

Schild und visierte den Gürtel des Gegners an, stellte

den Schild gleichzeitig schräg, kippte ihn nach oben

und machte mich im Sattel so klein wie möglich. Ich

sah die Lanzenspitze, die immer drohender und größer

wurde, und mein Auge glitt an dem Schaft meiner

Turnierlanze entlang und stellte sich auf das Ziel ein.

Dann riß mich ein furchtbarer Stoß, der sich durch

meinen Arm und das Schultergelenk fortsetzte, fast aus

dem Sattel. Zwar lenkte der Schild die Lanze ab, aber

der Schaft traf mich mit der Wucht eines Schwerthiebes

auf den Kopf und blendete mich. Ich fühlte, wie meine

Lanze nach rechts gerissen wurde und sich bis zum

äußersten Punkt der Belastung durchbog, dann

wirbelte und flog ein Körper an mir vorbei, ein Fuß traf

mich am Arm, und wir waren aneinander vorbei.

Ich riß die Lanze hoch, fing mich wieder ab und

zügelte das Sarth. Ich hielt vor der Mauer und drehte

mich im Sattel. Ich sah gerade noch, wie der Mann auf

den hartgetrampelten nassen Sand aufschlug, wieder

hochgeprellt wurde und dann von einem

durchgehenden Reittier niedergetrampelt wurde.

Ich zählte die menschlichen Körper, die sich im Sand

wälzten und wußte, daß der Kampf vorbei war.

Im gleichen Augenblick schmetterten die Fanfaren

auf, die Männer bliesen lange Tonfolgen, und die

Page 76: Ritter der Wüste

Zuschauer riß es hoch. Sie begannen auf der Stelle zu

tanzen und waren schier außer sich. Ein ungeheurer

Jubel brach los, als man laut zu zählen anfing.

Die beiden Reihen der übriggebliebenen Männer

standen sich wieder gegenüber. Auf jeder Seite waren

es genau elf.

Zweiundzwanzig ... die Freunde Erthus waren

gekürt.

Wie ein Besessener schwenkte Roter Bär die Flagge.

Er winkte, und wir ritten langsam durch die Arena und

hielten unsere Tiere an. Nun bildeten zweiundzwanzig

Männer vor dieser reich ausgeschmückten Steinkanzel,

von der aus mir Honigvogel begeistert zuwinkte, einen

lockeren Halbkreis.

»Freunde!« rief Roter Bär und meinte damit nicht

nur uns, sondern sämtliche Zuschauenden. »Wir haben

am dritten Tag der Spiele die zweiundzwanzig besten

Kämpfer herausgefunden.

Ihr alle seid nun die Freunde Erthus und werdet

morgen abermals gegeneinander antreten.

Der Kampf war kurz aber nicht leicht. Ihr habt eure

Aufgabe mit Können, Gewandtheit und Schnelligkeit

gelöst. Ganz Merlane jubelt euch zu. Auch am vierten

Tag, wenn die Favoriten Erthus und am fünften, wenn

die Erwählten Erthus übrigbleiben, werdet ihr nach

den Regeln kämpfen und tun, was seit Jahrhunderten

Brauch und Sitte ist.

Page 77: Ritter der Wüste

Nehmt nun die Helferinnen in die Sättel, werft die

Waffen weg und reitet zurück in die Paläste. Für diesen

Tag endet jeglicher Kampf! Laßt uns Humpen

schwingen und dem Saitenspiel lauschen!«

Seine letzten Worte wurden von dem Geschmetter

der Instrumente übertönt. Ich dirigierte mein Sarth

dicht an die Mauer heran, warf die Lanze und den

Schild zu Boden und streckte beide Arme aus, um

Honigvogel aufzufangen, die über die Brüstung sprang

und sich an meinen Schultern festhielt.

Den Weg zum Palast von Herrn Roter Bär fand ich

allein.

Eine trügerische Hochstimmung ergriff mich und

ließ mich vergessen, was hinter mir lag und was

jenseits des Weltentors zurückgeblieben war – und

ebenso vergaß ich, oder ich wollte nicht daran denken,

was vor mir lag.

Meri-Meri drückte sich gegen meine Brust, meine

Arme schlossen sich um ihren Körper, meine Hände

hielten den Zügel. Ich hatte den geistigen Griff nach

dem Willen des Tieres gelockert, und das starke Sarth

lief in einem weichen Trab durch den Sand und über

das Gras neben der Straße.

»Du hast gekämpft wie ein Rasender! Aber dabei

warst du klug und umsichtig! Es gab niemals einen

besseren Kämpfer!« sagte sie und schüttelte sich leicht.

»Ausgenommen deinen Vater«, meinte ich. »Ein

Page 78: Ritter der Wüste

Mann, der dreimal nacheinander Jahreskönig ward, ist

ein Krieger, mit dem Erthus oder Vesta streiten.«

Mit unerschütterlicher weiblicher Logik lachte sie

auf und erklärte mir:

»Vater Roter Bär ist auch älter und hat viel mehr

Erfahrung!«

»Das glaube ich auch!« sagte ich zufrieden. Ich

würde nicht gegen ihn kämpfen müssen.

Wir ritten in den großen Hof ein. Die Sonne stand

im Nachmittag. Ich vergaß meine Schmerzen und

dachte an die Wohltat, die ich nun im Badehaus über

mich ergehen lassen würde. Ich fühlte mich frisch und

ausgeruht, aber es war nur die Hochstimmung des

Siegers. Wenn die Erregung abgeklungen war, würde

ich die Schmerzen und die Müdigkeit spüren.

»Bis zum Abend werde ich schlafen, Meri-Meri«,

sagte ich.

»Ich werde an deiner Seite liegen, deinen Schlaf

bewachen und dich beschützen, Dragon!« versicherte

das blonde Mädchen.

Knappen nahmen mir die Zügel ab und halfen mir,

noch vor dem Eingang in den halb verfallenen Palast,

die schwere Rüstung abzulegen. Je leichter ich mich

fühlte, je weniger Gewicht auf meine Schultern

drückte, desto mehr machten sich der Schmerz und die

Erschöpfung breit. Honigvogel zog mich mit sich, und

wieder waren wir im Halbdunkel der duftenden und

Page 79: Ritter der Wüste

dampferfüllten Badestube. Sie hatte für mein Leben

eine ungeahnte Bedeutung erlangt.

Ich legte mich auf die Ruhebank und entspannte

mich.

Hinter uns standen Diener und hielten die Fackeln

hoch. Ihre Flammen spiegelten sich in den Schilden.

Helmen und Rüstungsteilen, die sich hier in großer

Anzahl von Wand zu Wand erstreckten. Die

Waffenkammer des Jahreskönigs war in der Lage, ein

kleines Heer auszurüsten. Und ich kannte die Waffen

inzwischen! Sie hätten nicht besser sein können!

»Welche Waffen brauche ich morgen?« fragte ich

halblaut und betrachtete die langen und kurzen, die

schmalen und breitschneidigen Schwerter, die mit den

breiten Wehrgehängen an den Metallnägeln der Wand

hingen.

»Leichte Stiefel und eine gepanzerte Hose!« sagte

Roter Bär und nahm mich bei den Schultern. »Ein

Kettenhemd.«

Langsam und mit großem Sachverstand suchten wir

die einzelnen Gegenstände aus. Auch von ihnen hing

es ab, ob ich morgen zu den elf Siegern gehören würde.

Schließlich lagen die Gegenstände auf einem großen,

dreieckig und geschwungen gearbeiteten schweren

Wappenschild, dessen Vorderseite leer war.

»Und eine Rüstung natürlich, mitsamt dem Helm.

Page 80: Ritter der Wüste

Aber wähle keinen Schmuckhelm, sondern einen, der

gar manchen harten Schlag aushält!« warnte mich

Roter Bär. Er deutete auf die beiden Reihen von

Helmen, die hier in allen Spielarten erschienen und auf

hölzern geschnitzten Köpfen saßen.

Ich suchte eine Rüstung aus, die mich einerseits

nicht sehr beengte, und andererseits stark genug war,

um meinen Körper vor schweren Hieb- oder

Stichwunden zu schützen.

Schließlich war es ein großer, schwerer Haufen

verschiedener Ausrüstungsgegenstände, die von den

Knappen nach oben geschleppt wurden. Herr Roter Bär

sagte ihnen, was sie zu tun hatten, und ich zog mich

wieder in meinen Raum zurück, in dessen Kamin

bereits ein Feuer brannte. Auf dem niedrigen Tisch aus

einem Säulenstumpf und schweren Holzplatten stand

ein Krug, daneben ein Pokal. Ich trank einen langen

Schluck

Wein – wieder hatte die Behandlung der Mädchen

meinen Körper auf wunderbare Weise sich erholen

lassen.

Ich wußte nicht, wie spät es war, aber die rote Glut

war die einzige Beleuchtung des Raumes. Draußen

herrschte Dunkelheit. Von fern hörte ich das Rollen

Page 81: Ritter der Wüste

von einem langgezogenen Donnern – konnte das sein?

Ein Gewitter, das sich auf die Stadt zubewegte?

Ich berührte mein Amulett, aber es verfärbte sich

nicht, leuchtete nicht auf. Die Kette drückte mich, also

nahm ich die Metallscheibe ab und schob sie unter die

Felle. Dann legte ich mich auf den Rücken und dachte

nach.

Im Palast war es still, nur irgendwo hörte ich

verschwommene Arbeitsgeräusche. Bald würde

Honigvogel kommen und mich zum Essen abholen, zu

einem der ausgedehnten Nachtmahle dieses Hauses.

Losgelöst von allem, müde und doch von einer

besonderen Klarsichtigkeit der Gedanken und

Empfindungen, versuchte ich mir den weiteren Weg

vorzustellen. Was immer ich dachte, welche

Möglichkeiten ich auch immer in meine Vorstellungen

mit einbezog – bis zum Weltentor und von dort zurück

nach Myra und zu Amee war es auf alle Fälle ein

langer und sehr beschwerlicher Weg.

Ein Weg, auf dem ich sterben konnte.

Zuerst hatte mich Cnossos aus Atlantis

hinausgestoßen und hatte die ersten Ansätze eines

goldenen Zeitalters hinweggefegt, dann war ich hierher

geschleudert worden. All das geschah ohne meine

Schuld, aber ich war das Opfer. Und nun versuchte ich,

Dinge wahr werden zu lassen, von denen ich selbst

nicht überzeugt war. Aber ...

Page 82: Ritter der Wüste

Es gab Erthu, den Erdgeist.

Wenn es ihn gab, dann existierten auch die anderen

freien Geister und auch Vesta!

Und sie mußten mir weiterhelfen.

Ein Geräusch lenkte mich ab. Die Tür schwang leise

auf und fiel dumpf ins Schloß. Die Vorhänge bewegten

sich in der Dunkelheit. Zwischen dem glühenden Rot

des Feuers und mir schob sich eine schlanke Gestalt

vorbei und näherte sich dem Lager. Ich roch das Öl,

mit dem sich Honigvogel massieren ließ und den

schwachen Duft ihrer seidigen Haut.

»Du bist es, Meri-Meri?« flüsterte ich.

Sie warf sich neben mich auf das Lager.

»Wer sonst würde es wagen, einen Krieger zu

stören, einen Freund Erthus?«

Ich streckte meine Hand aus und fühlte ihr Haar

zwischen den Fingern.

»Sage mir, Meri-Meri«, begann ich nach einer

kleinen Weile. »Ihr habt alles, was Menschen zum

Leben brauchen. Wein und Braten. Tiere und Früchte,

Stoffe und Waffen. Sogar Holz für die Kamine, wo

doch weit und breit kein einziger alter Baum mehr zu

sehen ist. Woher kommt all dieses?«

Sie streichelte mich und schwieg eine Weile. Sie

schien nicht sicher zu sein, ob dieses Geheimnis zu

groß war, als daß ich es wissen durfte.

»Unsere Lebensquellen sind die Höhlen. Die große

Page 83: Ritter der Wüste

Höhle Erthus unter der Stadt gibt uns alles, was wir

brauchen. Aber wir geben Erthu unsere Toten!«

Ich stutze abermals. Noch ein weiterer Hinweis

darauf, daß ein Erdgeist dort unten tatsächlich

existierte! Zwischen zwei langen, heißen Küssen drang

ich weiter in Honigvogel.

»Ihr wacht also auf, und die Weinfässer, das Holz

und die Bratenstücke ... sie sind einfach da?«

»Frage mich nicht, Herr Schwarzer Falke!« sagte sie

leise. »Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen darf. Aber ich

bin sicher, daß du zu den sechs Auserwählten gehören

wirst. Dann erfährst du alle Geheimnisse Erthus!«

»Du kannst mir wirklich nicht mehr sagen?«

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

»Nein. Glaube mir. Du wirst alles selbst erfahren!«

Jetzt also wußte ich, daß ich bisher richtig gehandelt

hatte, mich den Kämpfen zu stellen. Ich würde also

Erthu treffen, wenn es mir gelang, die letzten

Ausscheidungen durchzustehen und zu den sechs

Auserwählten zu gehören. Sechs? Die Hälfte von

zweiundzwanzig war elf, und die Hälfte von elf ... nun,

wir würden es sehen. Ich schob alle Gedanken an

Kämpfe, Sonnenglut und Wunden zur Seite und nahm

Honigvogel in die Arme.

Page 84: Ritter der Wüste

5.

Die ganze Nacht über hatte es gedonnert und von fern

geblitzt. Das Wetterleuchten wanderte in der Nacht

mehrmals um die Stadt herum, aber es regnete nicht.

Die Luft wurde schwül und feucht und trieb bei jeder

Bewegung den Schweiß auf die Haut. Ich begann, mich

klebrig zu fühlen und sehr unbehaglich.

Der späte Morgen des vierten Tages sah uns wieder

in den Zelten neben der Arena. Die Sonnensegel

spannten sich noch immer über die Ränge des Platzes.

Ich erkannte, daß die lange Tradition dieser

Ausscheidungskämpfe einen vernünftigen Modus

hatte entstehen lassen. Die ersten drei Tage, in denen

die Elite der Kämpfer ausgesondert worden war,

hatten uns alle in der größten Hitze gesehen, gegen

Mittag und in den Stunden nach Mittag.

Heute sollten die Kämpfe früher beginnen, nämlich

in den Stunden zwischen Sonnenaufgang und Mittag.

Wieder wurden wir ausgerüstet und gekleidet.

Der halbe Himmel hatte sich mit schwarzen Wolken

bezogen. Hitze und Schwüle wurden unerträglicher.

Die Spannung unter uns Gladiatoren nahm ebenso zu

wie die Hitze. Dann erreichten die Wolken die

Sonnenscheibe und ließen das Licht schwinden. Alles

Page 85: Ritter der Wüste

wurde grau, selbst das Innere der Zelte, deren Seiten

hochgeschlagen waren.

Wir konnten, während wir unsere Waffen ein letztes

Mal überprüften, aus den Zelten hinaussehen. Wieder

kamen in großen Gruppen die Bewohner der

phantastischen Ruinenstadt und setzten sich auf die

Ränge und Stufen. Binnen kurzer Zeit, schon eine halbe

Stunde, nachdem die Herolde durch die Straßen und

Höfe gezogen waren, füllte sich das weite Rund.

Die Sandarena war gesäubert und mit Rechen zu

einem unruhigen Muster geharkt worden.

Der Jahreskönig Herr Roter Bär, einige

Schiedsrichter und Honigvogel nahmen wieder vor

den Fanfarenbläsern auf der steinernen Kanzel Platz.

Wir waren schon jetzt müde und schlaff.

Konzentriert und in sich selbst versunken,

schwiegen die Kämpfer. Wir waren ausgerüstet und

fertig; die Kämpfe wurden in voller Rüstung

durchgeführt, aber nur mit Schlagwaffen. Es gab weder

Speere noch Lanzen oder Bögen, aber ich sah Keulen

und Schwerter, doppelte Äxte und Kampfbeile – aber

die Waffen waren stumpf. So sollten tödliche

Verwundungen vermieden werden. Der Grund lag auf

der Hand: Die zweiundzwanzig Freunde Erthus sollten

wichtige Ämter in der Stadt Merlane übernehmen.

Ein Wink von Roter Bär! Die Fanfarenbläser

verkündeten den Beginn der Kämpfe. Wir

Page 86: Ritter der Wüste

marschierten in zwei langen Reihen, begleitet von den

Schild- und Waffenträgern, aus den Zelten und

nahmen Aufstellung in der Arena. Zehn Mannslängen

trennten uns voneinander. Im Lauf der letzten Tage

fanden sich, zufällig und doch nicht ganz absichtslos,

immer dieselben Männer im gleichen Zelt ein.

Die Fanfarenklänge verhallten. Eine atemlose Stille

breitete sich um die Arena aus, nur unterbrochen von

den lauter werdenden Donnerschlägen und dem

langgestreckten Rollen, das von überall zu kommen

schien. Unsere Körper warfen in dem düsteren grauen

Licht keine Schatten mehr.

»Freunde Erthus, zweiundzwanzig an der Zahl!«

begann Herr Roter Bär. »Dies ist der vierte Kampf

dieses Großen Turniers! Ihr werdet nun in voller

Rüstung und mit stumpfen Waffen kämpfen, und ihr

habt versichert, daß keiner einen Groll gegen den

anderen hat.

Ihr kennt die Regeln, Freunde! Hier seien sie noch

einmal verkündet!

Wer sich nicht mehr erheben kann und

hinausgebracht werden muß, scheidet aus. Auch

derjenige, der ein zweites Mal zu Boden geht, scheidet

aus, es sei denn, es war nicht mehr als ein Ausrutschen

des Fußes oder ein Stolpern. Darüber wachen die

Männer rund um mich, die alle schon einmal in eurer

Lage waren und einen solchen Kampf siegreich

Page 87: Ritter der Wüste

bestritten haben.

Wir werden genau zählen, denn in dem Augenblick,

da sich nur noch elf Kämpfer in der Arena oder im

Kampf befinden, ertönt das Signal der Fanfaren! Ihr

stellt dann augenblicklich jede Kampfhandlung ein!

Elf Männer bleiben heute übrig!

Sie werden zu Favoriten Erthus ernannt und sollen

sich unter den versammelten Töchtern Erthus die

Helferin aussuchen – aber ich bin sicher, daß ich diesen

Teil der Regeln nicht mehr erklären muß. Und nun ...

beginnt die ritterlichen Kämpfe, Männer!«

Die Fanfaren gaben das Signal.

Die Kämpfer liefen aufeinander zu. Ich sah mich

Herrn Gelber Drache gegenüber, jedenfalls prunkte

dieses Bild auf seinem Schild und auf dem dünnen

Tuch, das er über dem halbkugelig vorgewölbten

Brustharnisch trug.

Ein riesiger, breitschultriger Mann, der wie ein

Teufel geritten war und nun ein zweischneidiges,

langes Kampfbeil handhabte, als wäre es ein Stück

Holz. Ich hob meinen Schild und fing den ersten Schlag

ab, ich kämpfte mit einem Schwert von mittlerer Länge

und durchschnittlichem Gewicht.

Ich sprang zur Seite, als sich mein Gegner drehte

und einen zweiten Schlag dieser Wucht einleitete. Ich

vergaß schlagartig alles um mich herum und stellte

mich auf diesen Kampf ein. Es war, als kämpfte ich in

Page 88: Ritter der Wüste

den Ebenen des Amazonenreiches oder gegen Cnossos.

Ich fintete, wehrte die wütenden Hiebe mit dem Schild

ab und schlug zurück.

Binnen kurzer Zeit waren unsere Turnierhemden

zerfetzt und hingen in Streifen herunter. Die Schilde

zeigten tiefe Kerben. In einer langen Reihe rechts und

links von uns beiden, auseinandergezogen über die

ganze Arena, kämpften die anderen Männer, drehte

sich umeinander, schlugen aufeinander ein. Ein

donnerndes, hallendes Krachen erfüllte den Platz.

Auch der Donner war lauter geworden und kam in

einzelnen Schlägen. Hin und wieder zuckte im Westen

ein langer Blitz auf und erhellte das Halbdunkel der

näher treibenden Gewitterwolken. Hitze und Dunst

hatten sich noch mehr gesteigert. Aber wir vergaßen

sogar die Bäche von Schweiß, die uns die Kleidung an

die Haut klebten.

Ein Schlag, unter dem ich gerade noch

hinwegtauchen konnte, riß die Rammspitze von

meinem Helm. Der Konterschlag spaltete eine Hälfte

des Kampfbeils des Gegners, schlug die Klinge

auseinander und schmetterte die Waffe tief in den

Boden. Das war meine

Chance – ich sprang vor, trat schwer auf den Schaft

und riß dadurch die Waffe aus der Hand des Gegners.

Er ließ sie los, stemmte den Schild hoch und wehrte

zwei meiner Schläge ab.

Page 89: Ritter der Wüste

Dann sprang er zurück.

Ich setzte nach, schlug fintierend gegen seine Knie.

Der Mann in der schwarzen Rüstung wirbelte den

Schild herunter, aber mein Schlag glitt in einem weiten

Bogen wieder aufwärts. Dann traf ich mit der flachen

Seite des Schwertes den Helm und versetzte dem

Gegner einen mächtigen Schlag in der Höhe des Ohres.

Das Geräusch dieses Hiebes ging unter in einem

gewaltigen Donnerschlag, der die Mauern der Stadt

erschütterte.

Der Mann wankte, ließ den Schild fahren und

schwankte nach vorn. Ich holte ein zweites Mal aus,

aber ich zögerte.

Ein gewaltiger Windstoß fuhr über die Stadt dahin,

brachte eine Wolke von feinem Sand mit sich und

verdeckte einen Augenblick lang die Sicht. Aber ich

brauchte nicht mehr zuzuschlagen. Mein Gegner sank

in die Knie, fiel krachend auf den Boden und blieb

liegen. Ich ging langsam rückwärts, versuchte in der

stauberfüllten Hitze durchzuarbeiten und sah mich

um.

Vier Männer waren ausgeschaltet worden.

Zwei von ihnen wankten zwischen den Schultern

der Helfer aus der Arena. Der einsetzende Sturm zerrte

an ihnen und ließ die Fetzen ihrer Kleidung wild

flattern. Zwei andere Freunde Erthus lagen wie tot da

und wurden aufgehoben und hinausgeschleppt. Also

Page 90: Ritter der Wüste

kämpften noch achtzehn Männer. Einen Augenblick

lang sah ich drei, dann nur noch zwei Männer müßig

herumstehen und sich erholen, aber dies änderte sich

sofort.

Ein Krieger, dessen Schild einen drohenden Fisch

zeigte, hatte mich erspäht und kam näher.

Er schwenkte eine metallene Keule mit stumpfen,

kurzen Stacheln über seinem Helm. Ich ging in

Angriffshaltung und machte mich auf den Anprall der

Waffe gefaßt.

Durch den Staubschleier und den wütenden Stoß

des auf und abschwellenden Sturmes rannte Herr

Grüner Fisch näher, hob die Waffe zu einem

senkrechten Schlag, und ich hob den Schild zur

Abwehr.

Ich kippte den Schild, wich zur Seite aus und

versuchte, die Wucht dieses Hiebes zu schwächen, aber

die Verdickung der Keule traf mitten auf den Schild,

prellte ihn aus der linken Hand, riß eine tiefe

Schramme und schlug eine tiefe Beule hinein. Mein

Arm wurde augenblicklich taub und gefühllos.

Aber ich reagierte blitzschnell und schlug zu. Mein

Schwert traf den Krieger an der Schulter. Ich hörte

deutlich seinen Aufschrei, zog mich zurück und führte

noch im Ausweichen zwei schnelle Schläge. Einer

wurde von der Keule abgewehrt, aber der zweite traf

den Schaft der Waffe dicht über dem Handgriff. Ich

Page 91: Ritter der Wüste

sah, wie der stumpfe Stahl meines Schwertes in die

röhrenförmige Schaffung eindrang, riß mein Schwert

zurück und drehte mich.

Mein linker Arm schwang kraftlos herum.

Inzwischen setzte der Schmerz ein und vertrieb die

Gefühllosigkeit. Der Schild schlug mit aller Wucht

gegen den Helm des Gegners und traf die

Nasenschiene. Der Mann prallte zurück und stolperte.

Ich führte den nächsten Schlag nicht mehr aus, sondern

sprang in die Höhe und trat mit dem Stiefel zu. Ich

landete einen wuchtigen Tritt auf den Brustharnisch

und warf den Mann in den Sand.

Dann stöhnte ich auf. Der linke Arm schmerzte

höllisch.

Noch während sich der Gegner im feuchten Sand

überschlug, zuckte der Blitz herunter und spaltete eine

riesige Steinsäule weit von der Arena entfernt in zwei

Teile. Der Donner machte uns alle vorübergehend taub.

Dann schlugen die ersten Regentropfen ein wie

kleine Steine, wie Geschosse aus einer Schleuder. Es

wurden immer mehr. Schließlich, nur wenige

Augenblicke später, hämmerte ein furchtbarer

Regenguß auf uns herunter und durchnäßte uns

binnen kürzester Zeit. Ich stand mit schlagbereitem

Schwert da und fühlte, wie der Regen meine Schultern

traf und mich in ein dampfendes, triefend nasses

Bündel verwandelte.

Page 92: Ritter der Wüste

Dann dachte ich an eine Art Schirm, daran, daß ich

nicht naß werden durfte, weil dies mich beim Kämpfen

stören würde ...

Mein Gegner kam wieder auf die Füße, packte die

Keule kürzer und lief direkt in meinen Schlag hinein.

Das Schwert rutschte am obersten Rand des Schildes ab

und traf zwischen Helm und Halsblende. Der Mann

stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte

geradeaus an mir vorbei. Wieder sprang ich zur Seite

und hob mit unendlicher Mühe den Schild, holte

blitzartig ein zweitesmal aus. Ich wartete darauf, daß er

sich umdrehte, aber ...

Ich merkte, daß der Regen mich nicht mehr traf!

Vestas Auge bildete zusammen mit der Natur rund

um mich eine Art unsichtbaren Schirm. Rings um mich

floß förmlich das Wasser vom Himmel und bildete

Pfützen im Sand, aber ich blieb verschont.

Mein Gegner kam schlitternd zum Stehen und

drehte sich um.

Ich war mit zwei Schritten in der richtigen Position

und war wild entschlossen, diesen Kampf schnell zu

beenden. Aus einer Wunde sickerte Blut über die nasse

Rüstung des Kampfers. Es vermischte sich mit dem

strömenden Regenwasser und wurde hinweggerissen.

Ich schlug schnell und gezielt. Ein Hagel

erbarmungsloser Schläge traf die Arme und die Seiten

des Gegners. Seine Bewegungen und Abwehrschläge,

Page 93: Ritter der Wüste

auch die Deckung durch den Schild, wurden

langsamer und ungenau. Dann kippte der Schild, und

mein nächster Schlag traf den Helm des Gegners genau

an der Stirn. Die stumpfgeschlagene Schneide schlug

eine tiefe Rille, und wie ein gefällter Baumstamm fiel

der Gegner um.

Herr Grüner Fisch lag still auf dem nassen Sand,

vom Regen übergossen und unfähig, sich zu bewegen.

Ich atmete tief. Die Hitze war aus der Luft gewichen,

es war wunderbar kühl geworden, aber die Sicht war

getrübt. Der Regen schlug fast waagrecht über den

Turnierplatz, aber kein einziger Zuschauer flüchtete.

Noch immer lag Grüner Fisch regungslos auf dem

Boden. Ich blickte auf die anderen Gruppen, die

erbittert miteinander kämpften.

Ich begann zu zählen. Neun ... elf ... dreizehn, mich

eingeschlossen.

Im gleichen Augenblick schrie jemand am anderen

Ende der Arena auf. Waffen und ein Schild flogen, sich

überschlagend, durch die regengeschwängerte Luft.

Wieder blitzte es, wieder krachte markerschütternd der

Donner. Ein Mann in heller Rüstung taumelte mit

kurzen Schritten, schon halb im Fallen, über die Arena

und schlug gegen die Mauer, blieb einen Augenblick

an den Steinen lehnen und sank dann langsam herab.

Der Schmerz in meinem Arm machte mich

benommen, aber ich atmete die frische, feuchte Luft ein

Page 94: Ritter der Wüste

und erholte mich langsam.

Zwölf Männer waren noch übrig ...

Fünf kämpfende Paare und zwei Männer, die eben

einen Kampfgang beendet hatten. Der Kämpfer am

anderen Ende der Arena sah mich und hob

auffordernd seinen Schild. Trotz meiner Schmerzen

versuchte ich ebenfalls, den schweren Schild über den

Kopf zu heben. Die fünf kämpfenden Paare beachteten

uns nicht und setzten ihren Kampf in dem tobenden

Gewitter fort. Klingen blitzten auf, ununterbrochen

dröhnten und krachten die Schläge.

»Ich komme!« schrie ich laut und rannte an den

Kämpfenden vorbei. Einmal wich ich aus, als einer der

Männer an mir vorbeistürzte, auf die Knie sank und

sich wieder aufraffte.

Wir trafen irgendwo in der Mitte der Arena

zusammen. Der Regen fiel jetzt senkrecht, noch immer

mit größter Wucht. Aber selbst mein Schild war noch

trocken. Wir hoben unsere Waffen und gingen in

Angriffstellung.

»Wohlan denn!« schrie der andere Mann hinter

seinem eisernen Visier hervor. »Beginnen wir‘s!«

Er schwang das Schwert nach vorn, ich wehrte den

Schlag ab. Mitten in das Klirren der Waffen mischte

sich der Laut der Posaunen. Sie erschollen zwischen

dem Knattern der Blitze und dem Krachen des

Donners. Augenblicklich senkten wir die Schwerter.

Page 95: Ritter der Wüste

»Hört auf, ihr Favoriten Erthus! Senkt die Waffen,

beendet den Kampf. Es sind elf Kämpfer übrig!« schrie

Herr Roter Bär aus Leibeskräften.

Noch immer regnete es in Strömen.

Wir drehten uns um und sahen, daß auch alle

anderen Kampfer aufgehört hatten. Die

Ausscheidungskämpfe des vierten Tages waren

vorüber.

»Nun eilt alle!« schrie Herr Roter Bär gegen Donner,

Sturmgeheul und das Klatschen des Regens an. »Wählt

schnell die Helferinnen! Sie warten schon, und wir

wollen nicht ertrinken!«

Selbst der Ton der vielen Fanfaren klang gedämpft

und hörte sich mehr wie ein Gurgeln an.

Durch den Jubel der Zuschauer und durch die

aufgeregten Schreie der Ritter, die jetzt ihre Waffen

wieder den Knappen übergaben, liefen wir nach allen

Richtungen auseinander. Natürlich stand inoffiziell

längst fest, wer wen als Helferin auswählen würde,

aber vermutlich rechneten einige der Schönen mit

Überraschungen. Ich bahnte mir einen Weg durch

meine Kampfgefährten und ging auf die Kanzel zu.

Herr Roter Bär breitete die Arme aus und rief:

»Heil dir, Herr Schwarzer Falke! Du kommst, um

deine Helferin zu holen?«

Ich hob den Helm, nickte ihm zu und lächelte

Honigvogel breit an.

Page 96: Ritter der Wüste

»Ich bitte dich, Honigvogel, meine Helferin für den

›Tag der Tage‹ zu sein«, verwendete ich die

vorgeschriebene Formel.

Natürlich wurden die hübschesten Mädchen

ausgesucht. Es war sicher, keines widerstehen konnte.

»Ich will deine Helferin sein, Herr Schwarzer Falke!«

rief Honigvogel, sprang auf und kletterte über die

Brüstung. Ich fing sie auf und bemerkte, daß der

Schutz von Vestas Auge, das jetzt im Regen und

Gewitter wieder zu strahlen schien, auch sie vor dem

Regen schützte.

»Und jetzt – in den Palast!« sagte ich,

vorübergehend die Schmerzen in meinem linken Arm

vergessend. Sie nickte, und wir verließen die Arena.

Durch den Regen und das tobende Gewitter, das

über Merlane und das nahe Umland hinwegzog,

gingen wir die rund fünfhundert Mannslängen bis zum

Palast ihres Vaters. Ich wußte jetzt, am Ende der

Kämpfe des vierten Tages, noch nicht, was die

nächsten Tage bringen würden.

Und abermals ging ich Schritt für Schritt durch das

Zeremoniell, das sich in den wenigen Tagen

herausgebildet hatte.

Zuerst entkleideten mich die Knappen und brachten

die Rüstungsteile und die Waffen weg, um sie

durchzusehen und gegebenenfalls auszubessern.

Page 97: Ritter der Wüste

Dann wanderten Honigvogel und ich Hand in Hand

in die große, dampfende Badestube, und einer der

weisen Männer kam, um meinen Arm, wie er sich

ausdrückte, »die ganze Kraft und die Beweglichkeit

wiederzugeben«. Er rieb den Arm mehrmals mit einem

stinkenden schwarzen Öl ein – und er behielt

vollkommen recht. Der Schmerz verschwand, nachdem

er sich kurz bis ins Unerträgliche gesteigert hatte. Und

ich konnte den Arm wieder bewegen, als sei nichts

geschehen.

Nach den Bädern, nach den Massagen und all den

seltsamen Tränken, nach einem kurzen Schlaf und nach

dem Schock des eiskalten Wassers kleidete ich mich

wieder an und ging hinunter in die große Halle, um

mit Herr Roter Bär und Honigvogel zu essen.

Elf Holztäfelchen wurden bemalt.

Jedes Täfelchen trug das Zeichen eines der

übriggebliebenen Kämpfer. Es gab einen Blauen

Reiher, einen Goldenen Vogel, einen Schwarzen

Falken. Und als alle Täfelchen fertig waren, als die

Farbe getrocknet war, erschien eine Hand und warf ein

zwölftes Täfelchen in den prunkvollen Helm.

Ein Tuch wurde über den Helm gelegt, dann kam

dieses Gefäß voller Lose in die Verwahrung der älteren

Schiedsrichter.

Alles war bereit für den fünften Tag.

Page 98: Ritter der Wüste

Das Gewitter zog langsam über die Stadt hinweg,

schüttete Wassermassen über den Sand aus und verlor

sich in der Ferne. Noch während des Abends war der

Himmel wieder klar, und die Sterne funkelten.

Heute saßen wir nicht in der Halle, sondern das

Essen war auf einer Terrasse angerichtet worden. Roter

Bär, Honigvogel und ich saßen um den Tisch,

bewunderten die Pracht der Sterne und die Kulisse der

Ruinenstadt. Wieder brannten überall kleine Lampen,

und Menschengruppen spazierten durch die Parks und

über die Rasenflächen. Der Himmel und die Luft

waren mild und frisch, und alle Müdigkeit war

vergangen.

Roter Bär wandte sich an mich und fragte leutselig:

»Honigvogel hat mir gesagt, Herr Schwarzer Falke,

daß du dich nach unserem Leben erkundigt hast. Du

willst wissen, wie wir leben?«

Ich nickte und warf ihm einen fragenden Blick zu.

Vielleicht gelangte ich jetzt in den Besitz der

Geheimnisse.

»So ist es, Herr Roter Bär.«

Inzwischen schien jegliche Verwunderung darüber,

daß ich alle Kämpfe bis zum heutigen Tag bestanden

hatte, vergangen zu sein. Sie alle akzeptierten mich als

einen der Ihren.

»Erthu ernährt uns – von wenigen Ausnahmen

Page 99: Ritter der Wüste

abgesehen, Dragon!«

Ich stützte meine Ellbogen auf die Tischplatte, hob

den Pokal hoch und sah in die hellen Augen des

weißhäutigen Mannes.

»Er ernährt euch! Und wie geschieht dies? Liefert er

euch das, was ihr brauchen könnt?«

»Ja. Du hast recht. Genauso verhält es sich.«

»Das interessiert mich brennend, Herr Roter Bär«,

gab ich zu und zügelte meine Ungeduld. »Kann ich

mehr darüber erfahren, ohne daß ich eure Geheimnisse

verletze?«

»Sicher, warum nicht?« Er machte eine kurze Pause,

dann sagte er halblaut:

»In den Höhlen unter der Stadt wächst alles, was

wir brauchen. Dort leben sogar die Sarths. Immer dann,

wenn wir etwas brauchen, schicken wir Diener an

einen bestimmten Platz. In einer Höhle gibt es Braten,

in einer anderen Früchte und Pilze, in einer dritten

zapfen wir aus riesigen steinernen Fässern unseren

Wein ab. Erthu hat alles. Höhlentiere ebenso wie

Gewebe, die wir nur zu holen brauchen. Aber sie haben

einen winzigen Fehler.«

Ich brauchte einige Zeit, um mir dies alles vorstellen

zu können. Unter der Ruinenstadt stellte dieser

mysteriöse Geist der Erde alles nur Denkbare her und

lagerte es dergestalt ab, daß die Knechte und

Dienerinnen es nur aufzuheben und mitzunehmen

Page 100: Ritter der Wüste

brauchten. Es war fast wie die Vorstellung eines

Elementarwandlers, der ununterbrochen arbeitete, um

alle Wunsche zu erfüllen. Aber ich hatte nicht einmal in

den kühnsten Raumfahrergeschichten gehört, daß es

solche Geräte gab, die lebende Tiere produzierten.

»Welchen Fehler?«

»Seit vielen Generationen ernähren wir uns davon

und benutzen die Spenden Erthus. Daher kommen

unsere hellen Augen, unsere weiße Haut und unser

weißblondes Haar.

Du wirst in Merlane niemanden sehen können, der

nicht diese Merkmale aufweist. Du bist der einzige

Mann, der anders aussieht. Hin und wieder kommt

eine Karawane aus der Wüste hier vorbei, und dann

sehen wir schwarzhaarige Menschen mit dunklen

Augen und dunkler Haut.«

Ich schluckte trocken und murmelte:

»Das alles ist sehr wunderbar. Herr Roter Bär. Und

du hast gesagt, daß ich, wenn ich glücklicherweise

morgen zu den Siegern gehöre. Erthu bestimmt treffen

werde?«

Er grinste breit und versicherte mir:

»Ja! Abermals ja. Oder willst ein daß ich schwöre?«

»Nein!« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir.

Warum solltest du mich anlügen sollen?«

Wir aßen und tranken mäßig, aber plötzlich hatte ich

weniger Appetit. Ich stellte mir unterirdisch

Page 101: Ritter der Wüste

wuchernde Kulturen von Pilzen vor und rätselhaft

blühende und wuchernde Gewächse, die hier auf dem

Tisch lagen, nur durch die Zubereitung veredelt. Das

leckere Fleisch der gewürzten Braten stammte von

bleichhäutigen Höhlentieren, die wie Molche ein

Dasein im ewigen Dunkel oder im Zwielicht führten.

Aber dann dachte ich an mein Kampf-Sarth, das

keineswegs den Eindruck gemacht hatte, halbblind zu

sein. Nur sein Fell und seine Mähne waren weiß

gewesen. Ich zuckte die Schultern. Es würde mich

schon nicht umbringen. Und dann, nachdem ich in

zwei, drei Tagen Erthu gesehen oder erlebt hatte,

würde ich weiterziehen. »Morgen ist nicht die letzte

Ausscheidung, aber der letzte Kampf!« erklärte Herr

Roter Bär nach einer kleinen Pause.

»Sechs Krieger bleiben übrig!« bemerkte Honigvogel

und sah mich an, in einer Weise, daß ich alle meine

Schläfrigkeit und Müdigkeit zu vergessen geneigt war.

Aber in dieser Nacht mußte ich tief und lange schlafen.

Und allein.

»Diejenigen, die den Pfad der Erwählten gehen

werden?« fragte ich.

Roter Bär nickte ernst.

»Ja. Und ich hoffe, Dragon, daß du zu ihnen gehörst.

Wenn du dich morgen ebensogut schlägst wie heute,

dann ist dein Weg schon jetzt frei. Am siebenten Tag

wirst du dann Erthu sprechen.«

Page 102: Ritter der Wüste

In mein Ohr wisperte Honigvogel, immer wieder

von Lachen unterbrochen:

»Du kannst ihn dann nach dem anderen Weltentor

fragen! Vielleicht kennt er den Weg dorthin.«

»Zuerst werde ich versuchen, Erthu zu bereden. Er

soll sich, zusammen mit den anderen Geistern, wieder

unter die Herrschaft Vestas begeben!« sagte ich und

deutete auf das jetzt glühende Juwel.

»Wir haben darauf keinen Einfluß!« Es klang etwas

müde und resignierend, wie Roter Bär es sagte. Mir

schien, als würde auch er sich nach den vergangenen

Zeiten zurücksehnen, als sich die Stadt mit Leben

gefüllt hatte und ein wichtiger Knotenpunkt zwischen

beiden Meeren gewesen war. »Wir leben von Erthu,

und alles, was wir tun, ist zu Erthus Ehren.«

Ich stimmte zu.

»Das ist völlig richtig, Roter Bär. Und jetzt – erlaubt

bitte, daß ich mich entferne und mich ausschlafe. Wann

sind die Kämpfe?«

»Sie beginnen eine Stunde nach Sonnenaufgang. Wir

wollen weder im Regen noch in der Hitze kämpfen!«

meinte Roter Bär bestimmt.

Ich stand auf, küßte Meri-Meri auf die Stirn,

schüttelte die Hand des Jahreskönigs und ging langsam

hinauf in meine fürstlichen Gemächer. Die

Anstrengungen der letzten Tage, auch wenn sie

scheinbar durch die Massagen und Bäder vertrieben

Page 103: Ritter der Wüste

schienen, hatten doch an meinen Kräften gezehrt. Ich

merkte es. Aber einen langen Kampf würde ich noch

durchhalten.

Was nach diesem Kampf folgte, waren mehr oder

weniger Zeremonien. Das glaubte ich noch an diesem

Abend ...

Nur noch zwei hochgehobene Fackeln erhellten die

Szene. Die Männer standen, in langen weißen

Gewändern, mit ihren persönlichen Wappentieren

darauf, in einem kleinen Park. Die Blüten, auf denen

noch die schweren Regentropfen schimmerten,

dufteten schwer in der Dunkelheit.

»Ich habe lange nachgedacht, Herr Gelber Sarth!«

sagte der große Mann mit den breiten Schultern. »Du

bist am besten geeignet, für die Dauer der Tage mein

Amt zu übernehmen.«

»Es ist eine Ehre für mich. Jahreskönig!« erwiderte

der andere. Es war ein älterer Mann mit einem faltigen

Gesicht. Er ging nach vorn gebeugt, aber aus seinen

Augen funkelten Klugheit und Umsicht.

»Weniger Ehre als Vertrauen, Herr Gelber Sarth. Du

warst bei diesen Kämpfen der oberste Schiedsrichter.«

Eine kleine Pause entstand.

Dann hörte der Jahreskönig wieder die ruhige

Stimme des anderen Mannes.

»Du bist sicher, daß du zum vierten Mal das Turnier

Page 104: Ritter der Wüste

gewinnst?«

»Ziemlich sicher. Und wenn nicht, so ist es nicht

schlimm. Meine Ablösung stünde schon bereit, und alle

Männer sind hervorragend geeignet Ich könnte mir

kein schöneres Ende wünschen als zu enden im Kampf

um Erthus Ehre.«

Der andere nickte in der Dunkelheit.

»Recht gesprochen, Herr Roter Bär. Ich werde

morgen rechtzeitig zugegen sein und alles nach den

ewigen Regeln gestalten. Ihr alle könnt euch auf mich

verlassen.«

Die Männer wechselten einen langen, festen

Händedruck. Dann verließen sie den Park. Sie gingen

mit hoch erhobenen Fackeln in zwei verschiedene

Richtungen. Noch war es tiefe Nacht, aber der Morgen

war nicht mehr fern.

6.

Es schien eine Art Wunderregen gewesen zu sein, denn

er hatte die gesamte Landschaft in der Stadt, und

soweit ich es sehen konnte, auch außerhalb der Stadt

Page 105: Ritter der Wüste

verwandelt. Die Feuchtigkeit hatte zahllose Samen

treiben lassen, die bisher im Sand gelegen hatten.

Überall blühte es, überall wucherte es, an allen nur

denkbaren Stellen sah ich frisches Grün und große,

vielfarbige Blüten. Die ganze Stadt roch nach ihnen.

Jetzt, kurz nach Sonnenaufgang des fünften Tages,

waren es nur noch elf Männer, die gegeneinander

kämpften, um die besten zu ermitteln.

Aus elf verschiedenen Richtungen näherten sich die

Krieger dem Turnierplatz. Neben mir gingen die

waffentragenden Knappen und Honigvogel, die

meinen schwarzen Helm in den Händen hielt.

»Ihr werdet ausgelost!« sagte sie leise. »Ich hoffe, du

triffst auf einen würdigen Kämpfer, mein Geliebter.«

Sie war reizend, aber ein wenig töricht. Aber ich

hatte sie bisher nicht anders als bezaubernde Geliebte

und sorgende Freundin kennengelernt und hatte nicht

den geringsten Grund mit ihr unzufrieden zu sein.

»Ich hoffe, ich treffe auf einen Gegner, der mich am

Leben läßt«, erwiderte ich trocken. Ihr Lachen hatte

etwas Angespanntes, Gereiztes.

»Das hoffe ich auch. Wirst du dich freiwillig

melden?«

Ich hob fragend die Brauen. In der Morgensonne

leuchtete mein »drittes Auge« strahlend auf.

»Wozu?«

»Ich meine, wirst du dich auslosen lassen, oder

Page 106: Ritter der Wüste

willst du ein Los aus dem Helm holen?«

»Ich werde ein Los aus dem Helm nehmen. Ich

hasse Zufälle, und ich vermeide sie, wo es eben geht!«

erwiderte ich entschlossen. Wir gingen weiter durch

die blühenden Flächen, die vor dem Gewitter nichts

anderes als gelbe Sandflächen gewesen waren. Eine

dumpfe Spannung bemächtigte sich meiner. Wir traten

heute mit scharfen Waffen gegeneinander an. Ich hatte

mich mit erstklassiger Bewaffnung neu ausgerüstet,

war ausgeruht und empfand in dieser frühen

Morgenstunde so etwas wie eine kämpferische

Hochstimmung, aber ich wußte ebenso, daß es hart

werden würde. Der Weg zu Erthu wurde mir wahrlich

schwergemacht.

Inzwischen hatte ich erfahren, daß es sehr gut

gewesen war, nicht auf eigene Faust die Höhlen zu

suchen. Dieser Versuch wurde als Hochverrat bestraft,

und zwar dadurch, daß man den Frevler lebendig

einmauerte.

»Die Paare werden ausgelost, und ebenso die

Reihenfolge, in der sie kämpfen!« sagte Honigvogel

leichthin.

»Ich verstehe!« sagte ich. »Hoffentlich bin ich einer

der ersten. Ebenso, wie ich Zufälle hasse, verabscheue

ich langes Warten.«

»Das kann ich verstehen, Dragon!«

Es war wunderbar kühl. Die Sonne war gerade

Page 107: Ritter der Wüste

aufgegangen. Es gab lange Schatten und hell

ausgeleuchtete Ruinenstücke und Säulen, die hoch

über den bewohnten Gebäuden standen. Wir gingen

die Treppen in die Arena hinunter. Es gab fast keine

Zuschauenden zu dieser frühen Morgenstunde.

Nur um die Zelte und in den Zelten herrschte rege

Geschäftigkeit. Knappen, Kämpfer und Schiedsrichter

und die »Helferinnen« standen und liefen umher. Die

steinerne Kanzel war leer, und die Fanfarenbläser

saßen untätig auf den steinernen Sitzen.

Ich ging in die Richtung des Zeltes, das ich nun

schon kannte. Dort sah ich eine Gruppe von

Schiedsrichtern, die um zwei Tische herumstanden. Ich

bedeutete meinen Knappen, meine Waffen auf dem

Tisch abzulegen, der mein Wappen trug. Die Kämpfer

waren noch die ruhigsten Menschen hier, alle anderen

schienen aufgeregt zu sein. Ein älterer Mann, auf

dessen weißem Gewand das Zeichen des Gelben Sarths

prunkte, trat auf mich zu.

»Du bist Herr Schwarzer Falke, nicht wahr?«

»So ist es. Herr Gelbes Sarth!«

»Willst du gelost werden, oder greifst du selbst

ein?«

»Ich greife selbst in den Helm, Herr Gelbes Sarth!«

sagte ich mit fester Stimme. Er nickte und verschwand

wieder in den kleinen Gruppen. Schließlich kam der

letzte der Favoriten Erthus, und wir ließen uns

Page 108: Ritter der Wüste

ausrüsten.

Zuerst meldeten sich sechs Krieger und griffen

nacheinander in einen Helm. Auch ich war darunter.

Als ich meine Hand, bereits im eisenbewehrten

Handschuh, umdrehte und öffnete, sah ich eine

unbekannte Nummer oder Zahl. Ich zeigte die

schwarze Abbildung auf einem Stück weißen Stein

Honigvogel, und sie schlug in freudiger Erregung die

Hände zusammen.

»Du bist der erste, Herr Schwarzer Falke!«

Der Schiedsrichter, der heute offensichtlich Herrn

Roter Bär vertrat, nahm mich an der Schulter und

führte mich zu dem zweiten Tisch, der jetzt von allen

Anwesenden ehrfurchtsvoll umstanden wurde. Hinter

mir stellten sich die fünf anderen Kämpfer auf, bereits

die Helme festgezurrt auf den Köpfen.

»Greife in den Helm. Du bist der erste Kämpfer, also

hast du auch die erste Wahl!«

Ich verbeugte mich kurz, griff in den prunkvollen

Helm und wühlte in den Holzschildchen. Dann faßte

ich eines, hob es hoch und blickte es an. Ich konnte

zuerst nicht glauben, was ich sah, dann aber fielen mir

die veränderten Vorzeichen dieser Auslosung ein.

Ich wandte mich an Herrn Gelbes Sarth und fragte

heiser:

»Ich sehe hier das Zeichen des Roten Bären. Kämpfe

ich etwa gegen Herrn Roter Bär, den Jahreskönig von

Page 109: Ritter der Wüste

Merlane?«

Der alte Schiedsrichter nickte und erwiderte in

würdigem Tonfall:

»So ist es, Herr Schwarzer Falke. Wir haben die

Reihenfolge ausgelost und die Paare. Du hast den

bisherigen Jahreskönig zu deinem Gegner gewählt,

einen würdigen Kämpfer, da er hintereinander dreimal

diesen Titel gekämpft hat. Du weißt, daß dieser Kampf

mit scharfen Waffen geführt wird?«

»Ich weiß es!«

»Ihr werdet ebenso kämpfen wie alle anderen fünf

Paarungen. Es geht um Leben und Tod.«

»Auch das weiß ich«, mußte ich zugeben. »Aber

Roter Bär ist mein Gastgeber, mein Freund, der Vater

meiner ›Helferin‹!«

»Das wird ihn nicht daran hindern, dir einen Kampf

zu schenken, der bis zum Ende geht. Aber es ist ihm,

Herrn Roter Bär, unmöglich gemacht, um Milde oder

um einen vorzeitigen Schluß des Kampfes zu bitten!«

Inzwischen zogen auch die anderen Kämpfer ihre

Gegner. Zwei von ihnen holten ihre eigenen Schilder

aus dem Helm und wählten ein zweites Mal. Dann

standen die sechs Gruppen fest. Bisher konnte ich den

Jahreskönig nirgendwo entdecken, aber er besaß mir

gegenüber einen Vorteil, der durch nichts wettgemacht

werden konnte.

Ich hatte vier Tage lang unglaubliche Strapazen auf

Page 110: Ritter der Wüste

mich genommen, um diesen fünften Kampf zu

erreichen.

Der Jahreskönig kam völlig ausgeruht in die Arena.

Ich hatte gegen ihn nur eine geringe Chance, wenn

es mir nicht gänzlich unmöglich gemacht werden

würde, zu siegen.

Wieder einmal saß ich in einer Falle, aus der ich

wohl kaum entkommen konnte. Ich stand also in ganz

kurzer Zeit einem Gegner gegenüber, der es absolut

ernst meinte und genau wußte, was er zu verteidigen

hatte. Herr Roter Bär wollte zum viertenmal

Jahreskönig werden – und ich glaubte, genau zu

wissen, warum er so ehrgeizig war. Für mich stand

fest, daß ich es mit einem der erfahrensten Kämpfer zu

tun hatte, der je hier im Sand der Arena gestanden

hatte.

Ich wandte mich um und blickte durch die Schlitze

des schweren, doppelt gepanzerten Helms in die hellen

Augen des Schiedsrichter.

»Ich habe verstanden, Herr Gelbes Sarth. Ich werde

kämpfen!«

Er lächelte zurückhaltend und versicherte:

»Ich habe nicht daran gezweifelt. Keinen Augenblick

lang, Herr Schwarzer Falke.«

Wir verließen langsam die Zelte. Ich drehte mich, da

ich der letzte war, um und sah meinen Gegner!

Er kam langsam, vom Kopf bis zu den eisernen

Page 111: Ritter der Wüste

Schuppen an seinen Stiefeln in düsteres Rot gekleidet,

ebenso wie ich, dessen Waffen und Ausrüstung

schwarz waren.

Die Arena lag noch immer im Schatten, aber auf den

Rängen, wo sich die ersten Zuschauer trafen, lag

stellenweise Sonnenschein.

Ich hob grüßend die Hand. Herr Roter Bär hob

ebenfalls seinen rechten Arm und kam näher. Niemand

sprach ein Wort.

Die einzelnen Paare stellten sich auf. Ich stand

ziemlich genau vor der Felsenkanzel, in der jetzt

Honigvogel, einige Schiedsrichter und die Männer mit

den Fanfaren Platz genommen hatten. Der Gegner, den

ich mir ausgesucht hatte, kam langsam durch die halbe

Arena und blieb vor mir stehen. Wir kämpften beide

mit langen Schwertern; Knappen hielten Ersatzwaffen

bereit.

Der Schiedsrichter Herr Gelbes Sarth, sah nach der

Sonne, hob die Hand und rief leise:

»Wir beginnen!

Ihr alle, Favoriten Erthus, kennt die Regeln. Es geht

um Leben und Tod oder bis zu dem Punkt, wo der

Gegner aufgibt und um ein Ende des Kampfes bittet.

Nur ein Kämpfer, nämlich Herr Roter Bär, darf als

Jahreskönig nicht um ein Kampfende in Ehren bitten.

Nützen wir die kühlen Stunden des Tages aus,

kämpfen wir. Die Fanfaren geben das Zeichen, und die

Page 112: Ritter der Wüste

Sieger werden morgen den Pfad der Erwählten gehen.

Beginnt, edle Ritter von Merlane!«

Die Fanfaren schickten ihre hellen Signale in die

kühle Morgenluft, wir hoben die Schilde, zogen die

Schwerter, und der Kampf begann.

Ich achtete auf nichts mehr und konzentrierte mich

auf meinen schwersten Kampf, denn ich mußte

versuchen, nicht nur zu siegen, sondern so zu kämpfen,

daß ich Herrn Roter Bär nicht nur besiegte, sondern ihn

auch am Leben ließ.

Wir holten mit den Schwertern aus, rissen die Schilde

hoch und duckten uns unter diese Deckung. Klirrend

kreuzten sich die Schwerter. Schon der erste Schlag

meines Gegners bewies mir seine Stärke.

Aber noch war ich kräftig und schnell.

Ich begann einen wilden Angriff, der mich mehrere

Mannslängen vorwärts durch die Arena brachte. Ich

tastete die Kenntnisse und die Widerstandskraft des

Roten Bären ab.

Ich schlug von rechts und links, von oben und dicht

über dem Boden. Mein Schwert pfiff durch die Luft,

ritzte lange Furchen in den Sand und schlug dreieckige

Scharten in den Rand des gegnerischen Schildes, der

ebenfalls von roter Farbe war.

Die Schläge des Gegners, die ebenso schnell und

unbarmherzig auf mich einprasselten, waren genau

Page 113: Ritter der Wüste

gezielt und verrieten, daß jeder Schlag scharf und

präzise überlegt war. Mein Schild hallte wider von den

Treffern, die ich ununterbrochen abfangen mußte.

Ich empfing einen Schlag auf die Schulter, einen

zweiten gegen den Helm und einen dritten gegen die

eiserne Schutzhülle über meinem rechten Knie.

Hingegen konnte ich zwei schwere Treffer landen;

einmal hieb ich eine tiefe Kerbe in das Eisen, das den

rechten Oberarm des Gegners verhüllte, und mit einem

zweiten Schlag zerfetzte ich das Lederband unter der

Schnalle an der Schulter, das zur Hälfte den

Brustharnisch hielt.

Ich sah nur die Augen und den Mund, kleine

Öffnungen in dem massiven Helm gaben den Blick

darauf frei. Sonst gab es keine Stelle – wie auch an

meiner

Rüstung –, die leicht zu verletzen war.

Jetzt griff ich den Gegner an.

Das Schwert und die Verteidigung mit dem Schild

ließen nur wenige Varianten von Angriff und

Verteidigung zu. Nur dann, wenn der Schild

zerschlagen oder verloren war, gab es nach den

klassischen Regeln, die von der Waffe selbst aufgestellt

worden waren, eine eindeutige Möglichkeit, einen

Mann zu töten oder lebensgefährlich zu verwunden.

Die Kunst bestand darin, Schläge zu führen, die

ungewöhnlich waren und außergewöhnlich.

Page 114: Ritter der Wüste

Aber was Roter Bär nun entfesselte, war ein

förmlicher Hagel von Schlägen ...

Ich mußte mich darauf beschränken, sie mit Schwert

und Schild und durch schnelle Bewegungen des

Körpers zu kontern. Späne und Fetzen flogen aus

meinem Schild, dessen Rand bereits ausgezackt und

ausgeschlagen war. Die Schwerter klirrten, die

dumpfen Schläge ließen den Schild krachen, und hin

und wieder klirrte die Spitze des Schwertes über Teile

des Harnischs.

Ich wollte nicht verlieren!

Aber ich wollte auch nicht, daß mein Gegner durch

meine Hand starb! Ich mußte schneller werden und

bessere Schläge anbringen. Ich mußte den Herrn Roter

Bär ermüden, erschöpfen, aus seiner Überlegenheit in

tiefe Müdigkeit bringen. Ich wich abermals aus und

ging rückwärts, bis mir ein schneller Blick sagte, daß

ich direkt unter der Kanzel kämpfte. Ich sah flüchtig

Honigvogel, die beide Hände vor ihr Gesicht

geschlagen hatte und durch die gespreizten Finger den

Kampf zwischen ihrem Vater und ihrem Geliebten

zusah. Sie wirkte gelähmt.

Flüchtig ließ ich Schwert und Schild sinken und

verwirrte dadurch den Ritter. Er prallte zurück. Ich

stieß mich klirrend von der Mauer ab, wirbelte das

Schwert über dem Kopf und duckte mich hinter den

Schild. Dann begann ich, sorgfältig ausgesucht,

Page 115: Ritter der Wüste

schwere Kämpfe zu führen. Ich zielte und schlug

dorthin, wo es deutliche Schwierigkeiten machte, den

Hieb aufzufangen.

Klirrend und donnernd fingen sich die Schläge auf

dem Schild, der nur noch eine Masse Beulen und

Löcher war.

Herr Roter Bär duckte sich, schwang den Schild

nach oben und nach unten, blockte meine Schläge ab

und wich im Zickzack aus. Er glitt leichtfüßig nach

rechts und links und gleichzeitig rückwärts.

Ich ging Schritt um Schritt vor.

Jeder meiner Schläge, oder fast jeder, traf auf die

Deckung. Nur hin und wieder pfiff mein Schwert am

oberen oder unteren Rand des Schildes vorbei und traf

auf den Harnisch oder einen eisernen Schutz. Aus dem

Helm des Gegners kam ein Keuchen. Er wurde

langsam müde. Ich trieb ihn rückwärts, aber unsere

Schläge wurden kräftiger, jedoch nicht mehr so schnell

und häufig geführt.

Dann schmetterte ich einen wilden Schlag, der fast

waagrecht durch die Luft ging und den Schild traf und

nach unten schleuderte. Der Schwung trug die Waffe

weiter und höher hinauf.

Krachend schlug die schartige Schneide gegen die

Halsblende, brach sie auseinander und bog sie schwer

nach innen. Der nächste Schritt, den Roter Bär machte,

war mehr ein Straucheln. Aber er fing sich sofort.

Page 116: Ritter der Wüste

Er schlug zurück und spaltete meinen Schild von

oben bis unten. Er hielt gerade noch zusammen, aber

als Deckung taugte er soviel wie ein welkes Blatt. Ich

machte einen riesigen Sprung seitwärts, schlenkerte die

schweren Teile zur Seite und schrie nach einem

Knappen.

Aber bis einer heran war und mir einen neuen

Schild gab, konnte ich tot sein.

Drohend und rasend schnell kam das Schwert des

Gegners von oben herunter.

Ich konnte nicht mehr ausweichen. Aber meine

Hand wirbelte das Schwert herum, ich faßte mit der

Linken dicht hinter die Spitze meines Schwertes und

parierte damit den furchtbaren Schlag. Beide

Handgelenke wurden von der Wucht des Hiebes

geprellt, aber ich erkannte meine erste richtige Chance.

Ich warf mich zur Seite, holte aus und führte einen

gewaltigen Schlag, hinter dem sämtliche Kraft lag, über

die ich noch verfügte. Ich prallte von der Halbkugel ab,

die das rechte Schultergelenk schützte, die Schneide

des Schwertes kippte ab nach oben und traf die

Ausbeulung, unter der sich das Ohr des Gegners

befand.

Dann warf ich mich seitlich gegen die Waffe, die in

meine Richtung gestoßen wurde und lenkte sie mit

dem Brustharnisch ins Leere.

Wir beide prallten zusammen. Es gab einen

Page 117: Ritter der Wüste

furchtbaren, harten Laut, und dann schleuderte uns die

Wucht des Aufpralls wieder auseinander. Jetzt war der

Knappe herangekommen und reichte mit

ausgestreckten Armen mir den Schild. Ich schob

meinen linken Unterarm hinein, während ich den roten

Ritter mir gegenüber beobachtete.

Herr Roter Bär taumelte nach hinten und dann

wieder nach vorn. Während sich seine Füße bewegten,

als wären sie selbständig, vollführte sein Körper eine

kreiselnde Bewegung.

Ich wartete, keuchend und schwitzend und voller

quälender Spannung ...

Ich wußte nicht mehr, wie lange unser Kampf

dauerte. Aus dem Augenwinkel sah ich nur noch zwei

kämpfende Paare. Ich hatte alles vergessen und

übersehen, was rund um mich geschehen war.

Mit einem neuen Schild ausgestattet, das schartig

geschlagene Schwert in der Hand, die Schwertspitze im

Sand, beobachtete ich den Kampf des Mannes vor mir.

Ich hätte ihn, dessen Deckung weit offen war, mit

einem einzige Schlag zwischen Helmrand und

Halsblende töten können, aber ich hatte es nie

vorgehabt.

Er kämpfte jetzt gegen die Besinnungslosigkeit, aber

der Schlag war zu schwer, zu hart gewesen. Schließlich

knickte Roter Bär in den Knien ein und fiel auf den

Rücken. Schwert und Schild entglitten seinen Händen

Page 118: Ritter der Wüste

und fielen in den Sand. Ein letztes Zucken riß die Beine

hoch, dann erschlaffte der mächtige Körper.

Der Kampf war zu Ende.

Ich schob das Schwert, das völlig abgestumpft war,

zurück in die Scheide und löste das Helmband. Jetzt

erst, als ich langsam auf die Kanzel zuging und dort

sah, wie Honigvogel sich über die Mauer schwang und

auf ihren Vater zulief, überfiel mich die Erschöpfung.

Der Schiedsrichter deutete auf mich und rief durch

das Kampfgetümmel der beiden letzten Paare:

»Du, Herr Schwarzer Falke, bist Sieger. Du hast in

einem sauberen Kampf nicht nur den Jahreskönig

besiegt, sondern auch dessen Leben geschont, glaube

ich. Nimm deine Helferin, ziehe die Rüstung aus und

bereite dich vor für den Pfad der Erwählten.«

Ich nickte, versuchte ein erschöpftes Lächeln und

drehte mich um. Zwei Dinge geschahen gleichzeitig.

Einer der Streitenden rannte taumelnd und vom

Schwung seines eigenen Schlages getragen in die lange

Spitze eines Kampfbeils hinein und schrie gellend auf.

Von allen Seiten liefen Helfer und Helferinnen auf

den Jahreskönig zu, der sich schwach zu regen begann.

Um mich versammelten sich diejenigen Knappen,

die mir bisher geholfen hatten. Ich gab ihnen den

Helm, das Schwertgehänge und den Schild, dann riß

ich mir den Harnisch und die Beinschienen herunter.

Page 119: Ritter der Wüste

Honigvogel kam auf mich zugerannt, fiel mir aufgeregt

lachend um den Hals und rief leise:

»Du hast ihn besiegt! Aber er lebt. Er ist nur etwas

wirr und erschöpft. Die Bilder drehen sich vor seinen

Augen!«

Ich lächelte sie an und nahm ihre Hand.

»Wenn er dieselben Wonnen zu spüren bekommt

wie ich in der Badestube, dann ist er in zwei Tagen

wieder der alte!«

»Ich weiß!« jubelte sie. »Ich weiß! Sie werden ihn in

den Palast bringen!«

Sie zog mich die Treppen hoch. Die Zuschauer, die

viel zahlreicher waren, schrien auf, als der letzte Sieger

seinen Gegner niederstreckte und die Arme in die

Höhe warf.

Ich sah, daß die Sonne fast im Mittag stand. Unser

Kampf hatte drei Stunden gedauert. Jetzt griff die

zweite Welle der vielen kleinen Schmerzen und der

einen großen Erschöpfung nach mir. Langsam gingen

wir durch die wuchernden und blütentreibenden

Pflanzen, die überall hervorgeschossen waren. Den

Weg kannte ich inzwischen schon.

»Das war der letzte Kampf!« stellte ich fest.

»Ja, so ist es!«

Honigvogel war glücklich, daß ich einer der

»Erwählten« war, und zu ihrer Freude trug es nicht

wenig bei, daß ihr Vater lebte. Sie schien in der rechten

Page 120: Ritter der Wüste

Stimmung zu sein, meine drängenden Fragen zu

beantworten.

»Wir sind sechs Erwählte Erthus, nicht wahr?«

»Du bist einer davon, geliebter Dragon!« flüsterte

kichernd Meri-Meri.

»Wie werden wir es anfangen müssen, den Pfad der

Erwählten zu gehen?«

»Kannst du nicht warten, Dragon? Es ist verboten,

über diese Dinge zu sprechen. Ich weiß es selbst nicht.

Ich weiß nur, daß wir morgen gemeinsam dorthin

reiten werden. Und zwar in einer prächtigen

Prozession!«

Ich zuckte die Schultern.

»Ich wußte nicht, daß es ein solches Geheimnis ist.

Ich wollte nicht in dich dringen, Meri-Meri.«

Ich küßte sie und ließ sie dadurch diese Probleme

vergessen. Wir betraten den Palast, und die Neuigkeit

hatte sich bereits bis hierher herumgesprochen. Und

ich wartete ungeduldig und gespannt auf den nächsten

Morgen. Auf den Tag, an dem ich endlich mit Erthu

zusammenkommen würde. Vielleicht sah ich dann

auch, wie ein Geist aussah.

Heute, drei Stunden nach Sonnenaufgang des sechsten

Tages, säumte die gesamte Bevölkerung die breite

Prunkstraße, die gerade zur richtigen Zeit ihren neuen

Pflanzenschmuck angelegt hatte. Jetzt konnte ich mir

Page 121: Ritter der Wüste

leicht vorstellen, wie Merlane vor zweitausend Jahren

tatsächlich ausgesehen hatte ... blühend, voller Leben

und mit den Gegensätzen aus Stein und vielen

Pflanzen. Meri-Meri und ich verließen den Palast, und

der Jahreskönig selbst hatte uns verabschiedet. Er lag

mit dumpfem Kopfschmerz im Bett, aber er dachte

bereits wieder klar und fühlte sich von Stunde zu

Stunde besser. Honigvogel führte mein zahmes Sarth,

das mit prächtigem Sattel und prunkvollen Decken

und Geschirr geschmückt war, am Zügel.

»Alle haben sich versammelt!« rief sie und deutete

umher. »Sie wollen mich und dich sehen.«

»Und fünf andere Paare!« beruhigte ich sie. Es war

der Tag der Tage. Wir sollten einen Pfad benutzen, den

sonst keiner der Stadtbewohner benutzte. Er führte

hinaus in die blühende, grünende Wüste vor der Stadt.

Die fröhliche Aufregung der Masse von rund

achttausend Menschen in allen Lebensaltern übertrug

sich mühelos auf mich. Ich trug ein einfaches, aber

wertvolles Gewand, aber ich hatte nicht auf mein

Amulett verzichtet, das ich um den Hals trug. Wir

waren das zweite Paar, das aus einer Nebengasse

hinaus auf die breite Prunkstraße kam.

Wir winkten nach beiden Seiten.

Hinter uns formierte sich der Zug. Schließlich waren

wir sechs Paare mit sechs Reittieren. Dann widerhallten

die Mauern, und eine überaus prächtige Kavalkade

Page 122: Ritter der Wüste

kam auf die Straße hinausgesprengt. Es waren, soweit

ich sie erkennen konnte, die Schiedsrichter und einige

Helfer und die Fanfarenbläser. Sie saßen alle auf

Kampf-Sarths und bildeten, kaum daß sie auf unserer

Höhe waren, zwei lange Reihen und zügelten die Tiere.

Dann setzte sich der Zug unter dem dröhnenden Jubel

der Bevölkerung in Bewegung.

Wir ritten langsam geradeaus, winkten, wurden mit

Blüten beworfen und mit Jubel und Beifall bedacht.

Weit hinter uns lag die Arena, wir ritten in die

entgegengesetzte Richtung. Ruinen, herunterhängende

Girlanden, vielfarbige Säulen und Mauern glitten an

uns vorbei. Wir passierten das Tor, die Gebäude

blieben zurück und auch diejenigen, von denen die

Straße gesäumt wurde.

Schließlich waren wir allein.

Mein Vordermann hob seine Helferin in den Sattel,

und ich hielt das Sarth an, um es ihm gleichzutun.

Schließlich fiel der Zug, der etwa zweihundert

Personen umfaßte, in einen leichten Trab und ritt

weiter geradeaus.

Wir bogen ab, und schließlich waren wir in der

nackten, heißen Wüste. Hier wuchs nichts mehr.

Ich war meinem Ziel so nahe wie niemals zuvor.

Mehrmals war ich dem Tod entgangen, und

vielleicht konnte ich dank der Auskünfte Erthus schon

in wenigen Tagen ein anderes Weltentor finden und

Page 123: Ritter der Wüste

diese Welt verlassen. Ich hielt die Zügel, Honigvogel

lehnte sich gegen meine Brust und genoß diesen Ritt

vermutlich mehr als ich. Sie war überzeugt, daß all ihre

Fürsorge jetzt ihren gerechten Lohn bekommen würde.

Und ich wußte überhaupt nichts. Ich ahnte nicht

einmal, was mich erwartete.

Nach einem kurzen Ritt preschte der gesamte Zug

eine sandige Anhöhe hinauf, und der erste der Reiter

hielt an und hob den Arm.

»Hier ist das Blaue Tal! Hier ist das Reich Erthus!

Nähert euch ihm in Schweigen und Ehrfurcht!«

Er ritt weiter. Wir erreichten die Linie, die die

Dünen und das Tal dahinter trennte, und dann lag das

kleine Tal vor unseren Blicken. Ich stieß einen Ruf des

Erstaunens aus.

Es war wirklich blauer Sand. Das Tal war wie eine

tiefe Schüssel geformt, und diese Schüssel war

angefüllt mit Zutaten, die, zusammengefügt, ein

Paradies bildeten. Als wir einen kaum sichtbaren Pfad

in das Tal hinunter ritten, sah ich mich schweigend um.

»Es ist wunderschön! Es ist Erthus Paradies! Warte

nur ... wir werden unglaublich glücklich sein, Dragon!«

Honigvogel rieb ihren Kopf an meiner Brust. Ich

flüsterte zurück:

»Ich hoffe es, Meri-Meri!«

Die Sonne und die Schatten machten aus diesem Tal

aus blauem Sand ein Wunderwerk aus Farben und

Page 124: Ritter der Wüste

Formen. Ich sah Bäume und Sträucher, Pflanzen und

Gräser, wie ich sie noch nirgendwo auf dieser Welt

gesehen hatte. Die Blumen waren schöner und dufteten

betäubend; auch diesen Duft hatte ich noch nie

festgestellt. An den Zweigen hingen große, farbige

Früchte, die förmlich dazu einluden, sie abzureißen

und zu essen.

Über Steine und Felsen, die von leuchtendem und

schillerndem Moos bedeckt und verziert waren,

rieselten Quellen und sammelten sich zu schmalen

Bächen, die sich in bizarren Windungen durch das Tal

schlängelten. Breite Felsplatten mit blauem Sand

bedeckt, bildeten natürliche Brücken. Ich sah Teiche

und kleine Seen, deren Wasser im Boden zu versickern

schien. Die Bäume waren uralt und streckten ihre

ausladenden Äste mit den vielfarbigen Blättern über

die stillen, verträumten Wasser aus. Es war ein heiterer,

aber irgendwie verwunschen wirkender Ort, dessen

Durchmesser vielleicht dreihundert oder vierhundert

Mannslängen betrug. Und uns gegenüber, im Westen,

erhob eine Masse von phantastisch geformten, aber

nicht sehr hohen Felsen ihr Haupt. Auch die Felsen

unterlagen diesen phantastischen Farben. Ein

Schiedsrichter, der zufällig neben mir ritt, drehte sich

im Sattel und sagte halblaut, als wolle er die

Feierlichkeit des Ortes nicht entweihen:

»Für dich, einen Fremden, sage ich, daß dies eine

Page 125: Ritter der Wüste

von Erthu beherrschte wilde Zone ist. Daß Erthus

wahres Reich unter der Stadt in einem riesigen

Höhlensystem liegt, das wirst du schon wissen, nicht

wahr? Mehr darf ich dir nicht sagen.«

Wir näherten uns auf Umwegen, die der Spur einer

verrückten Schlange glichen, dem Mittelpunkt des

Talkessels.

Selbst die Tiere schienen sich zu bemühen, ihre Hufe

leicht und leise aufzusetzen. Die Merlaner schwiegen

und waren in heiligem Schauer befangen. Meri-Meri

zitterte leicht in meinen Armen.

7.

Bald darauf befanden wir uns in dem Mittelpunkt

dieser erstaunlichen Talsenke. Die Landschaft, die uns

umgab, wirkte einschläfernd, besänftigend. Die Tiere

standen unter den Bäumen, die Schiedsrichter und alle

die anderen Würdenträger, die mit uns gekommen

waren, bildeten kleine Gruppen und sprachen leise

miteinander. Zum erstenmal konnte ich die fünf

Männer deutlich sehen, die zusammen mit mir die

Page 126: Ritter der Wüste

Ausscheidungen durchgestanden hatten.

Sie standen, wie ich auch, mit ihren »Helferinnen«

am Rand einer kreisrunden Fläche, die nur aus Sand

bestand. Der weiche Belag aus Moos und Grashalmen

endete vollkommen abrupt vor unseren Füßen.

Aus einer der Gruppen löste sich der alte

Schiedsrichter, Herr Gelbes Sarth, der schon gestern

den Jahreskönig vertreten hatte. Er kam auf uns zwölf

Menschen zu und trug ein freudiges Lächeln in seinem

alten, klaren Gesicht.

»Betretet das Rund, ihr Auserwählten. Und auch ihr,

Helferinnen!«

Ich gehorchte verwirrt. Ich konnte hier keine einzige

Möglichkeit sehen, mit Erthu zu verkehren. Oder

würde er sich uns während des Schlafes zeigen in

dieser wilden Zone?

Jetzt bildeten wie eine Art Kreis inmitten der freien

Sandfläche.

Feierlich deutete der Schiedsrichter auf den ersten

Ritter, der den Zug angeführt hatte. Der Nächste war

ich.

»Tritt in die Mitte, mein Freund!«

Der weißhäutige Mann tat, wie ihm geheißen

wurde. Er und seine Helferin standen seitlich zu mir,

so daß ich sie beide sehen konnte. Die Stille um uns

herum vertiefte sich abermals. Nur noch das Gluckern

einer fernen Quelle war zu hören.

Page 127: Ritter der Wüste

Ein besonders feierlicher Augenblick schien sich zu

nähern. Ich wartete mit verkrampften Muskeln.

»Und nun, Helferin, tue dein Werk!« sagte der

Schiedsrichter.

Das Mädchen, jung und strahlend schön, mit einem

entrückten Gesichtsausdruck, griff zwischen ihren

Brüsten in ihr weißes Gewand. Sie ließ die Hand dort

und sagte laut und deutlich:

»Erthu gab dir das Leben. Ich nehme es dir, auf daß

du in Erthu eingehen und zu neuem Leben erwachen

mögest.«

Ihre Hand erschien wieder. Sie hielt in den

schlanken Fingern einen langen Dolch mit rundem

Griff, dessen Schneide dreikantig zugeschliffen und

nadelspitz war. Das Mädchen war, während sie

gesprochen hatte, mehrere Schritte rückwärts gegangen

und hielt die Waffe nun vor sich, in der klassischen

Haltung eines Dolchkämpfers. Dann stieß sie dem

Ritter den Dolch bis zum Heft an der Stelle in die Brust,

unter der sich das Herz befand.

Der Ritter hatte diese Hinrichtung mit ernstem

Gesicht erwartet und sich nicht einmal mit der

Bewegung einer Hand gewehrt. Er sank in den Knien

nach rückwärts, das Madchen ließ den Dolch los. Der

Mann fiel weich zu Boden und streckte sich aus, als

schlafe er ein. Das Mädchen verließ mit einigen

schnellen Schritten, noch immer lächelnd, den

Page 128: Ritter der Wüste

Mittelpunkt des Sandkreises.

Jetzt löste sich meine Starre.

Ich fuhr blitzschnell herum. Der Schiedsrichter, der

sich mir zugewandt hatte, lächelte noch einen

Augenblick, dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer

Grimasse des Nichtverstehenkönnens.

»Nein!« sagte ich laut und sah mich nach einem

Fluchtweg um. »Nicht mit mir. Dafür habe ich nicht

gekämpft!«

»Dragon! Schwarzer Falke! Bleibe ...!« schrie

Meri-Meri in äußerster Verzweiflung.

Ich dachte anders über ihren Vorschlag.

Der Schiedsrichter breitete beide Arme aus, als ich

an ihm vorbeirannte und eines der Kampf-Sarths ins

Auge faßte. »Halt!« donnerte er.

Ich hatte entsetzt mit angesehen, wie der Mann

lautlos und demütig gestorben war. Ich flüchtete, weil

ich sein Schicksal, unter welchen Voraussetzungen

auch immer, nicht zu teilen gewillt war. Ich mußte hier

fort! So schnell und so weit wie möglich. Ich konnte

mich dann irgendwie diesem Tal wieder nähern – aber

als Lebender, nicht als Toter.

Die anderen Schiedsrichter und die Begleiter

bildeten eine Kette, um mich abzufangen. Ich rannte

wie rasend auf die Männer zu und sprang den ersten

von ihnen mit einem Faustschlag an, benutzte dann

zweimal die Handkante und sprang über den

Page 129: Ritter der Wüste

zusammengebrochenen Körper hinweg.

Ich lief im Zickzack zwischen den anderen Männern

hindurch, die mich festzuhalten versuchten.

Dann erreichte ich das Sarth.

Es scheute, als es mich ankommen sah, aber ich

drehte mich herum, riß es am hängenden Zügel wieder

herunter und sprang mit einem gewaltigen Satz in den

Sattel. Von rechts und links näherten sich zwei junge

Schiedsrichter und griffen nach meinen Füßen.

Ich zwang das Reittier zu einem Satz, der geradeaus

wieder zu der Gruppe hinführte, die ich eben verlassen

hatte. Blätter und Zweige der hängenden Äste

schlugen in mein Gesicht. Den linken Fuß zog ich an,

trat zu und schleuderte den Mann mit einem Tritt vor

die Brust zu Boden. Dann, als ich das Tier in einer

scharfen Wendung herumgerissen hatte, schleifte ich

den anderen Mann mit, der sich am rechten Fuß und

am Steigbügel festklammerte.

Mit einigen Sprüngen und zitternden Sätzen

galoppierte das Sarth den Weg zurück, den wir

gekommen waren. Ich bückte mich aus dem Sattel,

ballte die Faust und schlug den Mann hinters Ohr.

Augenblicklich löste sich sein Griff, und er stürzte zu

Boden.

»Schneller!« schrie ich dem weißen Tier in die

aufgeregt spielenden Ohren. Ich sprang über Büsche,

ritt durch aufspritzendes Wasser und sah nur noch

Page 130: Ritter der Wüste

geradeaus den Abhang aus blauem Sand. Hinter mir

brach die Aufregung sich jetzt Bahn. Ein paar Männer

schwangen sich in die Sättel und machten sich daran,

mich zu verfolgen.

»Wohin?« sagte ich laut.

Ich wußte es nicht. Noch nicht. Ich ritt wie ein

Gehetzter den Hang aufwärts und setzte die Wirkung,

von Vestas Auge ein. Das Tier unter mir gehorchte

augenblicklich und rannte schneller, immer schneller.

Wie ein Geschoß preschten wir zwischen den letzten

Büschen hervor und den Hang aufwärts. Ich wurde

von der Sonne geblendet, als wir die Grenzlinie

zwischen Talkessel und Wüste erreicht hatten. Nun

nahm die Geschwindigkeit dieses starken, ausgeruhten

Reittiers abermals zu.

Wohin sollte ich fliehen?

Zurück in die Stadt, etwa in den Schutz des Palastes,

aus dem ich eben gekommen war? Sie würden mich

herauszerren und steinigen!

Zurück in die Wüste etwa?

Mit meiner Ausrüstung war ich binnen zweier Tage

ein Opfer der Hitze und der Sonne geworden. Ich

beschloß, einen riesigen Bogen zu schlagen und zu

versuchen, zunächst im Talkessel, in der wilden Zone,

Schutz zu suchen. Ich wandte mich wieder nach Osten.

Von dorther war ich nach Merlane gekommen.

Jetzt verließ ich die Stadt weitaus ärmer, als ich sie

Page 131: Ritter der Wüste

betreten hatte. Und als Todeskandidat.

Das Sarth preschte in einem schnellen,

gleichmäßigen Galopp dahin. Ich warf einen langen

Blick nach hinten. Dort tauchten eben die ersten sechs

oder sieben Verfolger auf. Ich beugte mich nach vorn,

hängte mich über den Hals des Tieres und feuerte es

durch Schreie an. Ein rasender Galopp begann.

Plötzlich stolperte das Tier. Es krümmte die

Vorderbeine einwärts, zog den Kopf nach unten und

überschlug sich.

Ich reagierte blitzschnell, riß meine Füße aus den

Steigbügeln, ließ die Zügel los, und flog wie ein

abgefeuerter Speer durch die Luft. Ich krümmte mich

ebenfalls zusammen, sah in rasendem Wirbel Himmel

und Sonne. Sand, dann wieder Himmel ...

Ich prallte mit dem Hinterkopf auf und verlor

augenblicklich das Bewußtsein.

Die Sonne stach in meine Augen, als ich sie blinzelnd

öffnete.

Im Hinterkopf und in den Schultern tobte ein

dumpfer, pochender Schmerz. Meine Lippen waren

rauh und trocken wie der Sand, auf dem ich lag. Ich

sah um mich herum, perspektivisch verzerrt, einen

dichten Ring weißgekleideter Menschen. Blitzartig

erinnerte ich mich, was geschehen war.

»Er ist wach!« sagte jemand hart. Ich hörte Haß und

Page 132: Ritter der Wüste

Wut in seiner Stimme. Vorsichtig versuchte ich, den

Kopf zu heben.

»Nehmt ihn hoch. Und dann erschlagt ihn wie ein

Schlachttier!« murmelte ein Mann hinter mir und

spuckte aus. Ich wurde an den Armen und Schultern

ergriffen und auf die Beine gezerrt. Vor meinen Augen

drehte sich die Landschaft, die Gesichter der Männer

wurden zu auseinanderfliegenden Bildern. Ich

versuchte einzuatmen. Langsam kam wieder Kraft in

meine Kniegelenke.

»Du ... Verräter!« stieß ein älterer Mann hervor und

ballte die Faust vor meinen Augen.

Ich versuchte etwas zu sagen, aber von allen Seiten

schrien jetzt die Männer auf mich ein. Einige von ihnen

hatten Dolche und bedrohten mich damit. Ich wehrte

mich verzweifelt gegen die Griffe von vier oder mehr

Männern, die meine Arme und meine Schultern

umklammert hatten, aber es war von Anfang an ein

aussichtsloser Kampf.

Plötzlich teilte sich der Kreis um mich herum, und

ich sah mich genau Herrn Gelbes Sarth gegenüber,

dem Schiedsrichter. Er deutete mit Fingern, die vor

Erregung zitterten, auf meine Brust. An der Hand hielt

er Honigvogel, die mich schweigend und entsetzt

anblickte.

»Du bist geflohen, Herr Schwarzer Falke!« stellte er

fest. Seine Stimme troff vor Wut über diese

Page 133: Ritter der Wüste

unglaubliche Schändung des Zeremoniells.

»Ich habe nicht fünf Tage lang gekämpft, um zu

sterben!« sagte ich bitter. »Ich habe oft genug gefragt,

aber niemand wagte es, mir eine richtige Antwort zu

geben.«

Er bedachte mich mit einem Blick, der mich hätte

einschüchtern sollen. Langsam lockerte sich der Griff

um meine Arme.

»Du hast alle Regeln anerkannt, als du zum ersten

Kampf angetreten bist. Das genügt!«

Er richtete seine Augen auf die zitternde Meri-Meri,

die mich mit einem hoffnungslosen Ausdruck

anstarrte. Für sie war eine Welt zerbrochen, als ich

mich umgedreht hatte und geflohen war.

»Du weißt, daß du völlig entehrt worden bist.

Unwürdig und entehrt!«

Sie schluchzte laut auf und warf einen halb

trotzigen, halb ängstlichen Blick auf den Schiedsrichter

und auf mich. Er richtete sie an den Schultern wieder

auf und näherte sein Gesicht ihren Augen.

»Du bist die Helferin dieses Frevlers gegen unsere

allerhöchste Ehre! Gestehe es!«

»Ja, Herr!« wimmerte sie.

»Laßt sie in Ruhe! Sie kann nichts dafür. Ich allein

war es ...«, begann ich, aber niemand beachtete mich.

»Ich richte die Frage an dich, Honigvogel! Willst du

hier mitten in der Wüste und fern des Pfades der

Page 134: Ritter der Wüste

Auserwählten jene Handlung vollziehen, welche dir

Erthu an der geweihten Stätte zu tun nicht erlaubte?«

Sie schwieg. Er fragte weiter:

»Wenn du dies tust, hier und vor uns als Zeugen,

kannst du als Entehrte und Unwürdige weiterhin in

unserer Mitte leben. Wenn du es nicht wagst, dann

wirst du das Schicksal erleiden, das diesem

Unglücklichen und Unwürdigen hier zugedacht ist. Du

kennst es!«

Meri-Meri besann sich, dann wand sie sich aus dem

Griff des alten Mannes und stampfte mehrmals mit

dem Fuß auf. Sie warf ihren Kopf zurück, sah mich

wild und unbeherrscht an und zuckte dann ihre

Schultern. Schließlich griff sie in ihr Gewand und

schrie auf:

»Ich will nicht als Unwürdige unter euch allen

leben! Ich hasse euch und diese Zeremonien! Es ist

wahr, was er gesagt hat! Niemand hat ihm eine

Antwort gegeben! Er wußte nicht, daß er zunächst

sterben muß, um zu leben!«

»Aber ...«, unterbrach Herr Gelbes Sarth.

Sie schrie weiter auf uns alle ein und zog dabei

diesen gefährlichen Dolch. Ich merkte, daß sich die

Männer im Augenblick nicht mehr um mich

kümmerten und spannte meine Muskeln an, um mich

mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen.

Einige Mannslängen entfernt lag das Sarth mit

Page 135: Ritter der Wüste

durchschnittener Kehle in einer trockenen braunen

Blutlache.

»Ich werde das Schicksal Dragon teilen! Er hat durch

mich das Leben in Erthu nicht haben wollen. Aber ich

werde zu ihm halten!«

Sie machte mit dem Arm eine ausholende Bewegung

und warf den Dolch weit von sich. Er überschlug sich

mehrmals im Sonnenlicht und prallte in den Sand.

Der Schiedsrichter nickte mehrmals. Er schien zu

überlegen, dann entschloß er sich.

»Ihr wollte es nicht anders. Es muß sein. Fesselt sie

beide!«

Inzwischen waren einige andere Männer

gekommen. Sie brachten Schnüre mit sich und

Lederriemen, die von dem Zaumzeug stammten. Und

sie packten uns beide, rissen Honigvogel und mir die

Arme auf den Rücken und verschnürten die

Handgelenke.

Dann warfen sie Schlingen um unsere Hälse und

befestigten sie an den Sätteln.

Die Ritter saßen auf, und der Zug bewegte sich in

einem langsamen Trab wieder auf den Talkessel zu.

Wir mußten laufen, um nicht zusammenzubrechen und

erdrosselt zu werden.

Aber anstatt wieder ins Tal hinunterzureiten, bogen

sie auf dem Kamm der Düne ab und trabten nach links.

Der Ritt führte auf die Felsen zu.

Page 136: Ritter der Wüste

Ich begann zu ahnen, was Meri-Meri und mir

bevorstand.

Wir waren vollständig allein.

Allein mit uns, mit unseren Gedanken und der

Hitze, die auf uns niederschlug, die Felsen zum Glühen

brachte und unsere Körper auszehrte. Die Ritter hatten

hier kurz vor Mittag haltgemacht, hatten uns auf die

Felsen gezerrt und mit einer Leidenschaft, die selbst

mich erstaunte, an die Spitze des obersten Felsens

gebunden. Wir standen in der hellen, erbarmungslosen

Sonne auf einem breiten Felsenband. Von ledernen

Riemen waren unsere Hände und Füße, die man

gewaltsam auseinandergespreizt hatte, an die Felsen

gebunden. Wir wurden vom Druck des Seiles an den

heißen Felsen gepreßt.

Schon seit über einer Stunde versuchte ich, einen

Arm zu befreien, indem ich das Handgelenk auf und

ab bewegte und das Seil gegen den Felsen scheuerte.

Die Haut meines Handrückens blutete leicht, der

Schweiß biß in der Wunde.

Neben mir flüsterte Honigvogel:

»Sie haben uns zuletzt noch verflucht, Dragon. Wir

werden hier oben sterben! O diese Schande!«

Ich gab mit rauher Kehle zurück:

»Die Schande, sie berührt mich nicht. Wichtiger ist,

daß wir freikommen.«

Page 137: Ritter der Wüste

Ununterbrochen schabte und glitt das Seil über den

Felsen. Es war bereits etwas aufgefasert, aber es konnte

noch sehr lange dauern, bis ich die rechte Hand frei

bekam. Vermutlich waren wir bis dahin verdurstet

oder wahnsinnig geworden.

»Wir werden sterben, Dragon – so wie es Gelbes

Sarth gesagt hat!«

Ich drehte den Kopf zu ihr herum und verbrannte

mir das Ohr an dem heißen Felsen.

»Schweig jetzt, bitte«, sagte ich. »Niemand muß

sterben. Es gibt noch eine Menge Wege aus der Falle.

Lasse mich nachdenken, Meri-Meri!«

»Ja, Dragon!«

Während ich automatisch weiter versuchte, das Seil

aufzuscheuern, gingen meine Gedanken zurück. Ich

sah noch den Staub, den die Hufe der Sarths

aufwirbelten. Eben hatte die Kavalkade die Talsenke

verlassen. Aber vorher hatte noch eine merkwürdige,

gespenstische und angsteinflößende Zeremonie

stattgefunden ...

Alle waren zurückgekommen. Noch immer standen

vier Paare regungslos im Mittelpunkt des Kessels. Wir

konnten von hier oben jede Einzelheit mit bestechender

Deutlichkeit sehen. Die trockene Luft trug den Schall

eines jeden geflüsterten Wortes an unsere Ohren.

Viermal hatte sich die Ermordung wiederholt.

Page 138: Ritter der Wüste

Vier Männer waren von den Helferinnen erdolcht

worden und waren willig gestorben. Schließlich lagen

alle fünf Erwählten Erthus im Sand.

Die Teilnehmer dieser makabren Handlung

bewegten sich plötzlich. Sie pflückten Blumen, holten

zahlreiche verschiedene Früchte aus den Bäumen,

brachten Wasser in ledernen Eimern herbei.

Andere vergruben die fünf Leichen im blauen Sand.

Die Gräber, nichts anderes als längliche, niedrige

Hügel, wurden mit den Blumen, Blüten und Früchten

geschmückt. Wasser wurde über alles gesprengt, und

dabei summten und sangen die Menschen dort unten

ein unverständliches Lied, das nach Grabgesang ganz

bestimmt nicht klang. Es war eher eine heitere

Hirtenweise.

Als sich der kleine Sandkreis in eine Grabstätte in

schreienden Farben verwandelt hatte, bestiegen sie alle

die Sarths und ritten hinweg. Als sie an uns

vorbeikamen, schrien sie Flüche und Verwünschungen

herauf, die an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen

übrigließen.

Und dann waren wir allein geblieben ...

Ich wußte inzwischen, daß ich einen Fehler gemacht

hatte. Mein Verhalten war in diesem Fall so falsch

gewesen, wie es gerade noch möglich gewesen war.

Aber was geschah wirklich? Was hatte dies alles zu

bedeuten? Ich konnte und wollte es nicht verstehen!

Page 139: Ritter der Wüste

Ich fragte leise:

»Was geschieht jetzt mit den fünf Geopferten,

Meri-Meri, mein durstiger Liebling?«

Ununterbrochen rieb ich an der Fessel, und ebenso

ununterbrochen rief ich nach meiner großen und

mächtigen Freundin Aerula-thane. Aber bisher war

noch keine Antwort erfolgt.

»Erthu hat sie zu sich genommen, Dragon!« war die

tonlose Antwort.

»Das konnten wir deutlich sehen. Und weiter?«

Sie blieb verstockt. Nicht einmal im Angesicht des

drohenden Todes enthüllte sie die Geheimnisse ihres

merkwürdigen Volkes.

»Erthu wird sie freigeben, wenn es an der Zeit ist!«

»Wann ist es an der Zeit?« fragte ich.

»Du wirst es erleben. Du wirst es selbst sehen!« Sie

machte eine Pause der Erschöpfung. »Wenn wir bis

dahin noch leben.«

»Das ist zu hoffen«, sagte ich und fuhr damit fort, an

meinen Fesseln zu zerren und zu reiben. Ich versuchte,

einen Blick auf das Handgelenk zu werfen. Das Seil

war stärker gefasert, aber es hielt noch immer.

Wahrscheinlich hatte es einen Kern aus Leder.

Schleppend verging die Zeit.

Das Gestirn, das uns mit seinen Strahlen

bombardierte, durch die geschlossenen Augen die

Helligkeit bis ins Gehirn hineintrieb, Kopfschmerzen,

Page 140: Ritter der Wüste

Durst und Visonen erzeugte, wanderte über den

Himmel und sank langsam dem Horizont entgegen.

Kein Laut war zu hören außer dem leisen Geräusch,

mit dem Handrücken und Fessel über den Stein

schabten.

»Aerula-thane! Meine Freundin, Wanderwolke! Ich

rufe dich! Ich bin in größter Not! Komm und hilf mir!

Komm schnell, oder ich muß sterben! Hörst du nicht

meine Gedanken!

Ihr Töchter der Wanderwolke! Helft mir, dem

Freund Aerula-thanes! Kommt und helft mir! Mitten in

der Wüste bin ich und verschmachte, wenn nicht bald

Hilfe kommt!«

Meine Gedanken schrien nach der Wanderwolke,

aber entweder war sie außer meiner Reichweite, oder

sie äste und kümmerte sich um nichts. Oder sie hatte

gerade eine Begegnung, die alle ihre Sinne erforderte.

Oder aber nur deswegen, weil meine Hände das

Amulett nicht erreichten, das den geistigen Schrei

verstärkte.

Im gleichen Maß, wie die Sonne dem Horizont

entgegensank, sanken auch meine beiden Hoffnungen

auf Hilfe.

Einerseits die Wanderwolke.

Und andererseits das Auge Vestas. Wenn ein Tier in

die Nähe kam, würde es mir helfen müssen. Aber weit

und breit war nicht einmal ein winziger Singvogel zu

Page 141: Ritter der Wüste

sehen.

Es wurde dunkel.

»Dragon!«

»Ja, Liebste?« röchelte ich mit trockener Kehle und

wandte den Kopf. Unten im Talkessel breitete sich

erster Nebel aus.

»Wir werden sterben, nicht wahr?«

»Es sieht nur so aus!« sagte ich. »Es stirbt sich

mitunter schnell, aber nicht in dieser Schnelligkeit.

Tröste dich. Wir sind frei, noch ehe die Sonne wieder

im Mittag steht!«

»Ich glaube dir nicht!«

Ich war auch nicht überzeugt, aber ich glaubte, daß

es Wege und Möglichkeiten geben würde. Nachts

kamen sicher Wüstentiere in dieses Tal zur Tränke.

Kamen sie, dann war alles einfach. Aber auch mich

drohte nun die Schwäche zu übermannen.

Ich fuhr fort, meine Fesseln zu bearbeiten.

Die Sonne versank. Die Nacht kam in diesen Breiten

schnell und ohne lange Dämmerung.

Mit der Nacht kam die Kälte. Ein dünner Wind, der

die Sandkörner vor sich hertrieb und singende

Geräusche erzeugte, wehte von Westen. Wieder schrie

ich innerlich nach der Wanderwolke.

Nichts ...

Auch kein Tier ließ sich blicken oder hören.

Schließlich, irgendwann in den ersten Nachtstunden

Page 142: Ritter der Wüste

konnten wir dem Schlaf nicht mehr widerstehen und

schliefen ein.

Ich erwachte, öffnete die Augen und erhielt den ersten

Schock dieses Tages. Der siebente Tag brach damit an,

daß ich zusehen mußte, wie sich der blaue Sand im

Mittelpunkt der Kreisfläche zu bewegen begann, als

wäre ein kleiner Vulkan unter dem Mittelpunkt der

Senke ausgebrochen.

Starr vor Schreck, mit eiskalter Haut und zitternden

Gliedern, ungläubig und doch von dem Ereignis

überwältigt, sah ich zu, wie sich eine Gestalt unter dem

Sand bewegte. Sie tauchte mit den langsamen

Bewegungen eines halb ertrunkenen Schwimmers auf –

und ich sah, als sich die Gestalt aus dem Sand

hervorschob, daß es einer der Erdolchten war.

Er richtete sich auf und ging langsam aus dem

Sandkreis hinaus. Dann bückte er sich, hob eine Frucht

auf und biß hinein. Ich hörte das schmatzende

Geräusch bis hier herauf. Meine Kehle war wie

zugeschnürt.

Dann begann sich der Sand erneut zu bewegen.

Der Himmel färbte sich rosa. Das Licht wurde

immer deutlicher. Ich erkannte vier Körper, die sich

selbst aus dem Sand ausgruben und auftauchten. Sie

begrüßten einander schweigend und mit langen

Händedrucken. Sie aßen ebenfalls von den Früchten,

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steckten sich einige der Blüten ins Haar und gingen

dann, ohne uns einen Blick zu schenken, in die

Richtung auf einen der kleineren Teiche zu. Das

Geräusch ihrer Schritte verhallte zwischen den

taufeuchten Gewächsen.

Es war eine Wiedergeburt! Ich verstand jetzt mehr,

aber ich konnte es nicht glauben. Neben mir begann

Meri-Meri zu schluchzen.

»Der erste dort, das ist der neue Jahreskönig! Du

hättest an seiner Stelle sein können, Dragon!«

Ich war noch immer damit beschäftigt, zu verstehen,

was ich gesehen hatte. Ich gab ärgerlich zur Antwort:

»In meinem Land bin ich ein großer König, Liebes.

Glaube mir, das ist auch eine Ehre, die von vielen

überschätzt wird!«

Sie verstand mich nicht, sondern starrte immer nur

die Stelle an, an der ihr Traum im Sand versunken war.

Als die Sonne aufging und die Wärme binnen

kurzer Zeit unsere klammen Glieder ergriff, tauchten

die Männer wieder auf. Sie hatten in dem Teich

gebadet, hatten die Früchte gegessen und formierten

sich nun zu einem Zug. An ihrer Spitze ging

hocherhobenen Hauptes der neue Jahreskönig.

Sie gingen hinaus auf den Pfad, der aus dem Tal zur

Stadt führte. Die fünf Männer bewegten sich mit

eigentümlich beschwingten, stelzenden Schritten. Und

sie verhielten sich, als würden sie nicht wissen, daß

Page 144: Ritter der Wüste

zwei Personen, an die Felsen gefesselt, sie mit

brennenden Blicken verfolgten.

Ein Schatten fiel auf mein Gesicht. Ich riß den Kopf

hoch und sah einen Vogel schräg über uns, zwischen

uns und der Sonne.

Im selben Augenblick kreischte Meri-Meri auf:

»Die Rhaags! Die Totenvögel! Sie kommen und

fressen uns! Sie werden mir die Augen aushacken!«

Ich zerrte wütend an meinen Fesseln. Einen

Augenblick lang hatte mich die Panik in ihrem

erbarmungslosen Griff. Ich vermochte nicht mehr klar

zu denken. Es waren mindestens fünfzig Vögel, die

jetzt, beim ersten Sonnenlicht, wie durch Zauberei

aufgetaucht waren. Sie zogen verschieden große Kreise

in unterschiedlichen Höhen. Wieder näherte sich einer

der Rhaags. Er war so groß wie ein Geier, wie Cnossos

in seiner gefürchteten Gestalt.

Der Flug der riesigen, pechschwarzen Vögel war

langsam und majestätisch. Am Boden waren sie

unbeholfen, aber in der Luft wahre Künstler. Wieder

strich ein Schatten vorbei, dann näherte sich der erste

Rhaag. Ich hörte, wie die Luft zischend und knatternd

durch seine Federn strich. Das Tier sah mich mit roten

Augen an, stieß einen krächzenden Laut aus und

schwang sich dicht über meinem Kopf wieder in die

Höhe. Dann griffen die Aasvögel an.

Vier Stück schwebten aus verschiedenen Richtungen

Page 145: Ritter der Wüste

auf uns zu. Noch eben waren sie klein und sichelförmig

gewesen, und jetzt wuchsen sie ins Riesengroße. Ihre

hakenförmigen Schnäbel zielten auf meine Augen. Die

Fänge am Ende mächtiger Federbüschel waren gierig

vorgestreckt.

Zehn Mannslängen, fünf Mannslängen, ich konnte

Page 146: Ritter der Wüste

den stechenden Geruch nach Vogelkot und faulendem

Fleisch deutlich riechen. Entsetzen packte mich ebenso

wie Meri-Meri. Sie schrie gellend auf, aber die Vögel

kamen näher und näher, drohend und schwarz. Dann

riß der Schrei des Mädchens ab, und ich wartete mit

geschlossenen Augen, das Rauschen der gewaltigen

Schwingen im Ohr, auf die erste tödliche Wunde. Das

Juwel in meiner Stirn, von den Sonnenstrahlen

getroffen, leuchtete sprühend auf.

ENDE

Dragon kämpfte zum Ruhme Erthus, des Erdgeists,

und siegte. Doch als er siegte, war er nicht gewillt, den

Tod – das Los des Siegers – zu akzeptieren.

Deshalb gilt Dragon, der Fremde aus der anderen

Welt, jetzt als verabscheuungswürdiger Verfemter. Die

Merlaner jagen ihn, als sie seiner ansichtig werden, bis

in DIE HÖHLEN DES ERDGEISTS ...

DIE HÖHLEN DES ERDGEISTS so lautet auch der

Titel des nächsten Dragon-Bandes, der ebenfalls von

Hans Kneifel geschrieben wurde.

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