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Risikokompetenz - Beurteilung von Risiken...6.4 Implementierung der Risikoanalyse im...

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Risikokompetenz Beurteilung von Risiken Sebastian Festag & Uli Barth 7 SCHRIFTEN DER SCHUTZKOMMISSION
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RisikokompetenzBeurteilung von RisikenSebastian Festag & Uli Barth

7

S C H R I F T E N D E R S C H U T Z K O M M I S S I O N

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RisikokompetenzBeurteilung von Risiken

Eine Veranstaltung der Schutzkommission

beim Bundesministerium des Innern und der

Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e.V.

29.– 30. April 2014, Bundesministerium des Innern

In Zusammenarbeit mit der IVSS-Sektion

Maschinen- und Systemsicherheit.

SCHRIFTEN DER

SCHUTZKOMMISSION

BAND 7

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RisikokompetenzBeurteilung von RisikenSebastian Festag & Uli Barth

7

SCHRIFTEN DER SCHUTZKOMMISSION

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Danksagung

Wir bedanken uns bei der Geschäftsstelle der Schutzkommission beim Bundes-ministerium des Innern für die organisatorische Unterstützung bei der Ausrich-tung der Veranstaltung sowie der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e.V. für die fachliche Unterstützung.

Ebenso bedanken wir uns herzlich bei allen Referenten und Moderatoren für die inhaltlichen Beiträge sowie bei Frau Anna Magdalena Barth für das ehren-amtlich geleistete Korrektorat.

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Herausgeber:Bundesamt für Bevölkerungsschutz und KatastrophenhilfePostfach 18 67, 53008 BonnTel.: 0228 . 99 550-0, Fax: 0228 . 99550-1620, www.bbk.bund.de

Verantwortlich für den Inhalt:Dr. Sebastian Festag, Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e.V., c/o Hekatron Brühlmatten 9, 79295 SulzburgundProf. Dr. Uli Barth, Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern, c/o Bergische Universität Wuppertal, Fachbereich D – Abteilung Sicherheits- technik, Lehrstuhl Methoden der Sicherheitstechnik/Unfallforschung, Gaußstr. 20, 42119 Wuppertal

© 2015 Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe

ISBN-10: 3-939347-64-7ISBN-13: 978-3-939347-64-4

Der vorliegende Band stellt die Meinung der jeweiligen Autoren dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung der Verantwortlichen bzw. des Herausgebers. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist nur in den Grenzen des geltenden Urheberrechts-gesetzes erlaubt. Zitate sind bei vollständigem Quellenverweis erwünscht. Dieses Werk darf ausschließlich kostenlos abgegeben werden. Weitere Exemplare dieses Buches oder anderer Publikationen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe können Sie gern beim Herausgeber kostenfrei anfordern.

Gestaltung, Layout und Satz:Bernd Kreuder | Online- und PrintmedienproduktionKöslinstr. 40, 53123 Bonnwww.kreuder.eu

Druck:strohmeyer dialog druck GmbHHundsrückstraße 6, 37287 Wehretal-Langenhainwww.s-dd.de

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Inhalt

Danksagung 5

Vorwort 19

1 Eröffnung (Norbert Winker) 25

2 Impulse zum Risiko (Rolf-Dieter Wilken) 29

2.1 Die schwierige Definition von Risiko 32

2.2 Das Verständnis von Risiko 33

2.3 Risiko als Prozess 35

2.4 Ausblick 37

3 Einführung in das Programm (Uli Barth) 39

3.1 Schutzkommission 43 3.1.1 Gründung und Intention 43 3.1.2 Bedrohung und Aufgaben 43 3.1.3 Epochaler Wandel vom Zivil- zum Bevölkerungsschutz 44 3.1.4 Politikberatung und Forschungsplanung 45 3.1.5 Ehrenamt als Basis 47

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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3.2 „Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken“ 48

4 Die Bedeutung der Risikokompetenz für die Beurteilung von Sicherheitssituationen (Sebastian Festag) 51

4.1 Einleitung 53

4.2 Erste Schritte der Sicherheitswissenschaft 54

4.3 Risikobeurteilung und -kompetenz 58 4.3.1 Der Fehlschluss einer umfassenden Risikokontrolle 59 4.3.2 Das Problem bei der Beurteilung schwerwiegender

und seltener Risiken 60 4.3.3 Förderung von Kompetenzen 64

5 Aktuelle Situation (Siegfried Radandt) 73

6 Ansätze zur Risikobeurteilung in Deutschland – internationale und europäische Anforderungen (Willi Marzi) 85

6.1 Einleitung 87

6.2 Entwicklungen in Deutschland im Zeitraum 2002 – 2010 89

6.3 Methode für die Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 91

6.4 Implementierung der Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 98

6.5 Risikoanalyse Wintersturm 101

6.6 Internationale Aktivitäten 103

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Inhalt

6.7 Fazit 105

7 Sicherheitswissenschaft: Risikokompetenz ohne Informationstechnik? (Ralf Mock) 107

7.1 Einleitung 110

7.2 Systeme und Analysen 111 7.2.1 Anlagentechnisch 111 7.2.2 IT-infrastrukturell 112

7.3 Wandel 114 7.3.1 Industrie 4.0 114 7.3.2 Systemgrenzen 117

7.4 Stand der Sicherheitswissenschaft 119 7.4.1 Neue Aufgaben 119 7.4.2 Die Musik spielt woanders … 121 7.4.3 Lösungsansätze 123

7.5 Versuch eines Fazits 126

8 Überblick über Ansätze zur Risikobeurteilung – qualitative und quantitative Verfahren (Heinz-Willi Brenig) 133

8.1 Einleitung 136

8.2 Begriffe und Definitionen 138 8.2.1 Risikomanagement 138 8.2.2 Risiko 139 8.2.3 Sicherheit, Gefahr, Restrisiko 140 8.2.4 Risikoanalyse 141

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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8.3 Historische Entwicklung/Anwendungsbeispiele 144 8.3.1 Historische Entwicklung 144 8.3.2 Anwendungsbeispiele 145

8.4 Risikobewertung 153

8.5 Definition von Schutzzielen und Schwellenwerten 156

8.6 Fazit und Ausblick 159

9 Eine allgemeine Aussage (Wolfgang Stoll) 165

10 Digitale Medien: Risiken und Nebenwirkungen für die Gesellschaft (Manfred Spitzer) 173

10.1 Digital genial? – Mediennutzung in der Kindheit 177

10.2 Computer und Gehirne 179

10.3 Gehirnentwicklung 183

10.4 „Paradoxe Festplatte“ und kognitive Reserve 187

10.5 Daten zu Risiken und Nebenwirkungen 189

10.6 Drei Beispiele: Baby-TV, Lesen in der Grundschule und Suchmaschinen für Referate 192

10.7 Was ist zu tun? 196

11 Risikobewertung im Eisenbahnwesen (Matthias Heidl) 203

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Inhalt

11.1 Entwicklung der Betrachtung von Risiken und der Sicherheit im Eisenbahnwesen 205

11.2 Die Anforderungen der EU-Sicherheitsrichtlinie 207

11.3 Die gemeinsame Sicherheitsmethode zur Risikobewertung 210

11.4 Die Prinzipien der Risikoakzeptanz nach CSM-RA 216

11.5 Beispiele für Risikoanalysen im Eisenbahnbereich und Erfahrungen 224

12 Lösungsansätze (Hans-Jürgen Bischoff) 231

13 Menschliches Verhalten und Risikokompetenz (Sebastian Festag) 241

13.1 Einführung 243

13.2 Die Schließung eines Industriebetriebes 244

13.3 Die Stilllegung einer Produktionsanlage 247

13.4 Zusammenfassung und Fazit 249

14 Methodische Herausforderungen bei der Risikobeurteilung und deren Konsequenzen am Beispiel der Feuerwehrbedarfsplanung (Adrian Ridder) 253

14.1 Einführung 255

14.2 Begriffsmodell 256

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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14.3 Der risikobasierte Ansatz: Hintergründe und Stand der Technik 258

14.4 Relevante Risiken 260

14.5 Beurteilung der Anwendbarkeit der Risikoanalyse zur Bedarfsplanung 264

14.5.1 Grenzen der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Risikoansatzes 264

14.5.2 Einschränkungen der Anwendbarkeit der Risikoanalyse für die Bedarfsplanung 266

14.6 Risikoakzeptanz 269 14.6.1 Definition von Überlastungsrisiko-Akzeptanzkriterien 270 14.6.2 Risikoakzeptanzkriterien als Qualitätsindikatoren 272

14.7 Fazit 273

15 Ansätze zur Vermittlung von Risikokompetenz (Juraj Sinay) 279

15.1 Risiken und ihre Rolle im System Mensch – Technik – Gesellschaft 281

15.2 Kompetenz und Qualifikationen 284 15.2.1 Kompetenzen im Rahmen des Risikomanagements 284 15.2.2 Aufgaben- und Kompetenzstellung 287

15.3 Ausbildung als Bestandteil des Erwerbens von Kompetenzen 288

15.4 Schlussfolgerung 293

Fazit 295

Nachwort 301

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Bildverzeichnis

2.1 Risikoanalysen Bevölkerungsschutz Bund 34

3.1 Wirkmodell zum heutigen Beratungsauftrag der Schutzkommission 42

3.2 Prozessmodell zum heutigen Beratungsauftrag der Schutzkommission 46

4.1 Risikobeurteilung: allgemeines Vorgehen 55

4.2 Struktur der Sicherheitswissenschaft 56

4.3 Beurteilung der Sicherheitssituation – Begriffliches 58

4.4 Risikospektrum 61

4.5 Kompetenz – Begriffsabgrenzung 65

4.6 Adressaten zur Förderung von Kompetenzen 66

4.7 Risikokompetenz – Vermittlungsansätze 67

5.1 Risiken für Systeme, Subsysteme und Elemente in Systemen 76

5.2 Wirkungszusammenhänge von Ereignisursachen 77

5.3 Vorgehen nach Standardmethode 81

5.4 Vorgehen I (wenn die Standardmethode nicht gewährleistet ist) 82

5.5 Vorgehen II (wenn die Standardmethode nicht gewährleistet ist) 83

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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6.1 Risikomanagement 92

6.2 Risikomatrix 97

6.3 Lenkungsausschuss „Risikoanalyse BevS Bund“ 99

6.4 Schadensparameter für das Schadensausmaß 102

7.1 IT Risk Assessment 113

7.2 Bedrohungsschichten einer Internet-Attacke gegen Industrieanlagen 119

7.3 Elemente des Klassendiagramms 124

8.1 Risikoansatz zur Beurteilung technischer Risiken 140

8.2 Grenzwerte für das Kollektivrisiko 148

8.3 Probabilistisches Sicherheitskonzept 150

8.4 Klassifizierung von Risiken 154

8.5 Bewertung technischer Risiken in Kanada 155

8.6 Schutzziele und ihre Einflussfaktoren 157

10.1 Schematische Darstellung der Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit des Gehirns und einiger Faktoren 180

10.2 Bildungsrendite in Abhängigkeit vom Lebensalter 181

10.3 Darstellung der Myelinisierung von Faserverbindungen 185

10.4 Schema zur Gehirnentwicklung 186

10.5 Auswirkung des täglichen Vorlesens oder Konsums von speziell für Babys produzierten Programmen 193

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Bildverzeichnis

11.1 Ziele und Inhalte der EU-Sicherheitsrichtlinie 208

11.2 Bezug der Risikobewertung zur Sicherheitsrichtlinie 209

11.3 Evaluierung und Bewertung von Risiken 210

11.4 Bestimmung der Signifikanz nach CSM-RA 212

11.5 Überblick über das Risikomanagement nach CSM-RA 213

11.6 Risikoakzeptanzkriterium anerkannte Regeln der Technik 217

11.7 Kriterium: explizite Risikoabschätzung 218

11.8 Vorgehen bei Risikoabschätzung: Gefährdungsanalyse 219

11.9 Vorgehen bei Risikoabschätzung: Folgenanalyse 221

11.10 Vorgehen bei Risikoabschätzung: Risikoakzeptanzkriterien 222

11.11 Risikoakzeptanzkriterien nach EN 50126 223

11.12 Beispiel I für Risikoakzeptanz bei Risikoabschätzung 225

11.13 Beispiel II für Risikoakzeptanz bei Risikoabschätzung 226

11.14 Risikoanalyse – Wirbelstrombremse (WB) 227

11.15 Bewertung der Fehlerwahrscheinlichkeit des Menschen 229

13.1 Fallanalyse A: Betriebsschließung – Chronologie 245

13.2 Fallanalyse A: Betriebsschließung – Ergebnisse 246

13.3 Fallanalyse B: Anlagenstilllegung – Ergebnisse I 248

13.4 Fallanalyse B: Anlagenstilllegung – Ergebnisse II 248

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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13.5 Kontraproduktiver Mechanismus 250

14.1 Risikomanagement-Prozess 259

14.2 Zur Unterscheidung von Überlastung und Überforderung 263

14.3 Vorgehaltene Bewältigungskapazität über Szenarien 267

15.1 Kompetenzbestandteile für das Gebiet Safety und Security 285

15.2 Kommunikationen zwischen den Akteuren 286

15.3 Modell der Kompetenzvermittlung durch einen Fachmann 289

15.4 Modell des spezialisierten Studiums 290

15.5 Modell der lebenslangen Bildung 291

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Tabellenverzeichnis

6.1 Eintrittswahrscheinlichkeits-Klassen 94

6.2 Schadensparameter 95

6.3 Schadensparameter: Verletzte, Erkrankte 95

6.4 Schadensparameter: Auswirkungen 96

7.1 Übliche Methoden des IT Risk Assessment 113

8.1 Methoden und Beispiele 141

8.2 Auszug: Risikostudien 144

14.1 Parameter für Risikoakzeptanzkriterien 271

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Vorwort

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Auf Initiative des Physikers Werner Heisenberg wurde die Schutzkommissi-on ursprünglich von der Vorläuferorganisation der heutigen Deutschen For-schungsgemeinschaft (DFG) im Jahr 1951 gegründet. Die Gründung der Gesell-schaft für Sicherheitswissenschaft (GfS e.V.) als Verein in Wuppertal im Jahre 1978 ist dem Engagement von Peter Constantin Compes zu verdanken, der da-mit für die Sicherheitswissenschaft und deren, zum Teil in verschiedenen Ge-bieten beheimateten Protagonisten, eine Austauschplattform bieten wollte. In den vergangenen drei Jahrzehnten führte die GfS zahlreiche Symposien durch, bei denen sicherheitswissenschaftliche Themen konstruktiv, teils auch kont-rovers diskutiert wurden. Gleichwohl setzte sich die GfS mit ihren Symposien, aber auch mit ihren Fachpublikationen stets dafür ein, solche inhaltlichen Ak-zente zu setzen, mit denen die Sicherheitswissenschaft gestärkt werden sollte.

Eine Schnittmenge der Aufgabenbereiche beider Institutionen ist der Bevölke-rungsschutz. Unter Bevölkerungsschutz werden alle Aufgaben und Maßnah-men eingeordnet, die sowohl auf einen angemessenen Zivilschutz als auch auf eine effektive Katastrophenhilfe abzielen. Im Kontext des Bevölkerungsschutzes erlangen die speziellen Aufgaben der Identifikation von Gefahren und Risiken, deren Bewertung sowie die Empfehlung effektiver und realisierbarer Sicher-heits- und Schutzmaßnahmen vorrangige Bedeutung. Diese Aufgaben werden oft auch unter dem Begriff „Risikobeurteilung“ subsummiert. Die Aufgaben der Schutzkommission leiten sich aus dem Auftrag des „Zivilschutz- und Ka-tastrophenhilfegesetzes“ ab, insbesondere dem Beratungsauftrag gegenüber der Bundesregierung. Die Aufgaben der GfS zielen satzungsgemäß auf die Fort-schreibung der Sicherheitswissenschaft ab. In diesem Zusammenhang war und ist beiden Institutionen die sicherheitsgerichtete Forschung wichtig. Eine wei-tere Besonderheit, die gleichfalls den Mitgliedern beider Institutionen gemein-sam ist, ist das persönliche Ehrenamt, in dessen Rahmen sie ihre Ziele verfol-gen und ihre Aufgaben wahrnehmen. Auch das vorliegende Buch sowie der ihm zugrunde liegende Workshop „Risikokompetenz“ ist das Resultat einer ehren-amtlichen Initiative von Mitgliedern, die dank der kooperativen Hebelwirkung

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beider Organisationen in die Realität umgesetzt werden konnte. Im Workshop vereinten die beiden Institutionen schlussendlich eine 99-jährige sicherheit-lichswissenschaftliche Historie zu dem Zweck eines synergetischen Impulses für die individuelle Verbesserung der Risikokompetenz und des Bevölkerungs-schutzes in Deutschland.

Oftmals findet sich im Programmtitel von Veranstaltungen die allgemeine und aktuelle Problemstellung zu dem Leitthema, das behandelt werden soll, wieder. Mit dem vorliegenden Titel sind wir einen anderen Weg gegangen. Wir stellen eine Voraussetzung für einen allgemeinen Lösungsansatz zur Bewältigung der aktuellen Problemsituation – bei der Beurteilung von Risiken – voran. Damit sollen aber die Ergebnisse der Beiträge und möglichen Analogien nicht vorweg genommen sein.

In der ersten Sektion des Programms wird auf die allgemeine und aktuelle Situ-ation zum Themenkomplex der Risikobeurteilung in Deutschland eingegangen. Dadurch soll ein Überblick über das Thema der Risikobeurteilung gegeben wer-den. Die nationale Situation ist nicht auf ihre Landesgrenzen beschränkt. Sie wird durch internationale und europäische Anforderungen und Aktivitäten be-einflusst, was im ersten Beitrag dieser Sektion erläutert wird. Im darauf folgen-den Beitrag wird am Beispiel der Informationstechnologie – einer vergleichs-weise neuen und trotzdem weitverbreiteten Technologie – erläutert, dass die technische Entwicklung sowie der Umgang mit dieser Technologie und deren Gefahren im Verbund erfolgen müssen. Der letzte Beitrag in dieser Sektion gibt einen Überblick über die etablierten Ansätze und Verfahren zur Risikobeurtei-lung. Dabei wird von den qualitativen zu den quantitativen Vorgehensweisen übergeleitet.

In der zweiten Sektion werden anhand von Beispielen Besonderheiten bei der Risikobeurteilung diskutiert. Im ersten Beitrag dieser Sektion werden die Ge-fahren für die Bevölkerung durch digitale Medien angesprochen. Sowohl in der Gesellschaft, als auch im Bevölkerungsschutz werden zunehmend solche Medi-en eingesetzt. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten, aber auch Gefahren. Im anschließenden Beitrag wird das Vorgehen zur Beurteilung von Risiken anhand einer bewährten Technologie, dem Eisenbahnwesen, erläutert. Der Eisenbahn-verkehr ist im Kontext der Mobilität von Personen und von Gütern eine wichtige Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland. Gefahren im Zusammenhang mit dieser Infrastruktur betreffen einen großen Anteil der deutschen Bevölke-

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Vorwort

rung. Während digitale Medien einen verhältnismäßig neuen Gefahrenbereich darstellen, soll der Einblick in das Eisenbahnwesen zeigen, wie die Auseinan-dersetzung mit Gefahren und Risiken in einem tradierten Bereich betrieben wird. Es wird interessant sein, die Vorgehensweisen, Befunde und Diagnosen beider Bereiche in der Diskussion einander gegenüberzustellen.

Die dritte und letzte Sektion behandelt Ansätze, um die gestreifte Problem-stellung bei der Risikobeurteilung zu lösen. Der erste Vortrag in dieser dritten Sektion behandelt das Thema des menschlichen Verhaltens. Für die Gewähr-leistung von Sicherheit, aber auch für die Entstehung von Sicherheitsmängeln, ist das menschliche Verhalten von großer Bedeutung. In diesem Kontext wer-den Fallanalysen vorgestellt, die auf qualitativen und quantitativen Vorgehens-weisen beruhen. Im Anschluss daran wird die aktuelle Diskussion zu methodi-schen Herausforderungen bei der Risikobeurteilung und deren Konsequenzen am Beispiel der Feuerwehrbedarfsplanung vorgestellt, wobei Schwierigkeiten und Lösungsansätze diskutiert werden. Der letzte Fachbeitrag der Sektion, aber auch der Veranstaltung, erläutert Ansätze zur fachübergreifenden Vermittlung von Kompetenzen im Umgang mit Gefahren und Risiken.

Das Programm des Workshops endete mit einer Plenardiskussion.

Über die Summe aller hier vorliegenden Fachbeiträge wollen wir einen Lö-sungsweg skizzieren, um den Schutz der Bevölkerung weiter nachhaltig zu ver-bessern.

April 2014 Prof. Dr. Uli Barth Prof. Dr. Heinz-Willy Brenig Dr. Sebastian Festag Dr. Willi Marzi Dr. Horst Miska Prof. Dr. Peer Rechenbach

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Eröffnung

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Prof. Dr. Norbert Winker, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft (GfS), Österreich

Der Begriff Risiko ist die Schnittstelle zwischen Technik und Recht. Während im Alltag Risiko ein Wagnis ist, sprechen wir in der Wissenschaft vom Produkt aus Auswirkung und Häufigkeit von Schadensereignissen. Wir wissen von der Existenz des Restrisikos, aber manchmal ist das größte Risiko der vermeintli-che Glaube an die Sicherheit der Technik. Denken wir an die Katastrophe von Kaprun; die Seilbahn als solches war nicht riskant, aber in einem bestimmten Kontext, nämlich in einem sehr engen Tunnel mit entsprechender Länge ohne Beleuchtung, wurde die Situation komplexer. Sicherheit, Risiko und Angst als entgegengesetzte Pole wirken oft sehr widersprüchlich auf Menschen; z. B. ist der Risikobegriff in Fachkreisen ein Instrument der Analyse, in der Bevölkerung bewirkt er im Allgemeinen ein Gefühl der Angst. Wir wissen, das Unfallrisiko ist dann am größten, wenn wir uns am sichersten fühlen; auf den Arbeitsplatz bezogen:

• Kennen wir die Gefährdungsmöglichkeiten.• Wissen wir alles über die damit verbundenen Risiken.• Können wir alles kontrollieren.

Während für seltene Ereignisse das Risiko überschätzt wird, ist es für häufige unterschätzt (Daten nach H. P. Musahl, 2005):

• Geschätzte Unfallgefahr bei beruflichen Tätigkeiten: 15 % unterschätzt, 70 % zutreffend geschätzt und 15 % überschätzt.

• Anzahl der Unfälle bei den eingeschätzten Tätigkeiten: 40 % unterschätzt, 50 % zutreffend geschätzt und 10 % überschätzt.

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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Vor diesem Hintergrund ist es daher notwendig, um Arbeitssicherheit und Ge-sundheitsschutz in den Betrieben zu realisieren, die Prinzipien des Risikoma-nagements als Bestandteil eines erfolgreichen Unternehmens einzuführen und konsequent anzuwenden. Das heißt, das Evaluieren von Unfallrisiken ist nicht nur eine wichtige, sondern auch notwendige Aufgabe für die Prävention. Erst mit der Kenntnis der Größe der Risiken, der Eintrittswahrscheinlichkeit und der Ausmaße der Folgen können gezielt die notwendigen Gegenmaßnahmen getroffen werden.

Die GfS versucht, an dem Instrumentarium der Sicherheitswissenschaft wei-terzuarbeiten, wobei einerseits Wert darauf gelegt wird, die Theorie als Hilfe für die Anwendung in der Praxis und andererseits auch zur Weiterarbeit von und mit Dritten anzuregen, um den gewünschten Erfolg für die Prävention zu erzielen.

Die GfS wünscht sich daher, mit dieser Veranstaltung einen effektiven Beitrag zur Weiterentwicklung der Sicherheitswissenschaft für den Praktiker zu leisten.

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Impulse zum Risiko

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Prof. Dr. Rolf-Dieter Wilken, Vorsitzender der Schutzkommission (SK), Deutschland

Die Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern gibt es schon seit über 60 Jahren. Es vereinigt interdisziplinär berufene Fachleute aus den Berei-chen Naturwissenschaften, Technik, Medizin und Gesellschaftswissenschaften sowie erfahrene Fachleute aus dem praktischen Zivil- und Katastrophenschutz. Das Thema „Risiko“ ist deshalb ein Thema, das nicht nur im Wirtschaftsbe-reich als wichtig erkannt ist, sondern auch im Bevölkerungsschutz seinen Platz findet. Gerade bei der Abschätzung von Risiken und deren Verminderung und Vermeidung im Bevölkerungs- und im Katastrophenschutz muss die Risikofor-schung nach unserer Meinung mehr Bedeutung gewinnen.

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2.1 Die schwierige Definition von Risiko

Der Begriff Risiko (griechisch für Klippe, Gefahr) wird in verschiedenen wissen-schaftlichen Disziplinen unterschiedlich definiert. Die verbreitete Definition lautet: Das Risiko wird als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit eines Er-eignisses und dessen Konsequenz, bezogen auf die Abweichung von gesteckten Zielen, angesehen und ist in der Einheit der Zielgröße zu bewerten.

Das Risikokonzept des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Glo-bale Umweltveränderungen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, 1999, XXIV) sieht ein gesellschaftliches Risiko. Zusammenfassend unterschei-det der Beirat in seinem Risikokonzept fünf Elemente:

1. Ein ideales Verständnis von Risiko, das den objektiven Grad der Gefährdung widerspiegelt.

2. Eine naturwissenschaftlich-technische Risikoabschätzung, die auf der Basis von Beobachtung und Modellbildung eine möglichst genaue Kenntnis der relativen Häufigkeiten von Schadensereignissen, gemittelt über Zeit und Re-gion, anstrebt.

3. Eine allgemeine Risikowahrnehmung, die auf einer intuitiven Risikoerfas-sung und deren individueller oder gesellschaftlicher Bewertung beruht.

4. Eine intersubjektive Risikobewertung, die auf einem oder mehreren Verfah-ren der rationalen Urteilsfindung über ein Risiko in Bezug auf dessen Akzep-tabilität bzw. Zumutbarkeit für die Gesellschaft als Ganzes oder bestimmter Gruppen und Individuen beruht.

5. Ein ausgewogenes Risikomanagement, das die geeigneten und angemesse-nen Maßnahmen und Instrumente zur Reduzierung, Steuerung und Regu-lierung von Risiken je nach Risikotyp zusammenfasst.

Und noch einmal „Risiko“: Was weiß denn schon die Bevölkerung davon? Risi-ko ist offensichtlich schwer zu vermitteln, denn die Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen kann mit Wahrscheinlichkeiten – und eben auch Risiken – nicht umgehen! Auch dieses Thema muss angegangen werden!

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2.2 Das Verständnis von Risiko

Die Wahrscheinlichkeit eines GAUs in einem Kernkraftwerk in Europa ist emotional hoch eingeschätzt, aber naturwissenschaftlich gesehen niedrig und berechenbar, aber dieses Risiko wird heute nicht mehrheitlich akzeptiert.

Das Restrisiko bei dem Tsunami in Japan 2011 war niedrig, aber die Folgen waren immens, als in einer Kaskade von Ereignissen nicht nur die japanischen Tsuna-mi-Schutzmauern, sondern auch die küstennahen Kernkraftwerke erhebliche Schäden erlitten.

Hier wird über das „Restrisiko“ eines „seltenen Naturereignisses/Naturkatast-rophe“ gesprochen. Das ist nicht nur für Experten schon sehr kompliziert.

Die Einheit des Schadensausmaßes hängt vom jeweiligen Sachgebiet ab. Es können Werte sein, die sich in Geldgrößen ausdrücken lassen, es kann sich aber auch um:

• befürchtete Tote,• potenziell schwer Betroffene oder den• Totalverlust eines Flugzeuges oder einer Fabrik handeln.

Selbstverständlich lässt sich nicht jedes Schadensausmaß in Geld ausdrücken, letztlich ist, mangels einheitlicher Definition für „Schaden“, die Bewertung oft subjektiv.

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Im Bereich des Katastrophenschutzes, genauer des Feuerwehrwesens, ist die Brandschutzbedarfsplanung mit den Themen Schutzziel und Hilfsfrist rele-vant. Dabei werden neben den obigen Faktoren die

• Maßnahmen zur Risikobewältigung (Mannschaftsstärke, Ausrüstung) und• Risikoverminderung (vorzeitige Evaluierung der Risiken, politischer Kon-

sens über Schutzziel bzw. behördliche Vorgabe des Zielerreichungsgrades) betrachtet.

Und hier ist das Restrisiko zu diskutieren. Unsicherheit und Ungewissheit kön-nen dem Begriff „Restrisiko“ gleichgesetzt werden. Ja, man kann das. Allerdings kann man das auch infrage stellen. Bild 2.1 zeigt das Prinzip von Folgeanalysen. Und noch eine Folgeanalyse: Was macht die betroffene Bevölkerung? Auch das ist schwierig einzuschätzen.

Bild 2.1 Risikoanalysen Bevölkerungsschutz Bund

Risikoanalysen Bevölkerungsschutz Bund

Folgeanalysen der Ressorts?

z. B.Gesundheit

z. B.Ernährung

z. B.Verkehr

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1. Erkenntnislücken können durch gezielte Forschungsvorhaben geschlossen werden. Wir benötigen aber auch Weitsicht und damit auch eine ergebnisof-fene Begleitforschung zu grundsätzlichen Fragen der Risiko-Definition und dem Umgang damit.

2. Durch das perspektivisch aufgezeigte Miteinander von Bürgern, Wissen-schaft, Wirtschaft, Politik und Behörden auf Bundes- und Landesebene kann in Deutschland der Risikobegriff auf ein gemeinsam getragenes Maß geklärt werden.

3. Hieraus können konkrete Ansatzpunkte für den Aufgabenbereich des Bevöl-kerungsschutzes auf Ebene des Bundes abgeleitet werden.

4. Die Kommunikation über Risiken muss zwischen den Wissenschaftlern, den Akteuren und den interessierten Bürgern im Bevölkerungsschutz weiter ent-wickelt werden.

Wir brauchen [mehr] kompetente Mitbürger!

Wir sehen heute komplexe Risiken.

• Es ist zu beobachten, dass sich die Diskussion um Sicherheit aufgefächert hat, d. h., heute eine ganze Bandbreite von möglichen Risiken betrifft und sich nicht mehr auf nur wenige Bedrohungen konzentriert.

• In den 50er-Jahren sorgten sich die Menschen um einen neuen Krieg.• Heute ängstigen sich die Menschen vor vielerlei.

Exkurs: Auto vs. Flugzeug – das subjektive RisikoSo hat es mich nicht überrascht, dass es nach dem 11. September 2001 noch viele weitere Tote zu beklagen gab: diejenigen Bürger nämlich, die nach diesem ein-schneidenden Datum nicht mehr ins Flugzeug, sondern ins Auto gestiegen sind. Ich erfuhr, dass dadurch 1.600 Amerikaner mehr als sonst durch Straßenunfälle ums Leben kamen. Der Terror schlägt zweimal zu […], schrieb dazu Gerd Gige-renzer (Gigerenzer: Risk Analysis 2006: 349).

2.3 Risiko als Prozess

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Das subjektive und objektive Risiko:

• Kann man durch Umfragen ermitteln.• Diese sind über die Zeit aber nicht stabil, sondern unterliegen Ereignissen

und Meinungsbildnern.• Sind aber heutzutage entscheidend für politische Entscheidungen und

Wahlen.

Exkurs: Risiken der TransportsystemeDer heutige Stand von rund 3.600 Verkehrstoten ist ein Ergebnis aus der Verbes-serung der objektiven Sicherheit im Autoverkehr. Selbst mit dieser abnehmen-den Zahl von Verkehrstoten aus dem Straßenverkehr lässt sich überzeugend vermitteln, dass der Verkehr auf der Straße die gefährlichste Form der Fortbe-wegung ist und das höchste Risiko birgt. Viele Umfragen zeigen, dass die Mehr-heit der Bürger und Bürgerinnen das nicht glaubt. Hier muss auf intelligente Weise Aufklärung betrieben werden. Zu suchen ist hier ein ansprechender An-satz.

5. Ethische / Soziale Dimension

Es kann heute nicht mehr nur um technisch errechenbare Risiken gehen. Heu-te müssen Risiken auch unter einer ethischen und sozialen Dimension gese-hen werden. Die Schutzkommission diskutiert deshalb die Verantwortung des „Kompetenten Bürgers“ bei der Verringerung der Risiken. Dies betrifft bei-spielsweise die Sicherheit der kritischen Infrastrukturen, die von außen, aber auch von innen, gestört werden können und abhängig vom Verhalten der Bür-gerinnen und Bürger sind.

Es muss darum gehen, die Zusammenhänge zwischen Kultur, Risikowahrneh-mung und Katastrophenmanagement besser zu verstehen, so, z. B., den Ein-fluss des Klimawandels in Ländern der Dritten Welt auf die Sicherheitsstruktur in Europa abzuschätzen.

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Die Entwicklung der Risikoforschung ist auf einem Vormarsch und vermag auf verschiedenen Wegen im Bevölkerungs- und Katastrophenschutz – was die ori-ginäre Aufgabe der Schutzkommission ist – zu neuen Ufern führen. Die Schutz-kommission hat in enger Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Sicher-heitswissenschaft e. V. die Tagung „Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken“ durchgeführt, was deutlich macht, dass sie die neue Herausforderung annimmt und weiter entwickelt.

2.4 Ausblick

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Einführung in das Programm und Vorstellung der Schutzkommission

3

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Prof. Dr. Uli Barth, Bergische Universität Wuppertal, GfS, SK, Deutschland

Die Beratung der Bundesregierung in allen Themen des Bevölkerungsschut-zes und der Katastrophenhilfe ist Teil des gesetzlich verankerten Auftrages der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern (SK). Aufgabe der ehren-amtlich berufenen Mitglieder ist dementsprechend, insbesondere mögliche Gefahrenlagen frühzeitig zu erkennen und allfällige Präventivmaßnahmen an-zuregen. Letzteres wird in dem von der SK kontinuierlich fortgeschriebenen Ge-fahrenbericht dem Bundesminister des Innern dargelegt. Im Zusammenhang mit der systematischen Beurteilung von Gefahrenlagen kommt der Identifizie-rung, der qualitativen und quantitativen Bewertung und Beurteilung entspre-chender Risiken eine zunehmend wichtige Bedeutung zu. Letzteres erklärt sich insbesondere anhand der i. A. limitierten Ressourcen bei der Beurteilung selbst, bei der Risikokommunikation sowie bei der Konzeptionierung, Realisierung und Aufrechterhaltung entsprechender Sicherheits- und Schutzmaßnahmen.

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Das nachfolgende Bild 3.1 vermittelt einen Überblick über den Zusammenhang von Ursache, Wirkung und Folge von relevanten Gefahren sowie präventiven und abwehrenden Maßnahmen des Bevölkerungschutzes. Es veranschaulicht dies in einem sogenannten Wirkmodell.

Bild 3.1: Wirkmodell zum heutigen Beratungsauftrag der Schutzkommission

Ursache Wir kung Primäres Ereignis

Bevölke-rung

Natur/Umwelt

KRITIS

……Kulturgut

Möglichkeit

Energie* MaterieFunktion

GEFAHRHandlung

GEFÄHRDUNGBEDROHUNG

Prävention

SCHÄDIGUNG

Bewältigung

SCHADENakut …. bewältigt

* (C)hemische, (B)iologische, (R)adiologische, (N)ukleare oder (E)xplosive

Wahrscheinlichkeit

Plötzlichkeit SchädlichkeitGefährlichkeit

KoinzidenzRaum-Zeit-Sach-Gleichheit vonGefährlichem u. Gefährdetem

Mitkopplung in Form von

Domino-/Kaskaden-Ereignissen sekundär, tertiär, …

Identifikation

Vorb

erei

tung

Schu

tz

Gefa

hren

abw

ehr

Bew

ältig

ung

Sich

erun

g

Bewältigbarkeit

Folge

Tatsächlichkeit

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3.1 Schutzkommission

Die nachfolgende Darstellung ist weitgehend gleichlautend von der Heimatseite der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern übernommen worden (vgl. SK2014).

3.1.1 Gründung und Intention

Die Schutzkommission (SK) wurde im Jahr 1951 auf Anregung des Physikers Werner Heisenberg durch den damaligen Bundesinnenminister Gustav Heine-mann als Kommission der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft – heute Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG – mit der Aufgabe gegründet, „das Bun-desministerium des Innern durch namhafte und unabhängige Wissenschaftler in allen Fragen zu beraten, die mit der Abwehr von Schäden durch atomare, biologische und chemische Angriffe zusammen hängen“. Bereits 1961 wurde ihr ihre noch heute bestehende Form gegeben, kraft derer sie ehrenamtlich ar-beitet, neue Mitglieder beruft, Unterausschüsse (heute „Fachbereiche“) und Arbeitsgemeinschaften selbstständig bildet und ihre Vorsitzenden selbst wählt. An ihrer globalen Aufgabenstellung hat sich über die Jahrzehnte hinweg nichts Grundlegendes geändert. Allerdings haben sich die Schwerpunkte ihrer eigenen Forschungs- und anhaltenden Beratungstätigkeit – dem Wandel der geopoliti-schen Bedrohungslage entsprechend – über die mehr als 50 Jahre der Tätigkeit der Schutzkommission immer wieder verschoben.

3.1.2 Bedrohung und Aufgaben

In den ersten Jahrzehnten standen kriegerische Bedrohungsbilder im Vorder-grund, die sich aus der globalen sicherheitspolitischen Lage und der Konfronta-tion von Ost und West ergaben und auch massive Einsätze von Kernwaffen als denkbar erscheinen ließen. Angesichts dieser Lage hat die Schutzkommission in ihrer Denkschrift aus dem Jahre 1961 mit Sorge festgestellt, dass insbeson-

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dere beim Einsatz von Atomwaffen auch ein Teilschutz der Bevölkerung nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand zu erreichen wäre. In Konsequenz hat sie politische Entscheidungen eingefordert, insbesondere im Hinblick auf bautechnische Schutzmaßnahmen, auf Maßnahmen zur Stärkung der Selbst-hilfefähigkeit der Bevölkerung, zum Aufbau eines robusten Warnsystems, zur Sicherstellung der Wasser- und Lebensmittelversorgung, zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung, zur Bevorratung von Medikamen-ten und zur Bereitstellung von Krankenhauskapazitäten.

3.1.3 Epochaler Wandel vom Zivil- zum Bevölkerungsschutz

In den Jahrzehnten danach verschob sich die öffentliche Wahrnehmung dieser Bedrohungssituation trotz der ungebremsten massiven Aufrüstung in beiden Machtblöcken merklich – mit deutlichen Auswirkungen auf die Bereitschaft der Gesellschaft, für den Schutz ihrer Bevölkerung dauerhaft entsprechende Vorhaltungen zu finanzieren. Dies hatte gravierende, existenzbedrohende Aus-wirkungen auf die Arbeit der Schutzkommission. Zwar wurde in den 1970er und zu Beginn der 1980er-Jahre mit dem zunehmenden Ausbau der Kernener-gie und der chemischen Industrie und – verursacht durch einzelne industrielle Unfälle wie z. B. in Seveso – die öffentliche Aufmerksamkeit auf mögliche Risi-ken der Großindustrie gelenkt, ohne dass diese jedoch als wirklich bedrohliche Risiken für die Bevölkerung in Deutschland eingestuft wurden. Dies änderte sich freilich schlagartig mit dem Reaktorunfall am 26. April 1986 in Tschernobyl und seinen großräumigen Auswirkungen in ganz Europa. Die Folgen des Reaktorunfalls führten sehr schnell zu einer Neubewertung der Risikoein-schätzung von Großtechnologien und in weiten Teilen der Bevölkerung zu einer Erschütterung der bis zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Vertrauensbasis. Für die Arbeit der Schutzkommission war diese Zeit verbunden mit vielfältigen Beratun-gen im Zusammenhang mit der Neuorganisation von technischen Einrichtungen und Organisationsformen zur Bewältigung von großräumigen Schadenslagen.

Der Zusammenbruch des Ostblocks und die damit verbundenen grundlegenden Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage führten schließlich ab 1989 zu staatlichen Entscheidungen, insbesondere im Hinblick auf den Abbau von Maß-nahmen und Vorhaltungen zur militärischen Verteidigung und – besonders tief einschneidend – des Zivilschutzes. Im Rahmen dieser Neuordnung des Zivil-

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Kapitel 3.1

schutzes (in den Folgejahren auch immer häufiger Bevölkerungsschutz genannt) hat die Schutzkommission den Bundesminister des Innern durch beratende und warnende Voten auf vielfältige Art unterstützt.

3.1.4 Politikberatung und Forschungsplanung

Im Jahr 1996 erstellte die Schutzkommission mit ihrem „Ersten Gefahren-bericht“ eine umfassende Gefahrenanalyse, die u. a. Grundlage für die For-schungsplanung des Bundes im Bereich des Bevölkerungsschutzes wurde.

Das von der Schutzkommission stets vertretene Grundprinzip, dem zufolge Schutz- und Vorsorgemaßnahmen in Ausnahmensituationen auf Strukturen und Ressourcen aufbauen müssen, die auch in „normalen“ Zeiten genutzt und durch ständigen Einsatz erprobt werden, hat sich über die Jahrzehnte hinweg bewahrheitet. Es ist inzwischen mehr und mehr anerkannt.

Auch die Erkenntnisse der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den Ver-einigten Staaten haben daran grundsätzlich nichts geändert. Inzwischen hat sich die Welt aber insofern verändert, als dass nach weiteren Ereignissen dieser Art am 11. März 2004 in Madrid und am 7. Juli 2005 in London der Terroris-mus mit all seinen Ausprägungen jetzt Gefahren auch in Europa denkbar sind, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Ereignisse dieser Art machen deutlich, dass es dringend erforderlich ist, nicht nur Gesundheit und materielle Lebensbedingungen der Menschen zu bewahren bzw. wiederherzu-stellen, sondern dass es entscheidend auch darauf ankommt, die ideellen Werte des Einzelnen und der Gesellschaft zu bewahren. Dies ist ein Feld, dem sich die Schutzkommission zukünftig verstärkt wird widmen müssen.

Die Schutzkommission arbeitet die gewonnenen Erkenntnisse solcher Ereignis-se unter fachlichen Gesichtspunkten multidisziplinär auf und bewertet sie aus dem Blickwinkel der Wissenschaft. Im Jahr 2001 erarbeitete sie ihren „Zweiten Gefahrenbericht“ mit sechs Schwerpunkten. Ihre Empfehlungen bezüglich er-forderlicher Maßnahmen richteten und richten sich nicht nur an den Bundes-minister des Innern, sondern auch an die Innenminister der Länder. Sie gelten für die gesamte Aufenthaltsbevölkerung in unserem Land, also für seine Bürger wie für die, die sich sonst darin aufhalten.

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Die Schutzkommission gibt auch Empfehlungen zur Planung und Durchfüh-rung neuer Forschung ab und unterstützt damit das 2004 neu errichtete Bun-desamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in seiner Aufga-benerfüllung. Außerdem bewertet sie in zunehmendem Maße in Form von „Aktuellen Stellungnahmen“ wichtige Einzelthemen, wie z. B. zur Sicherstel-lung der medizinischen Versorgung in einem veränderten Gesundheitssystem und angesichts neuartiger Seuchenbedrohungen.

Das nachfolgende Bild 3.2 vermittelt einen Überblick über Funktionen, Mittel und Zweck der Schutzkommission und veranschaulicht die Zusammenhänge in einem sogenannten Prozessmodell.

Stärken vonSelbstschutz,Solidarität,

Widerstandskraftu. Resilienz desEinzelnen

Schutz vonLeben u.

Gesundheitder deutschen(Aufenthalts-)

Bevölkerung

NationaleInstitutionen desBevölkerungs-

schutzes

warnt

Empfeh- lungen

VorschlägeNationaleBedrohungslagen

InternationaleBedrohungslagen

VorsorgendeGefahrenabwehr

Bewältigung vonNotfallereignissen

Identifikation vonVollzugsdefiziten

Konzeption vonMaßnahmen

Umsetzung vonMaßnahmen

Wissenschaftliche u.technische Fragen

Forschungs- vorhaben

unterrichtet

fertigt

beschließt

berät

initiiert

kooperiert

erarbeitet

InternationaleInstitutionen desBevölkerungs-

schutzes

ZugezogeneSachverständige

(Vorträge)

InternationaleForschung

Bundesregierung

Bundestag

Bundesländer

Träger des Systemsdes Bevölkerungs-

schutzes

den

Die in Sachen

mittels

zum Zweck

SK

Gefahren-briefe

S C H R I F T E N D E R S C H U T Z K O M M I S S I O N

Gefahrenbrief

Gefahren- berichte

S C H R I F T E N D E R S C H U T Z K O M M I S S I O N

Gefahrenbericht

Stellung-nahmen

beauftragt

BMI

Bild 3.2: Prozessmodell zum heutigen Beratungsauftrag der Schutzkommission

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Kapitel 3.1

3.1.5 Ehrenamt als Basis

Die Schutzkommission hat sich in ihrem langen Bestehen von mehr als sechs Jahrzehnten in vielfältiger Weise gewandelt und damit veränderten gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung getragen. Ihre Arbeit war jedoch stets von den Prinzipien des ehrenamtlichen staatbürgerlichen Engagements und der wissenschaftlichen Fundierung geprägt. Diese Tugenden werden auch in Zukunft ihre Handlungsmaxime sein, damit die Bundesrepublik Deutsch-land die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu beantworten vermag.

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Der Workshop Risikobeurteilung zielt darauf ab, den einschlägigen Wissens-stand an der Grenze bewährter Methoden bzw. Verfahren und möglicher neuer Ansätze im Rahmen ausgewählter Fachvorträge durch einschlägig ausgewiese-ne interne und externe Referenten darzustellen. Der Workshop zielt ferner dar-auf ab, die Anwendungsgrenzen des klassischen/tradierten Risikobegriffs, der die Wahrscheinlichkeit und die Auswirkungsschwere eines Katastrophenereig-nisses verknüpft, zu hinterfragen (z. B. „black swans“) und allfällige, geeignete neue Ansätze zu identifizieren.

Zu diesem Zweck sieht der Projektantrag vor, dass der angedachte Workshop unter fachlicher Beteiligung der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e.V. (GfS) geplant und veranstaltet werden soll. Die Gesellschaft für Sicherheitswis-senschaft e.V. wurde 1978 in Wuppertal gegründet, um der Sicherheitswissen-schaft ein Forum zu sein, das ihre Weiterentwicklung fördern und ein Zusam-menwirken mit angrenzenden Fachgebieten ermöglichen soll (vgl. GfS2014). Im Verständnis der GfS ist die Sicherheitswissenschaft die Forschung und Lehre von der methodischen und systematischen Analyse und Kontrolle der Risiken, speziell der Mensch-Technik-Umwelt-Systeme, zum Zwecke der Verringerung der Häufigkeit und Schwere von Schäden und Verlusten mit risikologischen Strategien. Die GfS führt seit ihrer Gründung nationale und internationale Symposien durch und verfügt über eine eigene Publikationsreihe.

Da die GfS gleichfalls beabsichtigte, die Risikobeurteilung im Jahr 2014 zu the-matisieren, bot sich eine fachliche Beteiligung in der Weise an, dass die inhaltli-che Planung und Moderation des Workshops kooperativ von GfS und SK erfolgt. Dadurch wurde gleichsam die fachliche Expertise der GfS genutzt wie auch de-ren Netzwerk angesprochen und in den wissenschaftlichen Diskurs einbezogen. Die Veranstaltung des Workshops übernahm die SK, unterstützt durch deren Geschäftsstelle beim BBK.

3.2 „Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken“

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Kapitel 3.2

Als Ergebnis aus diesem Workshop möchte die Schutzkommission

• Anregungen bezüglich der fachlichen und semantischen Bewertung und Be-urteilung von Risiken im Rahmen der Politikberatung und für die deutsche Aufenthaltsbevölkerung formulieren sowie

• Empfehlungen zur Verbesserung aussprechen.

Das Ergebnis soll dazu beitragen, dass die Ausführungen im Gefahrenbericht und anderen Stellungnahmen der Schutzkommission noch präziser und ver-ständlicher werden. Im Nachgang zu der Veranstaltung ist eine Veröffentlichung wesentlicher Inhalte und Ergebnisse mit dem vorliegenden Papier, als Veröffent-lichung im Rahmen der Publikationen der Schutzkommission, hiermit gegeben. Die Ergebnisse und Empfehlungen aus dem Workshop wie auch die im 5. Gefah-renbericht veröffentlichten Fragestellungen fließen unmittelbar in die weitere Beratungsarbeit der Schutzkommission ein. Nach der Veröffentlichung stehen sie selbstverständlich auch interessierten Dritten zur Verfügung.

Literatur

Barth2013 Barth, U.: Vulnerabilitäts- und Resilienzanalyse. Vorlesung im ak-kreditierten Bachelorstudiengang „Sicherheitstechnik“, Studienschwerpunkt „Brand- und Bevölkerungsschutz“ an der Bergischen Universität Wuppertal, Wintersemester 2013/14.

BBK2008 Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) [Hrsg.]: 50 Jahre Zivil- und Bevölkerungsschutz in Deutschland. ISBN-968-3-939347-13-2. Bonn, Oktober 2008.

Daase2013 Daase, C.; Engert, S.; Junk, J.: Verunsicherte Gesellschaft – Überforderter Staat: Zum Wandel der Sicherheitskultur. ISBN 978-3-593-39873-0, Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2013.

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Engelhard2011 Engelhard, N.; Schulze, J.; Barth, U.: Im tiefsten Frieden? Thesen zur asymmetrischen Bedrohung unter dem spezifischen Blickwinkel des Bevölkerungsschutzes. Bevölkerungsschutz 3|2011, S. 18ff., herausgegeben im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (BMI) vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Provinzialstraße 93, 53127 Bonn, http://www.bbk.bund.de. Bonn, März 2011.

GfS2014 Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e.V. [Hrsg.]: Heimatseite der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft.http://www.gfs-aktuell.de/index.html abgerufen am 10.04.2014. Gleißner2011 Gleißner, W.: Grundlagen des Risikomanagements im Unternehmen – Controlling, Unternehmensstrategie und wertorientiertes Management. ISBN 978 3 8006 3767 6, 2. Auflage, Verlag Franz Vahlen GmbH, München 2011.

Koch2013 Koch, C.: Risiko: Sozialwissenschaftliche, ökologische und systemtheoretische Perspektiven zur Unsicherheit. ISBN 978-3-643-12257-5, LIT Verlag Dr. W. Hopf, Berlin 2013.

Feinendegen2011 Feinendegen, L.: 60 Jahre Schutzkommission beim Bundesminister des Innern. http://www.schutzkommission.de abgerufen am 10.04.2014, 27. Mai 2011.

Renn2014 Renn, O.: Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. ISBN 978-3-596-19811-5, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014.

SK2014 Schutzkommission [Hrsg.]: Heimatseite der Schutzkommission. http://www.schutzkommission.de abgerufen am 06.04.2014.

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Die Bedeutung derRisikokompetenz für die Beurteilung von Sicherheitssituationen

4

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4.1 Einleitung

Dr. Sebastian Festag, Hekatron, GfS, Deutschland

Sowohl die Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern als auch die Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e. V. befassen sich auf einer wis-senschaftlichen Grundlage mit dem Schutz vor Gefahren. Das vorliegende Pro-gramm entstand in einer Zusammenarbeit und beschränkt sich in Anlehnung an die gemeinsame inhaltliche Schnittmenge auf den Schutz der Bevölkerung, wobei wir uns mit dem Programm auf die aktuellen Besonderheiten bei der Be-urteilung von Risiken konzentrieren wollen.

Während die Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft regelmäßig Fachbeiträge im Ausland leistet, ist es ihr mit dem vorliegenden Programm – nach einigen Jahren – wieder gelungen, in Deutschland eine sicherheitswissenschaftliche Fachdiskussion anzuregen. Und obwohl es sich bei dem hier zur Diskussion stehenden Inhalt um kein neues Thema handelt, fordert die aktuelle Situation zum Handeln auf.

Bevor ich auf den Inhalt des vorliegenden Programms eingehe, sollen einige grundlegende Überlegungen über die sicherheitswissenschaftliche Disziplin und die Philosophie der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft angesprochen werden. Beides, so scheint mir, ist in der letzten Zeit partiell in Vergessenheit geraten. Anschließend wird das Hauptthema „Risikobeurteilung und -kompe-tenz“ kursorisch erläutert, um erste Impulse zur Diskussion zu liefern, aber auch um zu Beginn des Programms zumindest in Teilen ein gemeinsames Ver-ständnis zu fördern. Der Rahmen meines Beitrages zwingt mich, meine Ausfüh-rungen auf Grundlegendes und Dringliches zu beschränken.

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4.2 Erste Schritte der Sicherheitswissenschaft

Die Auseinandersetzung mit Gefahren und Risiken ist kein neuer Gedanke. Seit jeher haben Menschen das Bedürfnis, sich vor Gefahren zu schützen. Mit dem Laufe der Zeit und dem technischen Fortschritt haben sich die Gefahren für die Menschen verändert. Manche Gefahren wurden erkannt und kontrolliert. Ande-re Gefahren entstanden neu oder verlagerten sich zu neuen Schwerpunkten. Für die zugrunde liegenden Kausalbedingungen zahlreicher Gefahren, vom Anlass über den Ablauf bis zum Ausgang, entwickelte sich mit der Zeit ein geordnetes Verständnis. Daraus wurden systematische und methodische Analyse- und Be-wertungsverfahren abgeleitet, auf deren Grundlage sich geeignete Strategien zur Gefahren- bzw. Risikobewältigung stützen sollten (siehe Bild 4.1). Dieser gesamte Komplex zieht sich durch alle Lebensbereiche und hat Anschlüsse in allen wis-senschaftlichen Disziplinen, wie Bild 4.2 veranschaulicht. Da Gefahren neben ih-ren fallspezifischen Eigenheiten auch grundsätzliche Komponenten beinhalten, mündete die Auseinandersetzung mit ihnen und ihren Charakteristika in einer eigenständigen und in sich geschlossenen Disziplin, der Sicherheitswissenschaft (z. B. Compes, 1991, vgl. auch Radandt, 2014). Sie bündelt die Erkenntnisse über Gefahren und entwickelt daraus eine eigene Fachsystematik, -methodik und -ter-minologie – was durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung ermöglicht wird.

Ein großer Teil von Gefahren spielt sich hierzulande in „sozio-technischen“ Syste-men ab, bei denen sowohl Menschen als auch Maschinen in einer gemeinsamen Umgebung zusammenwirken. Mit möglichen Gefahren solcher Systeme, im wei-testen Sinne, befasst sich die Sicherheitstechnik (vgl. Festag, 2014 oder Hartwig & Festag, 2012). Unter Sicherheitstechnik werden Techniken im Sinne von Kunstfer-tigkeiten, […] um Sicherheit [weitestgehend] zu erreichen (Compes, 1975; siehe auch Seidel, 2008), verstanden, wobei auch Auslegungen in Form von Sicherheit der Technik und Sicherheit durch Technik existieren. Sicherheitstechnik ist ein Bestandteil der Sicherheitswissenschaft. Vergleichbar mit der Medizin hat sie das Ziel, Menschen und ihre Umwelt vor Gefahren zu schützen (z. B. Festag, 2014). Seit ihrer Gründung steigt der sachliche Bedarf an Forschung und Lehre auf diesem Gebiet entsprechend dem technischen Fortschritt immanent (vgl. Hartwig, 2005).

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55

Kapitel 4.2

Risiko

Qualitativ | Quantitativ Statistisch | Kasuistisch

Analyse

TypDiagnoseEpidemie

Risikobewältigungs- strategien & -taktiken

Bewertung

Beurteilung

Gestaltung

Vorsorge | Nachsorge

Eliminierung Reduzierung

Wirksamkeit

Limitierung Kompensation

H, S 0 H, S Minimum H, S ≤ Maximum Schadensausgleich

Grenzrisiken

R ≠ 0R ≤ MaximalwertR MinimalwertR 0

Bild 4.1: Risikobeurteilung: Allgemeines Vorgehen (teilweise in Anlehnung an Compes, 1991)

Sicherheitswissenschaft ist die Forschung und Lehre von der methodischen und sys-tematischen Analyse und Kontrol le von Risiken zum Zwecke der Vermeidung bzw. Verringerung von Schäden und Verlusten mit risikologischen Strategien (vgl. GfS, 13.01.2014).

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Sicherheits- wissenschaft

Grundsatzprobleme

Sozial- wissenschaft

Ingenieur- wissenschaft

Human- wissenschaft

Natur- wissenschaft

Geistes- wissenschaft

Bautechnik,Maschinentechnik,Elektrotechnik, …

Soziologie, Ökonomie,Jura, …

Medizin, Psychologie,Ergonomie, Pädagogik, …

Philosophie, Theologie,Sprachwissenschaft, …

Mathematik, Physik,Chemie, Biologie, …

Bild 4.2: Struktur der Sicherheitswissenschaft (in Anlehung an Compes, 1991, modifiziert)

Um die an die Problemstellung heute unverändert angepasste Gründungsphi-losophie der Sicherheitswissenschaft, ungeachtet universitärer und politischer Strömungen, weiterzuentwickeln bzw. aufrechtzuhalten, wurde am 23. März 1978 die Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft als Verein in Wuppertal ge-gründet. Die Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft hat die Ziele:

• die Sicherheitswissenschaft in ihrer fachübergreifenden Gestalt und Anwen-dung, insbesondere im Zusammenwirken mit anderen Wissenschaften, wei-terzuentwickeln;

• die Erforschung und Untersuchung sicherheitswissenschaftlicher Fragestel-lungen zur Vermeidung von Gefahren zu fördern;

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Kapitel 4.2

• Erkenntnisse und Erfahrungen auf allen Gebieten der Sicherheitswissen-schaft zu verbreiten bzw. auszutauschen und

• den Nachwuchs im sicherheitswissenschaftlichen Bereich zu fördern.

Zu ihren Aufgaben gehören die:

• Beteiligung an der Entwicklung der Sicherheitswissenschaft, vor allem ihrer Fach-Systematik und -Methodik sowie der zugrundeliegenden Terminologie und Methodologie (z. B. der sicherheitswissenschaftlichen Risikologie);

• Unterstützung der Bemühungen um den Auf- und Ausbau der Forschung und Lehre der Sicherheitswissenschaft in den dafür kompetenten Institutionen;

• Anregung wissenschaftlicher Arbeit in ihrem Fachgebiet durch Auszeich-nungen und Unterstützungen;

• Pflege von Verbindungen mit Institutionen, Stellen und Personen, die sich einschlägig mit der Sicherheitswissenschaft in Theorie und Praxis befassen und

• Initiierung und Förderung der wissenschaftlichen Diskussion von Fragestel-lungen und Lösungsvorschlägen des Fachgebiets durch Anregungen, u. a. durch Veröffentlichungen und Tagungen etc. (GfS, 13.01.2014).

Kommen wir nun zu dem vorliegenden Programm und konzentrieren uns auf das Hier und Heute und begreifen wir das Programmthema als ein Quer-schnittsthema der Sicherheitswissenschaft und Sicherheitstechnik.

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4.3 Risikobeurteilung und -kompetenz

Eine Beurteilung setzt sich aus einer Analyse und Bewertung zusammen. An dieser Stelle ist es angebracht, zwischen den Begriffen Gefahr, Gefährdung und Risiko zu unterscheiden, da sie sich auf unterschiedliche Sachverhalte beziehen (siehe Bild 4.3).

Gefährdung/en RisikoKoinzidenzRaum/Zeit

Gefahr/en R = f (W,S)

ResilienzVulnerabilität

Wagnis

UngewissheitUnsicherheit

Gefährlichkeit

Bild 4.3: Beurteilung der Sicherheitssituation – Begriffliches

Es sei vorweggenommen, dass sich Begriffe oftmals keinem einheitlichen Ver-ständnis unterziehen. Das gilt zwar grundsätzlich, allerdings kommt in der Si-cherheitswissenschaft erschwerend hinzu, dass es sich bei ihr – vergleichsweise zu anderen Wissenschaften – um ein junges akademisches Grundlagenfach han-delt und sich für einige zentrale Begriffe bis heute keine allgemein akzeptierte Be-zeichnung entwickelt hat. Um die nachstehenden Gedanken nachvollziehbar zu gestalten, sei nur so viel gesagt: Vereinfacht wird von einer Gefahr gesprochen,

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Kapitel 4.3

wenn von einer Quelle die Möglichkeit einer Schädigung ausgeht (vgl. Compes, 1991). Es ist auch die Rede von Ereignissen mit einem möglichen gefährlichen Aus-gang. Überlagern sich die Wirkungsbereiche zwischen der Gefahr und einem zu schützenden Gut oder System (z. B. Personen, Sachen oder Werte) räumlich und zeitlich, wird aus der Gefahr eine Gefährdung (vgl. Skiba, 1973). Wird eine Gefahr über das Produkt aus der Eintrittswahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ereignis-ses und dem Ausmaß des Schadens beschrieben, wird dagegen von einem Risiko gesprochen. Wichtige Sachverhalte werden bei diesem verkürzten Verständnis vernachlässigt. So wird zum Beispiel bei einem unerwünschten Ereignis von ei-nem Risiko gesprochen, während bei einem erwünschten Ereignis von einer Chan-ce die Rede ist. Die Einschätzung, ob etwas erwünscht oder unerwünscht ist, hängt dabei vom Betrachter und seiner Wahrnehmung ab. Diese kann von Individuum zu Individuum und innerhalb von Gesellschaften, den Zeitpunkten und in Abhän-gigkeit vom herangezogenen Bewertungsmaßstab variieren. Beim Schädlingsbe-kämpfungsmittel Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) ist das beispielsweise der Fall. Zunächst wurde für diese Entwicklung im Jahre 1948 der Nobelpreis verlie-hen. Als aber offensichtlich wurde, dass DDT über die Nahrungsmittelkette unter anderem zum Aussterben ganzer Vogelarten führte, wurde der Einsatz in einigen Staaten verboten (vgl. Hartwig, 1997). Hier kam es zu einer Neuorientierung des Wertesystems (insbesondere durch die Langzeitbetrachtung) und einer damit ver-bundenen Neuorientierung bei der (Risiko-)Bewertung.

Entsprechend der Abstufung der Begriffe gibt es sowohl Gefahrenanalysen als auch Gefährdungsanalysen und Risikoanalysen, wobei sich der Blickwinkel in dieser Reihenfolge im Allgemeinen verengt, während sich der Detailliertheits-grad, Informationsgehalt sowie Analyseaufwand erweitern. Zur Analyse von Ge-fahren, Gefährdungen und Risiken stehen uns verschiedene Verfahren und me-thodische Ansätze zur Verfügung. Auch für die Bewertung der Situationen haben sich verschiedene Herangehensweisen eingebürgert. Hinzu kommt, dass die Be-urteilung der Sicherheitssituation an fallspezifische Gegebenheiten gebunden ist.

4.3.1 Der Fehlschluss einer umfassenden Risikokontrolle

Im Laufe der Jahrzehnte haben sich neue und feinere Verfahren zur Analyse und Bewertung von Sicherheitsproblemen (von Gefahren bis zu Risiken) durch-gesetzt. Doch trotz aller Spezialisierung lösen diese Verfahren heute nicht alle Sicherheitsprobleme. Und in diesem Zusammenhang tauchen mittlerweile

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weitere und teilweise neue Begriffe auf, wie beispielsweise Vulnerabilität, Re-silienz, Ungewissheit (Gigerenzer, 2013) oder „schwarze Schwäne“ (Thaleb, 2010). Dabei ist die dem Sachverhalt zugrunde liegende Problemstellung nicht nur eine terminologische, sondern vor allem eine methodische.

Unsere Umwelt ist ständig Veränderungen unterworfen, die zu einer kontinu-ierlichen Veränderung der Sicherheitssituation führen. Durch neue Systeme entstehen ständig neue und andersartige Probleme, die spezifische Analyse- und Bewertungsmodalitäten und neue sicherheitsgerechte Lösungen verlan-gen, wie z. B. bei Gefahren durch digitale Medien (vgl. Spitzer, 2013). Es ver-wundert daher nicht, dass wir mit Sicherheitsproblemen konfrontiert sind, zu denen erst Lösungen erarbeitet werden müssen. Zwischen den Sicherheits-problemen und Lösungen ist eine kontinuierliche Anpassung erforderlich. Zur Lösung von Sicherheitsproblemen stehen uns heute zahlreiche Verfahren zur Verfügung. Sie sind stellenweise sehr aufwendig und kompliziert. Im Allgemei-nen basieren die Verfahren auf der Grundlage weniger methodischer Zugänge, wobei uns die Beurteilung von schwerwiegenden Risiken unter methodischen Gesichtspunkten vor besondere Herausforderungen stellt.

Ungeachtet der Herausforderungen durch neue Systeme und der methodischen Zugänge, kommt ein Punkt hinzu, der an dieser Stelle wichtig ist. Von Fachleu-ten, aber auch von der Bevölkerung, werden im Umgang mit Gefahren und Risi-ken Kompetenzen abverlangt, die in weiten Teilen der Bevölkerung, aber oftmals auch bei Fachexperten (vgl. Gigerenzer, 2013), nicht vorhanden sind. Die Situ-ation ist kritisch, weil alle Menschen von Gefahren betroffen sind. Ein solcher Mangel ist bei Fachspezialisten besonders problematisch, weil ihre Einschät-zung oftmals als Grundlage für weitreichende Entscheidungen dient, von denen unter Umständen viele Personen betroffen sind. Eine besondere Rolle nehmen dabei Sicherheitsfachspezialisten ein, die davon gesondert zu betrachtend sind.

4.3.2 Das Problem bei der Beurteilung schwerwiegender und seltener Risiken

Kommen wir nochmal auf die methodischen Herausforderungen der Jetztzeit und die Beurteilung von Sicherheitssituationen zurück und wagen wir einen Versuch für eine vorläufige Problembeschreibung. Dazu ziehen wir zur Ver-deutlichung Bild 4.4 heran und betrachten die Problemstellung als eine grund-sätzliche auf der Basis von zwei ineinander verwobenen Elementen.

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Kapitel 4.3

Schw

ere

Häufigkeit

MethodischerZugang?

Erfahrungen

Bild 4.4: Risikospektrum

Erstens: Das Risikospektrum umfasst seltene und folgenreiche Ereignisse (schwerwiegende Risiken) bis zu häufigen und folgenarmen Ereignissen. Schwerwiegende Risiken, in der Nähe der Ordinate von Bild 4.4, unterliegen per Definition dabei besonderen Eigenschaften. Aufgrund ihrer höchst seltenen Ereigniseintrittswahrscheinlichkeit liegen für sie im Allgemeinen keine Erfah-rungen aus der Vergangenheit vor, die in die Sicherheitsstrategien eingebun-den werden können. Alle Vorgehensweisen und Instrumente, die sich auf Erfah-rungen stützen, stehen zur Beurteilung der Situationen in diesen Fällen damit nicht – oder nur sehr eingeschränkt – zur Verfügung. Nebenbei bemerkt: Dieser Sachverhalt verschärft sich durch eine erfolgreiche und vorbeugende Sicher-heitsarbeit. Denn ihr Ziel ist die Vermeidung von Gefahren bzw. Risiken, wenn möglich vor dem Ereigniseintritt. Damit werden gleichzeitig auch Erfahrungen verhindert (vgl. Musahl, 1997). Bei Risiken, die mit geringen Folgen verbunden sind, ist die Situation eine etwas andere. Aufgrund ihrer Frequenz existieren hier im Allgemeinen – wenn auch wenige – Erfahrungen.

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Exkurs: ErfahrungenErfahrungen sind für die Situationsverarbeitung von Menschen und die Beur-teilung von Sicherheitssituationen wichtig. Über Erfahrungen und das Wieder-holen von Verhaltensweisen bilden Menschen Regeln (z. B. Rasmussen, 1983), die zu Gewohnheiten und Einstellungen führen (vgl. Burkhardt, 1981). Das ge-schieht ständig und teilweise, ohne den Betroffenen bewusst zu sein. Je nach Verarbeitungstiefe ist die Rede vom wissens-, regel- oder fertigkeitsbasierten Verhalten (vgl. Rasmussen, 1986, Reason, 1990). Erfahrungen und Regeln ver-einfachen uns das Leben. Durch sie müssen Menschen zum Beispiel nicht darü-ber nachdenken, wie sie mit dem Schlüssel die Haustüre öffnen oder über zahl-reiche kleine Handlungsschritte Auto fahren. Menschen lernen kontinuierlich (auch in Sachen Sicherheit), womit Änderungen und Verfestigungen bis hin zu Automatismen im Verhalten verbunden sind. Je nach Interpretation und Wer-tung vorausgegangener Ereignisse führen Erfahrungen dazu, dass Verhaltens-weisen seltener (Löschung und Abschwächung) oder häufiger (Verstärkung) werden (vgl. Musahl, 1997). Die Verstärkung wird in zwei Wirkungsweisen un-terteilt. Es kommt zu einer positiven Verstärkung, wenn auf das Handeln für den Handelnden etwas subjektiv Positives folgt. Die Handlung wird dann über eine „Wenn-dann-Verknüpfung“ gespeichert (vgl. Musahl, 2009) und bei zukünfti-gen und ähnlichen Situation erneut abgerufen (und verfestigt). Im Rahmen von Sicherheitsbetrachtungen wird das genutzt, indem z. B. sicherheitsgerechtes Handeln belohnt wird. Nach diesem Prinzip werden auch sicherheitswidrige Verhaltensweisen bestraft, wobei in diesem Fall bestimmte Verhaltensweisen seltener statt häufiger werden sollen. Menschliche Verhaltensweisen orientie-ren sich an Erfahrungen, die stark durch das tägliche Leben geprägt werden – also im „Normalzustand“ der Systeme. Sie bestätigen uns im Alltag und können so zu einer negativen Verstärkung führen. Diese Erfahrungen sind im Ereignis-fall oftmals untauglich. Musahl (2009) betont die Bedeutung dieser negativen Verstärkung bei der Sicherheitsarbeit. Diese im Menschen tief verwurzelten Abläufe sind wichtig (zum Schutz vor Reizüberflutungen), aber sie sind nicht unproblematisch, da sie die Realität verkürzen und Fehlschlüsse produzieren können, was wiederum bei der Beurteilung von Gefahren eine wichtige Rolle spielt. Schwerwiegende Risiken finden sehr selten statt und unterliegen diesem Muster im besonderen Maße (Wie oft erlebt ein Mensch – von Ausnahmen ab-gesehen – einen großen Brand und kann erfolgreiche Reaktionsweisen als Er-fahrung für später abspeichern?).

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Kapitel 4.3

Zweitens: Anhand von Erfahrungen, Informationen und Daten werden heute Modelle zur Prognose von Ereignissen entwickelt. Auf diese Weise sollen Leh-ren aus bereits stattgefundenen Ereignissen gezogen werden, die in die Be-wältigung zukünftiger Ereignisse einfließen sollen. Solchen Prognosen sind stellenweise enorme Erfolge zu verdanken, weshalb sie sich heute allgemein einbürgern. Während sich mit der Zeit neben dem „Versuch und Irrtum“ (trail and error) auch systemanalytische Vorgehensweisen durchsetzen, wurden in diesem Zuge schrittweise technische auf natürliche Anwendungen übertragen und ausgeweitet. Das Vorgehen bzw. die Verfahren stützen sich dabei auf eine Modellvorstellung unter Zuhilfenahme von (statistischen) Daten. Sie sind zur Abschätzung und Prognose von Risiken aber nur dann sinnvoll und nützlich, wenn Erfahrungen und bekannte Wirkungszusammenhänge existieren. Es ist davon auszugehen, dass diese Situation bei den folgenarmen Risiken (nahe der Abszisse in Bild 4.4) und vor allem bei „einfachen“ technischen Systemen oft-mals gegeben ist. Aber bei schwerwiegenden Risiken liegen die Dinge anders. Hier sind die (erfahrungsbasierten) Modellvorstellungen unvollständig, wo natürliche Phänomene einschließlich menschlicher Verhaltensweisen bedeu-tend sind. Da aber in der Geschichte auch für natürliche Phänomene Progno-sen geglückt sind (z. B. Berechnung der Wiederkehr von Kometen oder bei der Verwendung von Proxydaten zur Bestimmung von Klimaveränderungen), hat sich schon vor einiger Zeit die Vorstellung einer allgemein modellierbaren und berechenbaren Welt – nach dem technischen Vorbild – eingeschlichen. Modelle sind aber Reduzierungen der Wirklichkeit. Das trifft besonders auf komplexe Systeme wie Menschen und die Natur zu.

Zur Überwindung der Situation – so viel können wir schon sagen – sind um-fangreiche sicherheitswissenschaftliche Forschungsprogramme erforderlich, die sich auf ein detailliertes Verständnis über die Problemabläufe stützen. Ne-ben der ausführlichen Erarbeitung von Erkenntnissen auf diesem umfangrei-chen Gebiet bedarf es der Steigerung des Problembewusstseins – zu dem das vorliegende Programm einen kleinen Beitrag liefern will. In einem weiteren Schritt ist die Schaffung eines generellen Sicherheitsverständnisses in der Be-völkerung notwendig.

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4.3.3 Förderung von Kompetenzen

Der Kompetenzbegriff wird in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich ver-wendet, wie Bild 4.5 verdeutlicht. Zur Herkunft des Begriffes siehe z. B. Seebold (2011) oder Henne, Kämper und Objartel (2002). In Anlehnung an das psycho-logische und pädagogische Kompetenzverständnis sind unter Gefahrenkompe-tenzen alle Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen zur Lösung von Sicher-heitsproblemen in (beliebigen) Situationen zu verstehen. Die Risikokompetenz hingegen begrenzt diese Fähigkeiten und Fertigkeiten auf die Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit von gefährlichen Ereignissen und deren Schwere-grade. Dazu bedarf es zusätzlich zum allgemeinen Verständnis von Gefahren ei-nes (risiko)logischen und in Anlehnung an Gigerenzer (2013) eines statistischen Denkens. Das erfordert allerdings, dass die zugrunde liegenden Wirkungszu-sammenhänge des betrachteten Risikos weitestgehend bekannt sind und Erfah-rungen existieren. Bei neuen Risiken und Risiken mit teilweise unbekannten Abläufen sowie bei den schwerwiegenden Risiken (höchstseltene Ereignisse mit hohem Grad an Ungewissheit) sind diese Voraussetzungen oft nicht gegeben. Hier müssen alternative Wege erarbeitet werden – momentan scheinen Intui-tionen und Emotionen dabei eine wichtige Rolle zu spielen. Sowohl für die Be-urteilung solcher Gefahren und Risiken als auch für die Kompetenzvermittlung fehlt es an wissenschaftlichen Grundlagen und dementsprechend an Konzep-ten zur Problemlösung.

Trotz des Fehlens konkreter Lösungswege gilt es an dieser Stelle, etwas Allge-meines zu den Adressaten und Anknüpfungspunkten der Kompetenzvermitt-lung festzuhalten, um die Größenordnung der Aufgabe deutlich zu machen.

Die Vermittlung von Kompetenzen im Umgang mit Gefahren und Risiken be-trifft die Allgemeinheit in einer generellen, die Fachspezialisten (Mediziner, Juristen, Pädagogen etc.) in einer zusätzlich universitär-speziellen und die Si-cherheitsfachspezialisten in einer universitär-generellen und sicherheitswis-senschaftlich-speziellen Weise (vgl. Compes, 1991). Die inhaltliche Auswahl und Tiefe muss an das jeweilige Fachgebiet und das Qualifikationsniveau konti-nuierlich angepasst sein (siehe Bild 4.6).

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Kapitel 4.3

kompetent„zuständig, maßgebend, befugt“ (18. Jh. Juristensprache competens) com-petere „zusammenlange, -treffen, stimmen, zutreffen, entsprechen“ petere „zu erreichen suchen, streben nach“ [1]kompetent„zuständig, maßgebend, urteilsfähig“(competens) com-petere (der Beschaffenheit ach stimmen, zutreffen“ com = cum = „mit“ + petere „zu erreichen suchen, erstreben“ [2]kompetent(18. Jh. competens) com-petere „zusammentreffen, etwas gemeinsam erstreben, gesetzlich erfordern, zustehen, zukommen“ petere „begehren, zu erlangen suchen “ [3]Kompetenz„Recht auf Einkünfte“ (16. Jh. competent) als Adjektiv 19. Jh. [3]Kompetenz„zusammentreffen, Symmetrie, Analogie, Zugehörigkeit, Zuständigkeit“ (16. Jh. competentia)1. „Recht auf Abgaben, Einkünfte, Lebensunterhalt“ (19. Jh.)2. „Fähigkeit, Sachverstand“3. Zuständigkeit4. Summe aller sprachlichen Fähigkeiten, die ein Muttersprachler besitzt (1965, sprachwiss.) [4](zwischen Kompass und Komplex)

(Gefahren-/Risiko-)Kompetenz

Sicherheits- technik

Gefahr/en

(Risiko-)Beurteilung

Pädagogik

Sprache Recht

Psychologie

BWLBiologie

Risiko

Bild 4.5: Kompetenz – Begriffsabgrenzung

Damit die Bevölkerung in der Lage ist, sich in subjektiv angemessener Weise mit Gefahren und Risiken auseinanderzusetzen, ist deren Ausstattung mit si-cherheitsspezifischen Grundkompetenzen erforderlich, wobei eine frühe und übergreifende Kompetenzvermittlung notwendig ist, d. h. über alle Entwick-lungs- und Sozialisationsstufen. Dafür bieten sich verschiedene Anknüpfungs-punkte im Laufe eines Lebens an, wie Bild 4.7 zeigt. Der früheste Zeitpunkt liegt außerhalb unserer direkten Reichweite und betrifft die Veranlagung. Anders sieht das bei der Erziehung und Sozialisation aus. Heute erfolgt, zumindest in Teilen, eine Sensibilisierung beim Umgang mit Gefahren in Abhängigkeit von der Sport- und Freizeitgestaltung (z. B. beim Flugunterricht oder Sport).

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gefahren-, gefährdungs- und risikospezifisch

fachspezifisch

regionalspezifisch

zeitspezifisch

vorgehensspezifisch

Sicherheits- wissenschaftler

Fachkräfte

Sicherheitsingenieure,-psychologen etc.

Meister

BeauftragteTechniker

Sicherheitsfachspezialisten

Fachspezialisten(Mediziner, Jurist, Betriebswirtschaftler, Pädagoge)

Bürger

universitär-generell &sicherheitswissenschaftlich-speziell

universell-speziell

speziell

universell

Bild 4.6: Adressaten zur Förderung der Kompetenzen im Umgang mit Gefahren und Risiken

Dieser Bereich sollte systematisch ausgebaut und weiterentwickelt werden. Bei der Erziehung und Sozialisation bietet sich vor allem die Zeit im Kindergarten, der Schule, der Ausbildung, dem Studium und im Berufsleben an. Bisher stand dabei das Berufsleben im Vordergrund der Sicherheitsarbeit, da so auf die be-stimmten Gefahren des jeweiligen Arbeitsplatzes eingegangen werden kann. Allgemeine Gefahren- und Risikokompetenzen werden dabei aber nur selten vermittelt, was eine weitere Optimierungsmöglichkeit zur Kompetenzvermitt-lung bietet. In den Zeitphasen vor dem Arbeitsleben spielt die Kompetenzver-mittlung im Umgang mit Gefahren und Risiken heute kaum eine Rolle, obwohl sie hier wichtig ist. Hier ist ein enormer Handlungsbedarf zu verzeichnen.

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Kapitel 4.3

Veranlagung

Erziehung und Sozialisation im Privatbereich (Freizeit, Hobby, Familie etc.)

Erziehung &Sozialisationim Kindergarten

Erziehung &Sozialisation in– Schule– Ausbildung– Studium

Erziehung undSozialisationim Beruf

(Gefahren-)Erkennung

FrühkindlicheErziehung &Sozialisation

(Risiko-)Einstellung

(Gefahren-)Bewusstsein

(Gefahren-)Erkenntnis

(Gefahren-)Wahrnehmung

(Risiko-)Intelligenz

(Gefahren-)Verarbeitung

(Gefahren-)Kognition

(Gefahren-)Verständnis

(Gefahren-)Wissen

(Gefahren-)Bereitschaft

Gefahren- und Risikokompetenz

Bild 4.7: Risikokompetenz – Vermittlungsansätze

Neben der generellen Ausstattung der Bevölkerung mit Kompetenzen im Um-gang mit Gefahren und Risiken sind die Fachspezialisten in Bezug auf ihre Fach-gebiete in einer zusätzlichen Weise diesbezüglich zu fördern. Der Handlungs-bedarf bei Fachspezialisten, wie zum Beispiel bei Ärzten, Anwälten, Politikern, Pädagogen oder Betriebswirten, ist groß. Ihre Entscheidungen haben einen er-heblichen Einfluss auf die allgemeine Sicherheitssituation und gesellschaftli-che Leistungsfähigkeit. So zeigen unsere Untersuchungen beispielsweise, dass die Vernachlässigung der Mitarbeiterreaktionen bei betrieblichen Beschlüssen von Führungskräften starke Auswirkungen auf die betriebliche Sicherheitssitu-ation, aber auch auf die allgemeine Leistungsfähigkeit der Betriebe, haben (vgl. Festag & Hartwig, 2013). Den Führungskräften fehlt es häufig an einem sicher-heitswissenschaftlichen Grundverständnis, womit ihnen dann die Konsequen-zen und Kollateralschäden ihrer Entscheidungen nicht klar sind. Die Folgen da-raus sind für die Industrie und Gesellschaft, wie wir sehen, katastrophal.

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Aus diesem Grund ist das Eingehen von Gefahren- und Risikokompetenzen in die Breite der Curricula von fachfremden Studienprogrammen sinnvoll und notwendig.

Sicherheitsfachspezialisten nehmen bei diesem Thema naturgemäß eine be-sondere Rolle ein. Diese sind mit besonderen Kompetenzen im Umgang mit Gefahren und Risiken auszurüsten, wobei die Adressaten in verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Zu ihnen zählen beispielsweise Sicherheitsbeauf-tragte, Sicherheitsfachkräfte, Sicherheitstechniker und -meister sowie die aka-demischen Fachkräfte, wie Sicherheitsingenieure, -psychologen, -soziologen und Sicherheitswissenschaftler. Für deren Aus- und Weiterbildung wurden bereits gesonderte Ausbildungs- und Studienprogramme entwickelt. Hier ist allerdings eine kontinuierliche Anpassung an die gesellschaftlichen Gefahren und Bedürfnisse vorzunehmen. In diesem Zuge müssen neue Fachgebiete ent-wickelt und tradierte weitergepflegt werden (da hier bereits systematische Er-kenntnisse vorhanden sind, die in übergeordneter Weise behilflich sind). Die akademische Ausbildung ist im sicherheitswissenschaftlichen Bereich zu stär-ken, auch um auf allen anderen Ebenen die entsprechenden Inhalte bereitstel-len zu können. Vielleicht erhält das vorliegende Programm ein ausreichendes Gehör, um diese Bewegung mit einem Impuls antreiben zu können – es wäre wünschenswert.

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Kapitel 4

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Riemann, R. & Spinath, F. (2005). Genetik und Persönlichkeit. In P. Netter und J. Henning (Hrsg): Biopsychologische Grundlagen der Persönlichkeit. Heidel-berg: Springer Verlag, S. 539–628.

Seebold, E. (2011). Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschenSprache, Stichwort: Kompetenz. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, S. 518 f. 25. Auflage.

Seidel, K. (2008). Chronologie der Sicherheitswissenschaft – Forschungsstudie über die Entwicklung der Wuppertaler Sicherheitstechnik. Bachelorthesis; Bergische Universität Wuppertal – Abteilung Sicherheitstech-nik, Fachgebiet Methoden der Sicherheitstechnik/Unfallforschung.

Skiba, R. (1973). Die Gefahrenträgertheorie. Forschungsbericht Nr. 106, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung, Dortmund.

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71

Kapitel 4

Spitzer, M. (2012). Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer Verlag.

Taleb, N. N. (2010). Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

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5

Aktuelle Situation

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Prof. Dr. Siegfried Radandt, Forschungsgesellschaft für angewandte Systemsicher-heit und Arbeitsmedizin e.V., GfS, Deutschland

Risiko- und Nutzenvergleiche sind zu zentralen Diskussionsthemen geworden. Welche Beziehungen zwischen Risiko und Nutzen gesehen werden, ist eine offe-ne Frage. Die Öffentlichkeit versteht unter Risiko und Nutzen einer Technologie weit mehr als das, was normalerweise die Natur- und Ingenieurwissenschaft darunter verstehen will, nämlich die Kombination aus Wahrscheinlichkeit von unerwünschten Ereignissen und deren Konsequenzen. Auch spielen das Katas-trophenpotenzial, qualitative Merkmale wie die Freiwilligkeit und Kontrollier-barkeit für die Beurteilung des Risikos einer Technologie eine wichtige Rolle.

Eine normative Festlegung auf eine bestimmte allgemeingültige Risikodefini-tion im Sinne der Ingenieurwissenschaft ist deshalb z. Zt. kaum konsensfähig. Nahezu alle EU-Richtlinien, die sich mit Sicherheitsfragen befassen, verlangen Risikobeurteilungsverfahren und möglichst auch eine Bewertung der Risiken. Wenn man sich mit der Definition des Risikos auseinandersetzt, kann man er-messen, dass das meist nicht einfach ist.

Einleitung

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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Risiken für Systeme; Subsysteme und Elementen in Systemen

Gesellschaft

Risiken in Firmen

Industrie

Firmen

Risiken in der Industrie

Risiken in der Gesellschaft

Schnittstellen

Schnittstellen

Bild 5.1: Risiken für Systeme, Subsysteme und Elemente in Systemen

Die Tatsache, dass sich Risiken nicht allein durch Gefährdungspotenziale, als unerwünschte Ereignisse und unvorhergesehene Geschehnisse beschreiben lassen, sondern eher durch die Wahrscheinlichkeit von deren Eintritt und die möglichen Auswirkungen führt zu Strategien im Umgang mit Risiken mit dem Ziel, solche negativen Ereignisse, Geschehnisse möglichst wenig wahrschein-lich werden zu lassen und im Falle ihres Eintritts die Auswirkungen möglichst gering zu halten. Risiken werden immer in den definierten Systemen (Betrach-tungseinheiten) analysiert. Die Ursachen für diese Risiken liegen aber nicht im-mer im definierten System selbst, sondern oft auch außerhalb, was das Behan-deln der Risiken schwierig macht (Bild 5.1 und Bild 5.2).

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Kapitel 5

Wirkzusammenhänge von Ereignis-Ursachen und Einfluss auf die Betrachtungseinheit

Umgebung – Umfeld

Betriebsstruktur

ArbeitsplatzRisiken + Ursachen

Risiken + Ursachen

Risiken + Ursachen

Risiken + Ursachen

Bild 5.2: Wirkungszusammenhänge von Ereignisursachen und Einfluss auf die Betrachtungseinheit

Was können wir aus Unfallszenarien lernen?

Viele Informationen über die Art von Risiken erhält man aus Unfallereignissen. Aus Unfallszenarien lassen sich die folgenden Fragen ableiten (Radandt, 2014):

• Was kann schieflaufen?• Wie leicht kann das passieren?• Wenn es passiert, was sind die Konsequenzen?

Schwere Unfälle können Folgen haben, die über die Grenzen des jeweiligen Be-triebsbereichs hinausreichen. Die ökologischen und wirtschaftlichen Kosten ei-nes Unfalls werden nicht nur von dem davon betroffenen Betrieb, sondern auch von den außerhalb liegenden Bereichen getragen. Daher müssen Maßnahmen getroffen werden, die solche Auswirkungen begrenzen.

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78

Eine Analyse der gemeldeten schweren Unfälle zeigt, dass in den meisten Fällen Management- bzw. organisatorische Mängel die Ursache waren. Es müssen des-halb grundlegende Prinzipien für die Managementsysteme festgelegt werden, die geeignet sein müssen, den Gefahren schwerer Unfälle vorzubeugen und sie zu verringern und die Unfallfolgen zu begrenzen.

Aus dem Europäischen MARS (Major Accident Reporting System) lassen sich ei-nige Erkenntnisse ableiten. Die Rangfolge der Ursachen stellt sich wie folgt dar:

• Freisetzung gefährlicher Stoffe (Substanzen),• Freisetzung gefährlicher Stoffe (Substanzen) in Verbindung mit Bränden

und Explosionen,• Explosionen,• Brände und Explosionen,• Brände,• Freisetzung gefährlicher Stoffe (Substanzen) und Brände,• Freisetzung gefährlicher Stoffe (Substanzen) und Explosionen,• Freisetzung gefährlicher Stoffe und Wasserkontamination,• Freisetzung gefährlicher Stoffe und Wasserkontamination und Brände

und Explosionen.

Es gibt also die unterschiedlichsten Ereigniskombinationen mit teilweise er-heblichen Dominoeffekten. Die Rangfolge der Konsequenzen ist dabei folgende:

• Materialverlust (35 %),• Verletzungen bei Personen (26 %),• Ökologische Schäden (12 %),• Zerstörung der Umwelt (10 %),• Todesfälle (9 %).

Für die Ereignisse verantwortlich waren:

• Organisationsmängel (über 50 %),• Zuverlässigkeitsprobleme mit Anlagen und Einrichtungen (30 %),• Zuverlässigkeitsprobleme mit Bedienpersonal (10 %)• und Einflüsse von außen.

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Kapitel 5

Aus einer Studie der BRD ist zu entnehmen, dass die Ereignisse zu 50 % wäh-rend des normalen Prozessablaufs stattfanden, zu 15 % bei Instandhaltung und Reparatur, zu 15 % beim Lagern, zu 12 % bei Abschalt- und Abfahrprozessen, zu 7 % beim Be- und Entladen.

Verursacht wurden sie zu 35 % durch technische Fehler (Geräte, Befestigun-gen, Flansche, Behälter, Rohrleitungen, mechanische Schäden, Korrosion, Ver-schleiß), zu 20 % durch Bedienungs- und Handhabungsfehler, zu 8 % durch or-ganisatorische Fehler, zu 15 % durch physikalische und chemische Reaktionen.

Weitere die Industriesicherheit beeinflussende Risiken können zu Gefährdun-gen führen durch:

• Versagen infolge von Fehlplanungen,• zu geringen Kapazitäten,• mangelnder Wartung und Instandhaltung, Organisationsmängeln, Fehlhand-

lungen wegen mangelnder Qualifikation und vor allem durch Sabotage und Eingriffe von außen (z. B. auch Terrorismus).

Solche gefährdeten Anlagen und Bereiche können z. B. sein: Kraftwerksanlagen und Energieversorgungssysteme, Wasserversorgungssysteme, Notfallsysteme, Verkehrsnetzwerk und Transportsysteme, Öl-Gas-Pipelines-Netzwerke, Lager-stätten für gefährliche Güter und Substanzen, Kommunikations- und Informati-onsnetzwerke, Bahn- und Hafenbetriebe, Flughäfen, Entsorgungssysteme.

Was tut man gegen einen gravierenden Störfall?

Für den Fall der Fälle gibt es ein Sicherheitssystem, das bestimmten Ideen folgt:

• Redundanz,• Entmaschung,• Diversität,• Fail-Safe und andere Aspekte.

Da auch mehrfach vorhandene gleichartige Sicherheitssysteme aus der gleichen Ursache (z. B. Konstruktionsfehler) versagen können, werden für den gleichen Zweck technisch unterschiedliche Einrichtungen vorgesehen.

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Damit ein ausfallendes Sicherheitssystem das Nachbarsystem nicht beein-trächtigt, besitzen sie keine gemeinsamen Komponenten. Außerdem werden sie räumlich getrennt und baulich besonders geschützt angeordnet. Wichtige Sicherheitssysteme werden mehrfach (redundant) angeordnet. Es sind min-destens zwei Systeme mehr vorhanden (n + 2), als für die eigentliche Funktion benötigt werden.

Um die Aussagen der verschiedenen Analysen innerhalb der Systembetrach-tung richtig einordnen zu können, ist ein komplexes Denkschema erforderlich. Ein solches Denkschema beinhaltet folgende Denkschritte:

Das Festlegen und Definieren der BetrachtungseinheitHier geht es um die eigentliche Aufgabenstellung und Abgrenzung des Systems. Es kann sich dabei um ein fiktives System oder um ein reales System handeln. Die Vorgaben sind Zeit, Raum und Zustand. Das System ist dynamisch.

Die ProblemanalyseHier werden alle Probleme, die im definierten System vorliegen, also auch die, die nicht ihren Ursprung im System selbst haben, gesucht und beschrieben.

Ursachen für die ProblemeBei diesem Schritt werden alle möglichen Ursachen, die zu den gefundenen Problemen führen oder führen können, aufgelistet.

Wirkzusammenhänge feststellenDie Abhängigkeiten von Wirkmechanismen werden dargestellt, Zusammen-hänge von Ursachen ermittelt.

Prioritäten festlegen und Zielsetzungen formulierenUm diesen Schritt zu vollziehen, muss eine Wertung der Wirkungen vonUrsachen vorgenommen werden.

Maßnahmen zur Lösung der ProblemeEs werden alle Maßnahmen für die einzelnen Probleme aufgelistet. Da sich für eine Problemlösung oft mehrere mögliche Maßnahmen anbieten, findet hier bereits eine Vorauswahl der Maßnahmen statt. Dies ist in diesem Schritt aber nur bedingt möglich.

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Kapitel 5

Widersprüche klären und Prioritäten setzenDa sich Maßnahmen für Einzelprobleme teilweise widersprechen oder gar aus-schließen können, müssen nach der Widerspruchsklärung Entscheidungen für oder gegen eine Maßnahme getroffen werden oder Kompromisse gesucht werden.

Maßnahmen für die definierte Betrachtungseinheit festlegenAus den Maßnahmen für die Einzelprobleme werden nun die Maßnahmen aus-gewählt, die innerhalb des definierten Gesamtsystems anwendbar sind.

Frage nach der Lösung für das definierte SystemHier wird abgefragt, ob die gefundenen umsetzbaren Maßnahmen Lösungen für die Probleme des Systems sind. Abfrage, ob neue Probleme entstehen. In diesem Schritt wird abgefragt, ob durch die Problemlösung neue andere Probleme entstehen.

Das Risikomanagement selbst beinhaltet folgende Schritte (vgl. Bild 5.3 bzw. Bild 5.4 und Bild 5.5):

Bild 5.3: Vorgehen nach Standardmethode

Standardmethode der Risikobeurteilung

Definieren des Systems

Identifizierung der Gefährdungen

Risikoeinschätzung

Risikobewertung

Neue Gefährdung durch Systemänderung?

Maßnahmen gegen Gefährdungen?

Reduzieren des Risikos?

Vermeidung von Gefährdungen?

nein

Ist System sicher?

System sicher?

nein

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1. Risikobeurteilung• Risikoanalyse (Identifikation von Ursachen, Abschätzen des Risikos)• Risikobewertung (Vergleich des abgeschätzten Risikos mit Risikokriterien)

2. Umgang mit Risiken• Vermeiden von Risiken• Risikoreduktion• Risikooptimierung• Risikotransfer• Festhalten an Risikostruktur

3. Akzeptanz von Risiken und Risikokommunikation

Wenn die Anwendbarkeit der Standardmethode nicht gewährleistet ist:

Betrachtungseinheit- und zustand festlegen

Analyse zur Bestimmung potenzieller Gefährdungen aus Ereignissen

Abschätzung der mit potenziellen Gefährdungen verbundenen Risiken

Vermutung!

1. Schritt der Risikobeurteilung

Sind verwertbare Informationen über die Auswirkungen verfügbar?

Nein!

Ja!

Unkenntnis

Wissen generieren

Erarbeiten der Relevanz

Bild 5.4: Vorgehen I (wenn die Standardmethode nicht gewährleistet ist)

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Kapitel 5

Bild 5.5: Vorgehen II (wenn die Standardmethode nicht gewährleistet ist)

Unsicherheit Unbestimmtheit

2. Schritt der Risikobeurteilung

Sind Bedingungen für multiplikative Verknüpfung von

Schadensausmaß und Wahrscheinlichkeit erfüllt?

Nein!

Risk Treatment nach Standardmethode

Ja!

Sind verwertbare Informationen über

Wahrscheinlichkeiten bekannt?

Vorsorge- Maßnahmen

problemorientiert entwickeln

Problemstruktur und Strategie- entwicklung

Ja!

Nein!

Zwischen unbekannten und bekannten Risiken liegen die ungeklärten Risiken:

• Unbekannte Risiken: Mangels Ansatzpunkt scheidet jede Vorsorge aus.• Ungeklärte Risiken: Aufgrund theoretischer und empirischer Befunde be-

steht ein Risikoverdacht oder eine Risikovermutung (auch bei Summations- und Kombinationsrisiken).

• Bekannte Risiken: Aufgrund theoretischen und empirischen Wissens ist ein konkreter Bedingungs- oder Wirkzusammenhang erkannt.

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Unvollständige Informationen (mangelndes Wissen) – das Vorsorgeprinzip

Das Hauptproblem der Risikoanalyse liegt im Bereich unvollständiger Informa-tionen. Nach Auffassung der EU-Kommission ist ein Rückgriff auf das sogenann-te Vorsorgeprinzip dann möglich, wenn potenzielle Gefahren eines Phänomens, Produkts oder Verfahrens durch eine unvollständige Information (mangelndes Wissen) das Vorsorgeprinzip objektive wissenschaftliche Bewertung ermittelt wurde, wenn sich das Risiko aber nicht mit hinreichender Sicherheit bestim-men lässt. Der Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip erfolgt somit im Rahmen der allgemeinen Risikoanalyse.

Die zeitabhängigen Veränderungen der Systeme, die eine Auswirkung auf Eigenschaften, Zustände, Situationen und dergleichen haben, bedingen Me-thoden, die es erlauben, komplexe sicherheits- und gesundheitsrelevante Zu-sammenhänge auch retrospektiv zu erkennen, komplexe Sicherheits- und Ge-sundheitsprobleme zu beschreiben.

Die Dynamik von Systemen ist gekennzeichnet durch das zeitliche Verhalten des Systems. Statische Systeme zeigen ohne Einflüsse von außen sowohl auf der Makroebene als auch auf der Mikroebene keine Veränderungen. Dynami-sche Systeme sind auf der Mikroebene dauernden Veränderungen unterwor-fen, können aber zumindest zeitweise auf der Makroebene einen stationären Zustand einnehmen.

Literatur

Radandt, S. (2014). Sicherheitswissenschaft als Instrument zum Umgang mit Risiken in der Industrie. S. Festag (Hrsg.): Umgang mit Risiken – Qualifizierung und Quantifizierung. XXVII. Sicherheitswissenschaftliches Symposion der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft. Reihe Sicherheit, Berlin: Beuth-Verlag, S. 5–14.

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Ansätze zur Risikobeurteilung in Deutschland – internationale und europäische Anforderungen

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Dr. Willi B. Marzi, SK, Deutschland

Die Beschäftigung mit Risiken ist keine neue Aktivität, weder in Deutschland noch international. Es gibt in einzelnen Politikfeldern schon seit Jahrzehnten Ansätze, Verfahren und Festlegungen. MAK-Werte, die Seveso-Richtlinie und die Regelungen im Hochwasserschutz sind Beispiele, es gibt viele andere mehr.

Die systematische Beschäftigung mit Risiken im Bevölkerungsschutz ist hinge-gen eine – im Vergleich dazu – neuere Entwicklung. Ich möchte Ihnen im Fol-genden einen kurzen Überblick über die Entwicklung in Deutschland und den aktuellen Sachstand auf diesem Sektor geben. Ergänzend beleuchte ich kurz die Entwicklungen in einigen unserer Nachbarländer, in der Europäischen Union und beispielhaft in der OECD. Was ist Gegenstand des Bevölkerungsschutzes? Das Glossar des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) aus dem Jahr 2011 führt dazu aus:

Der Bevölkerungsschutz beschreibt als Oberbegriff alle Aufgaben und Maßnahmen der Kommunen und der Länder im Katastrophenschutz sowie des Bundes im Zivil-schutz.

Anmerkung: Der Bevölkerungsschutz umfasst somit alle nichtpolizeilichen und nichtmilitärischen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen vor Katastrophen und anderen schweren Notlagen sowie vor den Auswirkungen von Kriegen und bewaffneten Konflikten. Der Bevölke-rungsschutz umfasst auch Maßnahmen zur Vermeidung, Begrenzung und Be-wältigung der genannten Ereignisse. Die Definition umfasst somit nicht die all-gemeine Gefahrenabwehr, wie sie beispielsweise von den Feuerwehren in ihrer alltäglichen Arbeit wahrgenommen wird.

6.1 Einleitung

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Es gibt zwei Verantwortliche im Bevölkerungsschutz: den Bund und die Län-der (die Kommunen sind Ausführende im Katastrophenschutz). Der Schutz der Zivilbevölkerung im Verteidigungsfall obliegt dem Bund (Art. 73 Nr. 1 GG). Für alles Übrige liegt die Zuständigkeit für den Schutz der Bevölkerung bei den Ländern. Dies umfasst die Auswirkungen von Natur- und technischen Katast-rophen ebenso wie von Pandemien oder terroristischen Anschlägen. Das heißt aber nicht, dass dem Bund bei Katastrophen keine Rolle zuwächst. Beim Elb-hochwasser im letzten Jahr waren die Bundeswehr, das Technische Hilfswerk und die Bundespolizei als Bundesinstitutionen in erheblichem Umfang im Ein-satz. Diese Hilfsleistungen geschehen aber nur auf Bitten der Länder und Kom-munen im Rahmen der Amtshilfe gemäß Art. 35 Abs. 2 und 3 GG.

Die unterschiedlichen Zuständigkeiten bedeuten aber nicht, dass Bund und Länder unkoordiniert ihre jeweiligen Aufgaben wahrnehmen. Als Folge der An-schläge am 11. September 2001 und des Hochwassers an Elbe und Oder im Som-mer 2002 haben sich Bund und Länder im Jahre 2002 auf eine „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ verständigt. Leitmotiv der „Neu-en Strategie“ ist ein verstärktes partnerschaftliches Zusammenwirken über fö-derale Grenzen hinweg, Bevölkerungsschutz als Gemeinschaftsaufgabe allein im politischen Sinne. Kernelemente der „Neuen Strategie“ sind die intensive Verzahnung und Abstimmung der Planungen und Verfahren sowie die verbes-serte Koordinierung und Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Grundlage hierfür sollen Gefährdungs- und Risikoanalysen sein.

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6.2 Entwicklungen in Deutschland im Zeitraum 2002 – 2010

In Umsetzung dieser Strategie hat der Bund im Jahr 2003 mit seiner zum BBK gehörenden Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) Problemstudien zu Risiken in Deutschland durchgeführt. Gegenstand dieser Studien waren die erkannten Gefahrenpotenziale aus Sicht des Bevölke-rungsschutzes und deren Auswirkungen auf Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Problemstudien enthielten darüber hinaus Aussagen zu Möglichkeiten der Gefahrenprävention.

Als nächster Schritt erfolgte in den Jahren 2004/2005 die Erstellung von Ge-fährdungsabschätzungen durch die für den Katastrophenschutz zuständigen Länder. Die Abschätzungen erfolgten nach einheitlicher Struktur und auf der Grundlage eines Kennziffernkatalogs, auf den sich Bund und Länder verstän-digt hatten. Es wurden dabei ebenso technogene und anthropogene wie auch Naturgefahren als Auslöser für großflächige und/oder lang andauernde bzw. schwierig zu bewältigende Schadenslagen berücksichtigt.

Die Gefährdungsabschätzungen der 16 Länder wurden vom Bund ausgewer-tet, zusammengefasst und ergänzt. Damit stand Ende 2005 erstmals in der Ge-schichte des Bevölkerungsschutzes eine bundesweite Gefährdungsabschätzung zur Verfügung.

Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit von Bund und Ländern führte dann im Jahr 2006 zu der Bitte der Länder an den Bund, eine einfach umsetzbare Me-thode für die Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz zu entwickeln, die auf al-len Verwaltungsebenen für alle Risiken anwendbar sein sollte. Das BBK hat sich dieser Aufgabe angenommen. Bei der Entwicklung der Methode konnte auf die Arbeiten zur Gefährdungsabschätzung ebenso zurückgegriffen werden wie auf die bei anderen Bundesbehörden, bei ausländischen Partnerbehörden und Wissenschaftseinrichtungen vorliegenden Erfahrungen. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Arbeiten aus den Niederlanden, dem Vereinigten

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Königreich und der Schweiz. Im Jahr 2010 konnte dann eine Methode für die Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz vorgestellt werden, die den Belangen des Bundes ebenso Rechnung trug wie den von den Ländern genannten Kriterien.

Ein weiterer wichtiger Meilenstein war das Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (ZSKG), das am 9.4.2009 veröffentlicht wurde. Gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 des ZSKG erstellt der Bund im Zusammenwirken mit den Ländern eine bundesweite Risikoanalyse für den Zivilschutz. Das Bun-desministerium des Innern unterrichtet den Deutschen Bundestag über die Er-gebnisse der Risikoanalyse ab 2010 jährlich. Damit besteht nunmehr auch eine gesetzliche Grundlage für die Erstellung der Risikoanalyse.

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Die Planung von Schutzmaßnahmen im Bevölkerungsschutz muss sich an den Gefahren und Risiken orientieren, mit denen die Bevölkerung konfrontiert wer-den kann. Die Risiken zu analysieren, ist ein zentraler Bestandteil des Risikoma-nagements auf allen Verwaltungsebenen (Bild 6.1).

Die Risikoanalyse wurde dafür als Instrument auf fachlicher Basis entwickelt. Sie ist ein Verfahren, mit dem Risiken sachlich nüchtern analysiert werden. Sie enthält keine politische Bewertung von Risiken oder erforderlichen Vorsorge-maßnahmen. Sie erlaubt darüber hinaus den Vergleich von Risiken. Die Risiko-analyse dient als politisches Entscheidungs- und administratives Planungsins-trument.

Risiko wird im Kontext mit der Risikoanalyse wie folgt definiert:

Maß für die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines bestimmten Schadens an einem Schutzgut unter Berücksichtigung des potenziel len Schadensausmaßes.

Das bedeutet, die Risikoanalyse beschäftigt sich mit Eintrittswahrscheinlich-keiten und Schadensausmaß. Die Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit bezieht sich auf eine Gefahr bestimmter Intensität. Das Schadensausmaß ist für die bei Eintritt des Ereignisses an unterschiedlichen Schutzgütern zu erwarten-den Schäden zu bestimmen.

6.3 Methode für die Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz

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Bild 6.1: Risikomanagement (BT-Drucksache (2010), 17/4178 vom 9.12.2010)

RISIKOMANAGEM

ENTKontext herstellen

Risiken identifizieren

Risiken analysieren

Risiken bewerten

Risiken behandeln

Die Belastbarkeit der Ergebnisse von Risikoanalysen ist abhängig von den vor-handenen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den vorhandenen Daten. Die immer vorhandenen Wissensdefizite müssen durch begründete Annahmen und Schätzungen aufgefangen werden. Wichtig für die Glaubwürdigkeit und Nach-vollziehbarkeit ist dabei eine sorgfältige Dokumentation aller Einzelschritte der Risikoanalyse. Wird eine Risikoanalyse in Angriff genommen, so ist die für die Erreichung des Ziels notwendige Detailtiefe zu definieren, die es erlaubt, in endlicher Zeit zu Ergebnissen zu gelangen.

Die Erstellung einer Risikoanalyse für den Bevölkerungsschutz gliedert sich in vier Schritte:

• Erstellung des Szenarios,• Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeit,• Ermittlung des Schadensausmaßes,• Visualisierung des Risikos.

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Kapitel 6.3

Bei der Erstellung des Szenarios ist zu beachten, dass die Detailtiefe groß ge-nug sein muss, um Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß verläss-lich abschätzen zu können. Je größer die Detailtiefe, desto überproportional umfangreicher und aufwendiger werden die nachfolgenden Schritte. Bei einer Risikoanalyse im Bundesmaßstab wird der Ansatz generischer sein als auf kom-munaler Ebene. Die Auswahl der Szenarien sollte so erfolgen, dass Wahrschein-lichkeit und Schadensausmaß eine für die Verwendung im Risikomanagement vernünftige Größenordnung haben. Megakatastrophen sind für diesen Zweck ebenso wenig geeignet wie Ereignisse mit geringen Auswirkungen. Ein „Reason-able Worst Case“ wird zugrunde gelegt, vorzugsweise basierend auf Ereignis-sen, die in historischer Zeit stattgefunden haben. Das Szenario hat die folgende Struktur:

• Definition der Gefahr/Ereignisart• Beschreibung des Ereignisses:

– Ort des Auftretens/räumliche Ausdehnung – Zeitpunkt – Auslösende Ereignisse – Intensität, Dauer und Verlauf – Vorhersagbarkeit/Vorwarnung/Kommunikation – Behördliche Maßnahmen

• Auswirkungen auf kritische Infrastrukturen/Versorgung• Betroffene Schutzgüter• Referenzereignisse• Literatur/weiterführende Informationen

Die Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeit hat zum Ziel, das Ereignis einer der nachstehenden Klassen zuordnen zu können. Die bislang durchgeführten Risikoanalysen des Bundes bewegen sich im Bereich der Klasse C (siehe Tabelle 6.1).

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Eintrittswahrscheinlichkeits-Klassen

A: sehr unwahrscheinlichein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von über 10.000 Jahren eintritt

B: unwahrscheinlichein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 1.000 bis 10.000 Jahren eintritt

C: bedingt wahrscheinlichein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt

D: wahrscheinlichein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von 10 bis 100 Jahren eintritt

E: sehr wahrscheinlichein Ereignis, das statistisch in der Regel einmal in einem Zeitraum von über 10 Jahren oder häufiger eintritt

Tabelle 6.1: Eintrittswahrscheinlichkeits-Klassen (BT-Drucksache, 2013, 18/208, Anhang 1)

Der aufwendigste Schritt bei der Erstellung von Risikoanalysen ist die Ermitt-lung des Schadensausmaßes bezogen auf die zu berücksichtigenden Schutzgü-ter. Diese werden in vier Klassen von Schutzgütern – Mensch, Umwelt, Volks-wirtschaft und immateriell – eingeteilt, die in weitere Schadensparameter unterteilt werden. Nicht jedes Szenario hat Auswirkungen auf alle Schutzgüter, zum Beispiel hat ein Humanseuchengeschehen keine Auswirkungen auf die Umwelt (Tabelle 6.2).

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Kapitel 6.3

Schadensparameter

Mensch ToteVerletzteHilfsbedürftigeVermisste

Umwelt Schädigung geschützter GebieteSchädigung von Oberflächengewässern/GrundwasserSchädigung von WaldflächenSchädigung landwirtschaftlicher NutzflächeSchädigung von Nutztieren

Volkswirtschaft Auswirkungen auf die öffentliche HandAuswirkungen auf die private WirtschaftAuswirkungen auf die privaten Haushalte

Immateriell Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit und OrdnungPolitische AuswirkungenPsychologische AuswirkungenSchädigung von Kulturgut

Tabelle 6.2: Schadensparameter (BT-Drucksache, 2013, 18/208, Anhang 3)

Die Klassifizierung der Schadensparameter erfolgt durch die Zuordnung zu Schadensklassen. In Abhängigkeit vom Schadensparameter ist die Schadensaus-maß-Klasse durch Zahlen oder durch Beschreibungen definiert. Nachstehend sind zwei Beispiele für die Klassifizierung der Schadensparameter „Verletzte, Erkrankte“ (siehe Tabelle 6.3) und „Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (siehe Tabelle 6.4) gezeigt. Dass Schadensparameter beschrei-bend definiert sind, bedeutet nicht, dass sie nicht quantifizierbar sind.

Schadensparameter (Verletzte/Erkrankte)

A: < 10 Verletzte/Erkrankte

B: > 10 – 100 Verletzte/Erkrankte

C: > 100 – 1.000 Verletzte/Erkrankte

D: > 1.000 – 10.000 Verletzte/Erkrankte

E: > 10.000 Verletzte/Erkrankte

Tabelle 6.3: Schadensparameter: Verletzte, Erkrankte (BT-Drucksache, 2013, 18/208, Anhang 2)

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Anmerkung: Betrachtet werden hier Personen, die durch das Ereignis im Be-zugsgebiet verletzt werden oder im Verlauf des Ereignisses bzw. in dessen Folge so erkranken, dass sie ärztlich oder im Gesundheitswesen betreut werden müs-sen (hier sind auch Langzeitschäden/Spätfolgen mit zu berücksichtigen).

Zur Ermittlung des gesamten Schadensausmaßes gelangt man durch Additi-on der einzelnen Schadensparameter und Division durch die Anzahl der Scha-densparameter. Die Visualisierung des Ergebnisses der Risikoanalyse erfolgt durch die Darstellung in einer Risikomatrix (Bild 6.2). Eine weitere detaillier-tere Möglichkeit ist die Darstellung als Balkendiagramm, die weiter unten an einem konkreten Beispiel gezeigt wird. Die Ergebnisse von Risikoanalysen wer-den darüber hinaus in einer umfangreichen Dokumentation festgehalten, die den wertvollsten Teil darstellt. Auf dieser Grundlage können Fachbehörden des Bundes, der Länder und Kreise für ihren Bedarf detailliertere Analysen erstellen.

Schadensparameter (Verletzte/Erkrankte)

A: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist problemlosmöglich

B: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist auf regionalerEbene mit leicht erhöhtem Aufwand möglich

C: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist auf regionalerbis überregionaler Ebene nur mit erhöhtem Aufwand möglich

D: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist überregionalmit großem Aufwand verbunden bzw. regional gefährdet

E: Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist überregionalbis bundesweit gefährdet

Tabelle 6.4: Schadensparameter: Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung (BT-Drucksache, 2013, 18/208, Anhang 2)

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97

Kapitel 6.3

Bild 6.2: Risikomatrix (Quelle BBK 4/2014)

A B C D E

A

B

C

D

E

Eintrittswahrscheinlichkeit

Scha

dens

ausm

Die Risikoanalyse ist kein Selbstzweck, sie ist Teil des Risiko- und Krisenma-nagements. Nächster Schritt nach der Analyse ist die Festlegung von Schutz-zielen und die Risikobewertung. Die Verwaltung kann hierzu Vorschläge ent-wickeln, die Entscheidung liegt aber eindeutig bei der Politik. Hier stehen wir noch am Anfang.

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Die Implementierung der Risikoanalyse des Bundes im Bevölkerungsschutz er-fordert ein interdisziplinäres Zusammenwirken über Ressortgrenzen hinweg. Der Lenkungsausschuss „Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund“ sowie der Arbeitsausschuss „Risikoanalyse Bevölkerungsschutz Bund“ nehmen diese Aufgabe wahr.

Der Lenkungsausschuss unter der Federführung des BMI gibt einvernehmlich die Rahmenbedingungen vor. Die Schadensparameter und deren Klassifizie-rung werden in diesem Gremium festgelegt, ebenso wie die zu analysierenden Gefahren.

Der Arbeitskreis erarbeitet die Risikoanalyse. Er setzt sich aus Geschäftsbe-reichsbehörden der Bundesressorts zusammen. Die Federführung liegt bei der hauptsächlich betroffenen Behörde, dem „Risk Owner“. Die Zusammensetzung des Arbeitskreises hängt von der zu bearbeitenden Gefahr ab. Das BBK unter-stützt in jedem Fall die Arbeit des Arbeitskreises. Erkenntnisse aus dem Arbeits-kreis fließen in die Arbeit des Lenkungsausschusses ein (Bild 6.3).

6.4 Implementierung der Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz

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99

Kapitel 6.4

Bild 6.3: Lenkungsausschuss „Risikoanalyse BevS Bund“ (BT-Drucksache, 2011, 17/8250, vom 21.12.2011)

Lenkungsausschuss „Risikoanalyse BevS Bund“

Mitglieder: Vertreter der Ressorts

Funktion/Aufgaben:

• legt die methodischen Rahmenbedingungen der Risikoanalyse fest (Schadensparameter, Klassifizierung/Schwellenwerte usw.)• wählt die zu analysierenden Gefahren aus• erteilt dem Arbeitskreis Arbeitsauftrag/Aufgabenstellung• bewertet die Ergebnisse des Arbeitskreises

Arbeitskreis „Risikoanalyse BevS Bund“

Mitglieder: Vertreter der Geschäftsbereichsbehörden

Funktion/Aufgaben:

• entwickelt Szenarien für die ausgewählten Gefahren• führt Risikoanalysen durch (gefahrenspezifische Arbeitsgruppen)• bindet weitere Expertise ein (Wissenschaft, Wirtschaft, Länder …)• bereitet Ergebnisse der Analysen für den Lenkungssauschuss auf• bereitet den jährlichen Bericht an den Bundestag vor

Vorgaben Erkenntnisse

Bei der Auswahl der zu analysierenden Gefahren konnte neben den in den Res-sorts vorliegenden Erkenntnissen auf eine Vielzahl einschlägiger Dokumente zurückgegriffen werden. Die wichtigsten sind nachstehend aufgeführt:

• Problemstudie Risiken für Deutschland,• Gefährdungsabschätzungen der Länder und des Bundes,• Gefahrenberichte der Schutzkommission,• Grünbuch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit,

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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• TAB-Bericht zur Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Strom-versorgung,

• Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel.

Kriterium für die Auswahl der Gefahren und Risiken war in erster Linie die Bun-desrelevanz, d. h. Gefahren und Ereignisse, die länderübergreifend und/oder so gravierend sind, dass sie die Reaktionsmöglichkeiten eines einzelnen Landes übersteigen. Man verständigte sich 2011 auf die nachfolgende Liste, die Anfang dieses Jahres vom Lenkungsausschuss betätigt wurde. Pro Jahr können derzeit ein bis zwei Risikoanalysen durchgeführt werden. Der aktuelle Sachstand er-gibt sich ebenfalls aus der Liste (Quelle BBK 4/2014):

• Außergewöhnliches Seuchengeschehen (z. B. Pandemie/Epidemie) 2012 abgeschlossen,

• Beeinträchtigung/Ausfall von KRITIS,• Dürre,• Ereignisse durch Pflanzenpathogene und Schädlinge,• extraterrestrische Gefahren (Sonnensturm, Meteoriteneinschlag,

Weltraumschrott),• Freisetzung von biologischen Stoffen,• Freisetzung von chemischen Stoffen,• Freisetzung von radioaktiven Stoffen in Vorbereitung,• Hitzeperiode,• Hochwasser 2012 abgeschlossen,• Kälteperiode,• Niedrigwasser,• seismische Ereignisse (natürlich oder induziert, z. B. durch Bergbau),• Starkniederschlag (Regen, Schnee etc.),• Sturm 2013 abgeschlossen,• Sturmflut aktuell in Bearbeitung,• Tierseuchen,• Wildfeuer (Waldbrand, Moorbrand, Heidebrand).

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Die Risikoanalyse „Sturm“ mit einem Szenario „Wintersturm“ wurde Ende 2013 abgeschlossen. Das Szenario war so gewählt, dass alle Länder, allerdings mit unterschiedlicher Intensität, betroffen sind. Der Ansatz war behördenüber-greifend, insgesamt waren die folgenden 16 Institutionen beteiligt:

• Deutscher Wetterdienst (fachliche Federführung),• Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe,• Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung,• Bundesnetzagentur,• Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung,• Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung,• Bundesanstalt Technisches Hilfswerk,• Bundesamt für Güterverkehr,• Luftfahrt-Bundesamt,• Eisenbahn-Bundesamt,• Bundesanstalt für Straßenwesen,• Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit

Sicherheitsaufgaben,• Bundesamt für Naturschutz,• Bundesanstalt für Immobilienaufgaben,• Bundespolizei,• Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie.

Die Analyse erfolgte auf der Grundlage vorliegender Erkenntnisse und Experten- einschätzungen. Der Abstraktionsgrad trug der übergeordneten Bundespers-pektive Rechnung. Die Risikoanalyse kann bei Bedarf durch detaillierte Folge-analyse ergänzt werden. Dies kann fachliche (Ressorts, Fachbehörden) als auch räumliche (Länder, Landkreise) Aspekte umfassen. Als Eintrittswahrscheinlich-keit wurde die Klasse C ermittelt: bedingt wahrscheinlich (ein Ereignis, das in der Regel einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1.000 Jahren eintritt).

6.5 Risikoanalyse Wintersturm

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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Die Klassifizierung des Schadensausmaßes für die Schadensparameter ist in Form eines Balkendiagramms dargestellt, siehe Bild 6.4.

Das gemittelte Gesamtschadensausmaß ist der Klasse C zuzuordnen.

Schutzgut Schadensparameter Schadensausmaß A B C D E

MENSCH

M1 Tote

M2 Verletzte, Erkrankte

M3 Hilfebedürftige

M4 Vermisste

UMWELT

U1 Schädigung geschützter Gebiete

U2 Schädigung von Oberflächen- gewässern/Grundwasser

U3 Schädigung von Waldflächen

U4 Schädigung landwirtschaftlicher Nutzflächen

U5 Schädigung von Nutztieren

VOLKSWIRT-SCHAFT

V1 Auswirkungen auf die öffentliche Hand

V2 Auswirkungen auf die private Wirtschaft

V3 Auswirkungen auf die privaten Haushalte

IMMATRIELL

I1 Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung

I2 Politische Auswirkungen

I3 Psychologische Auswirkungen

I4 Schädigung von Kulturgut

Bild 6.4: Schadensparameter für das Schadensausmaß (BT-Drucksache, 2013, 18/208, Anhang 3)

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Wie bereits eingangs erwähnt, finden Entwicklung und Durchführung der Ri-sikoanalyse unter Berücksichtigung der internationalen Aktivitäten statt. Es folgt ein intensiver Informationsaustausch auf vielen Ebenen. So findet z. B. parallel zu dieser Veranstaltung ein Workshop mit Österreich und der Schweiz (DACH-Format) zum Thema Risikoanalyse statt.

Hervorzuheben ist der bilaterale Erfahrungsaustausch auch mit den Nieder-landen, dem Vereinigten Königreich, Dänemark, den USA und China. Kontakte bestehen zu zahlreichen weiteren Staaten. Grenzüberschreitende Pilotprojekte finden mit Nachbarstaaten statt.

Die EU hat sich des Themas angenommen und Ende 2010 die „Risk Assessment and Mapping Guidelines for Disaster Management“ veröffentlicht. Das Papier enthält umfangreiche Informationen zur Risikoanalyse und -bewertung und zu den Methoden. Deutschland hat die EU-Kommission bei der Erstellung der Richtlinien intensiv unterstützt, unter anderem durch die Veranstaltung eines gemeinsamen internationalen Workshops im Frühjahr 2010 in Berlin. Es ist da-her nicht verwunderlich, dass die Empfehlungen der Kommission kompatibel mit den deutschen Aktivitäten sind.

Die EU hat dann 2012 die Erstellung eines sektorübergreifenden Überblicks über die Hauptrisiken innerhalb der EU in Angriff genommen. Diese Aktivität krankt daran, dass die Mitgliedsstaaten sich in sehr unterschiedlichen Stadien der Implementierung der Risikoanalyse befinden und damit eine einheitliche Datenbasis nicht gegeben ist. Um den Implementierungsprozess zu befördern, unterstützt die Kommission die Mitgliedsstaaten aktiv beim Erfahrungsaus-tausch.

Die künftige italienische Ratspräsidentschaft plant eine weitere Initiative zum Risk Assesssment und hat zur Vorbereitung einen umfänglichen Fragebogen an die Mitgliedsstaaten übermittelt. Zu erwähnen sind weiterhin die Aktivitäten der

6.6 Internationale Aktivitäten

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

104

OECD. Die OECD hat ein „High Level Risk Forum“ eingerichtet, das einen brei-teren All-Gefahren-Ansatz (Multi Hazard Approach) unter Einschluss von Wirt-schafts- und Finanzkrisen verfolgt. Deutschland ist durch BMI/BBK vertreten.

2012 hat die OECD ein „Methodological Framework for Disaster Risk Assess-ment and Risk Financing“ erarbeitet. Dieser ausgezeichnete Überblick beleuch-tet zusätzlich zum allgemeinen Risk Assessment auch die Rolle von Versiche-rern und Rückversicherern bei der Krisenbewältigung.

Die OECD bietet den Mitgliedsstaaten die Untersuchung ihres Krisenmanage-mentsystems an. Ergebnisse liegen zu Japan und Italien vor.

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Die deutsche Methode „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ hat sich be-währt und sie ist für alle Ebenen der Verwaltung anwendbar. Die Methode ist allerdings nicht in Stein gemeißelt, sie muss mit zunehmendem Erfahrungs-schatz optimiert werden. Sofern Katastrophen eintreten, für die vergleichbare Risikoanalysen vorliegen, sollten diese anhand der gewonnenen Erfahrungen überprüft werden. Die Festlegung von Schutzzielen und der an dieser Messlat-te vorzunehmende Soll-Ist-Abgleich existieren erst in sehr geringem Umfang. Hier bleibt ebenso wie bei der Risikobewertung noch viel zu tun. Die Risiko-analysen des Bundes sollten durch entsprechende Aktivitäten der Länder und Kreise ergänzt und vertieft werden.

Die deutsche Methode „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ ist mit den Empfehlungen von EU und OECD kompatibel. Somit sind auch die Ergebnisse gut für das geplante Risikokataster der EU verwendbar. Die bilaterale interna-tionale Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Sie wird erleichtert durch sehr ähnliche Ansätze, wenngleich in der Art der Implementierung deutliche Unter-schiede in den verschiedenen Staaten feststellbar sind.

Grenzüberschreitende Risiken und deren Bewältigung werden künftig mehr in den Fokus rücken.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass wir bei der Risikobeurteilung auf einem guten Weg sind. Einiges ist bereits erreicht worden, aber vieles bleibt noch zu tun, unabhängig davon, dass die Risikobeurteilung ein kontinuierlicher Prozess ist und somit immer wieder an neue Rahmenbedingungen und Gefähr-dungen angepasst werden muss.

6.7 Fazit

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Sicherheitswissenschaft:Risikokompetenz ohneInformationstechnik?

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Dr. Ralf Mock, Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW, Schweiz

Durch die immer stärkere Vernetzung technischer Systeme, z. B. von Produkti-onssystemen, durch die Informationstechnik (IT) haben sich diese in einer Art und Weise verändert, die eine Anpassung der Sicherheitswissenschaft an diesen Wandel erforderlich machen. Diese Anpassung hat bisher nicht stattgefunden und der Sicherherheitswissenschaft droht, den Anschluss an die moderne Tech-nik zu verlieren. Der Beitrag skizziert den Wandel über Beispiele aus der IT und leitet Anforderungen an und Lösungsansätze für die Sicherheitswissenschaft ab. Es gilt, die Gefahren, die aus dem IT-Einsatz entstehen, mit in den metho-dischen Apparat der Sicherheitswissenschaft aufzunehmen. Ebenso bedeutet dies, zusammen mit der Informatik Tools zu entwickeln, die sicherheitstech-nische oder risikoanalytische Analysen von Systemen effizienter machen. Auch hier lassen sich Ansätze aus der Informatik nutzen, z. B. die Verwendung von Unified Modelling Language Diagrams (UML) und das Denken in Funktionsebe-nen technischer Systeme.

Zusammenfassung

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Sicherheitswissenschaft beschäftigt sich mit einer Vielzahl von Themen, für die sie einen methodischen Rahmen schafft. Der Beitrag greift jenen Teilbereich heraus, der sich in Theorie und Praxis mit Industrie- und Produktionssyste-men befasst. In diesem Bereich hat die Sicherheitswissenschaft zwei Aufga-ben: Technische Systeme sind so zu gestalten, dass ihr Betrieb für Mensch und Umwelt sicher ist. Hierfür liefern Ingenieurwissenschaften das notwendige Rüstzeug. Die zweite Aufgabe besteht in der Beurteilung dieser Systeme auf Sicherheit und damit allgemein auf Akzeptanz. Die Sicherheitswissenschaft teilt sich damit in einen objektiv-quantitativen und einen subjektiv-qualitati-ven Anteil auf. Die Risikoanalytik als Teil der Sicherheitswissenschaft spiegelt diese Zweiteilung wider. Sie identifiziert zunächst Gefährdungen und liefert Risikozahlen auf der Grundlage einer ingenieur-technischen Vorgehensweise. Das Risiko-Assessment beurteilt diese Risikozahlen anhand von Akzeptanzkri-terien, um Entscheidungen treffen zu können, ob risikoreduzierende Maßnah-men erforderlich sind. Die Akzeptanzkriterien stammen aus nicht technischen Disziplinen wie regulatorischen Vorgaben, Ökonomie und Soziologie. Die zu-nehmende Vernetzung technischer Systeme durch die Informationstechnik (IT) bedeutet einen Wandel, der eine formal schlüssige, objektive Beschreibung von Systemen immer schwieriger oder zumindest aufwendiger macht. Damit ist der Rahmen dieses Beitrages grob umrissen: der Umgang der (angewandten) Sicherheitswissenschaft mit IT-abhängigen Infrastrukturen. Er skizziert dabei anlagentechnische und IT-infrastrukturelle Systeme und zugehörige Metho-den der Risikoanalyse. Der Beitrag zeigt den Wandel durch die zunehmende Vernetzung technischer Systeme auf Komponenten- und Systemebene durch die IT beispielhaft auf. Neue Aufgaben und Probleme der Sicherheitswissen-schaft werden abgeleitet sowie Lösungsansätze aus der Informatik. Der Beitrag schließt mit dem Versuch eines Fazits. Im Anhang finden sich kurze Exkurse zur IT Security und zu den angesprochenen IT-Techniken SCADA, RFID und NFC.

7.1 Einleitung

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7.2.1 Anlagentechnisch

Die Sicherheitswissenschaft blickt auf eine lange Tradition zurück. Sie hat dabei ein in sich geschlossenes Konzept zur Analyse und Beurteilung technischer Sys-teme entwickelt. Typischerweise sind dies Anlagen und Organisationsstrukturen mit definierbaren Systemgrenzen. Dies spiegelt auch der Systembegriff wider:

Definition 1 (System). Eine Ansammlung von Entitäten, die auf die Erfüllung eines gewissen logischen Ziels hin agieren und zusammenwirken (nach [25]).

Diese Systemdefinition beruht somit darauf, dass ein System durch seine zu-sammenhängenden Entitäten, z. B. technische Komponenten, beschreibbar ist. Lassen sich diese Entitäten über ihre Systemgrenzen definieren, dann kommen die bekannten Werkzeuge der sicherheitstechnischen Systemanalyse zum Ein-satz:

• semi-formal: HAZOP (Hazard and Operability Study), FMEA (Failure Mode and Effects Analysis), Bow-Tie-Diagramm u. a.,

• formal: Fehlerbaumanalyse (Fault Tree Analysis, FTA), System-Theoretic Accident Model and Processes; System-Theoretic Process Analysis (STAMP; STPA) Markov-Zustandsdiagramme, Prozess-Simulation (System Dynamics Models, Bayessche Netzwerke u. a.)

Der Blickwinkel der Analysen ist von innen nach außen gerichtet: Ein gefährli-cher Stoff könnte aus einer gesicherten oder geschützten Umgebung in die Um-welt entweichen und diese schädigen. Diese Umwelt stellt den zu bewahrenden Wert dar (Asset). Der umfangreiche methodische Apparat der Sicherheitswis-senschaft lässt sich anhand der probabilistischen Sicherheits- oder Risikoana-lysen (PSA, PRA) in der nuklearen Energieerzeugung zeigen, z. B. [7]. Lees Stan-dardwerk [13] zeigt Vergleichbares für die chemische Industrie.

7.2 Systeme und Analysen

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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7.2.2 IT-infrastrukturell

Die Sicherheitswissenschaft kann sich mit IT-infrastrukturellen Systemen auf zwei Abstraktionsebenen beschäftigen. Die umfassendere Ebene ist das Infor-mationssystem (IS), definiert als:

Definition 2 (Informationssystem). Ein System […] zum Erfassen, Speichern und Verarbeiten von Daten sowie zur Übermittlung von Informationen, Wissen und digitalen Produkten (nach Enc. Brit. Online).

IS beschreiben nicht nur Computer-Technik, wie in der Definition angedeutet, sondern informationsverarbeitende Systeme allgemein. Dazu gehören Ge-schäftsprozesse, aber auch ein Vortrag vor Publikum.

Die Definition von IT ist dann der Übergang von abstrakten IS zu konkreten Ge-räten und Programmen.

Definition 3 (Informationstechnik). […] Oberbegriff für die Informations- und Datenverarbeitung sowie für die dafür benötigte Hard- und Software (informa-tionstechnisches System [Wikipedia; 8. Jan. 2014]).

Die Analysen von IT-Systemen beruhen auf einer anderen Tradition als die tra-ditionelle Sicherheitswissenschaft, wobei auch der Blickwinkel der Analysen ein anderer ist (vgl. [17]). Die IT dreht die Betrachtungsweise um: Die Umwelt bedroht den zu bewahrenden Wert (Asset), z. B. durch einen Hackerangriff auf Firmendaten. Zudem wird angenommen, dass eine bekannte Bedrohung (thre-at) nur zu Konsequenzen führt, wenn sie auf eine passende Schwachstelle (Vul-nerability) trifft. Auf dieser Sichtweise beruht das Risk Assessment im Rahmen der IT Security, wie im Leitfaden NIST [1] deutlich wird (Bild 7.1).

Die üblichen (und raren) Methoden des IT Risk Assessment sind in Tabelle7.1 zusammengestellt.

Die Methoden der Tabelle 7.1 sind dabei methodisch sehr einfach und beru-hen auf Checklisten oder einem FMEA-ähnlichen Ansatz. CORAS beruht auf Graphen (genauer auf einem Typ der Unified Modelling Language Diagramme (UML), ist aber letztlich nur ein Werkzeug zur Unterstützung des Brainstor-mings.

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Kapitel 7.2

Bild 7.1: IT Risk Assessment (aus: [1])

ThreatSource

ThreatEvent

VulnerabilityAdverse Impact

initiates exploits causing

withCharacteristics(e.g., Capability,

Intent, andTargeting for Adversarial

Threats)

withSequence

ofactions,

activities,or scenarios

with Riskas a combination of

Impact and Likelihood

withLikelihood

ofInitiation

withLikelihood

ofSuccess

withDegree

PredisposingConditions

Inputs from Risk Framing Step(Risk Management Strategy or Approach)

Influencing and Potentially Modifying KeyRisk Factors

Security ControlsPlanned /

Implemented

with Severity

In the context of

with Pervasiveness

with Effectiveness

producing

ORGANIZATIONAL RISK

To organizational operations (mission, functions, image, reputation), organizationalassets, individuals, other

organizations, andthe Nation.

Tool Bezeichnung Bem., Quelle

CRAMM CCTA1 Risk Analysis & Management Method

Ablaufdiagramme, -graphen [12]

CORAS Platform for risk analysis of security critical systems

F., Maßnahmenliste [5, 4, 26]

MEHARI Méthode Harmonisée d´Analyse de Risques

F.; [14]

OCTAVE Operationally Critical Threat, Asset, & Vulnerability Evaluation

F., Version Allegro; [19, 3]

RiskPAC – F.; [23, 26]

Tabelle 7.1: Übliche Methoden des IT Risk Assessment

CCT A1 = Central Computer and Telecommunications Agency, UK; F: Fragebogen.

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Bis jetzt hat die Sicherheitswissenschaft eine gewisse Anpassungs- und Er-weiterungsfähigkeit bewiesen. Als Beispiel mag die PSA in der nuklearen Energieerzeugung dienen: Sie nutzt die Methoden der quantitativen Zuverläs-sigkeitsanalyse (FTA, abhängige Ausfälle), ermittelt Brandrisiken, die Erdbe-benfestigkeit von Gebäuden, bezieht die Human Reliability Analysis (HRA) mit ein sowie Flugzeugabstürze, Unwetterschäden u. a. In der Schweiz führten in letzter Zeit internationale Fortschritte auf dem Gebiet der Erdbebenforschung und -modellierung zu einer Anpassung der probabilistischen Erdbeben-Gefähr-dungs-Analyse (PEGASOS) bzw. zum PEGASOS Refinement Project (PRP) [29]. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um den Einbezug erweiterter Analyse-anforderungen oder Ergänzungen in der Abgrenzung und Beschreibung der tra-ditionell in der Sicherheitswissenschaft untersuchten Systeme.

7.3.1 Industrie 4.0

Mit dem (journalistischen) Schlagwort „Industrie 4.0“ werden die vier Hauptstu-fen in der Geschichte industrieller Produktionsweisen charakterisiert: Dampf-maschine – Fliessband – Automation – Vernetzung. Der Ablauf ist gleichzeitig ein Indikator für die zunehmende Bedeutung vernetzter Informationssysteme bei zunehmendem IT-Einsatz. Was dieser Wandel für Sicherheits- und Risiko-analysen mit sich bringt, ist im Weiteren anekdotenhaft dargestellt.

KomponentenebeneDie Komponenten eines technischen Systems, z. B. einer Produktionsanlage, sind anlagenintern samt Kontroll- und Steuerungseinrichtungen vernetzt. Mit dem Übergang in Richtung „Industrie 4.0“ kommen Schnittstellen nach außen hinzu. Die damit verbundenen neuen Möglichkeiten wurden von den Ingenieu-ren zunächst optimistisch aufgenommen, wie der Artikel Anlagen notfalls vom Hotelzimmer aus überwachen der VDI nachrichten vom 18. November 2005 zeigt. Internettechnologien erlaubten einen schnellen und kostengünstigen Zugriff

7.3 Wandel

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Kapitel 7.3

auf Maschinendaten. „Bei kleineren Unternehmen führen dabei nach Angaben von Fachleuten bereits einfache Expertensysteme zu erheblichen Prozessver-besserungen“. Dieser Überschwang hätte schon 2005 jeden Informatiker mehr als erstaunt, gehen doch die Anfänge der Computerviren bis 1985 zurück. Der Artikel Steuerungssysteme im Visier der Hacker der VDI nachrichten vom 26. April 2013 spiegelt diese Erkenntnis, wenn auch spät, deutlich wider. Ein aktueller Trend birgt hier eine weitere Überraschung: Bring Your Own Device (BYOD).

Definition 4 (Bring Your Own Device). Erlaubt Anwendern ein selbst ausgewähl-tes und erworbenes Kundengerät (Smartphones, Tablets etc.) zu verwenden, um Unternehmens-Applikationen auszuführen und um auf Daten zuzugreifen.

Nach Willis [31] bedeutet „das Aufkommen von BYOD-Programmen […] die allerwichtigste radikale Veränderung im Client-Computing-Geschäftswesen für Unternehmen, seit PCs den Arbeitsplatz erobert haben“. Client Computing heißt, dass Anwender mit einem Server verbunden sind, der Anwendungen und Daten zentral speichert und verarbeitet. Ein BYOD-Programm in einem Unter-nehmen bedeutet für IT-Verantwortliche zunächst einen massiven Anstieg der zu berücksichtigenden Hardware- und Software-Varianten. OpenSignal führte 2012 eine Studie zu diesem Thema durch: Man fand 3997 unterschiedliche And-roid-Geräte bezüglich „Modell, Marke, Version des Android-Betriebssystems und Monitor-Größe“ [21]. Hinzu kommt, dass heutzutage BYODs von ihren An-wendern rasch ausgetauscht werden. So werden Mobiltelefone „in den USA und UK nach 18 und in Japan innerhalb von 12 Monaten ersetzt“ [30]. So ergeben sich neue Angriffs-Vektoren, um in eine Anlage einzudringen. Installiert man bei-spielsweise eine Spiele-App auf seinem BYOD-Smartphone, so kann dies auch bedeuten, dass Screenshots einer Firmen-Web-Dienst-Anwendung unbemerkt an Dritte verschickt werden (durch sog. „Sneaker“); Passwörter durch „keylog-ging“ abgefangen werden und schließlich die eigene Authentifizierung der Fir-men-Zertifikate durch einen „Sniffer“ unterminiert wird. Die Arbeit [15] ordnet die Bedrohungen durch BYOD für ein Unternehmen folgenden Ursachen zu:

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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• Mobile Geräte: Offline-Attacken bei verlorenen oder entwendeten Geräten. Hier besteht ein großes Problem, da eine riesige Anzahl von Smartphones und Tablets (Hauptanteil), Laptops und USB-Laufwerken in Hotels, Kauf-häusern und Flughäfen liegen bleibt [30]. Neue Angriffs-Vektoren erwachsen durch sog. Schadgeräte (rogue hardware), z. B. entsprechend ausgestattete Lade- oder Dockingstationen für mobile Geräte.

• Netzwerk: Datenzugriff durch das Anzapfen des (verschlüsselten oder un-verschlüsselten) Netzwerkverkehrs zum und vom mobilen Gerät.

• Unternehmens-Infrastruktur: ungenügende Umsetzung von Richtlinien, z. B. des IT-Grundschutzes im Unternehmen.

• Eigentümer des mobilen Gerätes: absichtlich oder unabsichtlicher Zugriff.• „Cloud“: Transfer vertraulicher Daten vom Unternehmen zum Cloud-Dienst-

leister (z. B. DropBox).

BYOD ist für Unternehmen mittlerweile eine Tatsache, gleichgültig ob diese den Einsatz von BYOD wünschen oder nicht. Es wird jedoch noch schlimmer: Mit Wearables gelangen weitere Kleincomputer mit ihren Daten, Schnittstellen und Möglichkeiten in die Unternehmen. Als Konsequenz sollten der Zugriff auf Maschinendaten etwa via Client Computing und BYOD und die daraus resul-tierenden Schäden in Risk Assessments von Komponenten mit aufgenommen werden. Damit ist eine Anwendung wie das Remote Maintenance sicherheit-stechnisch und hinsichtlich IT-Security zu hinterfragen.

SystemebeneEine Vernetzung von Einzelkomponenten durch das Internet oder andere Kom-munikationspfade hebt die Betrachtung von der Komponenten- auf die Syste-mebene. Die Systemgrenzen und damit die Ziele und Aufgaben einer Sicher-heits- oder Risikoanalyse verschieben sich damit ebenfalls. So kann unbemerkt aus einem bisher abgeschotteten, mithin sicheren, Inselsystem, ein Teil des Internets werden. Als praktische Feststellung für Analysen folgt: Ein System und jedes seiner Komponenten sollte heutzutage als netzwerkfähiger Compu-ter verstanden werden. Ein Dozent an der ZHAW gibt folgendes Beispiel: Die IT-Verantwortlichen eines Schweizer Hospitals bemerkten einen unüblich ho-hen Datenverkehr. IT-Security-Checks zeigten nichts Auffälliges. Hinzugezo-gene externe IT-Experten fanden nach einer mehrtägigen Suche die Ursache: eine Herz-Lungen-Maschine. Diese war im Zuge der Einführung der elektroni-schen Patientenakte ans Internet angeschlossen worden. Die Steuerung solcher Geräte nutzt adaptierte, aber sonst übliche Betriebssysteme, z. B. der Firma

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Kapitel 7.3

Microsoft. Mit der Vernetzung wurde aus der Maschine ein ungeschützter In-ternet-Computer, der auch prompt aus dem Internet infiziert und als Teil eines Botnetzes missbraucht wurde.

Infrastruktursysteme, z. B. Wasserwerke, waren schon Ziele erfolgreicher Inter-net-Attacken auf der Basis von Insider-Wissen ehemaliger Mitarbeiter (vgl. [6]). Stuxnet wiederum kann als Beispiel einer zielgerichteten, aufwendigen Inter-net-Attacke gelten, die die Betriebsfähigkeit auf Systemebene beeinflusst. An-griffsziele hier waren zunächst das SCADA einer Uran-Anreicherungsanlage im Iran und in einer nächsten (einfacheren) Version die Manipulation eines Zentri-fugen-Rotors der Anlage [11].

7.3.2 Systemgrenzen

Mit dem Wandel der Systeme von singulären, abgegrenzten Entitäten in ver-netzte, offene Informationssysteme ändert sich der Untersuchungsgegenstand grundsätzlich. Eine klassische Risiko- oder Zuverlässigkeitsanalyse geht von de-finierten System- oder Komponentengrenzen aus, um letztlich bestimmen zu können, ob diese z. B. ausgefallen sind oder nicht. Auf der Zählung der Ausfälle beruhen dann die Berechnungen zur Ausfallwahrscheinlichkeit. Mit der Indus-trie 4.0 verliert der bisherige Systembegriff seine Bedeutung bzw. wesentliche Systemkomponenten sind für Analytiker nicht mehr sichtbar. Allenfalls lässt sich ermitteln, ob ein bestimmter Service verfügbar war. Hier ähnelt die Be-trachtungsweise der Berücksichtigung der Energieversorgung in den Analysen. Inwieweit solche Analysen dann für ein darauf aufbauendes Risikomanage-ment nutzbar sind, ist fraglich, da mit dem Internet auch verschachtelte Ver-antwortungs- und Zugriffsketten aufgebaut wurden. Zum Beispiel führe eine Drittfirma die Remote-Instandhaltung von Ventilen in einem Unternehmen durch. Diese Drittfirma hat jedoch den Betrieb ihrer Service-Angebote auf eine„Cloud“ ausgelagert. Der Cloud-Betreiber wiederum hat einen Service-Le-vel-Agreement-Vertrag (SLA) mit einem weiteren Anbieter geschlossen, um seinen Server-Park instand zu halten. Der Cloud-Betreiber betreibt zudem seine Dienste auf virtuellen Servern, was eine Zuordnung von Diensten auf bestimm-te Geräte fast unmöglich macht. Wer, wann, welche Geräte und Programme be-treibt, und wer auf welche Daten und Systeme Zugriff hat, ist praktisch nicht mehr festzustellen. Die Sicherheitswissenschaft hat in Bezug auf erweiterte und offene Systemgrenzen generell neue Aufgaben zu bewältigen. Ohne weiter

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ins Detail zu gehen, seien diese neuen Aufgaben mit vernetzten Systemen mit den Schlagwörtern „Systems of Systems“ und „telcom needs power & power needs telcom“ angedeutet.

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7.4.1 Neue Aufgaben

Die Vernetzung von Systemen schafft für die Sicherheitswissenschaft neue Anforderungen, denen sie sich auf drei Ebenen stellen muss, um in ihren Er-gebnissen von Nutzen zu bleiben. Bild 7.2 zeigt die Ebenen mit Bezug auf eine Internet-Attacke.

Wie die Beispiele und vor allem Bild 7.2 zeigen, ist ein Risk Assessment ohne Berücksichtigung der IT und der damit verbundenen Steuerungssysteme nicht vollständig und bleibt in ihren Aussagen zu optimistisch (Das gleiche Statem-ent gab es vor dem Einbezug abhängiger Ausfälle sowie der HRA in die PSA.). In Anlehnung an Bild 2 erwachsen für die Sicherheitswissenschaft u. a. folgende neue Aufgaben:

Bild 7.2: Bedrohungsschichten einer Internet-Attacke gegen Industrieanlagen (nach [11])

Ebene: IT

Netzwerke, Betriebssysteme, IT-Anwendungen Verbreitung von Schad-Software

Ebene: industrielles Steuerungssystem

Industrieregler, Sub-Regler(Frequenzwandler, Druckregler usw.)

Manipulation

Ebene: physikalisch

Ventile, elekrische Antriebe usw. Schaden durch Nutzung physikalischerSchwachstellen

7.4 Stand der Sicherheitswissenschaft

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• Daten/Services: Diese Aufgabe umfasst vor allem den Schutz von Unter-nehmensdaten vor allen Arten der Cyber-Kriminalität. Betroffen sind dabei eher Dienstleistungen, Geschäftsprozesse und Datenschutz. Dies ist zu-nächst ein Gebiet der IT Security, die hier ein umfangreiches Instrumentari-um zur Handhabung liefert (allerdings wenig im Rahmen eines Risk Assess-ments). Im Sinne der Industrie 4.0 bleibt ein Produktionssystem zunächst unbeeinflusst, ein Datendiebstahl evtl. sogar unbemerkt. In der Sprache der Sicherheitswissenschaft handelt es sich um ungefährliche Systemzustände. Der Übergang zu gefährlichen Systemzuständen ist jedoch fließend. Ein-flussnahme auf die Betriebssysteme computergestützter Komponenten, oder die Blockierung unternehmenseigener IT-Anwendungen betreffen dann auch das Produktionssystem. Eine Denial-of-Service-Attacke (DoS-At-tacke), die den Zugriff auf Web-Dienste durch Überlastung der Server ver-hindert, ist ein Beispiel. Für Verantwortliche sind dann evtl. Informationen nicht mehr verfügbar, um Systemdaten abzurufen, im Notfall Maßnahmen zu koordinieren etc.

• Daten/Steuerung: Es sollte davon ausgegangen werden, dass es für jede moderne Produktionsanlage eine Bedrohung samt passender Schwachstelle gibt, um unautorisiert auf deren Mess- und Steuerungssysteme negativen Einfluss nehmen zu können. Damit entstehen neue, gefährliche Systemzu-stände, wie sie z. B. in einer Risikoanalyse zusätzlich zu berücksichtigen sind. Dies kann nur gelingen, wenn die IT-Schwachstellen in den Steuerungssys-temen erkannt und beurteilt sind, wie sie z. B. durch den Einsatz von SCADA oder RFIDs entstehen.

• Personen/Organisation: Die Art und Weise, wie mit Programmen, SCADA, Web-Diensten etc. umgegangen wird, ist von Personen abhängig. Die Analy-se ist eine Aufgabe der HRA, die hier ein neues Anwendungsfeld finden kann. Die Sicherheitswissenschaft sollte hier ein in sich geschlossenes Konzept lie-fern, das Unternehmen hilft, Strategien, Strukturen und Prozesse zu etablie-ren, um einen sicheren Umgang mit allen Systemen einschließlich der IT zu ermöglichen.

• Personen/Lehre: Aus der Erfahrung des Autors zum Risk Assessment für Anlagen- und IT-Systeme lässt sich zusammenfassen, dass in den IT-Abtei-lungen von Unternehmen die klassischen Methoden der Risikoanalyse fast völlig unbekannt sind, die Risikoanalytiker die Methoden des IT-Risk Assess-ment aber auch nicht kennen. Die Sicherheitswissenschaft hat hier die Chan-ce, sich über die Hochschulen bekannter zu machen.

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Kapitel 7.4

7.4.2 Die Musik spielt woanders …

Bleibt die Frage, ob die Sicherheitswissenschaft methodisch und praktisch für die neuen Aufgaben gerüstet ist. Aus den Erfahrungen des Autors heraus ist die Antwort eher ein Nein – es droht, dass sie für die Industrie 4.0 den Anschluss verpasst hat bzw. von der Informatik getrieben wird. Als persönliches Resümee des Autors „kriselt“ die Sicherheitswissenschaft in der Praxis in den Bereichen Praxisnähe, Effizienz sowie Standards und Normen. Im Einzelnen:

Praxisnähe: Die Sicherheitswissenschaft hat viele Methoden der Systema-nalyse hervorgebracht. Allerdings erstaunt das Bild in der Praxis immer wie-der. Hier kommen nur wenige und methodisch einfache Ansätze zum Einsatz. Umfragen zeigen dies auch: Eine ältere Umfrage von 1999 [16] bei der chemi-schen Industrie (D, CH) nennt vor allem HAZOP und die Zurich Hazard Ana-lysis (ZHA). FMEA, Fehlerbaumanalyse und Checklisten folgen in größerem Abstand. Die ZHA ist eine toolgestützte, vor allem in der Schweiz verbreitete und FMEA-ähnliche Methode der Zurich Insurance Company, um „alle Arten von Gefährdungen oder Vulnerabilitäten (sic!) systematisch zu identifizieren, anzusprechen und handzuhaben […]“. Eine aktuellere Umfrage (D, A) von 2012 [2] nennt vor allem: Brainstorming, FMEA und verwandte, Root Cause Analysis, What-If-Analysis und Critical Incident Reporting System. Die Fehlerbaumana-lyse spielt nur eine untergeordnete Rolle.

Mit Brainstorming, Checklisten und FMEA/HAZOP-Tabellen lassen sich die komplexen Strukturen vernetzter Systeme nur schlecht abbilden. Die Sicher-heitswissenschaft scheint hier in den Unternehmen im Rückzug: Es ist bisher nicht gelungen, andere Methoden oder Tools zu etablieren. Die Bow-Tie-Ana-lyse ist hier eine Ausnahme, sofern sie Barrieren und die zugehörigen Eskalati-onsfaktoren mit berücksichtigt. Sie wird dann zu einer Vulnerability-Analyse.

Effizienz: Zumindest für Unternehmen ist die Effizienz einer Methode ein In-dikator für Brauchbarkeit und Praxisnähe. Auch hier hat die Sicherheitswissen-schaft nachzuholen, wie die Erfahrung zeigt. In der nuklearen Energieerzeugung sind für PSAs größere Ressourcen vorhanden, was in Anbetracht des radioakti-ven Inventars eines Reaktors angemessen ist. Ein Team von ca. vier Experten ist Jahre ausschließlich damit beschäftigt, eine PSA fertig zu stellen oder zu aktuali-sieren. Im Bedarfsfall wird Expertise zugekauft. Solche Ressourcen machen auch die Durchführung formal komplexer Methoden möglich.

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Der Alltag (samt Gefährdungen) in vielen anderen Unternehmen sieht anders aus. Risikoanalysen sind dort eine Angelegenheit von Tagen, allenfalls wenigen Wochen, die eine oder zwei Personen durchführen. Das dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass fast nur einfachste Methoden zum Einsatz kommen. Die IT hat eine ähnliche Erfahrung hinter sich: Risikoanalysen waren bis vor zehn oder fünf-zehn Jahren in den IT-Abteilungen von Unternehmen durchaus im Trend. Seit-dem gelten sie dort als „Verschwendung von Zeit und Geld“. Die Unternehmen widerstehen daher der Versuchung meist nicht, geforderte sicherheitstechnische Analysen durch Expertenbefragungen und Expertenmeinungen zu ersetzen. Al-lerdings ist dann die Vorgehensweise nicht mehr von der Kunst des Wettens zu unterscheiden und man hat den Pfad der Ingenieurwissenschaften verlassen.

Die Sicherheitswissenschaft beachtet die Bedeutung geringer Ressourcen zu wenig in ihren Entwicklungen. Es könnte sein, dass die Unternehmen dank IT das Online-Monitoring ihrer Anlagen immer attraktiver finden werden und kei-ne Notwendigkeit mehr für Sicherheitswissenschaft sehen. Es fehlen Tools, die die Risikoanalytiker unterstützen. Die Tool-Entwicklung ist jedoch wiederum eine Domäne der Informatik.

Standards und Normen: Ein weiterer Trend, der in vielen Unternehmen zu beobachten ist, ist die Gleichsetzung von Risiko Assessment mit Compliance Checks. Risk Assessments haben zum Ziel, auch bisher unerkannte Fehler in ei-nem System zu finden und über einen Risikowert zu beurteilen. Ein Complian-ce Check dagegen geht den umgekehrten Weg. Anhand von Checklisten auf der Grundlage des „Stands der Technik“ (Normen und gesetzliche Vorgaben) wird eine Abfrage auf bekannte Fehler durchgeführt. Unbekannte Fehler werden we-der gesucht, noch gefunden. Die Güte der Ergebnisse hängt von der Qualität der zugrundeliegenden Norm ab. Ein System kann somit zwar legalistisch sicher, aber im Sinne der Risikoanalytik inakzeptabel sein. Die IT als Trendsetter führt fast nur noch Compliance Checks durch, wenn auch mittlerweile eine Grenze erreicht und erkannt ist (vgl. [17]).

Für die Unternehmen sind Normen von zentraler Bedeutung, für Hochschulen kaum. Dabei handelt es sich um einen bekannten Zielkonflikt der beiden Par-teien. Aber auch bei den Normen, die für die Sicherheitswissenschaft und die Risikoanalytik relevant sind, scheint sich eher die Sichtweise der Vulnerabili-ty-Analyse, und damit jene der Informationstechnik, durchzusetzen (Zu den Zusammenhängen zwischen Risk, Vulnerability und Resilience siehe [22]). Ein

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Kapitel 7.4

Beispiel ist der für alle ISO-Standards gültige Leitfaden ISO-Guide 73 [9] zum Risiko-Management: Eine Neuerung in Bezug auf die vorgängige Version [8] ist, dass der Begriff Vulnerability auftaucht (der ISO Guide 73 definiert Risiko neu als Abweichung von Zielvorgaben (Unter- und Übererfüllung), was aus einer Ri-sikoanalyse ein „HAZOPing“ macht).

Die Sicherheitswissenschaft hat an Einfluss verloren, was die Entwicklung von Standards und Normen betrifft. Auch hier gewinnen die Methoden und Denk-ansätze der Informatik. Der Sicherheitswissenschaft droht, in ihren Entwick-lungen den Anschluss zu verlieren. Sie hat die IT, aber auch deren Möglichkei-ten, stark vernachlässigt.

7.4.3 Lösungsansätze

Aller neuer Aufgaben und Probleme zum Trotz gibt es nach Ansicht des Autors Ideen und Ansätze, z. B. aus der Informatik, die einen Einsatz in der Sicherheits-wissenschaft lohnen.

Mit den bereits kurz angesprochenen UML-Diagrammen (UML) ist mittlerweile ein standardisiertes Paket zur Darstellung nahezu aller Arten komplexer Syste-me entstanden. Die OMG-Website [20] nennt drei Hauptkategorien der UML 2.0 bei insgesamt 13 Diagramm-Typen:

1. Strukturdiagramme: Klassendiagramm, Objektdiagramm, Komponenten-diagramm, Kompositionsstrukturdiagramm, Paketdiagramm, Verteilungs-diagramm

2. Verhaltensdiagramme: Use-Case-Diagramm, Aktivitätsdiagramm, Zu-standsautomat

3. Interaktionsdiagramme (alle abgeleitet von den Verhaltensdiagrammen): Sequenzdiagramm, Kommunikationsdiagramm, Timingdiagramm, Interak-tionsübersichtsdiagramm

Eine praxisnahe Einführung UML und deren Anwendung gibt [24], woraus auch das Klassendiagramm des Bildes 7.3 stammt.

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abstrakteKlasse

Aggregation

Klassenname

feiere()

Gast hektisch : Boolean = true

begruesse(in g : Gast)verabschiede (in g : Gast)treibeAn(in b : Barmixer)raeumeAuf()

Gastgeber

+mixe(in z : Zutat [1..*], out c:Cocktail)

Barmixer

name : Stringzutaten : Zutat [1..*]

Cocktail

+menge : Int+name : Stringbesucher +verfallsdatum : Date

Zutat +anlass : String+motto : String+termin : Date

abbrechen()

Feier

name : Stringwohnort : Stringgeburtsdatum : Date/betrunken : Boolean = false~intus : Cocktail [1..*]#begeistert : Begeisterung

+flirten ()+tanzen ()~trinke(in c : Cocktail)

Partyteilnehmer

besucher * unterhaltung

Komposition

AssoziationsnameAssoziations-

endeProduktion

1..*

1

produkt

produzent

11 angestellter

chef

Assoziation

Multiplizität

gerichteteAssoziation

Generalisierung

Operation

Attribut

1..*

Klasse

Bild 7.3: Elemente des Klassendiagramms (Spezifikation der Klasse „Partyteilnehmer“) [24]

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Kapitel 7.4

Alle UML-Diagramme verfügen über eine eigene, definierte und standardisierte Notation, die Risikoanalysen zusätzliche Auswertemöglichkeiten bereitstellt. So lassen sich z. B. aus den Assoziationen eines Klassendiagramms (Kanten des Graphen) sowie aus den Operationen Hinweise ablesen, die sich für eine Risiko-analyse nutzen lassen [18]. Eine Aufgabe der Sicherheitswissenschaft besteht darin, hierfür geeignete Heuristiken zu entwickeln. Ein anderer Ansatz, der die Sicherheitswissenschaft unterstützen könnte, ist das Denken in Funktionshierar-chien, wie in der Informatik üblich. Ein typisches Beispiel lieferte bereits Bild 2. Das Prinzip ist in der Informatik zur Darstellung von IT-Systemen stark ausge-baut. Das bekannteste Hierarchiemodell ist OSI (Open System Interconnection; siehe z. B. (Zbigniew Gargasz BLOG)) mit den Ebenen:

7: Anwendung: Verbindung zw. Anwendungsprogrammen, z. B. E-Mail6: Darstellung: Vorbereitung der Daten für die Anwendungsschicht

(Decodierung, Umwandlung, Verschlüsselung, Prüfung, […])5: Kommunikation: Steuerung der Verbindungen und des Datenaustauschs4: Transport: Zuordnung der Datenpakete zu einer Anwendung3: Vermittlung: Routing der Datenpakete zum nächsten Knoten2: Sicherung: Segmentierung der Pakete in Frames und Hinzufügen von

Prüfsummen1: Bitübertragung: Umwandlung der Bits in ein zum Medium passendes

Signal und physikalische Übertragung(0): Hardware

Insgesamt sollten Sicherheitswissenschaft und die Informatik interdisziplinäre Teams bilden. Dies würde auf zwei Ebenen helfen: Zum einen ist Informatik mittlerweile so komplex, dass das nötige Fachwissen für erweiterte Systema-nalysen nur von dort kommen kann. Zum anderen haben die bisher getrenn-ten Wege dazu geführt, dass Informatiker technische Tools auf der Höhe des Software-Engineerings entwickelt haben, die allerdings einen Mangel an si-cherheitswissenschaftlichen Grundkenntnissen erkennen lassen. Andererseits haben Sicherheitswissenschaftler die entsprechenden Kenntnisse, können aber ihre Ideen und Methoden nicht in Tools umsetzen, die dem Stand und den Mög-lichkeiten der Informatik entsprechen. Zum Wechselspiel zwischen „eEnginee-ring Risk Assessment“ und dem „IT Risk Assessment“ siehe auch [17].

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Die technischen Systeme der Industrie sind im Wandel begriffen, wobei die IT und die Informatik eine immer größere Rolle spielen. Bei Fragen zur Sicherheit und zum Risiko dieser Systeme berühren sich zwei Ingenieurdisziplinen, die sich mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickelt haben. Dabei ist zu beobachten, dass die Informatik die Trends der Entwicklung setzt und die Si-cherheitswissenschaft ins Hintertreffen geraten ist. Das mag auch daran liegen, dass man sich etwas auf dem umfangreichen und bewährten Methoden- und Normenapparat ausgeruht hat, wie er seit den späten 1940er-Jahren mit der Entwicklung der FMEA entstanden ist. Eine „Risikokompetenz ohne Informa-tionstechnik“ ist schlicht nicht mehr zeitgemäß.

Die Sicherheitswissenschaft könnte zwei Bereiche abdecken: Zum einen be-deutet dies den Einbezug der IT in ihre Art der (Risiko-)Analytik. Dies heißt zunächst, Identifikation, Beurteilung und Handhabung von Gefahren aus der IT als Teil ihrer Aufgabe zu verstehen und methodisch einzubauen. Hierbei sollten die Erfahrungen der IT mit komplexen und dynamischen Systemen ge-nutzt werden. Zum anderen bietet eine Zusammenarbeit mit Informatikern die Chance, effiziente Tools der Risikoanalytik (und anderen Bereichen, z. B. der Ar-beitssicherheit) zu entwickeln.

Die Sicherheitswissenschaft hat sich bis jetzt mit ihrem interdisziplinären An-satz als anpassungsfähig erwiesen. Doch der Wandel erfolgt in einem nie ge-kannten Ausmaß – für eine Anpassung bleibt der Sicherheitswissenschaft nicht viel Zeit …

7.5 Versuch eines Fazits

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Kapitel 7

Literatur

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[6] E., Mills und Beiersmann S.: Hacker greift texanisches Wasserwerk an. ZDNet, NetMediaInteractive, Nov. 21, 2011. http://www.zdnet.de/news/41558114/hacker-greift-texanisches- wasserwerk-an.htm, visited: Mar. 18, 2014.

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[8] ISO/IEC-Guide73: Risk Management Vocabulary Guidelines for Use in Standards (ISO/IEC GUIDE 73:2002(E/F)). ISO/IEO, 2002.

[9] ISO/IEC-Guide73b: Risk Management – Vocabulary. Nummer ISO/IEC GUIDE 73:2009(E/F). ISO/IEO, 2009.

[10] ITIL: ITIL V3 – Glossar (31.08.2007; englische Basisversion:3.1.24). IT Service Management Forum, 2007.

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[11] Langner, Ralph: To Kill a Centrifuge: A Technical Analysis of What Stuxnet’s Creators Tried to Achieve. The Langner Group, Nov. 2013. http: //www.langner.com/en/resources/papers/, visited: Mar. 19, 2014.

[12] Lund, M. S., B. Solhaug und K. Stolen: Modeldriven risk analysis: The CORAS approach. Springer, 2011. http://coras.sourceforge.net/.

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[14] MEHARI: MEHARI 2010: Fundamental concepts and functional specifications. Club de la Sécurité de l’Information Français, August2010. http://www.clusif.fr/en/clusif/present/; visited: Jan., 2014.

[15] Merki, Oliver: Bring Your Own Device (BYOD) from a risk management perspective (Bachelor thesis). Zürich University of Applied Sciences ZHAW, Feb., 26 2014.

[16] Mock, R. und J. van Mahnen: Risk Analysis Methods in Processing Industry: A Swiss – German Survey. Band 2, Seiten 1145–1156. Society for Risk Analysis-Europe (SRA-E), 8th Conference, ISPN, 1999.

[17] Mock, R., H. Straumann und A. Fischer: A Second Chance for Risk Assessment in IT System Analysis? Proc. of European Safety and Reliability Conference (ESREL 2013), Seiten 2237–2244, 2014.

[18] Mock, R., B. Truninger, P. Brunner und T. Hruz: Enhancement of IT Risk Assessments by UML (Accepted Paper). Proc. of European Safety and Reliability Conference (ESREL 2014), 2014.

[19] OCTAVE: Operational ly Critical Threat, Asset, and VulnerabilityEvaluationSM . 2008. http://www.cert.org/octave/.

[20] OMG: Introduction to OMG‘s Unified Modeling Language (UML). Website, Object Management Group (OMG), Apr. 18 2013. http://www.omg.org.

[21] OpenSignal: The many faces of a little green robot. OpenSignal, Inc., 2012. http://opensignal.com/reports/fragmentation.php; visited: Mar., 2013.

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Kapitel 7

[22] Pasman, H. J., B. Knegtering und W. J. Rogers: A holistic approach to control process safety risks: Possible ways forward. Reliability Engineering & System Safety, 117:21-29, 2013.

[23] RiskPAC: Business Continuity Planning & Risk Assessment. Open Systems Technologies Int., 2009. http://www.opensystems-bs.com, visited Jan. 21, 2013.

[24] Rupp, Chris und Stefan Queins: UML 2 glasklar – Praxiswissen für die UML-Modellierung. Carl Hanser Verlag, Munich, 4. Auflage, 2012.

[25] Schmidt, J. W. und R. E. Taylor: Simulation and analysis of industrial systems. Richard D. Irwin, Homewood, Ill., 1970.

[26] Schreider, T.: Risk Assessment Tools: A Primer. InformationSystems Control Journal, 2, 2003.

[27] Stoneburner, G., A. Goguen und A. Feringa: Risk Management Guide for Information Technology Systems. National Institute of Standards and Techno-logy (NIST), 2002.

[28] Suprina, Darren: Security Risks With RFID. RFID Journal Live!,2005. http://www.rfidjournal.com/articles/view?1564, visited: Mar. 19,2014.

[29] swissnuclear: Themen Erdbebensicherheit: PEGASOS Vorwort. swissnuclear, Fachgruppe der Kernenergie der swisselectric, 2014. http://www.swissnuclear.ch/de/pegasos-vorgeschichte.html, visited: Mar.18, 2014.

[30] Wilhelm, W., A. Yankov und P. Magee: Mobile Phone Consumption Behaviour and the Need for Sustainability Innovations. Journal of Strategic Innovation and Sustainability, 7(2):20–40, 2011.

[31] Willis, D. A.: Bring Your Own Device: New Opportunities, New Challenges. Gartner, 2012.

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Anhang

EXKURS: IT-SECURITYDie international verbreitete IT Information Library [10] definiert: Definition 5 (IT Security). Der Prozess, bei dem die Vertraulichkeit, Integrität und Verfügbarkeit der Assets, Informationen, Daten und IT Services einer Orga-nisation sichergestellt werden.

Der Beitrag behält die englische Bezeichnung bei. Dieser Begriff hat sich ein-gebürgert, obwohl die Übersetzung „IT-Schutz“ korrekt wäre. Die drei Ziele der IT Security, d. h. Vertraulichkeit (Confidentiality), Integrität (Integrity) und Verfügbarkeit (Availability), sind der kleinste gemeinsame Nenner (kurz CIA): Vertraulichkeit beschreibt die Anforderung, Daten vor unautorisiertem Lesen zu schützen. Integrität betrifft Datenintegrität (Daten dürfen nicht auf unau-torisierte Weise verändert werden) oder Systemintegrität (das datenverarbei-tende System ist frei von unautorisierter Manipulation). Verfügbarkeit ist die Forderung, Daten vor unautorisiertem Löschen bzw. das System vor unautori-siertem Ressourceneinsatz zu schützen. Die Verletzung der IT-Security-Schutz-ziele kann dabei absichtlich oder zufällig erfolgen (CIA vereinfacht nach [27]).

EXKURS: SCADALangner [11] definiert SCADA als:Definition 6 (SCADA (Supervisory Control And Data Acquisition)). Gruppe von Computer-Programmen, die zur Anzeige und Analyse von Prozessbedingungen verwendet werden.

Derselbe Autor betont auch, dass, im Gegensatz zu verbreiteten Annahmen, SCADA „nur eine Komponente einer automatisierten Anlage [ist] und nicht di-rekt mit Stellgliedern, wie Ventilen, Pumpen oder Motoren, interferiert“. Dies werde durch Industrieregler (industrial controllers) bewirkt, die in Realzeit be-trieben würden und weder Anzeige noch Tastatur hätten. Eine entsprechende Attacke beeinflusst eine Produktion insofern, da die angezeigten nicht mehr mit den realen Prozessparametern übereinstimmen („Man-in-the-Middle-An-griff“) und Operateure in die Irre führt.

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Kapitel 7

EXKURS: RFIDDie Brockhaus Enzyklopädie Online; 15. Jan. 2013 definiert Definition 7 (RFID (Radio Frequency Identification)). Technologie zur auto-matischen Identifizierung und Datenerfassung von Objekten, die mit einem RFID-Tag (z. B. einem aufgeklebten Funketikett) versehen werden, das eine An-tenne und elektronische Bauelemente enthält. Es handelt sich somit um eine Sende-und-Empfänger-Technik, mit der Daten übermittelt und ausgelesen werden können. Wichtig im Zusammenhang mit diesem GfS-Beitrag ist, dass über RFID (oder noch einfacher über das Einlesen von Barcodes) „Schaddaten“ eingelesen werden können, die zumindest den Betriebsablauf einer Anlage stören können. „Unternehmen sollten sich den Security-Risiken, wie Profilbil-dung (Profiling), Abfangen von Daten (Eavesdropping), Dienstleistungsverhin-derungen (Denial of Service Attacks) und Bestandsstau (inventory jamming), bewusst sein“ (nach [28]).

EXKURS: Near Field Communication Die Near Field Communication (NFC) ist ein internationaler Übertragungsstan-dard zum kontaktlosen Datenaustausch per Funk über kurze Strecken von we-nigen Zentimetern und einer Datenübertragungsrate von maximal 424 kBit/s. Die Übertragung erfolgt verbindungslos (mit passiven HF-RFID-Tags) oder ver-bindungsbehaftet (zwischen gleichwertigen aktiven Transmittern). Die verbin-dungslose Nutzung ist nach üblicher Definition nicht sicher gegen Angriffe von „Dritten“ (nach Wikipedia; 3. März 2014).

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Überblick über Ansätze zur Risikobeurteilung – qualitative und quantitative Verfahren

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Prof. Dr. Heinz-Willi Brenig, Fachhochschule Köln, Deutschland

Methoden und Vorgehensweisen zur Risikoabschätzung und -bewertung indus-trieller Anlagen und Prozesse werden seit vielen Jahren mit Erfolg eingesetzt. Bei der Beurteilung konkreter industrieller Vorhaben im Rahmen einer Anla-genzulassung stehen die technischen, organisatorischen und das Sicherheits-management betreffenden Fragen im Vordergrund. In der Raumordnung und Bauleitplanung geht es insbesondere um Schutzabstände zwischen industriel-ler und wohnlicher Nutzung im Sinne sekundärer Schutzmaßnahmen, ergän-zend zu den technischen und sonstigen Maßnahmen der Anlagenauslegung. Bei der Betrachtung unter dem Gesichtspunkt des Katastrophenschutzes neh-men Kriterien für eine eventuelle Evakuierung der Bevölkerung einen breiten Raum ein. Zunehmend werden die etablierten qualitativen/quantitativen Ver-fahren nicht nur zur Beurteilung von technischen Risiken eingesetzt, sondern z. B. auch zur Analyse und Bewertung der Gefahren für die Bevölkerung durch den Ausfall kritischer Infrastrukturen, zur Bewertung der Auswirkungen des Klimawandels sowie zur Sicherheitsbetrachtung von Großveranstaltungen. Die vorhandenen Methoden müssen daher weiterentwickelt und an die neuen Randbedingungen angepasst werden. Im Mittelpunkt stehen dabei der Umgang mit offenen Systemgrenzen und sich zeitlich verändernden Randbedingungen (dynamische Prozesse) sowie die Weiterentwicklung des Vulnerabilitäts- bzw. Resilienzansatzes.

Zusammenfassung

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Das Risiko von Prozessen, Systemen, Anlagen und Veranstaltungen kann durch Maßnahmen des Risikomanagements minimiert und dadurch die Sicherheit verbessert werden. Ziel des Risikomanagements ist es, das Restrisiko auf ein ak-zeptables Maß zu beschränken.

Gesetze, Richtlinien und Normen sind das Ergebnis retrospektiver Risikobe-trachtungen. Vorschriften und Regelungen basieren auf umfassenden Scha-densanalysen sowie darauf aufbauenden Festlegungen und Maßnahmen zur Verhinderung der Wiederholung bekannter Ereignisse.

Die zunehmende Komplexität der Anlagen und Prozesse sowie der notwendige Grad an Sicherheit erfordern eine vorausschauende systematische Gefahren-suche und Gefahrenbeurteilung, die prospektive Risikoanalyse (ES-CIS, 1996). Risikomanagement ist – wie es hier betrachtet wird – stets präventiv. Ein Risikomanager will Schäden gar nicht erst entstehen lassen. Das Risiko-As-sessment (Risikoanalyse und Risikobewertung) ist das zentrale Werkzeug des Risikomanagers. Es liefert die notwendigen Grundlagen für die zu treffenden Entscheidungen und die Festlegung von Maßnahmen zur Verhinderung von unerwünschten Ereignissen sowie zur Begrenzung möglicher Auswirkungen.

Der vorliegende Beitrag gibt ausgehend von der historischen Entwicklung einen Überblick über qualitative und quantitative Verfahren zur Risikobeurteilung. Die Diskussion über die Vor- und Nachteile der deterministischen und probabi-listischen Verfahren wird schon seit mehreren Jahrzehnten geführt. In (DECHE-MA, 2006) wird u. a. dazu ausgeführt:

• die deterministische und die probabilistische Vorgehensweisen widerspre-chen einander nicht,

• der Einsatz von probabilistischen Methoden kann auch ohne gesetzlich fest-gelegte Risikoakzeptanzgrenzen zweckmäßig sein.

8.1 Einleitung

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Kapitel 8.1

Inzwischen ist in Europa ein eindeutiger Trend zur quantitativen Risikobewer-tung, insbesondere zur Beurteilung von technischen Risiken, im Bereich der Arbeitssicherheit sowie im Brandschutz erkennbar. Risikobewertungen werden zunehmend auch im Bevölkerungsschutz sowie zur Beurteilung von Veranstal-tungen eingesetzt. Ausgehend von den Ereignissen in Fukushima stoßen die bekannten Vorgehenseisen aber dann an ihre Grenzen, wenn es sich um sehr seltene Ereignisse mit hohem Gefahrenpotenzial handelt. Die vorhandenen Systeme müssen daher weiterentwickelt und an die neuen Herausforderungen angepasst werden.

Zudem ist in vielen Fällen noch die Frage nach den Akzeptanz- bzw. Toleranz-grenzen ungeklärt. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichtes im sogenann-ten Kalkur-Urteil von 1978 (BVerfG, 1978): „Das Gesetz überläßt es damit weit-hin der Exekutive über Art und insbesondere über das Ausmaß von Risiken, die im Einzelfall hingenommen oder nicht hingenommen werden, zu befinden; auch über das Verfahren zur Ermittlung solcher Risiken trifft es selbst keine nä-heren Regelungen“ hat bis heute weiter Gültigkeit.

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8.2 Begriffe und Definitionen

Die relevanten Begriffe zum Themenbereich „Risikoermittlung und Risikobe-wertung“ werden in den einzelnen Fachgebieten zum Teil unterschiedlich ver-wendet. Bis heute herrscht in der Praxis ein Sprachgewirr – Sicherheitsingeni-eure, Versicherungskaufleute, Juristen usw. verstehen unter dem Begriff Risiko jeweils etwas anderes. Zur Vereinheitlichung des Wortgebrauchs und um Miss-verständnisse vorzubeugen, werden daher zunächst einige Begriffe vorgestellt und erläutert.

8.2.1 Risikomanagement

Der Begriff Risikomanagement wird im alltäglichen Sprachgebrauch vielfältig benutzt:

• Banker managen damit ihr Kredit-Engagement,• Versicherungsmakler benutzen es als Reklame-Floskel,• Consultants reduzieren es vielfach auf ihre Kernkompetenzen, z. B. Brand-

sicherheit. Mit der ISO 31000 wurde 2008 erstmals eine Norm veröffentlicht, die die Grund-sätze für das Risikomanagement einheitlich beschreibt. Bezüglich einer Defi-nition für den Begriff „Risikomanagement“ verweist diese Norm auf den ISO/IEC Guide 73. Davon ausgehend hat die Störfallkommission in (SFK, 2004) den Begriff folgendermaßen definiert:

„Risikomanagement ist ein Prozess, der die Elemente der Risikoabschätzung und der Risikokommunikation, die in allen Phasen der Prozesse möglich und auch sinnvoll sind, im Hinblick auf die herrschende oder noch herzustellende Risikoakzeptanz miteinander verknüpft.“

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Kapitel 8.2

Für den Bevölkerungsschutz wurden ausgehend von Schutzzielen, die auf den Grundrechten basieren, folgende Definitionen gewählt:„Kontinuierlich ablaufendes, systematisches Verfahren zum zielgerichteten Umgang mit Risiken, das die Analyse und Bewertung von Risiken sowie die Pla-nung und Umsetzung von Maßnahmen, insbesondere zur Risikovermeidung, -minimierung und -akzeptanz, beinhaltet“ (BBK, 2011).

8.2.2 Risiko

In Bereichen des täglichen Lebens, in verschiedenen Branchen, in vielen wis-senschaftlichen Bereichen, wird der Risikobegriff heute verwendet und ange-wandt. Zweifelsfrei beinhaltet der Begriff in seiner Gesamtheit die Elemente: „Schadensart, Ungewißheit des Schadenseintritts – beschrieben durch die Ein-trittshäufigkeit eines Schadens – und das mögliche Schadenausmaß“ (Kafka, 1992).

In der Norm ISO/IEC Guide 73 findet sich folgende Definition: „Unter Risiko versteht man die Kombination aus Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit und der Auswirkungen eines zum Schaden führenden Ereignisses“.

Für den Bevölkerungsschutz (BBK, 2011) gilt folgende Definition: „Maß für die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines bestimmten Schadens an einem Schutz-gut unter Berücksichtigung des potentiellen Schadensausmaßes“.

Im technischen Bereich wird das Risiko gemäß der nationalen Norm DIN VDE 31000 Teil 2 wie folgt definiert: „Das Risiko, das mit einem bestimmten techni-schen Vorgang oder Zustand verbunden ist, wird zusammenfassend durch eine Wahrscheinlichkeitsaussage beschrieben, die die zu erwartende Häufigkeit des Eintritts eines zum Schaden führenden Ereignisses und das beim Ereignisein-tritt zu erwartende Schadensausmaß berücksichtigt.“

Das Risiko sollte, wie von Blaise Pascal (1623–1662) gefordert, sowohl zur Wahr-scheinlichkeit als auch zum Schadensausmaß proportional sein. Dies führt zu der in der Literatur üblichen Definition des Risikos R als Produkt von Wahr-scheinlichkeit P und Schadensausmaß C. Dieses Produkt kann als Erwartungs-wert des Schadens als Folge eines Ereignisses aufgefasst werden und wird daher gelegentlich auch mit Schadenserwartung bezeichnet.

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Die Definition des objektiven, mathematisch gefassten Risikobegriffs (Mock, R., 2002) basiert auf der logischen ingenieurwissenschaftlichen Erfahrung und Er-fassung eines Tatbestandes unter den Kriterien:

• der Nachprüfbarkeit,• einer möglichst weitgehenden Unabhängigkeit vom Beobachter,• einer bestimmten Methode, z. B. Statistik und deren Ergebnisse.

8.2.3 Sicherheit, Gefahr, Restrisiko

In Anlehnung an den ISO/IEC Guide 51 gibt Bild 8.1 die Beziehung der zentralen Begriffe Sicherheit, Gefahr und Restrisiko untereinander wieder.

Bild 8.1: Risikoansatz zur Beurteilung technischer Risiken in Anlehnung an (SFK, 2004)

Sicherheit

Risiko ist nicht höher als größtes vertretbares Risiko

Gefahr

Risiko ist höher als größtes vertretbares Risiko

natürliches Hintergrundrisiko

niedrig Risiko hoch

größtes vertretbares Risiko

Grenzrisiko

Risiko ohne

Sicherheitsmaßnahmen

Restrisiko

mindestnotwendige Risikominderung

tatsächliche Risikominderung

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Kapitel 8.2

Als Grenzrisiko wird dabei allgemein das größte noch vertretbare Risiko eines bestimmten technischen Vorganges oder Zustandes bezeichnet. Das Grenzrisi-ko wird durch objektive und subjektive Einflüsse bestimmt und lässt sich im Allgemeinen nicht quantitativ erfassen.

8.2.4 Risikoanalyse

Die Risikoanalyse ist eine systematische Auswertung verfügbarer Informatio-nen, um Gefährdungen zu identifizieren und Risiken einzuschätzen. Die voll-ständige Erfassung und sachgerechte Bewertung aller Risiken ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Risikopolitik. Die systematische Gefahrensuche ist der anspruchsvollste Schritt der Risikoanalyse. Zur Beantwortung dieser Fragen werden nach (Peters, Meyna, 1986) verschiedene Methoden der Risikoanalyse verwendet, die sich gegenseitig ergänzen.

Die chemische Industrie in der Schweiz (ESCIS, 1996) unterscheidet die analy-tischen Verfahren gemäß Tabelle 8.1 in intuitive, induktive und deduktive Ver-fahren.

Methode Beispiel

Intuitiv Brainstorming

Induktiv (Was kann passieren?) ChecklistenEreignisablaufanalysen PAAG-Verfahren Bedienungsfehleranalysen

Deduktiv (Wie kann es passieren?) Fehlerbaumanalysen

Tabelle 8.1: Methoden und Beispiele (ESCIS, 1996)

Eine andere gängige Einteilung ist die Unterscheidung in deterministische, risi-koqualifizierende und probabilistische Methoden: Hinsichtlich des Arbeitsauf-wandes und des damit verbundenen Detaillierungsgrades kann grundsätzlich zwischen den qualitativen und quantitativen Verfahren unterschieden werden. Die qualitativen Verfahren sind in der Regel mit weniger Aufwand und ver-gleichbar schnell durchzuführen. Sie dienen daher häufig einer ersten schnel-len Identifikation und groben Bewertung der vorhandenen Gefahren. Sowohl Schadensausmaß als auch Eintrittshäufigkeit werden verbale Kategorien (Ein-

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tritt: häufig oder sehr unwahrscheinlich; Schaden: katastrophal oder vernach-lässigbar) zugeordnet und die Ergebnisse in Form einer Risikomatrix dargestellt (siehe BBK, 2010).

Quantitative Verfahren erfordern in der Regel einen deutlich höheren Arbeits-aufwand; dies betrifft insbesondere die Beschaffung der notwendigen statisti-schen Daten. Bei der quantitativen Risikoanalyse wird das Risiko als Produkt aus Schadensausmaß und Häufigkeit dargestellt und kann somit als Erwar-tungswert des Schadens aufgefasst werden. Quantitative Risikoanalysen wei-sen häufig sowohl Zahlen für das individuelle als auch das kollektive Risiko aus. Das individuelle Risiko gibt dabei die Häufigkeit an, mit der eine einzelne Per-son aufgrund eines unerwünschten Ereignisses zu Schaden – in der Regel das Todesfallrisiko – kommt. Das kollektive Risiko beschreibt die Häufigkeit, dass mehrere Personen gleichzeitig durch ein Ereignis getötet werden bzw. einen Schaden erleiden (CPR 18 E, 1999).

Die etablierten Methoden der Risikoanalyse und Bewertung – ISO 31010; Risk Management und Risk Assessment techniques, 2009 – gehen davon aus, dass die Gefahren bekannt sind sowie ausreichende statistische Daten und Erfahrun-gen vorliegen, um diese nach Art und Ausmaß eindeutig zu beschreiben. Das Ri-siko ist kalkulierbar und kann damit auch gehandhabt werden. Für neue Frage-stellungen, z. B. Auswirkungen des Klimawandels und Auswirkung des Ausfalls kritischer Infrastrukturen für die Bevölkerung, reichen diese Methoden in der Regel nicht mehr aus, da Gefahren und Auswirkungen im Vorfeld nicht immer direkt erkenn- und eindeutig bestimmbar sind. Zudem müssen nach (Mock, R., 2002) feste Systemgrenzen überschritten werden sowie die zunehmende Ver-bindung von „Wissenschaft und Bevölkerung“ und die Globalisierung Berück-sichtigung finden.

Dies wird vor allem durch die Einführung der neuen Größe „Vulnerabilität“ deutlich. Eine traditionelle Risikoanalyse beschränkt sich auf unfallbedingte Ereignisse innerhalb der physikalischen Systemgrenzen, wobei die untersuch-ten Bedrohungen oft auf die technischen Gefährdungen beschränkt bleiben. Eine Vulnerabilitätsanalyse arbeitet mit offenen Systemzuständen und unter-sucht Ereignisse zeitabhängig, bis der alte Zustand oder eine stabile Situation erreicht ist.

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Kapitel 8.2

Die zunehmende Bedeutung der Vulnerabilität für die kritischen Infrastruktu-ren wird in (Lenz, 2009) deutlich. Danach wir Vulnerabilität „als gefahrenspe-zifische Anfälligkeit einer kritischen Infrastruktur für Beeinträchtigung oder Ausfall ihrer Funktionsfähigkeit, welche zur Unterbrechung der Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Gütern und Diensten führen kann“ betrachtet.

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8.3.1 Historische Entwicklung

Die Entwicklung und Anwendung risikobasierter Sicherheitsbetrachtungen im Be-reich der Technik ist eng mit der technischen Entwicklung in Luft- und Raumfahrt, der Kerntechnik sowie komplexen Prozessanlagen gekoppelt. Der Aspekt der Si-cherheit muss bei Anlagen mit hohem Gefahrenpotenzial bereits in der Planungs-phase durch prospektive Risikoanalysen Berücksichtigung finden. Risikostudien, die wesentlich zur Entwicklung der Methode der Behandlung technischer Risiken beigetragen haben, sind in (Hauptmanns, 2013) aufgeführt (vgl. Tabelle 8.2):

Studie Gegenstand

Amerikanische Studie für Kernkraftwerke (1975)

Druckwasser- und Siedewasserreaktoren amerikanischer Bauart

Deutsche Risikostudie Phase A und B Kernkraftwerk Biblis (Druckwasserreaktor)

Canvey Island Studie (1978)

Chemieanlagenkomplex nahe London(England)

Rijnmond Studie (1982)

Chemieanlagen in der Rheinmündung(Niederlande)

Tabelle 8.2: Auszug: Risikostudien

In den zurückliegenden Jahrzehnten hat auch im Brandschutz ein Umdenken hin zu risikobasierten Methoden stattgefunden. Brandschutz wird vermehrt durch die Anwendung wissenschaftlicher und praxisbasierter Ingenieurmetho-den sichergestellt. Dies wird durch das Grundlagendokument Brandschutz (EU Amtsblatt, 1994), das von der Europäischen Kommission 1994 veröffentlicht wurde, deutlich. Danach sind: „Ingenieurmethoden für die Brandsicherheit ein Ansatz zur Bewertung des erforderlichen Sicherheitsniveaus und zur Bemes-sung und Berechnung der notwendigen Schutzmaßnahmen.“

8.3 Historische Entwicklung/Anwendungsbeispiele

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Kapitel 8.3

Im Bevölkerungsschutz ist heute die Risikoanalyse ein wichtiges Instrument zur Festlegung von notwendigen Schutzmaßnahmen, z. B. bei Hochwasser-schadenslagen. Die dazu notwendigen Grundlagen wurden vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe entwickelt und im Jahr 2010 veröf-fentlicht (BBK, 2010).

Seit der Katastrophe bei der Loveparade 2010 in Duisburg werden auch für den Sektor Veranstaltungssicherheit/Besuchersicherheit vermehrt Risikobetrach-tungen (Sicherheitskonzept) von den Genehmigungsbehörden eingefordert und umgesetzt. Beispielhaft sei hier der Bericht des Ministeriums für Inneres und Kommunales NRW „Sicherheit von Großveranstaltungen im Freien“ von 2012 (MIK, 2012) aufgeführt.

Mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (Kon-TraG) von 1998 hat das Risikomanagement auch verstärkt Eingang in den Wirt-schaftssektor gefunden. Erst- und Rückversicherer stehen hinsichtlich der Ri-sikopolitik mit Einführungen der Regelungen nach dem Solvency II Act (2009) vor tiefgreifenden Veränderungen. Eine vergleichbare Entwicklung gibt es im Bankensektor mit der Einführung des Reformpaketes BASEL III.

8.3.2 Anwendungsbeispiele

Methoden des Risikomanagements werden hauptsächlich zur:

• Beurteilung der Anlagensicherheit (SEVESO III Richtlinie) und damit zusam-menhängend für die Flächennutzungsplanung, den Umweltschutz und die Arbeitssicherheit,

• Beurteilung kritischer Infrastrukturen (KRITIS), für den Katastrophen- und Bevölkerungsschutz sowie zur

• Beurteilung der Risikolage von Unternehmen (KonTraG), Banken (BASEL III) und Versicherungen (Solvency II) eingesetzt.

Die klassischen Anwendungsgebiete ingenieurbasierter Verfahren sind die Ri-sikoanalyse im Bereich der Betriebssicherheit von Maschinen und Apparaten, die Gefährdungsbeurteilung im Arbeitsschutz und die Sicherheitsanalyse zur Bewertung der Anlagensicherheit.

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Betriebssicherheit von MaschinenDie Maschinenrichtlinie verlangt für jede Maschine eine Risikobeurteilung und gegebenenfalls eine Risikominderung, bis das Restrisiko kleiner als das tolerier-bare Risiko ist. Für die Verfahren der Bewertung dieser Risiken von Maschinen sind verschiedene Normen anzuwenden (z. B. DIN EN ISO 14121). Der Hersteller einer Maschine ist gemäß EU-Richtlinien für technische Produkte und Anlagen verpflichtet nachzuweisen, dass die Sicherheit seines Produktes dem „Stand der Technik“ entspricht.

Auszug aus der Maschinenrichtlinie (Maschinenrichtlinie 2006/42/EG); An-hang 1: „Allgemeine Grundsätze“:

„Der Hersteller einer Maschine oder sein Bevollmächtigter hat dafür zu sorgen, dass eine Risikobeurteilung vorgenommen wird, um die für die Maschine gel-tenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen zu ermitteln. Die Maschine muss dann unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Risikobeurtei-lung konstruiert und gebaut werden.“

Gemäß (Preiss, 2009) ist der Begriff des „Standes der Technik“ insbesondere im Zusammenhang mit Sicherheit ein oftmals strapazierter; er wird in diver-sen Gesetzen gefordert und definiert, z. B. im Bundesimmissionsschutzgesetz. Dieser Begriff ist dynamisch angelegt und den sich verändernden gesellschaft-lichen Anforderungen jeweils anzupassen.

Mit der CE-Kennzeichnung erklärt der Hersteller gemäß EU-Verordnung, dass das Produkt den geltenden Anforderungen genügt, die in den Harmonisie-rungsrechtsvorschriften der Europäischen Union festgelegt sind.

Für die Beurteilung der funktionalen Sicherheit von Maschinensteuerungen wird, ausgehend von der Risikoermittlung mit dem Risiko Graph nach DIN EN 61508, die zulässige Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ausfalls pro Stunde gemäß den Vorgaben des SIL-/PL-Konzeptes quantitativ vorgegeben (BGIA, 2008).

Gefährdungsbeurteilung im ArbeitsschutzDas Arbeitsschutzgesetz und die Betriebssicherheitsverordnung enthalten als grundlegende Forderung die Gefährdungsbeurteilung. Damit können Gefah-ren erkannt und geeignete Gegenmaßnahmen festgelegt, und die Arbeitsplätze

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Kapitel 8.3

sicherer gestaltet werden. Der Unternehmer/Arbeitgeber ist grundsätzlich dafür verantwortlich, alle erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen. Seit Oktober 2002 ist die Betriebssicherheitsverordnung (Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Bereitstellung von Arbeits-mitteln und deren Benutzung bei der Arbeit, über Sicherheit beim Betrieb überwachungsbedürftiger Anlagen und über die Organisation des betriebli-chen Arbeitsschutzes; Betriebssicherheitsverordnung-BetrSichV) in Kraft. Diese Vorschrift regelt die Bereitstellung und Nutzung von Arbeitsmitteln, den Betrieb von überwachungsbedürftigen Anlagen und den betrieblichen Explosionsschutz. Zentrales Element für die Bewertung der Arbeitssicherheit ist die Gefährdungsbeurteilung. Die Gefährdungsbeurteilung erfolgt im All-gemeinen qualitativ durch eine subjektive Bewertung der ermittelten Risiken unter Einbeziehung der betrieblichen Erkenntnisse, mit Blick auf die Festle-gung der Rangfolge erforderlicher Maßnahmen (Büchner, 2007).

Sicherheitsanalysen in der AnlagensicherheitRisikoabschätzungen bei Anlagen werden derzeit sowohl in Bezug auf die im-missionsschutzrechtliche Anlagenzulassung der unter die StörfallVerordnung fallenden industriellen Anlagen im Sinne einer Einzelfallbetrachtung als auch grundsätzlich im Zusammenhang mit der Raumordnung und Bauleitplanung sowie des Katastrophenschutzes diskutiert.

Der Sicherheitsbericht ist das zentrale Element der Störfallverordnung (Zwölf-te Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes; 12. BImSchV) und ein wichtiges Dokument im Rahmen der Störfallvorsorge (Rich-ter, 2007). Gemäß den Anforderungen der Störfallverordnung enthält der Si-cherheitsbericht u. a. die Ermittlung und Analyse von zu berücksichtigenden Gefahren und Hinweise zur Verhinderung bzw. Begrenzung der möglichen Auswirkungen. Art der Ereignisse, die Eintrittshäufigkeit und die Randbedin-gungen für das Wirksamwerden der Gefahrenquellen sowie das Ausmaß und die möglichen Folgen sind abzuschätzen. In Deutschland finden vorrangig de-terministische Verfahren Anwendung. Dabei handelt es sich um qualitative Verfahren, die durch Vorgabe bestimmter fester, deterministischer Randbe-dingungen für ein fiktives Szenario die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer, die Nachbarschaft, die Umwelt sowie Sachwerte untersuchen (Katzer, 2001).

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Als sicherheitstechnisch akzeptabel (Grenzrisiko) gilt eine Anlage dann, wenn:

• eine umfassende Risikoanalyse durchgeführt wurde,• das zugängliche Fachwissen angewandt wurde,• die Sicherheitsmaßnahmen dem Stand der Technik entsprechen.

Das verbleibende Restrisiko resultiert aus:

• bewusst in Kauf genommenen Risiken,• erkannten, aber falsch beurteilten Risiken,• nicht erkannten Gefahren.

Bild 8.2: Grenzwerte für das Kollektivrisiko in den Niederlanden (SFK, 2004)

10 100 1.000

10-4

Todesfälle

Häufigkeit pro Jahr

10-5

10-6

10-7

10-8

10-9

10-10

Nicht-akzeptables Kollektivrisiko

Akzeptables Kollektivrisiko

Maßstab für das höchste akzeptable

Kollektivrisiko

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Kapitel 8.3

In einigen Nachbarländern, wie den Niederlanden, Belgien oder der Schweiz, werden quantitative Risikoabschätzungen vorgenommen und dienen als wich-tiges Beurteilungskriterium für die Genehmigung von Anlagen und die Raum-ordnungsplanung. Dabei wird z. B. in den Niederlanden auf Basis des sogenann-ten „Purple Book“ (CPR 18 E, 1999) die Anzahl der zu erwartenden Todesfälle (individual and societal risk) pro Jahr ermittelt (z. B. 1 Todesfall in 10.000 oder 100.000 Jahren). Das Individualrisiko wird dabei in sogenannten ISO-Risikolini-en, das kollektive Risiko (Bild 8.2) in Form der FN-Grafik dargestellt.

In der Schweiz werden neben den Auswirkungen auf den Menschen auch die Auswirkungen auf Umwelt (Boden und Gewässer) sowie Sachgüter quantitativ berücksichtigt (SFK, 2004).

Risikoanalyse im BrandschutzBasis des Brandschutzes in der Vergangenheit war die Schadenserfahrung. Ins-besondere Großschadensereignisse führten im Nachherein zur Überprüfung und Weiterentwicklung von Bauvorschriften. Die Festlegung der notwendigen Schutzmaßnahmen erfolgte anhand eines normierten Brandverlaufs (Einheit-stemperaturkurve, ETK) und daraus abgeleiteten standardisierten Bauteilen. Der Brandschutz der Zukunft baut – weiterhin ausgehend von der Schadenser-fahrung – auf Methoden des Brandschutzingenieurwesens auf. Ausgehend von der Risikoanalyse wird auf Basis einzelner Brandszenarien (natural fire safety concept) ein zielorientiertes Brandschutzkonzept entwickelt.

Die Industriebaurichtlinie (Richtlinie über den baulichen Brandschutz im In-dustriebau – IndBauR; 2001) lässt die Anwendung eines probabilistischen Si-cherheitskonzeptes zu. Dabei wird in begrenztem Maße zugelassen, dass die Lasteinwirkung Brand auf ein Bauteil größer ist als die zulässige Belastbarkeit; es kommt zum Versagen des Bauteils. Ausgehend von den vorhandenen bau-lichen, anlagentechnischen und abwehrenden Brandschutzmaßnahmen sowie deren Zuverlässigkeit und einer definierten Brandeintrittshäufigkeit pro Jahr darf durch den Lastfall Brand die Versagenswahrscheinlichkeit des Gebäudes einen festgelegten Grenzwert nicht überschreiten (Schneider, 2000). Für einen eingeschossigen Industriebau beträgt die zulässige Versagenswahrscheinlich-keit durch den Lastfall Brand beispielsweise 10−5 Einstürze pro Jahr (Bild 8.3).

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Bild 8.3: Probabilistisches Sicherheitskonzept (IndBauRl) (Schneider, 2000)

R = Beanspruchbarkeit S = Lasteinwirkung

S

R, S0

Rf(S(t)) f(R(t))

os oR

µs µR

β . oM

Mit den in Deutschland zum 1. Juli 2012 eingeführten Eurocodes (EN 1990 bis EN 1999) ist ein einheitliches Sicherheitsniveau in der Baubranche innerhalb Europas garantiert. Diese Normen gehen von einem risikobasierten Sicher-heitskonzept aus. Eine Besonderheit bezüglich der Handhabung der Eurocodes ist die gleichzeitige Berücksichtigung (multiple Risiken) verschiedenartiger Belastungsfaktoren. Dabei wird zwischen ständig vorhandenen Lasten (Ei-gengewicht des Gebäudes) und zeitlich befristeten, sich verändernden Lasten (z. B. Windstaudruck, Schneelast) unterschieden. Die Kombinationsregeln und die Kombinationswerte wurden so festgelegt, dass die Wahrscheinlichkeit der Überschreitung der Bemessungswerte der Lastwirkungen für alle Lastkombina-tionen und für alle einzelnen Lasten annähernd gleich ist. „Bei einer veränder-lichen Lasteinwirkung entspricht der charakteristische Wert entweder einem oberen Wert, der während der festgelegten Benutzungsdauer mit einer vorge-gebenen Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird, oder einem festgelegten Nennwert, wenn eine Wahrscheinlichkeitsverteilung unbekannt ist. Für eine zeitabhängige veränderliche Einwirkung ist der Wert in der Regel so festgelegt, dass er mit einer Wahrscheinlichkeit von 98 % während der Benutzungsdauer von einem Jahr nicht überschritten wird bzw. nicht häufiger als einmal in 50 Jahren erreicht oder überschritten wird“ (Baumgart, 2014).

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Kapitel 8.3

Risikoanalysen im BevölkerungsschutzFür ein schlagkräftiges Bevölkerungsschutzsystem ist nach (Unger, 2006) „der frühzeitige Aufbau eines geeigneten Risikomanagementsystems, national wie international, von besonderer Bedeutung. Dieses sollte neben der genauen Identifikation und Analyse der Risiken auch die Planung von Maßnahmen zu ihrer Ausschließung oder zumindest Minimierung umfassen.“

Der Leitfaden „Methode für die Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ (BBK, 2010) beschreibt ausführlich die vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) entwickelte Methode zur Risikoanalyse im Bevölke-rungsschutz. Nach (BBK, 2010) ist es damit möglich, „für das Gebiet der Bun-desrepublik Deutschland auf systematische Weise das Schadensausmaß zu er-mitteln, das bei Eintritt unterschiedlicher Gefahren zu erwarten ist, und dient dazu, Risiken durch unterschiedliche Gefahren in anschaulicher Weise ver-gleichbar zu machen. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse können zielgerichtet wirksame Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundla-gen ergriffen werden“.

Die Bewertung des Risikos (Schutzzielfestlegung) erfolgt auf der Basis einer Risikomatrix. Derzeit fehlen jedoch noch klare gesetzliche Vorgaben bezüglich der Akzeptanzgrenzen für die jeweils zu betrachtenden Gefahrenlagen.

Sicherheitskonzepte für GroßveranstaltungenFür Großveranstaltungen (ab 5.000 Besucher) und Veranstaltungen mit beson-derem Gefahrenpotenzial fordert der Gesetzgeber seit wenigen Jahren die Er-stellung eines Sicherheitskonzeptes. Die Grundlage aller sicherheitsrechtlichen Einschätzungen – sowohl aufseiten der Behörden als auch der Veranstalter – ist nach (München, 2011) neben der Beurteilung aufgrund rechtlicher Vorgaben eine umfassende Risikobeurteilung. Die maßgebenden Faktoren sind dabei die zu berücksichtigenden Gefahren und deren Eintrittshäufigkeiten. Bei dieser Be-trachtung muss gemäß (AGVS, 2012) unterschieden werden zwischen:

• vernünftigerweise nicht auszuschließenden und• vernünftigerweise auszuschließenden Gefahrenquellen.

Vernünftigerweise nicht auszuschließende Gefahrenquellen können zu Ereig-nissen führen, die zu verhindern sind. Vernünftigerweise auszuschließende Gefahrenquellen können zu Ereignissen führen, deren Eintreten zwar nicht zu

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verhindern ist, gegen deren Auswirkungen jedoch – unabhängig von den Maß-nahmen zur Verhinderung – Vorkehrungen zu treffen sind. Das Versagen einer Schutzmaßnahme (nicht durch den Veranstalter zu verantworten) zur Verhin-derung eines unerwünschten Ereignisses stellt beispielsweise eine solche Ge-fahrenquelle dar.

Risikoanalysen werden i. d. R. bereits in der Konzeptphase einer Veranstaltung durchgeführt. Dabei können zunächst detailliert nur solche Gefahren Berück-sichtigung finden, die nach Art und Auswirkung eindeutig beschreibbar sind. Werden im Rahmen der konkreten Planungsphase und weiteren Umsetzung weitere Gefahren und Risiken erkennbar, müssen diese nachträglich unter-sucht und bewertet werden. Es sind jedoch auch Gefahren vorstellbar, die erst mit (durch) dem (den) konkreten Ablauf einer Veranstaltung entstehen und im Vorfeld nicht erkennbar sind bzw. bei deren Eintritt konkrete Gegenmaßnah-men (i. d. R. reaktiv) situationsbezogen und spontan getroffen werden müssen. Diese sind insbesondere:

• Ereignisse und Gefahren, die der künstlerischen Freiheit der Akteure ge-schuldet sind, z. B. spontane oder kurzfristig veränderte Räumlichkeiten oder besondere Aktionen,

• nach Art und Ausmaß unvorhersehbares Verhalten einzelner Besucher/Be-suchergruppen, z. B. bewusster Verstoß gegen sicherheitsrelevante Anwei-sungen der Veranstalter/Sicherheitskräfte,

• sicherheitsrelevante Abweichungen (erst zu Beginn oder während der Veran-staltung erkennbar) von den ursprünglichen Planungsdaten, z. B. veränderte Verkehrslage im Umfeld oder spontane Parallelveranstaltungen, Bindung des eingeplanten Sanitätsdienstes an anderen Einsatzorten.

Durch Schutzmaßnahmen werden die vorhandenen Risiken gemäß dem Schutzziel „Jeder Besucher muss sich jederzeit frei, ohne Gefahren, äußere Ein-flüsse und mittels eigener Entscheidung innerhalb des Besucherbereichs bewe-gen können“ auf ein insgesamt von allen Seiten akzeptiertes Maß gesenkt.

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Nachdem die Risiken identifiziert und nach Art und Ausmaß analysiert wur-den, schließt sich die Risikobewertung an. Dazu werden den einzelnen Risiken qualitative/quantitative Schutzziele zugeordnet. Ist das ermittelte Risiko grö-ßer als das Schutzziel oder nicht zumutbar, wird diesem durch entsprechende Maßnahmen begegnet. Hierdurch werden inakzeptable Risiken auf ein akzepta-bles Maß gesenkt. Die Risikobewertung (BBK, 2011) ist ein Verfahren, mit dem:

• festgestellt wird, in welchem Ausmaß das zuvor definierte Schutzziel im Falle eines bestimmten Ereignisses erreicht wird,

• entschieden wird, welches verbleibende Risiko akzeptabel ist, und• entschieden wird, ob Maßnahmen zur Minimierung ergriffen werden müssen.

„Wie sicher ist sicher genug?“ – die Frage nach dem akzeptablen Risiko stellt sich immer dann, wenn man zur Einsicht gelangt, dass keine absolute Sicher-heit existiert. Dabei werden die einzelnen Risiken den Bereichen inakzeptabel und akzeptabel zugeordnet. Wenn sich keine trennscharfe Abgrenzung zwi-schen diesen Bereichen bestimmen lässt, kann ein Übergangsbereich definiert werden. Bei der Beurteilung der Akzeptanz eines Risikos werden neben objekti-ven Kriterien auch subjektive Faktoren der Risikowahrnehmung, wie Selbstbe-stimmungsgrad und persönlicher Nutzen, berücksichtigt. Die Bestimmung des akzeptablen Risikos ist ein gesellschaftlicher Prozess, an dem alle betroffenen relevanten Gruppen beteiligt werden müssen. Grundlage dieser Betrachtung ist die Schutzzieldefinition. Ein Schutzziel (Akzeptanzgrenze) ist eine norma-tive Festlegung, welche basierend auf qualitativen oder quantitativen Werten allgemein den kritischen vom nicht kritischen Bereich im Rahmen der Risikoer-mittlung trennt (Brenig & Ludäscher, 2012) (siehe Bild 8.4).

8.4 Risikobewertung

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Bild 8.4: Klassifizierung von Risiken

Akzeptanzgrenze

Risiken liegen im akzeptablen Bereich (=Schutzziel)

Risikogröße/-höhe

Gefahr: Risiken liegen im inakzeptablen Bereich

akzeptabel inakzeptabel

Liegen die bewerteten Risiken über der Akzeptanzgrenze und somit im inak-zeptablen Bereich, müssen so lange Maßnahmen zur Risikosenkung ergriffen werden, bis die Vorgaben erfüllt sind. Ziel ist es, alle Risiken dem akzeptablen Bereich zurechnen zu können. Nach (Fritzsche, A., 1986) kann ein Risiko grund-sätzlich als akzeptabel angesehen werden, wenn das zugrunde liegende Ereig-nis bei der Mehrheit der Betroffenen keine Besorgnis hervorruft.

Bei der Bewertung von Risiken kann zwischen qualitativen, semiquantitativen und quantitativen Verfahren unterschieden werden.

Im Störfallrecht wird das zulässige Grenzrisiko – das größte noch vertretbare Risiko eines bestimmten technischen Vorganges oder Zustandes – in Deutsch-land im Allgemeinen nicht qualitativ festgelegt. Die Anlage muss dem Stand der Technik entsprechen.

Grundansatz für die quantitative Festlegung von Schutzzielen ist die Feststel-lung, dass das natürliche Sterbefallrisiko durch technische Risiken nicht signifi-kant erhöht werden darf. In der einschlägigen Literatur (Merz, 1995) finden sich überwiegend Werte in der Größenordnung von 10−4 bis 10−6 für das individuelle Todesfallrisiko pro Person und Jahr.

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Kapitel 8.4

Im Gegensatz zu den politischen Vorgaben in Deutschland verfolgen zahlreiche Länder bei der Bewertung von technischen Risiken überwiegend quantitative Ansätze. Beispielhaft sind hier die entsprechenden Werte des MAJOR INDUST-RIAL ACCIDENTS COUNCIL OF CANADA (MIACC) für das Todesfallrisiko durch technische Risiken in Kanada angegeben (siehe Bild 8.5).

Bild 8.5: Bewertung technischer Risiken in Kanada (MIACC, 1994)

10 in a million(10-5)

1 in a million(10-6)

100 in a million (10-4)

Risk source

No other land use

Manufacturing,warehouses, open space

(parkland, golf courses. etc.)

Commercial, offices, low-density

residential

All other uses including institutions,

high-densityresidential, etc.

Annual Individual Risk

Allowable Land Uses

Im Rahmen der Störfallvorsorge in der Schweiz hat der Kanton Zürich bei einer Eintrittshäufigkeit von 10−5 Ereignissen pro Jahr für Personen,

Umwelt- und Sachwerte die folgenden akzeptierten Risikogrenzwerte festge-legt (SFK, 2004).

Akzeptables Risiko bei einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 10−5 1/a:

• < 10 Tote• < 1 % verunreinigte Gewässeroberfläche Zürichsee• < 10 % verunreinigte Gewässeroberfläche Greifensee• < 0,5 km2 verunreinigte Gewässeroberfläche Flüsse• < 0,1 km2 verunreinigter Boden < 50Mio. SFr. Sachschaden

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Schutzziele trennen das akzeptable vom nicht akzeptablen Risiko. Schwellen-werte bilden die Basis für die Schutzzieldefinitionen. Schwellenwerte beschrei-ben allgemein Übergänge bzw. Stufen bezüglich des Schadensausmaßes und hängen wesentlich von den Bewältigungskapazitäten zur Begrenzung und Wie-derherstellung der Zustände eines Schutzgutes ab.

Gemäß (BBK, 2011) wird unter dem Schutzziel „der angestrebte Zustand eines Schutzgutes, der bei einem Ereignis erhalten bleiben soll“, verstanden. Bezüg-lich der Definition von Schutzzielen unterscheidet (Hess, 2008) zwischen der Akzeptanz- und der Toleranzgrenze. Das akzeptierte Risiko wird definiert als Risiko, das ein Individuum (oder eine Gruppe) bereit ist, aufgrund eigener Ent-scheidung und als Resultat ihrer alltäglichen, intuitiven Risikobewertung ohne Widerspruch hinzunehmen (informelle Bewertung).

Das tolerierbare Risiko basiert auf Normen oder empirischen Überlegungen (formelle Bewertung). Die Tolerierbarkeit des Risikos wird definiert, indem entweder aufgrund normativer Kriterien ein Risiko als erlaubt oder zulässig bezeichnet wird oder indem ein Risiko festgelegt wird, für das die Aussicht be-steht, dass es für Individuen und/oder Gruppen tolerierbar ist.

Die Auswertung der Literatur (KRITIS-Kapa, 2012) hinsichtlich der nationalen Schutzziele hat ergeben, dass diese sehr heterogen sind und ein eindeutiger Trend nicht erkennbar ist. Die überwiegende Anzahl der Schutzziele basiert auf Schwellenwerten, die in Forschungsarbeiten und empirischen Studien, z. B. ORBIT-Studie (Dr. Porsche AG, 1978) zur Ermittlung der Hilfsfrist im abwehren-den Brandschutz, begründet sind.

Eine Zusammenstellung der unterschiedlichen Vorgehensweisen in Europa im Hinblick auf die Risikobewertung von industriellen Anlagen enthält das im 5. Forschungsrahmenprogramm der EU durchgeführte Vorhaben ARAMIS (Accidental Risk Assessment Methodology for Industries in the Context of the Seveso Directive, (ARAMIS, 2004)).

8.5 Definition von Schutzzielen und Schwellenwerten

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Kapitel 8.5

In der Literatur sind verschiedene Vorgehensweisen und Methoden zur Entwick-lung von Schutzzielen beschrieben. Laut (Green, 1983) gibt es zwei Hauptansät-ze zur Bestimmung von akzeptablen Risiken:

„Der von Starr verbreitete Ansatz der Revealed Preferences benützt die Ana-lyse vergangenen Verhaltens gegenüber Risiko zur Begründung zukünftiger Entscheidungen. Der andere Ansatz verwendet psychometrische Methoden, um festzustellen, welche Risiken von der Bevölkerung bewusst als akzeptabel gesehen werden.“

Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Ansätze für sowohl qua-litative als auch quantitative Schutzzielfestlegungen enthält die Dissertation von (Hess, 2008). Wesentliche Einflussfaktoren zur Festlegung der Schutzziele können dem Bild 8.6 entnommen werden.

Bild 8.6: Schutzziele und ihre Einflussfaktoren (Hess, 2008)

Risikoanalyse

Risikowahrnehmung

Risikobewertung

Tolerierbares Restrisiko (Schutzziel)

Aversion

Wertesystem

Nutzen

Andere Risiken

Gefahrenpotenzial Schadenpotenzial

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Besondere Ansätze für Schutzzieldefinitionen sind das MEM-Konzept (Minimale Endogene Mortalität) sowie das ALARA-(As Low As Reasonable Achievable-) bzw. ALARP-(As Low As Reasonable Practicable-)Prinzip.

Grundlage des MEM-Konzeptes ist die minimale endogene Mortalität. Vor dem Hintergrund der natürlichen Sterberate von Jugendlichen in Europa stellen (Kulhmann & Bresser, 1981) die These auf, dass dieser Wert durch technische Risiken nicht überschritten werden darf und dass die zulässige Häufigkeit für das Individualrisiko um eine Zehnerpotenz kleiner sein muss.

Der ALARA-Ansatz, der ursprünglich aus dem Bereich des Strahlenschut-zes kommt, orientiert sich an gesetzlich definierten Randbedingungen sowie Festlegungen und verlangt, dass die Belastung der Bevölkerung durch techni-sche Risiken möglichst gering ausfällt. Das ALARP-Prinzip geht vom gleichen Grundsatz aus und versucht, das Risiko zusätzlich unter Berücksichtigung von wirtschaftlichen und sozialen Aspekten (Kosten-Nutzen-Analyse für die Gesell-schaft) zu minimieren. Das ALARP-Prinzip legt drei Bereiche fest (Liggesmeier, 2012), in denen das Gesamtrisiko eingeordnet werden kann:

• Das Risiko ist unerheblich und kann ohne weitere Maßnahmen akzeptiert werden.

• Das Risiko ist größer als allgemein akzeptiert, unterschreitet aber die Grenze der oberen Tolerabilität.

• Das Risiko ist unakzeptabel groß.

Im ersten Fall muss das Risiko nicht weiterbetrachtet werden. Im Übergangs-bereich ist eine Überprüfung erforderlich, ob sich das Risiko nicht verringern lässt; dies erfolgt nach dem Prinzip reasonably practicable. Ist das Risiko im ers-ten Ansatz nicht akzeptabel, müssen in jedem Fall Risikominderungsmaßnah-men ergriffen werden.

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Zur Bewertung industrieller Anlagen und Prozesse werden in Deutschland und Europa zunehmend risikobasierte Verfahren eingesetzt. Während dabei in Deutschland vornehmlich qualitative Methoden zum Einsatz kommen, setzen sich im europäischen Ausland die quantitativen Verfahren durch. Zuverlässige und aussagefähige Methoden und Vorgehensweisen liegen für die klassischen technischen Anwendungsbereiche ausreichend vor. Defizite beste-hen bezüglich der Verfügbarkeit von stochastischen Eingangsdaten.

Die Anwendung probabilistischer Verfahren bedarf in Deutschland noch einer intensiven Diskussion mit allen Betroffenen. Im Mittelpunkt steht dabei der notwendige politische und gesellschaftliche Konsens im Hinblick auf die Fest-legung von (quantitativen) Schutzzielen. Ein möglicher Weg zur Festlegung von Schutzzielen ist die Ermittlung der vorhandenen Bewältigungskapazitäten für eine Schadenslage (z. B. Anzahl und Verfügbarkeit von Notstromaggregaten bei Stromausfall), sowohl aufseiten der Verursacher als auch den Einrichtun-gen und Organisationen der Gefahrenabwehr und den Betroffenen. Die vor-handenen Kapazitäten dienen als Grundlage, um Schwellenwerte für kritische Ereignisse und daraus abgeleitet für Schutzziele zu ermitteln. Der klassische Ansatz der Risikoanalyse mit Risiko als Produkt aus Eintrittshäufigkeit und Schadensausmaß stößt dann an seine Grenzen, wenn es sich um sehr seltene Ereignisse mit hohem Schadenspotenzial (SK, 2011), (ETH, 2012) handelt. Dies haben Großschadensereignisse in der jüngsten Vergangenheit, wie das Ereignis in Fukushima, deutlich gemacht. Die nur vereinzelt vorliegenden Schadenser-fahrungen aus der Vergangenheit lassen nach Auffassung des Verfassers verläss-liche und belastbare statistische Aussagen nicht zu und führen hinsichtlich der Akzeptanz solcher Risiken zu erheblichem Diskussionsbedarf mit der betrof-fenen Bevölkerung. Für sehr seltene Ereignisse mit hohem Schadenspotenzial sind Vorgehen erforderlich, bei denen in erster Linie mögliche Auswirkungen analysiert und die Resilienz des Systems bewertet und gegebenenfalls unab-hängig von spezifischen Szenarien gestärkt wird. Die Auswahl und Festlegung

8.6 Fazit und Ausblick

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von notwendigen und geeigneten Schutzmaßnahmen kann in der Regel nur re-aktiv und unspezifisch in enger Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen sowie den Betroffenen erfolgen. Die Anwendung der klassischen Risikoverfahren für die Beurteilung techni-scher Risiken, bei denen gemäß den Forderungen von Blaise Pascal das Risiko proportional der Eintrittshäufigkeit und dem Schadensausmaß ist, setzt ausrei-chende Informationen über Art und Ablauf der Ereignisse, über die zu berück-sichtigenden Gefahren sowie eine ausreichende Vorlaufzeit für die prospektive Risikoanalyse und die Festlegung der zu treffenden Schutzmaßnahmen (prä-ventiv und reaktiv) voraus. Bezogen auf die Erweiterung des Anwendungsbe-reiches der risikobasierten Methoden sind diese Randbedingungen jedoch nicht immer gegeben. Dies betrifft vor allem die Fälle, in denen:

• die Gefahren und damit verbundenen möglichen Auswirkungen im Vorfeld nicht eindeutig festlegbar sind, z. B. Auswirkungen des Klimawandels,

• Gefahren und Risiken sich zeitabhängig verändern oder sogar erst zeitver-setzt eintreten können, z. B. im Rahmen von Großveranstaltungen,

• sicherheitsrelevante Abweichungen von den ursprünglichen Planungsdaten jederzeit denkbar, aber nicht eindeutig bestimmbar sind,

• Menschen eine Doppelfunktion als zu schützendes Objekt sowie gleichzei-tig als potenzielle Gefahrenquelle besitzen und das Verhalten der Menschen über einen längeren Zeitraum nur bedingt steuerbar und vorhersehbar ist, z. B. im Bevölkerungsschutz.

• Ereignisse oder Gefahren bei Veranstaltungen, die der künstlerischen Frei-heit der Akteure geschuldet sind, z. B. spontane oder kurzfristig veränderte Räumlichkeiten.

Die Behandlung solcher Gefahren erfordert eine Weiterentwicklung der eta-blierten Methoden und Vorgehensweisen. Im Mittelpunkt stehen dabei der Umgang mit offenen Systemgrenzen und zeitlich sich verändernden Randbe-dingungen (dynamische Prozesse) sowie die Weiterentwicklung des Vulnerabi-litätsansatzes.

Für diese neuen Ansätze und Methoden sollte nach Ansicht des Verfassers nicht mehr der klassischen Risikobegriff nach Blaise Pascal, sondern der allgemeinere Begriff „systematische Sicherheitsbetrachtung“ verwendet werden.

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Kapitel 8.

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Eine allgemeine Aussage

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Prof. Dr. Wolfgang Stoll, Institut für Umweltfragen, Deutschland, GfS

Der große deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer meinte, dass, was der Mensch Schicksal nenne, nichts anderes sei als die Aneinanderreihung seiner eigenen dummen Streiche.

In unserer alternden Gesellschaft wollen wir ganz generell hoch abgesichert sein. Es ist das Privileg der Jugend, sich darzustellen – nicht zuletzt durch Mut, der bis zum Draufgängertum geht, indem sie sich (nur zu häufig drogenbefeu- ert) in gefährliche Grenzsituationen begibt. Es ist gerade dieser Gegensatz, aus einem geradezu langweilig abgesicherten Feld den ultimativen „Kick“ zu er-leben, der so nahe als möglich an die Grenze des gerade noch beherrschbaren Verhaltens heranführt.

Früher galt der Satz: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“ Heute ist es leider Mode geworden, auf dem schmalen Grat zwischen „sicher“ und „gefähr-det“ zu tanzen. Damit werden ursprünglich ganz einfache Verhaltensregeln zu statistisch hinterlegten Wahrscheinlichkeiten von Gelingen oder Versagen. Unsere moderne Welt aus Waren und Dienstleistungen wird von den Konkur-renten aktiv beworben mit den positiv sinnstiftenden Argumenten: schöner, größer, funktioneller und preiswerter.

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Nur zwei handlungseinschränkende Werbeargumente sind in den letzten hun-dert Jahren hinzugetreten: umweltfeundlich und sicher.

Dass wir in dem Aktionsfeld, in dem wir herum trampeln, möglichst wenig Schaden stiften sollten, ist eine Erkenntnis, die mit der Besiedlungsdichte und dem Naturverbrauch immer drängender wurde. Es verwundert nicht, dass das Argument, irgendetwas sei umweltfreundlich oder würde wenigstens keinen Schaden stiften, zum wichtigen Werbeargument wurde. Ob es jeweils auch zu-trifft, dafür gibt es tief gestaffelte Untersuchungsorganisationen, die sich trotz der ganz verschiedenartigen Fragestellungen einheitlich als Umweltwissen-schaft darstellen und die dann auch als solche akzeptiert, gelegentlich auch ge-fürchtet, jedenfalls aber in den Beurteilungsprozess eingebunden werden.

Das ist beim Attribut „Sicher“ noch nicht so weit, obwohl die militanten Um-weltorganisationen massiv in dieses Gebiet ausufern. Das Bedürfnis, hier auch mit wissenschaftlichen Kriterien gleichzuziehen, ist aber ganz deutlich.

Es ist die Summe der uns im modernen Leben begegnenden Risiken, die in ihrer Vielgestaltigkeit den einfachen Hausverstand weit überfordern und eines wis-senschaftlich hinterlegten Abwägungsprozesses bedürfen.

Daraus schöpft die Sicherheitswissenschaft als eine relativ neue und keines-wegs überall anerkannte Disziplin ihre Berechtigung. Es ist schon alleine der Risikobegriff, der sachfremd abgetrennt von der Chance medienwirksam als „Aufreger“ benutzt wird. Das mag zwar die Aufmerksamkeit und damit die Auf-lagen in den Medien steigern, die einseitige Herausstellung des Risikos führt aber nicht zu vertieften Erkenntnissen und schon gar nicht zu besonnenen Handlungsanweisungen.

Um all die unbestimmten Ängste der Bürger werbend zu nutzen, werden im Gegensatz dazu positiv besetzte Attribute zur Werbung benutzt. Das können, wie oben erwähnt, Hinweise auf die Umweltfreundlichkeit oder die Preisvor-teile sein. Am allgemeinsten ist aber das Attribut, ein Produkt sei „sicher“, was hier so viel wie eine maximale Chance verbunden mit einem Minimalrisiko bei der Anwendung heißen soll. Während die Umweltfreundlichkeit kein Wettlauf-argument bildet, lässt sich keine Werbeabeilung freiwillig das für ein Produkt mühsam und im Wettstreit mit der Konkurrenz aufgebaute Sicherheitsattribut verallgemeinernd wegnehmen. Damit steht es einer vergleichenden wissen-

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Kapitel 9

schaftlichen Bearbeitung nicht zur Verfügung. Dabei wird in der Ausgestaltung dieses Attributes gerne absichtlich übersehen, dass es trotz aller spezifischen Produkteigenschaften letztlich der handelnde oder unterlassende Mensch ist, der dieses Attribut erst wirksam werden lässt. Es würde der Werbewirtschaft und auch den im Wettbewerb stehenden Unternehmen jedoch sehr nützen, gerade den Menschen in seinem risikobewussten oder auch leichtsinnigen Handeln im Umgang mit den Produkten und den dafür empfohlenen Verhal-tensweisen wissenschaftlich zu begleiten. Dies würde marktschreierische Übertreibungen dämpfen und erst den objektiven Hintergrund für die Pro-duktentwicklung und Bewertung liefern.

Was also mit dem allgemein gesteigerten Umweltbewusstsein – einschließlich der selbstgewissen Übertreibungen durch militante Umweltorganisationen – bereits gelungen ist, müsste bei entsprechenden Anstrengungen auch mit dem kollektiven Risikobewusstsein gelingen, wenn eine objektive wissenschaftliche Durchdringung nicht nur von Amts wegen, sondern auch als objektives Wer-beargument von der erzeugenden Industrie aktiv gefördert und als Bestandteil der Entwicklungsanstrengungen mit einbezogen würde.

Diese Tagung kann nur als ein kleiner Beitrag zur Bewusstseinsbildung auf die-sem langen und beschwerlichen Weg betrachtet werden.

Als ein Beispiel von vielen soll hier wegen des im deutschen Risikoverständnis immer noch wichtigen Themas über die augenblickliche Risikokompetenz bei der Beurteilung ionisierender Strahlung berichtet werden.

Nehmen wir einen praktischen Fall:

Eine größere Versorgungs-Rohrleitung wird im Freien verlegt. Die Stoßstellen werden geschweißt. Ein Trupp aus Vorarbeiter, Schweißer und zwei Hilfskräf-ten, einer davon erstmalig und etwas älter, sind an der Arbeit. Die Schweiß-naht wird mit einer Strahlenquelle (Kobalt-60) auf Fehler durchleuchtet. Der ältere Hilfsarbeiter sieht auf dem Lehmboden im Graben unter dem Rohr ein bleistiftgroßes glänzendes Metallstück liegen und steckt es in die Tasche. Der Vorarbeiter bemerkt nach kurzer Zeit das Fehlen der Kobalt-Quelle, die aus der Bleihülle heraus gefallen war – er fragt und bekommt sofort die Quelle aus der Hosentasche des Hilfsarbeiters zurück und verwahrt sie wieder im Bleibehäl-ter. Der Vorfall wird nicht gemeldet, aber der Arbeiter erzählt ihn abends sei-

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ner Frau. Ein Jahr später wird bei dem Hilfsarbeiter Leukämie diagnostiziert. Er stirbt wenig später. Die Frau verlangt von der Berufsunfallversicherung eine Witwenrente, wird aber abgewiesen. Begründung: Ein älterer Bruder des Arbei-ters war ebenfalls einige Jahre zuvor an Leukämie gestorben. Außerdem hatte der Arbeiter schon vorher mehrere Male zur Linderung seines Rheumas radi-oaktive Thermalbäder aufgesucht. Der Rechtsbeistand der Frau argumentiert gegenüber der Berufsgenossenschaft, dass ein Fall von Leukämie in dem fami-liären Umfeld nicht zähle, weil es keine genetische Vorbelastung für Leukämie gebe und dass außerdem die Anwendung von ionisierender Strahlung zu me-dizinischen Zwecken keine anrechenbare Vorbelastung darstelle. Die Berufsge-nossenschaft obsiegt jedoch mit der Feststellung, Strahlenschäden seien nicht kausal zuzuordnen und daher grundsätzlich nicht versicherbar.

Das Dilemma ist augenfällig: Schäden durch ionisierende Strahlung sind sta-tistisch verteilt, die Rechtsprechung aber fordert beweisbare Kausalität. So haben im Westen nach dem Tschernobylunfall etwa 10.000 Frauen ihren Fötus abtreiben lassen, obwohl es dafür nicht die geringste statistische Evidenz gab. Es gehört zu den Akzeptanzproblemen der Kernenergie, dass es für strahlungs-basierte Schadensvermutung keine Versicherung gibt.

In den USA wurde in einem vergleichbaren Fall (Strahlenbelastung von Solda-ten in Feldversuchen mit Atomsprengladungen) eine Kohorte von 7.000 Fällen von Klagen von Soldatenwitwen durch eine anteilige Ursachenzuordnung nach Wahrscheinlichkeit (Probabiltiy of Causation) entsprechend anteilig abgegol-ten. Das geht offenbar im relativ fallelastischen amerikanischen Gewohnheits-recht, wäre aber bei unserem paragraphengestützten Rechtssystem undenkbar.

Es gehört zu den Grundfesten der (US-amerikanischen) Meinungsführer im Schutz vor ionisierender Strahlung, die in der ICRP den Ton angeben, dass man wegen der im Niedrigdosisbereich nicht nachweisbaren Folgen annimmt, jede Exposition sei schädlich, würde sich aber nach dem linearen Dosis-Wir-kungs-Prinzip (LET) nur statistisch in Gesundheitsfolgen (da aber u. U. auch in Karzinomen) manifestieren.

Diese Annahme ist nicht nur singulär unter allen Toxizitätserkenntnissen, wo ganz generell die „Menge das Gift macht“, um Paracelsus zu zitieren, und da-her weitaus zu konservativ, sondern wird nun auch von namhaften Forschern und vor allem von Balneologen als unsinnig gebrandmarkt. Sie ist aber in ihrer

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Kapitel 9

Rigorosität gleichzeitig das Rückgrat der Kernenergieablehnung und – weil in-tellektuell einfach – auch nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Es hat aber nicht an Versuchen gefehlt, die Wirkung von ionisierender Strahlung nicht nur statis-tisch nach dem obigen LET-Prinzip überkonservativ zu bewerten, sondern auch im Einzelfall zu konkreten Bewertungen von eventuellen Strahlenschäden zu kommen. Als einziges Verfahren mit einer bedingten Aussagekraft hat sich bis-her die Zählung von Chromosomen-Aberrationen entwickelt. Dabei werden in einem aufwendigen Zählverfahren die Zahl und Form der gegenüber der Nor-malform veränderten Chromosomen in Blut- oder Gewebszellen bestimmt und daraus auf eventuelle Strahlenschäden geschlossen. Es gibt natürlich auch che-mische Noxen, Krankheiten und altersbedingte Veränderungen am Chromo-somensatz, aber im Regelfall kann man solche Störgrößen von Strahlenschä-den unterscheiden. Man muss allerdings das auslösende Bestrahlungsereignis zeitlich zuordnen können, da Zellen mit beschädigtem Chromosomensatz von den Reparaturenzymen des Körpers ausgeschieden werden und somit viel kürzer leben als normale Zellen. Jedenfalls ist die Abwesenheit von Chromo-somen-Aberrationen für das Fehlen von Strahlenschäden schlüssig. Solange das aber aus Kostengründen nicht routinemäßig angewandt wird, bleibt es bei dem anonymen und damit nicht als örtlich und zeitlich begrenzt zuordenbaren Herdgeschehen als Bedrohung, die kollektiv Angst macht.

Es sind solche Risiken, bei denen zwar eine fachliche Kompetenz zur Beurteilung bestünde, aber sie sind im Umfeld hysterischer Ängste nicht objektivierbar.

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Digitale Medien: Risikenund Nebenwirkungen für die Gesellschaft

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Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Universitätsklinikum Ulm

Digitale Informationstechnik ist Teil des modernen Lebens: Schon Kinder kaufen im Internet, spielen an der Konsole, plaudern über Facebook mit Freunden und machen mit Google ihre Hausaufgaben. Deswegen könne man den richtigen Um-gang mit den digitalen Medien nicht früh genug lernen. – Diese Ansicht entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als schwerer Irrtum. Kinder sind keine Erwachse-nen. Ihre besonders lernfähigen Gehirne brauchen bestimmte Erfahrungen, um Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn ausbilden zu können, d. h. ihr Gehirn überhaupt erst zu bilden, wie anhand von Beispielen aus der Entwick-lungspsychologie, der experimentellen Psychologie und der Gehirnforschung dargestellt wird: Wer sprechen lernt, braucht den Umgang mit sprechenden Menschen. Sitzen kleine Kinder hingegen vor Bildschirmen und Lautsprechern, bleiben sie in ihrer Sprachentwicklung zurück (Kuhl et al. 2003, Zimmerman et al. 2007). Wer Kinder im Vorschulalter mathematisch besonders fördern will, der sollte Fingerspiele mit ihnen machen, denn Zahlen werden vom Gehirn über die Finger erworben, nicht durch Daddeln an einem iPad (Gracia-Bafalluy & Noël 2008, Noël 2005). Und wer handschriftlich Inhalte aufschreibt, verankert sie tie-fer, als wer nur auf einer Tastatur tippt (Mueller & Oppenheimer 2014).

Zugleich ist aus der Bildungsforschung bekannt: Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen bei der Sprachentwicklung sowie Aufmerksamkeitsstörungen (Spitzer 2012). Eine Playstation im Grundschulalter verursacht nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben (Weis & Cerankosky 2010) und ein Computer im Ju-gendzimmer wirkt sich negativ auf die Schulleistungen aus (Fuchs & Woesmann 2004). Hinzu kommt die Suchtgefahr, denn Computerspiele sind programmiert, um Sucht zu erzeugen. Weitere Folgen digitaler Medien, zu denen mittlerweile auch das Smartphone gehört, sind Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht und Gewaltbereitschaft (Spitzer 2014).

Zusammenfassung

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Es ist besorgniserregend, dass Kinder heute täglich etwa doppelt so viel Zeit mit digitaler Informationstechnik verbringen wie in der Schule. Diese Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik werden von Eltern, Erziehern und Lehrern seit Jahren beobachtet, finden jedoch gesellschaftlich und poli-tisch aufgrund massiver Lobbyarbeit der Medien und der Hersteller von Infor-mationstechnik kaum Beachtung.

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10.1 Digital genial? – Mediennutzung in der Kindheit

Wenn man Medienpädagogen glaubt, dann gibt es für Kleinkinder nichts Bes-seres als digitale Informationstechnik. „Dank der intuitiven Oberfläche können Kleinkinder – mit und ohne Beteiligung von Erwachsenen – die verschiedenen Programme, Spiele, Videosequenzen usw. selbsttätig und spielerisch erkun-den“, schreibt der Frühpädagoge Martin Textor in der Zeitschrift Kita aktuell, nicht ohne anzumerken: „Allerdings besaßen im Jahr 2012 erst 15 % der Famili-en einen Tablet-PC“. Da gibt es also Nachholbedarf, denn „diese Geräte sind für kleine Kinder geradezu prädestiniert“. Und der Medienpädagogische Forschungs-verbund Südwest fügt in seiner entsprechenden Studie (2012, S. 20) hinzu: „Ohne Tastatur, nur mittels Touchscreen, stehen Internetangebote oder Apps quasi so-fort per ‚Knopfdruck‘ zur Verfügung. Lese- oder Schreibkompetenzen sind zur Nutzung von Inhalten nicht mehr zwingend erforderlich, die oftmals visuell ge-steuerte Menüführung erlaubt potentiell selbst Vorschulkindern die Nutzung.“

Glaubt man der Schrift Digital genial der Krippenerzieherin Antje Bostelmann und des Kunstpädagogen Michael Fink, können Kleinkinder den Tablett-PC nutzen, um „ihre Umgebung genauer wahr[zu]nehmen“, indem sie „beispiels-weise […] mit der eingebauten Kamera ein Foto“ machen oder Filme drehen. „Eine Dolmetscher App ermöglicht es, mit einem gerade eingewanderten Kind zu sprechen“ und „Dank einer Pflanzenbestimmungs-App können bei einem Waldspaziergang Bäume, Sträucher, Blumen, Pilze usw. identifiziert und wei-tere Informationen über sie abgerufen werden“. Das Fazit von Herrn Textor: „Es gibt also viele Möglichkeiten, wie sich Tablet-PCs im Kindergarten sinnvoll ein-setzen lassen. Die Kosten sind gering, da die Geräte und Apps recht preiswert sind […].“

Im Nachbarland Österreich hat mittlerweile das Kultusministerium (zusam-men mit der Europäischen Union) das Handbuch für die Aus- und Weiterbil-dung von Kindergartenpädagog(inn)en Safer Internet im Kindergarten geför-dert. Dort findet man im ersten Kapitel (Die frühe Kindheit als „Medienkindheit“) das Folgende: „Keine Seltenheit mehr: Einjährige Babys, die gerade das Laufen

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lernen, finden sich am iPad der Eltern erstaunlich gut zurecht – besser viel-leicht als in der eigenen Wohnung. […] Es liegt daher auf der Hand, dass me-diale Frühförderung ein immer wichtigerer Bestandteil der Bildungsarbeit werden muss“ (Buchegger 2013, S. 6).

Auch für die Schulen wird immer wieder Nachholbedarf festgestellt, werde doch Deutschland ansonsten den Anschluss an die digitale Welt verpassen (Anon. 2014). Daher werden Tablet-PCs und Laptop-Computer für den Unterricht ab der ersten Klasse empfohlen und in den Niederlanden unter der Bezeichnung „Steven Jobs Klassen“ bereits eingeführt. In Uruguay wird seit einigen Jahren jeder Erstklässler mit einem eigenen Computer ausgestattet.

Die auch hierzulande heftig vorangetriebene Digitalisierung von Klassenzim-mern steht in krassem Gegensatz zu dem, was wir zu den Auswirkungen von di-gitaler Informationstechnik an Schulen wissen: Die großen deutschen Studien zur Computernutzung im Unterricht haben festgestellt, ebenso wie die entspre-chenden internationalen Studien, dass Computer an Schulen weder das Lernen noch die Schulleistungen verbessern, nicht einmal die Fähigkeit zur Benutzung von Computern oder des Internets fördern und insgesamt zu mehr gestör-ter Aufmerksamkeit führen (Abb. 2–4). Das Problem der Sucht wird in diesen Studien erst gar nicht angesprochen. Auch die im November 2014 publizierte internationale Vergleichsstudie zur Nutzung digitaler Informationstechnik an Schulen (ICILS; vgl. Bos et al. 2014) enthält weder einen Bezug zu Schulnoten noch einen Hinweis zur suchterzeugenden Wirkung digitaler Medien.

Betrachtet man die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen in Deutsch-land nach ihrem Ausmaß – 7,5 Zeitstunden täglich (Rehbein et al. 2009) – so wird deutlich, dass es hier um ein Problem geht (bei 3,75 Zeitstunden täglich für den gesamten Schulstoff 1), dem eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung im Hinblick auf die Bildung und die Gesundheit der Bevölkerung zukommt. Digi-tale Informationstechnik hat Risiken und Nebenwirkungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen; hiervon und den damit verbundenen gesamtgesell-schaftlichen Folgen handelt dieser Beitrag.

1 Wer 35 Wochenstunden Schule hat, verbringt dort im Durchschnitt (35 x 3/4 x 5/7) : 7 = 3,75 Zeitstunden täglich, denn eine Schulstunde hat die Dauer einer Dreiviertelstunde und Schule findet nur an 5 von 7 Wochentagen statt.

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Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab – so wie uns Rolltreppen, Fahr-stühle und Autos körperliche Arbeit abnehmen. Die negativen Folgen man-gelnder körperlicher Aktivität für Muskeln, Herz und Kreislauf sind bekannt, und wir tun viel, um ihnen entgegenzuwirken und uns körperlich fit zu halten. Wichtig ist nun die vergleichsweise junge Einsicht: Mit unserem Gehirn verhält es sich ebenso, denn nur wenn wir es trainieren, werden und bleiben wir geistig fit. Unser Gehirn entwickelt nur dann seine geistige Leistungsfähigkeit, wenn wir es in Kindheit und Jugend in jeglicher Hinsicht bestmöglich nutzen und da-mit überhaupt erst ausbilden.

Bei einem Computer liegen die Leistungsfähigkeit seiner wesentlichen Kompo-nenten, der Verarbeitungseinheit (Central Processing Unit, CPU) und Speicher-einheit (Festplatte) fest, sie ändern sich nach seiner Produktion nicht mehr und haben eine bestimmte Kapazität, die sich in Rechenschritten/Sekunde (CPU) bzw. Mega-, Giga- oder Terabyte (Festplatte) bemisst. Die Verarbeitungs- und Speicherkapazität des Gehirns dagegen bildet sich erst durch seine Benutzung, sie ist weder bei der Geburt schon vorhanden noch entsteht sie von selbst. Un-sere Sprachzentren beispielsweise sind zwar biologisch angelegt, benötigen zu ihrer Ausbildung jedoch Hunderttausende sprachlicher Inputs, aus denen das Gehirn mittels Extraktion statistischer Regeln allgemeine Wörter (Vokabeln), deren Bedeutungen (Semantik) und die Regeln der Kombination von Wörtern zu komplexeren Bedeutungsstrukturen (Grammatik) ableitet. Ohne sprachli-chen Input geschieht dies nicht und das Ganze muss bis etwa zum 13. Lebens-jahr erfolgt sein. Danach ist die Plastizität der Sprachzentren nicht mehr gege-ben, die für deren Bildung notwendig ist. Ganz allgemein gilt: Zur Ausbildung geistiger Leistungsfähigkeit bedarf es der aktiven Auseinandersetzung mit ent-sprechenden Erfahrungen, mit allen Sinnen und dem gesamten Gehirn.

Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Gehirnforschung aus den letzten 30 Jah-ren gehört die Einsicht, dass sich das Gehirn mit jedem Gebrauch ändert – man spricht von Neuroplastizität bzw. ihrer Konsequenz: Lernen. Erst hierdurch ent-

10.2 Computer und Gehirne

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faltet das Gehirn überhaupt seine Leistungsfähigkeit. Im Gegensatz zum Com-puter hat ein Gehirn weder eine CPU noch eine Festplatte. Stattdessen besteht es aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen, von denen jede über bis zu zehn Tausend Verbindungen mit anderen Zellen vernetzt ist. Die Nervenzellen verar-beiten Informationen (in Form elektrischer Impulse), indem sie sich diese wech-selseitig zuspielen. Hierbei überqueren diese Impulse die Verbindungsstellen der Nervenzellen – die Synapsen – die hierdurch ihre Stärke der Verbindung ändern. Die „Hardware“ Gehirn ändert sich somit durch ihre Benutzung (d. h. die auf ihr laufende Software). Diese Änderungen der Synapsenstärken sind die Speicherung! Damit geht die Verarbeitung von Informationen automatisch mit Speicherung einher. Beide Funktionen werden also nicht von zwei unterschied-lichen Modulen bewerkstelligt, sondern sind zwei Aspekte eines Prozesses: des Gebrauchs von Nervenzellen. Dieser führt daher auch zu einer zunehmend bes-seren Verarbeitungsleistung während Kindheit und Jugend (Bild 10.1).

Bild 10.1: Schematische Darstellung der Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit des Gehirns und

einiger Faktoren, die sich positiv bzw. negativ darauf auswirken (aus Spitzer 2012)

Bildung Bewegung gesunde Ernährung

Geborgenheit & Gemeinschaft aktives Teilnehmen, Geben & Helfen

Arbeitslosigkeit Krankheit

sozialer Abstieg

Vereinsamung

Depression, Demenz

Tod

Sucht Schlafmangel Übergewicht

geringe Bildung falsche Ernährung

Schulprobleme

Aufmerksamkeitsstörungen

Sprachentwicklungsstörungen

Kindheit Jugend 20-50 Alter hohes Alter

Zwei- sprachig-

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Welt mit Händen

be-greifen

Musik Sport

Theater

Bindung, Familie sinnvolle Arbeit Enkel & Ehrenamt

Tanzen, Singen, Lachen

Stress Multitasking

dauernd online

Computer- spiele

Spiele- konsolen

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Kapitel 10.2

Hinzu kommt ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt: Kleine Kinder lernen sehr schnell (d. h. ihre Synapsen ändern sich beim Gebrauch in einem ver-gleichsweise stärkeren Ausmaß), gerade weil sie noch gar nichts wissen oder können und so rasch wie möglich das Laufen und Sprechen lernen sowie die Welt und ihre Mitmenschen begreifen müssen. Schon im Schulalter ändern sich die Synapsen langsamer und bei Erwachsenen ist deren Veränderungsge-schwindigkeit vergleichsweise gering (Bild 10.2).

Bild 10.2: Bildungsrendite in Abhängigkeit vom Lebensalter des zu Bildenden (nach Heckman 2006).

Der Kurvenverlauf ist letztlich Ausdruck eines allgemeineren biologischen Sachverhalts der Gehirnent-

wicklung, nämlich der Abhängigkeit des Ausmaßes der Veränderung synaptischer Verbindungen bei

deren Gebrauch vom Lebensalter (vgl. Spitzer 2010, 2012).

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Betrachten wir zur Illustration ein Beispiel: Kleinkinder mit einem normal-sichtigen (100 %) und einem schwächeren Auge (z. B. 70 %) dürfen nicht ih-rer spontanen Entwicklung überlassen werden. Denn die Sehzentren in ihrem Gehirn verarbeiten bevorzugt die scharfen Bilder vom 100 % sehfähigen Auge und berücksichtigen die unschärferen Bilder vom Auge mit nur 70-prozentiger Sehkraft nur wenig. Dies beeinträchtigt das Entstehen von Verbindungen vom schwächeren Auge zu den Sehzentren, und wenn man nichts tut, ist aus dem schwächeren Auge mit fünf Jahren ein blindes Auge geworden. Dieser Prozess ist dann unumkehrbar, d. h. Verbindungen, die in jungen Jahren nicht geknüpft wurden, können später nicht mehr entstehen. Man spricht hier auch von Ent-wicklungsfenstern, sensiblen Phasen oder Perioden. Wann diese Perioden be-ginnen und enden, hängt von der jeweiligen Gehirnfunktion und dem Ablauf der Entwicklung der an dieser Funktion beteiligten Module ab. So sind die Seh-

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zentren bei der Geburt schon aktiv und entwickeln sich früh. Ihre maximale Zahl an Verbindungen (Synapsen) erreichen sie im 8. Lebensmonat, wonach weitere Strukturierung (man spricht auch von der Ausbildung innerer Reprä-sentationen, d. h. von Lernen) mit einer Abnahme der Zahl der Verbindungen (nur diejenigen, die gebraucht werden, bleiben bestehen) einhergeht.

Um diesen sehr ungünstigen Spontanverlauf bei einseitig schwachsichtigen Kindern zu verhindern, muss man ihnen das gesunde Auge mit einer Art „Pi-ratenklappe“ verschließen. Dadurch zwingt man das Gehirn, die Signale vom schwachen Auge zu verarbeiten (statt nur die besseren Signale vom scharf se-henden Auge), und es ist genau diese Verarbeitung, die für die „Verdrahtung“ des schwachen Auges sorgt. Erst die Verarbeitung von Impulsen vom Auge führt also dazu, dass das Auge überhaupt das Sehen lernt! Unterbleibt das Training, ist das Auge zeitlebens unwiderruflich blind!

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10.3 Gehirnentwicklung

Nicht anders ist es beim bereits oben angeführten Spracherwerb. Unterbleibt dieser bis zum Alter von etwa 13 Jahren, kann die Sprachentwicklung danach nicht mehr erfolgen. Das kritische Zeitfenster ist mithin länger offen, die Spra-che entwickelt sich später als das Sehen. Von großer Bedeutung ist, dass es auf das an das Kind gerichtete Sprechen ankommt, also nicht einfach nur darauf, ob akustischer Input („Berieselung“) vorhanden ist, sondern darauf, dass dieser aktiv verarbeitet wird. Hierfür ist die Eltern-Kind-Interaktion wesentlich. Eine Studie an sozial eher schwachen Familien konnte zeigen, dass die Anzahl der in einem Zeitraum von 10 Stunden an das Kind gerichteten Wörter von unter 670 bis mehr als 12.000 variiert (Weisleder & Fernald 2013). Entsprechend gab es Unterschiede zwischen dem Vokabular und der Geschwindigkeit der Sprachver-arbeitung im Alter von zwei Jahren. Dies passt sehr gut zu einer fast zwei Jahr-zehnte alten Studie, in deren Rahmen 42 Familien mit kleinen Kindern über mehrere Jahre hinweg im Hinblick auf die Anzahl und Art der über den Tag an die Kinder gerichteten Wörter beobachtet und untersucht wurden: Im Alter von drei Jahren hatten die Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischen Status etwa 30 Millionen mehr Wörter gehört als Kinder aus sozial schwachen Familien (Hart & Risley TR 1995).

Gleichzeitig mit dem sehr raschen Aufnehmen von Informationen erfolgt die biologische Entwicklung des Gehirns: Das Gehirn des Neugeborenen hat nur etwa ein Viertel (350 Gramm) des Gewichts und der Größe des Gehirns eines er-wachsenen Menschen (1.300 – 1.400 Gramm), obwohl sowohl die Nervenzellen als auch deren Verbindungsfasern bereits vorhanden sind und nach der Geburt zahlenmäßig kaum zunehmen. Es ist vor allem Fett, das im Laufe der Entwick-lung des Gehirns nach der Geburt das Gehirn so groß werden lässt. Dabei han-delt es sich um eine ganze besondere Art von Fett, Myelin genannt, mit dem bestimmte Zellen (den Schwann‘schen Zellen) die Nervenfasern ummanteln. Diese Myelinisierung der Nervenfasern bewirkt, dass die Impulse nicht mehr langsam (maximal mit etwa 3 m/s) entlang einer Nervenfaser laufen, sondern schnell (mit bis zu 115 m/s) entlang der Faser springen.

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Dieser Unterschied ist für die Gehirnfunktion sehr bedeutsam, denn das Gehirn ist modular aufgebaut, d. h. verarbeitet Informationen vor allem dadurch, dass diese zwischen verschiedenen, jeweils einige cm voneinander entfernt liegen-den Modulen Dutzende Male hin und her fließt. Hieraus erklärt sich die enor-me Bedeutung der Myelinisierung. Die Zeit, die Impulse von einem Modul zu einem anderen benötigen, beträgt bei einer Nervenleitgeschwindigkeit von 3 Metern pro Sekunde bei einer Distanz von 10 cm etwa 30 Millisekunden. Dies mag kurz erscheinen, ist jedoch für eine Informationsverarbeitung, die letzt-lich darin besteht, dass Impulse zwischen unterschiedlichen Modulen vielfach hin und her fließen, sehr lang. Der rasche Austausch zwischen Modulen setzt eine schnelle Leitung der Impulse voraus, woraus sich wiederum ergibt, dass ein Modul, dessen Verbindungsfasern noch nicht myelinisiert sind, nur wenig zur Informationsverarbeitung beitragen kann. Damit ist eine nichtmyelinisier-te Nervenfaserverbindung im Gehirn so etwas wie eine tote Telefonleitung – phy-sikalisch vorhanden, aber praktisch ohne Funktion.

Durch die Anfärbung von Fett in Gehirnschnitten ließ sich schon vor etwa ein-hundert Jahren nachvollziehen, wann bzw. in welcher Reihenfolge Verbindungs-fasern zur Ausreifung kommen (Bild 10.3). Zum Zeitpunkt der Geburt sind nur die primären sensorischen und motorischen Areale myelinisiert, also Bereiche, die für die ersten einfachen Verarbeitungsschritte von Umweltsignalen (Sehen, Hören, Tasten) verantwortlich sind oder direkt die Muskulatur ansteuern. Signa-le von der Außenwelt und an die Außenwelt können daher nur auf einfache Wei-se bearbeitet werden. Der Säugling macht erste Erfahrungen und reagiert auf sie auf einfachste Weise: Man zwickt ihn ins Bein und das Bein zuckt.

Im Gehirn des Neugeborenen werden die Informationen jedoch noch nicht sehr tief verarbeitet, d. h. noch nicht auf komplexe raum-zeitliche Muster hin un-tersucht. Erst durch die zunehmende Zuschaltung (durch Myelinisierung) von Arealen, deren Input die Aktivitätsmuster „einfacherer“ Areale darstellen, kann dies erfolgen. Diese zunehmende Verarbeitungstiefe entsteht somit erst durch die biologische Reifung des Gehirns im Sinne der Myelinisierung nach der Ge-burt. Es werden zunehmend neue, „höhere“ Gehirnbereiche durch schnelle Fasern mit bereits funktionierenden Gehirnarealen verbunden, sodass immer mehr Gehirnareale in die Informationsverarbeitung einbezogen werden und der Komplexitätsgrad der Verarbeitung zunimmt. Teile des Frontallappens des Menschen sind aufgrund dieser Entwicklung erst zur Zeit der Pubertät oder so-gar erst danach funktionell voll mit dem Rest des Gehirns verbunden.

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Kapitel 10.3

Bild 10.3: Darstellung der Myelinisierung von Faserverbindungen kortikaler Areale durch die Anfärbung

von deren Fett (d. h. des Myelins) mit schwarzem Farbstoff, wie sie der deutsche Anatom Paul Flechsig

bereits 1920 publizierte. Links oben ist das Gehirn eines Neugeborenen als Schnittbild zu sehen, rechts

das Gehirn eines Kindes im Kindergartenalter und unten das Gehirn eines Erwachsen. Beim Säugling

sind nur wenige Areale mit schnell leitenden Fasern verbunden.

Diese verglichen mit anderen Primaten sehr stark verzögerte Gehirnentwicklung beim Menschen wurde lange als Nachteil angesehen. Computersimulationen neuronaler Netzwerke, die sich eigens mit den Wechselwirkungen von Gehirn-reifung und Lernen beschäftigten, zeigen jedoch, dass die Reifung des Gehirns letztlich einen guten Lehrer ersetzt. Dieser sorgt dafür, dass wir beim Lernen mit dem Einfachen beginnen und dann die Komplexität immer mehr steigern. Im alltäglichen Lebensvollzug während der ersten Lebensjahre (d. h. ohne Lehrer) sind wir jedoch den verschiedensten Reizen ausgesetzt, deren Struktur von „ganz einfach“ bis „hoch komplex“ reicht. Die Tatsache, dass sich das Gehirn entwickelt und zunächst überhaupt nur einfache Strukturen verarbeiten kann, stellt jedoch sicher, dass das Gehirn zunächst auch nur Einfaches lernt (Verar-beiten ist immer auch Lernen!).

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.

Bild 10.4: Schema zur Gehirnentwicklung vom Säugling (links) zum Erwachsenen (rechts). Nur die Neu-

ronen in „niedrigen“, „einfachen“ Arealen sind beim Säugling bereits mit schnellen Fasern verbunden

und damit „online“.

Sensorik Motorik Komplexität

hoch

niedrig

Input Output

Insgesamt folgt die Gehirnentwicklung dem einfachen Prinzip „von draußen nach innen“ (Bild 10.4). Bei der Geburt schon entwickelt sind einfache Zentren der Sensorik und Motorik, d. h. Bereiche des Gehirns, die Verbindungen zur Au-ßenwelt haben, entweder über die Sinnesorgane einschließlich des Tastsinns von der gesamten Körperoberfläche (Input) oder über motorische Fasern zu den Muskeln (Output). „Höhere“ Zentren der komplexen Informationsverarbeitung zwischen Input und Output hingegen entwickeln sich erst und werden zuge-schaltet, sodass ein System resultiert, dessen Datenanalysefähigkeit mit zuneh-mendem Alter einen zunehmenden Komplexitätsgrad erreicht. Das Frontalhirn – der Sitz von Denken, Bewerten, Willensakten, Zielen und Handlungsplänen sowie Simulationen künftiger Ereignisse (Probehandeln) – bildet im Hinblick auf seine Entwicklung das Schlusslicht und ist mit etwa 20 Jahren (oder etwas danach) erst voll entwickelt.

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Zugleich zeigt die Erfahrung von Menschen mit ausgereiftem Gehirn Folgendes: Wer als Erwachsener schon drei Sprachen beherrscht, wird die vierte rascher ler-nen als derjenige, der nur seine Muttersprache gelernt hat. Wer schon drei Mu-sikinstrumente beherrscht, lernt das vierte schneller als ein Erwachsener, der erst ganz von vorne zu musizieren beginnt, und beim Gebrauch von Werkzeugen oder dem Erlernen von Chemie oder Physik ist es ebenso: Je mehr ein Mensch als Kind und Jugendlicher gelernt hat, desto besser lernt er als Erwachsener.

Zum Vergleich: Wenn die Festplatte eines Computers zu 50 % beschrieben ist, beträgt die verbleibende Kapazität noch die Hälfte, wenn sie zu 90 % beschrie-ben ist, bleiben noch 10 % Kapazität. Mit dem Gehirn verhält es sich offensicht-lich anders: „Ich kann schon drei Sprachen, da geht jetzt nichts mehr, denn meine Sprachzentren sind nahezu voll.“ – Diesen Satz belächeln wir mit Recht, denn die Erfahrung zeigt das genaue Gegenteil! Das Gehirn verhält sich wie eine paradoxe Festplatte: Je mehr schon gespeichert ist, desto größer die Kapazität! Der Grund hierfür liegt in der – verglichen mit einem Computer – fundamen-tal anderen Architektur des Gehirns: Bereits gespeicherte Inhalte ermöglichen es dem Gehirn, neue Inhalte effizienter zu speichern, wie sich an den oben an-geführten Beispielen verdeutlichen lässt. Das Beherrschen mehrerer Sprachen behindert das Erlernen einer weiteren Sprache nicht, sondern ermöglicht es vielmehr! Daraus folgt: Für lebenslanges Lernen sorgen wir in Kindergarten und Schule. Und es folgt auch: Wer mit 20 noch nichts gelernt hat, wird sich später mit dem Lernen sehr schwer tun.

Hinzu kommt: Je mehr das Gehirn in jungen Jahren gelernt hat, desto differen-zierter arbeitet es und desto leistungsfähiger ist es. Dies drückt sich in einer er-höhten kognitiven Reserve im Alter aus, d. h. in einer besseren Ausgangslage bei Erkrankungen, die zu neuronalem Zelltod und damit zu geistigem Abbau führen (Valenzuela & Sachdev 2006).

10.4 „Paradoxe Festplatte“ und kognitive Reserve

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Betrachten wir hierzu ein weiteres Beispiel: Wer zweisprachig aufgewachsen ist und zeitlebens die zweite Sprache bei Gelegenheit spricht, bekommt die Sym-ptome einer Demenz – unabhängig von deren Typ – mit einer Verspätung von etwa fünf Jahren, wie fünf internationale Studien mittlerweile zeigen konnten (Alladi et al. 2013, Bialystok et al. 2007, Chertkow et al. 2010, Craik et al. 2010, Schweitzer et al 2012). Dabei ist es nicht so, dass die krankheitsbedingten patho-logischen Veränderungen, also die kleinen Infarkte (bei Multi-Infarkt-Demenz) oder die Ablagerung von Plaques und Fibrillen (bei Alzheimer-Demenz), später auftreten; vielmehr verfügt ein gut gebildetes Gehirn über mehr Reserven, die es nutzen kann, wenn die Hardware langsam kaputtgeht. Da Zweisprachigkeit in den meisten Fällen nicht das Resultat von Begabung (Genetik) ist, sondern durch die Umstände (unterschiedliche Herkunft oder Auswanderung der El-tern) bedingt ist, zeigt diese Studie die Auswirkungen geistiger Tätigkeit auf ei-nen späteren geistigen Abstieg (lat: de – herab; mens – der Geist), d. h. eine sich entwickelnde Demenz, sehr klar. Es gibt übrigens kein Medikament, mit dem sich das Auftreten einer Demenz auch nur annähernd so gut verzögern ließe wie dies für Zweisprachigkeit nachgewiesen ist. Krankhafte Veränderungen bei Alzheimer-Demenz werden also durch geistige Tätigkeit nicht verhindert. Viel-mehr kann ein gebildeter Geist deutlich kranker sein als ein schwacher Geist, ohne dass man dies merkt.

Vor dem Hintergrund dessen, was hier stark zusammengefasst und auf wenige Prinzipien reduziert zur Gehirnentwicklung gesagt wurde, ergeben sich die ne-gativen Auswirkungen digitaler Informationstechnik auf die Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit junger Menschen unmittelbar als Konsequenz von deren vielschichtiger Beeinträchtigung der natürlichen Gehirnbildung, die im-mer als Wechselwirkung zwischen biologischen Reifungs- und psychologischen Lernprozessen zu verstehen ist.

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Wer schon als Kleinkind viel Zeit vor Bildschirmmedien verbringt, zeigt in der Grundschule vermehrt Störungen der Sprachentwicklung und Aufmerksam-keitsstörungen (Zimmerman et al. 2007), erreicht nach großen Langzeitstudi-en insgesamt ein deutlich geringeres Bildungsniveau (Hancox et al. 2005) und wird aufgrund antisozialer Verhaltensweisen mit höherer Wahrscheinlichkeit kriminell (Robertson et al. 2013). Eine Spielekonsole verursacht bei Grund-schulkindern nachweislich schlechte Noten im Lesen und Schreiben sowie Verhaltensprobleme in der Schule (Weis & Cerankosky 2010); ein Computer im Jugendzimmer von 15-Jährigen wirkt sich negativ auf die Schulleistungen aus (Fuchs & Wössmann 2004) und im Jugendalter führen Internet und Computer zu einer Verringerung der Selbstkontrolle und zur Sucht (Fröhlich & Lehmkuhl 2012, Gentile 2009, Kim 2011).

Computer-, Internet- und neuerdings auch Smartphone-Sucht sind ernst zu nehmende Risiken digitaler Informationstechnik. Die Suchtbeauftragte der Bundesregierung gibt die Zahl der computerspiel- bzw. internetabhängigen Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährigen mit einer Viertelmillion an, zu denen noch 1,4 Millionen als in dieser Hinsicht „problematisch“ geltenden Compu-ter- und Internetnutzer hinzukommen. Der Anteil Smartphone-Süchtiger be-trägt in Südkorea, einem Land mit sehr starker Smartphone-Nutzung, etwa 18 % (Daten des dortigen Wissenschaftsministeriums). Zudem führt Smart-phone-Nutzung zu Unaufmerksamkeit (Zheng et al. 2014), Depressionen (Ro-sen et al. 2013a, Thomée et al. 2011, Yen et al. 2009), Ängsten und geringerem akademischem Erfolg (Lepp et al. 2014), Einsamkeit (Beranuy et al. 2009), Schlafstörungen (Murdock 2013, White et al. 2011) sowie zu mehr Alkohol- und Tabak-Konsum und Schulversagen (Sánchez-Martínez & Otero 2009). Die Nut-zung sozialer Netzwerke wie Facebook macht junge Menschen nicht sozialer, sondern depressiver, ängstlicher, unzufriedener und einsamer, wie neuere Studien zeigen (Kross et al. 2013, Rosen et al. 2013). Auch stört Facebook den Schlaf (Wolniczak et al. 2013). Zudem wissen wir aus der allgemeinen Gehirn-forschung, dass sich das soziale Gehirn des Menschen durch soziale Erfah-

10.5 Daten zu Risiken und Nebenwirkungen

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rungen entwickelt (Powell et al. 2012), weil wir vom Gehirn insgesamt (siehe oben) und vom sozialen Gehirn bei Primaten wissen (Sallet et al. 2011), dass es sich mit seiner Verwendung überhaupt erst bildet. Wenn junge Mädchen in den USA im Alter zwischen 8 und 12 Jahren täglich 2 Stunden mit anderen Mädchen verbringen, jedoch 7 Stunden auf Facebook (Pea et al. 2012), dann muss uns das alarmieren: Denn in diesem Alter ist das soziale Gehirn voll in seiner Entwicklung, kann sich aber nicht entfalten, wenn realer sozialer Kon-takt durch einen Bildschirm ersetzt wird (Spitzer 2012). Entsprechend wurde in der weltweit größten Längsschnittstudie hierzu herausgefunden, dass der Gebrauch von Bildschirmmedien bei Jugendlichen mit geringerer Empathie gegenüber Eltern und Freunden einhergeht (Richards 2010).

Die negativen Auswirkungen digitaler Medien auf Kinder und Jugendliche im körperlichen, sozialen und kognitiven Bereich sind besorgniserregend. Hinzu kommen deren Suchtpotential und deren langfristige Risiken für körperliche und geistige Erkrankungen. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen ist daher eine Konsumbeschränkung dringend erforderlich, um diesen bekannten und durch sehr viele Studien eindeutig nachgewiesenen Nebenwirkungen zu be-gegnen. Wer 35 Wochenstunden Schule hat, verbringt täglich 3,75 Stunden mit dem Schulstoff. Der durchschnittliche Konsum digitaler Medien liegt dagegen bei 7,5 Stunden täglich. Junge Menschen verbringen also doppelt so viel Zeit mit digitalen Medien wie mit dem gesamten Schulstoff zusammengenommen.

Konkrete Studien zur Anwendung digitaler Informationstechnik im Bildungs-bereich bestätigen das hier gezeichnete Bild und zeigen – ganz entgegen den vielen diesbezüglichen Behauptungen – keineswegs einen positiven Effekt der Digitalisierung unserer Bildungseinrichtungen auf den Bildungserfolg. Compu-ter nehmen uns geistige Arbeit ab und sind daher für das Lernen ebenso unge-eignet, wie das Auto als Trimm-dich-Gerät ungeeignet ist: Es nimmt uns kör-perliche Arbeit ab und trainiert daher nicht unseren Körper.

Die große vom Bundeswissenschaftsministerium, der Europäischen Union und der deutschen Telekom geförderte Studie „Schulen ans Netz. 1.000 mal 1.000: Notebooks im Schulranzen“ hatte weder bessere Noten noch besseres Lernver-halten der Schüler zum Ergebnis: „Insgesamt kann die Studie somit keinen ein-deutigen Beleg dafür liefern, dass die Arbeit mit Notebooks sich grundsätzlich in verbesserten Leistungen und Kompetenzen sowie förderlichem Lernverhal-ten von Schülern niederschlägt.“ Allerdings waren „die Schüler im Unterricht

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Kapitel 10.5

mit Notebooks tendenziell unaufmerksamer“ (Schaumburg et al. 2007, S. 120). Nicht einmal der Umgang mit Computern wurde in den Computer-Klassen ge-lernt: „Im Informationskompetenz-Test wurden keine Unterschiede zwischen Notebook- und Nicht-Notebook-Schülern gefunden“ (S. 121).

Drei Jahre später hatte das „Hamburger Netbook Projekt. Sekundarstufen Schu-len“ die gleichen Ergebnisse, zeigten sich doch „keine signifikanten Unterschie-de in der Kompetenzentwicklung“ (Müller & Kammerl 2010, S. 118) zwischen Schülern in Klassen mit bzw. ohne Computer. Auch der Umgang mit Medien wurde nicht gelernt: „Ein eindeutiger Trend zu einer Stärkung der Medien-kompetenz im Umgang mit Computer und Internet konnte in Folge des Net-book-Einsatzes nicht verzeichnet werden“ (Müller & Kammerl 2010, S. 118). Die Schüler besaßen vielmehr zu 90 % „bereits bei Projektbeginn einen eigenen Computer zu Hause. Das Computer- und Internetwissen haben sich die Schü-ler hauptsächlich selbst beigebracht (58 %) oder es wurde ihnen von Familien-mitgliedern (28 %) vermittelt. Die Schule spielt hier eine untergeordnete Rolle (8 %)“ (Müller & Kammerl 2010, S. 117).

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Stellvertretend für die vielen Beispiele von negativen Auswirkungen von frü-hem Bildschirmmedienkonsum auf die Gehirnbildung seien hier nur zwei ge-nannt. Babys verbringen den Hauptteil ihres Lebens mit Schlafen. Wenn sie dann für einen wesentlichen Teil ihrer wachen Zeit einem Medium ausgesetzt werden, von dem sie – im Gegensatz zur wirklichen Welt und wirklichen Men-schen – nichts lernen können, dann lernen sie insgesamt weniger. Wer also sein Baby zum Erwerb der Muttersprache vor einen Bildschirm setzt, der riskiert ei-nen negativen Einfluss auf dessen Sprachentwicklung, wie eine Studie an über 1.000 Babys und deren Eltern zeigte (Bild 10.5). Man befragte die Eltern genau nach den Mediennutzungsgewohnheiten ihrer Kinder und führte mit den Klei-nen dann einen Sprachtest durch. Das Ergebnis: Wer Baby-TV oder Baby-DVDs schaut, kennt deutlich weniger Wörter, ist also in seiner Sprachentwicklung verzögert. Der Effekt war beim Konsum von Babyprogrammen besonders stark ausgeprägt. Wenn ein Elternteil täglich vorlas, ergab sich hingegen ein positiver Effekt auf die Sprachentwicklung.

Zur Verdeutlichung der Risiken und Nebenwirkungen digitaler Medien im schulischen Bereich sei eine chinesische Studie angeführt, die verdeutlicht, was geschehen kann, wenn man diese nicht berücksichtigt (Tan et al. 2013). Man untersuchte die Lesefähigkeit von nahezu 6.000 Schülern der Klassen 3, 4 und 5 mit den gleichen Tests, die man schon 20 und 10 Jahre vorher verwendet hatte, als der Anteil der Schüler mit schweren Lesestörungen (Analphabeten) bei 2 bis 8 % lag. Bekanntermaßen verwendet die chinesische Schrift etwa 5.000 Sym-bole, die von Schulkindern nur dann behalten werden, wenn man sie oft mit der Hand schreibt. Wenn nun Chinesen am Computer schreiben, verwenden sie eine ganz normale Tastatur und schreiben Lautschrift, also z. B. „li“, woraufhin der Computer dann eine Liste von Wörtern anzeigt, die alle wie „li“ klingen. Dann wird mit der Maus das Zeichen mit der gemeinten Bedeutung angeklickt und der Computer setzt es anstatt „li“ ein. Diese Methode, chinesisch zu schrei-ben – genannt Pinyin-Methode –, ist sehr effizient und wird daher in chinesi-schen Grundschulen in der zweiten Hälfte der Klasse 3 gelehrt.

10.6 Drei Beispiele: Baby-TV, Lesen in der Grundschule und Suchmaschinen für Referate

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Kapitel 10.6

Bild 10.5: Auswirkung des täglichen Vorlesens (links) oder Konsums von speziell für Babys produzierten

Programmen (Baby-TV oder Baby-DVD) auf das Ergebnis eines Sprachtests (Abweichung der Rohwerte

vom Mittelwert) bei Kindern im Alter von acht bis 16 Monaten

tägl. Vorlesen

Baby-TV & DVD

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Das Erlernen dieser Fähigkeit ist jedoch von der „Nebenwirkung“ begleitet, dass über 40 % der Schüler in Klasse 4 nicht mehr lesen können; in Klasse 5 sind es über 50 %. Zudem zeigte sich, dass diejenigen Schüler, die zu Hause noch gele-gentlich mit der Hand chinesisch schreiben, in Klasse 4 und 5 auch noch eher des Lesens mächtig sind als diejenigen, die praktisch vollständig auf digitale Eingabe umsteigen. Die Risiken und Nebenwirkungen digitaler Medien sind kaum besser zu verdeutlichen!

Wer meint, dass wir hierzulande deutlich besser dran seien, der irrt: Auch in Deutschland wurde die kursive Handschrift in manchen Ländern bereits abge-schafft. Die Kinder schreiben Druckbuchstaben und erlernen daher nicht mehr die komplexen Motorprogramme, die auch ihrem Gedächtnis helfen, wenn sie etwas aufschreiben. In den USA wurde im Frühjahr 2013 in 46 Bundesstaaten die Handschrift vom Curriculum der Grundschule gestrichen! Klassenziel für das Ende von Klasse 4 ist jetzt, mit 10 Fingern tippen zu können. Wir wissen jedoch aus entsprechenden Studien, dass Tippen keineswegs in seiner Komple-xität der Handschrift entspricht und dass Handgeschriebenes im Gedächtnis besser hängen bleibt als auf der Tastatur Getipptes (Longcamp et al. 2005, 2008, 2011, Mueller & Oppenheimer 2014). Erlernen Schulkinder also nicht mehr das Schreiben mit der Hand, kommt dies der Beraubung junger Menschen eines wichtigen Werkzeugs zur Steigerung ihrer Merkfähigkeit gleich.

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Man schadet also ihrem Bildungsprozess. Betrachten wir ein drittes Beispiel: An vielen Schulen werden Referate dann mit besseren Noten gewürdigt, wenn sie mithilfe der modernen Informationstechnik erstellt und gehalten wurden. Es komme darauf an, dass die Schüler nicht nur die Inhalte des Referats anhand von irgendwelchem Material erarbeiteten, sondern dass sie gleichzeitig auch noch den Umgang mit digitaler Informationstechnik, also mit Computer, dem Internet, Suchmaschinen und Präsentationssoftware erlernten.

Eine im Fachblatt Science publizierte Studie amerikanischer Wissenschaftler hat jedoch ergeben, dass Informationen, die entweder per Buch, per Zeitung, per Zeitschrift oder per Google gewonnen werden, dann am wenigsten im Ge-dächtnis haften bleiben, wenn sie gegoogelt wurden (Sparrow et al. 2011). „Das kann ich ja googeln“, scheint sich unser Gehirn zu sagen und die Inhalte dann eben nicht abzuspeichern. Wer also etwas googelt, anstatt es in einem Buch zu lesen, hat eine geringere Chance, damit sein Wissen zu erweitern. Nun wird vonseiten der Verfechter dieses Ansatzes betont, dass die Schüler doch heute Medienkompetenz erlernen müssten, weil man ja alles googeln könne und man daher auch noch kaum noch etwas zu wissen brauche. Es wird gesagt, dass es in den Bildungseinrichtungen gar nicht mehr um das Aneignen eines Fundus an Wissen gehe, sondern nur noch um die Kompetenz des Umgangs mit Wis-sen, das man beispielsweise aus dem Internet herunterladen könne. Diese An-sicht erweist sich bei näherem Hinsehen als unhaltbar! Um eine Suchmaschine wie Google zu verwenden, braucht man weder Medienkompetenz noch einen Internetführerschein. Man braucht nur einmal zuzusehen, wie jemand Goog-le bedient: auf den Browser klicken, das Feld aufrufen, dann die Suchbegriffe eintragen und auf Los klicken. – Einmal gesehen, gleich gekonnt! Wenn Google einem dann aber innerhalb von 0,1 Sekunden 10.000 Hits auf den Bildschirm wirft, dann braucht man etwas – und zwar notwendig –, um damit etwas an-fangen zu können: Vorwissen!

Weiß man gar nichts, so wird man auch nicht googeln (weil man auch keine Frage hat). Weiß man fast nichts, so nützt einem Google nichts, weil man bei den vielen Dingen, die Google auf dem Bildschirm anzeigt, nicht die Spreu vom Weizen trennen kann. Ganz allgemein gilt: Je besser man sich in einem Fachgebiet auskennt, desto besser kann man in diesem Fachgebiet auch suchen und etwas finden. Darüber hinaus gibt es keine allgemeine Kompetenz, die es ermöglicht noch besser zu googeln. Das Gerede von „Medienkompetenz“ ent-puppt sich damit als inhaltsleer. Ebenso ist es sehr misslich, dass von vielen of-

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Kapitel 10.6

fiziellen pädagogischen Stellen davon die Rede ist, dass heute „Wissen“ nicht mehr notwendig sei und es nur noch auf „Kompetenz“ ankomme. Dies ist völli-ger Unsinn! Es ist gerade das Wissen über ein bestimmtes Sachgebiet, das es mir erlaubt, die Informationen in diesem Sachgebiet zu bewerten und somit mit ih-nen umzugehen. Damit ist Wissen eine Grundvoraussetzung für die Benutzung des Internets. Wenn aber nun Wissen mithilfe von Google am allerschlechtes-ten im Kopf hängen bleibt, dann folgt zwingend: Wenn man wirklich will, dass unsere Schüler in den Bildungseinrichtungen darauf vorbereitet werden, später in der Berufswelt Suchmaschinen und das Internet zu nutzen, dann darf man in der Schule eines auf keinen Fall tun: googeln.

Zudem gilt für das Halten von Referaten, dass beim Suchen von Informationen mittels Suchmaschinen, beim Auffinden von Informationen irgendwo im Netz und bei dem Verfrachten dieser Informationen mittels „Copy“ und „Paste“ von beispielsweise Wikipedia nach PowerPoint kaum mentale Aktivität (im Sinne tiefer Verarbeitung) im Kopf des Schülers abläuft. Früher hat man exzerpiert, das Exzerpt geordnet und dann noch einmal in Reinschrift, beispielsweise auf eine Transparentfolie, übertragen. All diese Aktivitäten wurden von entspre-chenden geistigen Aktivitäten und damit von entsprechenden Veränderungen im Gehirn, die wir als Lernen bezeichnen, begleitet. Nichts dergleichen ge-schieht bei der Benutzung von Informationstechnik!

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Langzeitstudien an gut tausend Neugeborenen konnten zeigen, dass der Me-dienkonsum im Kindergartenalter deutliche negative Auswirkungen auf den Bildungserfolg im Erwachsenenalter hat und dass zudem der Medienkonsum im Kindergartenalter für einen Teil des Übergewichts im Erwachsenenalter ver-antwortlich ist. Schulabbrecher kommen zudem viel leichter „auf die schiefe Bahn“ bzw. enden in einer Suchtkarriere. Übergewicht wird gerade in den letz-ten Jahren immer häufiger als suchtähnliches Verhalten interpretiert, insbe-sondere im Lichte neuer Daten aus der Gehirnforschung.

Nimmt man die angeführten Datensätze im Zusammenhang, so ergibt sich eine recht dichte Indizienkette von Medienkonsum im Kinder- und Jugendalter zu Gesundheits- und Bildungsproblemen im Jugend- und Erwachsenenalter. Die-se Kette geht weit darüber hinaus, was landläufig diskutiert wird, nämlich das Erlernen inadäquater Haltungen und Gewohnheiten durch digitale Medien im Kindes- und Jugendalter. Der Zusammenhang reicht vielmehr tiefer: Medien-konsum senkt die Chance zur Ausbildung von Selbststeuerungsfähigkeit und diese wiederum ist ein Schutzfaktor.

Aus dieser Sicht ergeben sich praktische Konsequenzen: Wer meint, dass im Kindergarten oder in der Grundschule mehr Mediennutzung stattfinden soll-te, damit die Kinder und Jugendlichen „Medienkompetenz“ erlangen, muss nachweisen, dass die vermuteten Vorteile größer sind als die mit Sicherheit vorhandenen Nachteile. Einen solchen Nachweis bleiben diejenigen, die Com-puternutzung gerade im Kindesalter stark propagieren, bislang schuldig. Wenn zudem Computer an Schulen in höheren Klassen nicht zu vermehrter Kenntnis im Umgang mit Computern führen, sei die Frage erlaubt, wie man dann den Einsatz von Computern zur Medienkompetenz-Stärkung in Kindergärten oder Grundschulen rechtfertigen soll. Medienkompetenz soll in aller Regel über mehr Mediennutzung vermittelt werden und diese Mediennutzungszeit macht eine Mediensuchtentwicklung wahrscheinlich und reduziert zudem die Selbst-steuerungsfähigkeit als wichtigsten Schutzfaktor gegenüber einer Suchtent-

10.7 Was ist zu tun?

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Kapitel 10.7

wicklung. Medienkonsum in der Kindheit bewirkt damit nicht nur eine geringe-re Chance auf Bildung und Gesundheit, sondern erhöht zugleich das Risiko für abweichendes Verhalten bis hin zur Sucht. Dies betrifft sowohl stoffgebundenes Suchtverhalten wie Alkohol- und Tabakmissbrauch (Sánchez-Martínez & Otero 2009) als auch nicht stoffgebundenes Suchtverhalten wie die Mediensucht.

Wir können nicht zulassen, dass einige wenige Konzerne die Gehirne der nächs-ten Generation massiv schädigen. Daher ist es an der Zeit, die Risiken und Ne-benwirkungen digitaler Medien ernst zu nehmen. Denn für alle jungen Men-schen unter 18 Jahren haben wir Erwachsenen die Verantwortung. Und der müssen wir uns stellen.

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Risikobewertung imEisenbahnwesen

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Dipl.-Ing. Matthias Heidl, Eisenbahn-Bundesamt, Deutschland

Die Sicherheit hat bei der Eisenbahn seit jeher einen hohen Stellenwert. Wie bei anderen Verkehrsträgern gibt es zwar auch bei der Eisenbahn systembedingte Risiken. Systemmerkmale, die zu einer Erhöhung des Risikos führen, sind ins-besondere die großen bewegten Massen, die in Verbindung mit dem geringen Reibwert zwischen Rad und Schiene zu langen Bremswegen führen. Die Spur-führung ermöglicht kein Ausweichen, womit kaum Reduktionsfaktoren zur Vermeidung eines drohenden Zusammenstoßes gegeben sind. Die Zwangs-führung im Gleis ist aber andererseits auch sicherheitsfördernd, weil sie kaum Fahrfehler eines Triebfahrzeugführers zulässt. Die systembedingten Risiken der Eisenbahn wurden schon früh durch spezielle technische Maßnahmen in der Signaltechnik kompensiert. So ist die Signalabhängigkeit, die die Fahrtstel-lung eines Signals erst zulässt, wenn alle zugehörigen Weichen im Fahrweg in der richtigen Stellung verschlossen sind, schon seit dem 19. Jahrhundert Stan-dard. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es Zugbeeinflussungssysteme, die bei Missachtung eines Signals eine Zwangsbremsung auslösen. So konnte sich die Eisenbahn als durchaus sicheres Verkehrsmittel auch gegenüber anderen Verkehrsträgern behaupten. Neue Herausforderungen bestehen jedoch in der Öffnung des Netzzugangs (in Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre). Ehemals wurde die Schnittstelle zwischen Infrastruktur und Betrieb der Züge durch eine Eisenbahngesellschaft als Betreiber des Gesamtsystems abgedeckt, heute fah-ren auf dem bundeseigenen Eisenbahnnetz der DB Netz AG mehr als 300 Eisen-bahnverkehrsunternehmen, darunter auch ausländische.

Durch die Staatsbahnen wurden viele Vorschriften im Wesentlichen zur Fest-legung von Sicherheitsanforderungen erstellt. Unfälle und gefährliche Ereig-nisse wurden systematisch ausgewertet und führten zur Fortschreibung und Weiterentwicklung der Vorschriften und zur Einführung spezieller sicherungs-technischer Anlagen und technischer Abhängigkeiten wie der bereits erwähn-

11.1 Entwicklung der Betrachtung von Risiken und der Sicherheit im Eisenbahnwesen

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ten Signalabhängigkeit und Zugbeeinflussungssystemen. Sicherheit war ein übergeordnetes Ziel der Staatsbahnen, das sich in einem regelwerksbasierten Ansatz ausdrückte, der anlassbezogen einem ständigen Verbesserungsprozess unterlag. Systematische Risikoanalysen waren dabei eher selten. Dieser regel-werksbasierte Ansatz ist auch heute noch in den grundlegenden Bestimmun-gen der Eisenbahn-, Bau- und Betriebsordnung enthalten (siehe Text auf Folie 5). Die Anforderungen der Sicherheit gelten dann als erfüllt, wenn alle Regeln (gesetzliche und untergesetzliche Regelwerke) eingehalten sind. Bei Abwei-chungen von diesen Regeln muss mindestens die gleiche Sicherheit wie bei Einhaltung der Regeln erreicht werden, d. h. neue, nicht geregelte Techniken müssen dasselbe Sicherheitsniveau erreichen wie bestehende, durch Regeln abgedeckte Systeme. Hieraus ergibt sich das wesentliche und einzig gesetzlich geregelte Risikoakzeptanzkriterium, das heute auch bei Risikoanalysen anzu-wenden ist. Mit der Entwicklung europäischer Normen kamen neue und zu-sätzliche Anforderungen zur Bewertung von Risiken bei der Entwicklung von Bahntechnik auf. Insbesondere die EN 50126 fordert einen auf die Entwicklung und Beherrschung von Sicherheitsanforderungen ausgerichteten Lebenszyklus (V-Modell), der heute grundsätzlich bei jeder neuen technischen Entwicklung im Eisenbahnsystem einzuhalten ist. Hierbei sind zunächst die Risiken zu ana-lysieren und in Bezug auf Akzeptanzkriterien werden die Sicherheitsanforde-rungen festgelegt (z. B. als tolerierbare Gefährdungsrate für eine Funktion), deren Umsetzung später wiederholt zu verifizieren und zu validieren ist. Die Einhaltung der aus einer Risikoanalyse abgeleiteten Sicherheitsanforderungen wird somit im gesamten Entwicklungsprozess verfolgt. Anhand der Daten aus /14/ und /15/ sind die inzwischen europäisch vorgegebenen Sicherheitsindika-toren gegeben, die zeigen, wie sich das Unfallgeschehen und damit im Umkehr-schluss die Sicherheit im deutschen Eisenbahnsystem und im europäischen Vergleich entwickelt hat. Dabei ist ein leicht abnehmender Trend der Unfälle und der Unfallopfer zu erkennen, d. h. das hohe Sicherheitsniveau der Eisen-bahn wird weiter verbessert. Aus der Darstellung der einzelnen Unfallarten ist weiterhin erkennbar, dass der deutlich überwiegende Teil der Unfälle auf ex-terne Verursacher zurückgeht (insbesondere Unfälle an Bahnübergängen und der Teil der Personenunfälle, der durch unbefugtes Betreten der Bahnanlagen verursacht wird). In diesem Bereich sind risikoreduzierende Maßnahmen der Eisenbahnen selbst nur sehr begrenzt möglich.

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Ein weiterer wesentlicher Meilenstein in den rechtlichen Vorgaben an das Ei-senbahnsystem zur Gewährleistung der Sicherheit ist die Inkraftsetzung der EU-Richtlinie für die Eisenbahnsicherheit 2004/49. Hintergrund für den Erlass dieser Richtlinie ist die europaweite Öffnung der Eisenbahnnetze, die durch mehr Wettbewerb die Attraktivität des Verkehrsträgers Schiene und damit eine Verkehrsverlagerung auf die Schiene fördern soll. Durch diese Öffnung der Schienennetze entsteht jedoch eine neue Schnittstelle zwischen sehr vielen Eisenbahnverkehrsunternehmen einerseits und den Infrastrukturbetreibern andererseits sowie zwischen den unterschiedlichen Techniken, Regeln und Ver-fahren der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Diese neuen Schnittstellen führen zwangsläufig zu einem neuen Risikopotenzial, das eben durch diese europäi-sche Sicherheitsrichtlinie kompensiert werden soll.

Diese Richtlinie enthält folgende wesentlichen Vorgaben, die generell auf Auf-rechterhaltung und Verbesserung des Sicherheitsniveaus ausgerichtet sind (siehe Bild 11.1):

• Die Eisenbahnverkehrsunternehmen und die Eisenbahninfrastrukturunter-nehmen müssen ein Sicherheitsmanagementsystem einrichten. Dieses Si-cherheitsmanagementsystem besteht aus Prozessen und Verfahren, die die Beherrschung aller Risiken zum Ziel haben. Die grundsätzlichen Anforderun-gen und Inhalte der Prozesse sind in einem Anhang der Sicherheitsrichtlinie vorgegeben. Das Sicherheitsmanagementsystem muss von der Sicherheits-behörde geprüft und zertifiziert werden. Nur bei positivem Prüfergebnis er-halten die Unternehmen eine Sicherheitsbescheinigung oder -genehmigung (alle 5 Jahre), die Voraussetzung für die Teilnahme am Eisenbahnbetrieb ist.

• Es werden gemeinsame Sicherheitsindikatoren (CSI) definiert, mit denen das erreichte Sicherheitsniveau der Unternehmen und der Mitgliedsstaa-ten transparent gemessen werden kann. Aus den Indikatoren soll der Hand-lungsbedarf für Verbesserungsmaßnahmen erkennbar sein.

11.2 Die Anforderungen der EU-Sicherheitsrichtlinie

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Bild 11.1: Ziele und Inhalte der EU-Sicherheitsrichtlinie

System zur Beherrschung aller Risikendurch Prozesse und VerfahrenEU-VO 1078/2012CSI

Indikatoren Messen Ist-

Zustand

CSMEinheitliche

Methoden undVerfahren

CSTSicherheitszieleRisikoakzeptanz

Eisenbahnunternehmen (EVU, EIU)

EG-VO 352/2009Risikobewertung

Sicherheitsmanagementsystem (SMS)

Sicherheitsbescheinigung für EVU

Sicherheitsgenehmigung für EIU

EU-VO 1077/2012

EG-VO1158/2010EG-VO 1169/2010Konformitätsbewertung Sicherheitszertifizierung

Überwachung

Sicherheitsbehörde

Zertifizierung

• Als Zielgröße für das zu erreichende Sicherheitsniveau werden gemeinsame Sicherheitsziele (CST) festgelegt, die später ggf. auch als Risikoakzeptanz-kriterium herangezogen werden sollen. Gegenwärtig sind diese Ziele noch nicht einheitlich festgelegt, sondern wurden je Mitgliedsstaat spezifisch aus einem vierjährigen Mittel ausgewählter CSI abgeleitet. D. h. der mehrjährige Durchschnitt des bestehenden Sicherheitsniveaus ist das Sicherheitsziel, es ist damit nur begrenzt als Orientierungsgröße nutzbar.

• Weiterhin werden in der Sicherheitsrichtlinie gemeinsame Sicherheitsme-thoden (CSM) gefordert, die die gegenseitige Anerkennung der Ergebnisse durch gleiche Verfahren in den Mitgliedsstaaten sicherstellen sollen. Die Sicherheitsrichtlinie beschreibt die Methode nicht selbst, sondern benennt nur deren Regelungsgegenstand. Die Methoden an sich werden von der eu-ropäischen Eisenbahnagentur in Sektorarbeitsgruppen ausgearbeitet und durch EU-Verordnung in Kraft gesetzt. Solche Methoden gibt es für die Er-teilung der Sicherheitsbescheinigung und Sicherheitsgenehmigung durch die Sicherheitsbehörden, für die Durchführung der Überwachungsmaßnahmen

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Kapitel 11.2

innerhalb der Eisenbahnunternehmen und durch die Sicherheitsbehörden. Schließlich gibt es eine gemeinsame Sicherheitsmethode für die Durchfüh-rung der Risikobewertung, auf die im Folgenden detailliert eingegangen wird.

• Da bis zu einer vollständigen europäischen Harmonisierung weiterhin auch nationale Regeln für die Gewährleistung der Sicherheit notwendig sind, be-schreibt die Sicherheitsrichtlinie auch ein Verfahren zur Auswahl und No-tifizierung nationaler Sicherheitsvorschriften. Die Umsetzung der Sicher-heitsrichtlinie in nationales Recht erfolgte in Deutschland im Allgemeinen Eisenbahngesetz (AEG). Dort wird insbesondere die Notwendigkeit einer Sicherheitsbescheinigung oder Sicherheitsgenehmigung für die Eisenbahn-unternehmen geregelt. Hinsichtlich der Anforderungen für eine Sicherheits-bescheinigung wird im AEG direkt auf die EU-Sicherheitsrichtlinie verwie-sen, die hierfür das Sicherheitsmanagementsystem fordert. Ein geforderter Prozess im Sicherheitsmanagementsystem bezieht sich auf die Bewertung der Risiken und die Risikokontrolle bei allen technischen, betrieblichen und organisatorischen Änderungen. Im Rahmen dieses Prozesses sind die Eisen-bahnunternehmen verpflichtet, die CSM zur Risikobewertung umzusetzen und damit alle Änderungen entsprechend zu behandeln (siehe Bild 11.2).

Bild 11.2: Bezug der Risikobewertung zur Sicherheitsrichtlinie

Art. 9 EU-Richtlinie 2004/49/EG fordert, dass EVU, EIU ein SMS einzurichten haben;Wesentliche Elemente: Anhang III

Umgesetzt im AEG:§ 7a Sicherheitsbescheinigung (auch bei „Betriebsleitermodell“): • Einrichtung eines SMS gemäß Artikel 9, Abs. 2 und 3 Rili 2004/49/EG,§ 7c Sicherheitsgenehmigung: • Einrichtung eines SMS gemäß Artikel 9, Abs. 2 und 3 Rili 2004/49/EG

Anhang III Nr. 2 d):„Verfahren und Methoden für die Durchführung von Risikobewertungen und die Anwendung von Maßnahmen zur Risikokontrolle für den Fall, dass sich aus geänderten Betriebsbedingungen

oder neuem Material neue Risiken für die Infrastruktur oder den Betrieb ergeben“;

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Im Folgenden werden das Ziel, der Inhalt und Ablauf des Verfahrens zur Evaluie-rung und Bewertung der Risiken nach der durch EU-Verordnung 352/2009 erlas-senen gemeinsamen Sicherheitsmethode (CSM-RA) erläutert (siehe Bild 11.3).

Bild 11.3: Gemeinsame Sicherheitsmethode für die Evaluierung und Bewertung von Risiken –

EU-Verordnung Nr. 352/2009 (CSM-RA)

Inbetriebnahmegenehmigung vonstrukturellen Teilsystemen(Fahrzeuge, Anlagen)

• durch Antragstellers – i.d.R. Hersteller oder Eisenbahn- unternehmen

(Überlagerung mit Risikoanalyse nachCENELEC-Prozess)

Ziele:

• Aufrechterhaltung und Verbesserung des Sicherheitsniveaus in der Gemeinschaft• Nachweis der Einhaltung des geforderten Sicherheitsniveaus• Risikomanagement an der Schnittstelle zwischen den Akteuren• Harmonisierung des Risikomanagementverfahrens im Sinne der gegenseitigen Anerkennung

Beschreibung einer Verfahrensweise und von Dokumenten zur Bewertung von Risiken und zur Risikokontrolle

allen sonstigen Änderungen imEisenbahnsystem (Regelwerke,Organisation)

• durch Eisenbahnunternehmen

11.3 Die gemeinsame Sicherheitsmethode zur Risikobewertung CSM-RA

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Kapitel 11.3

Neben den Eisenbahnunternehmen, die die Sicherheitsmethode zur Risikobe-wertung vor allem bei Änderungen ihrer internen Regelwerke sowie bei der Ein-führung neuer Technik anwenden müssen, gilt diese auch für die Antragsteller, die einen Antrag auf Inbetriebnahmegenehmigung für ein strukturelles Teil-system nach der europäischen Interoperabilitätsrichtlinie 2008/57 stellen. Die Interoperabilitätsrichtlinie regelt insbesondere die Harmonisierung der techni-schen Anforderungen an die Teilsysteme der Eisenbahn (das sind Fahrzeuge, In-frastruktur, Zugsicherung, Zugsteuerung und Signaltechnik sowie Energie), um möglichst mit gleichen Anforderungen einen ungehinderten grenzüberschrei-tenden Verkehr und einen freien Wettbewerb der Hersteller zu gewährleisten. Da hierbei die Sicherheit eine entscheidende Randbedingung darstellt, wird in der Interoperabilitätsrichtlinie eine Inbetriebnahmegenehmigung durch die Sicherheitsbehörde gefordert, insbesondere, um die nicht harmonisierten An-forderungen und die Integration in das bestehende Eisenbahnsystem zu prüfen und somit das Sicherheitsniveau aufrechtzuerhalten bzw. zu steigern. Für die vergleichbare Bewertung der Risiken im Betrachtungsfeld der Inbetriebnah-megenehmigung ist ebenfalls zwingend die Sicherheitsmethode zur Risikobe-wertung anzuwenden. Sie ist hier aber mit der bisher nach CENELEC-Normen durchzuführenden Risikoanalyse teilweise identisch, d. h. es können durchaus gleiche Arbeitsschritte und Dokumente verwendet werden. Durch die CSM zur Risikobewertung bei einer Inbetriebnahmegenehmigung soll neben den oben genannten Zielen auch eine leichtere gegenseitige Anerkennung der Ergebnisse durch ein harmonisiertes Verfahren erreicht werden. Außerdem soll sicherge-stellt werden, dass Sicherheitsanforderungen, die nicht durch einen Beteiligten allein beherrscht werden können, den jeweiligen anderen Beteiligten systema-tisch zugewiesen werden (d. h. Abgrenzung der Verantwortung an den Schnitt-stellen).

Die CSM-RA sieht zunächst eine Vorprüfung vor, ob die beabsichtigte Ände-rung oder Inbetriebnahme des strukturellen Teilsystems sicherheitsrelevant und signifikant ist (siehe Bild 11.4). Damit soll das sehr aufwendige Risikoma-nagementverfahren bei einfachen Sachverhalten und Entscheidungen vermie-den werden. Bei einer nicht sicherheitsrelevanten oder nicht signifikanten Än-derung darf dann ein beliebiges, nicht geregeltes Verfahren zum Nachweis der ausreichenden Sicherheit angewendet werden. Die Entscheidung über die nicht gegebene Signifikanz und Sicherheitsrelevanz ist dann aber mit einer entspre-chenden Begründung zu dokumentieren, so dass sie auch später für die behörd-liche Überprüfung nachvollziehbar ist.

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Bild 11.4: Bestimmung der Signifikanz nach CSM-RA

Änderungen

Festlegung in notifiziertennationalen Sicherheitsvorschriften?

Sicherheitsrelevant?

Folgen von Ausfällen,innovative Elemente, Komplexität, Überwachung,

Umkehrbarkeit, additive Wirkung

Signifikant Nicht Signifikant

Entscheidung über

Signifikanz

Technisch, betrieblich, organisatorischJa

Ja

Ja

Nein

Nein

In der Praxis führt die Nicht-Signifikanz aber oft dazu, dass keine weitere Si-cherheitsbetrachtung durchgeführt wird, was weder durch die CSM-RA noch durch nationale Rechtsvorschriften legitimiert ist. Bei einer behördlichen Über-prüfung wird bei einer festgestellten Abweichung von Regelwerken dann min-destens ein Nachweis der gleichen Sicherheit nachgefordert.

Die Signifikanzentscheidung muss sich an den folgenden Kriterien orientieren:• Folgen von Ausfällen (Was kann schlimmstenfalls passieren?)• Innovative Elemente (Ist etwas neu ohne Erfahrungswerte?)• Komplexität der Änderung• Überwachung (Sind Überwachungsmaßnahmen zur Risikokontrolle möglich?)• Umkehrbarkeit der Änderung (Kann die Änderung ohne Weiteres zurückge-

nommen werden?)• Additive Wirkung (Wirkung mehrerer Änderungen im System gleichzeitig)

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Kapitel 11.3

Bei der Signifikanzprüfung müssen zu allen diesen Kriterien Aussagen ge-troffen werden. Es fehlt in der CSM-Verordnung jedoch jegliche Vorgabe, bei welcher Ausprägung der Kriterien Signifikanz vorliegt oder keine Signifikanz vorliegt. Insofern besteht noch Verbesserungspotenzial, denn damit kann der Verantwortliche für die Risikobewertung, das ist derjenige, der in seinem Zu-ständigkeitsbereich die Änderung vornimmt, selbst nach eigener Interpreta-tion der Kriterien entscheiden, ob eine Signifikanz vorliegt. Dies führt in der Praxis oft zu einer freizügigen Interpretation der Kriterien dahingehend, dass keine Signifikanz vorliegt. Damit wird dann die systematische Analyse der Ri-siken umgangen, sofern nicht gleichzeitig eine Risikoanalyse nach EN 50126 durchgeführt wird.

Bild 11.5: Risikomanagementverfahren nach CSM-RA

1. Systemdefinition

Gefährdungsermittlung und -einstufung

Anzuwendende Sicherheitsmaßnahmen

Anerkannte Regeln der Technik

Explizite Risikoabschätzung

Heranziehen Referenzsystem

(GAME)

Regeln zutreffend

und erfüllbar

Risikoakzeptanz- kriterium

eingehalten

Referenzsystem zutreffend und

gleiche Auswirkungen

Nachweis der Erfüllung der Sicherheitsanforderungen

Signifikante Änderung

Risikobewertung

2. Risikoanalyse

3. Risiko- evaluierungUn

abhä

ngig

e Be

wer

tung

Gefä

hrdu

ngsm

anag

emen

t (Ge

fähr

dung

spro

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lle)

Vorläufige Systemdefinition

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Wenn eine Signifikanz vorliegt, muss das Risikomanagementverfahren, wie in Bild 11.5 zusammenfassend dargestellt, durchgeführt werden. Das Verfahren beginnt mit einer Systemdefinition, in der die Grenzen des betrachteten Sys-tems und seine Bestandteile festgelegt werden. Die Systemdefinition ist wich-tig, um die Betrachtung innerhalb des Gesamtsystems der Eisenbahn in einer beherrschbaren Größenordnung zu halten, innerhalb der die betrachtete Ände-rung stattfindet. Die Abgrenzung ist auch wichtig für die Anwendbarkeit eines Vergleichssystems bzw. für die Gültigkeit eines Risikoakzeptanzkriteriums. In der Systemdefinition wird auch festgelegt, welche Randbedingungen als gege-ben vorausgesetzt werden, z. B. die Anwendung bestimmter Regelwerke, die für die weitere Betrachtung gültig sind. Im Folgenden werden nur noch die Ri-siken betrachtet, die innerhalb der Systemgrenze oder durch Wechselwirkung des Systems mit der Umgebung entstehen.

Ausgehend von der Systemdefinition werden anschließend in der Gefährdungs-identifikation alle Gefährdungen ermittelt, die durch das System oder seine Wechselwirkung mit der Umwelt entstehen können. Hierbei sollen systema-tische Verfahren, wie z. B. eine Fehlerart- und -auswirkungsanalyse (FMEA) verwendet werden. Grundsätzlich müssen hierfür alle Zustände des Systems und alle Funktionen betrachtet werden und es muss zu jedem denkbaren Aus-fall und jedem denkbaren Fehler festgestellt werden, welche Gefahren daraus entstehen können. Die Wahrscheinlichkeit der Gefährdung darf zunächst noch keine Rolle spielen. Es ist weitverbreitete Praxis, dass dieser Schritt in einem Expertenteam ausgeführt wird. Alle ermittelten Gefährdungen sind in einem Gefährdungsprotokoll zu erfassen. Anschließend besteht die Möglichkeit, Gefährdungen, die als sehr unwahrscheinlich oder weitgehend akzeptabel angenommen werden, mit einer entsprechenden Begründung aus der weite-ren Betrachtung auszuschließen. In einem nächsten Schritt werden zu jeder Gefährdung im Gefährdungsprotokoll geeignete Abwehrmaßnahmen bzw. Schutzmaßnahmen festgelegt. Dies sind, soweit vorhanden und anwendbar, Maßnahmen aus den vorhandenen Regelwerken. Liegen keine Regelwerke vor, sind erstmals geeignete Maßnahmen vorzuschlagen, die dem Schadensausmaß oder der Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefährdung entgegenwirken.

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215

Kapitel 11.3

Anschließend muss für jede Gefährdung anhand von 3 Prinzipien zur Risikoak-zeptanz, auf die nachfolgend eingegangen wird, festgestellt werden, ob diese akzeptabel sind:

• Anwendung von anerkannten Regeln der Technik,• Vergleich mit einem Referenzsystem,• explizite Risikoabschätzung.

Sind die Gefährdungen aufgrund der vorgeschlagenen Maßnahmen und der Akzeptanzprinzipien akzeptabel, sind die Maßnahmen als Sicherheitsanforde-rung umzusetzen, anderenfalls muss in einem iterativen Verfahren nach weite-ren Maßnahmen gesucht werden.

Die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen muss im weiteren Verlauf der tech-nischen Entwicklung und vor der Inbetriebnahme wiederholt geprüft und be-wertet (Verifizierung und Validierung) und z. B. in einem Sicherheitsnachweis bestätigt werden. Auch nach der Inbetriebnahme muss durch Überwachungs-maßnahmen die Wirksamkeit der Sicherheitsmaßnahmen geprüft werden.

Die gesamte Durchführung des Risikomanagementverfahrens muss durch eine unabhängige Bewertungsstelle überprüft werden. Die unabhängige Bewertung soll bestätigen, dass alle Verfahrensgrundsätze richtig umgesetzt wurden und dass auch die Entscheidungen im Verfahren angemessen und richtig erschei-nen. Hierzu erstellt die unabhängige Bewertungsstelle einen Sicherheitsbewer-tungsbericht, der auch die Behörden bei der Zulassung der Technik entlasten soll. Die Überprüfung durch eine unabhängige Bewertungsstelle soll das Ver-trauen in das Risikomanagement erhöhen und Fehler und Beeinflussungen des Ergebnisses durch den Vorschlagenden vermeiden. Die unabhängige Bewer-tungsstelle muss hierzu eine besondere Fachkunde und Methodenkompetenz nachweisen, künftig ist hierfür ein formales Anerkennungsverfahren vorge-schrieben.

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Das einfachste und naheliegendste Risikoakzeptanzprinzip ist die Einhaltung von anerkannten Regeln der Technik (siehe Bild 11.6). Wenn für eine identifi-zierte Gefährdung bereits darauf ausgerichtete Regeln (Vorschriften, Produkt-normen) vorliegen, die allgemein bekannt und zugänglich sind und die sich in der Praxis bewährt haben, können diese Regeln angewendet werden und die Gefährdung ist damit akzeptiert. Keine weiteren Maßnahmen sind notwendig. Dieses Prinzip stimmt mit dem eingangs zitierten § 2 Abs. 1 der EBO überein. Es muss bei Anwendung der anerkannten Regeln der Technik als Akzeptanzkriteri-um lediglich ein Zusammenhang herstellbar und begründbar sein, dass die Re-gel zur Beherrschung der jeweiligen Gefährdung geeignet und dafür vorgesehen ist. Bei dem historisch gewachsenen Regelwerk der Eisenbahn ist eine Zuord-nung der Regeln zu konkreten Gefährdungen aber meist nicht vorhanden. Der Zusammenhang muss somit bei erstmaliger Anwendung erst durch fachkundi-ge Analyse des Regelungsinhalts hergestellt werden. Mit fortlaufender prakti-scher Anwendung haben sich bei der DB sog. Gefährdungslisten herausgebildet, in der die typischen Gefährdungen des Eisenbahnsystems bzw. der einzelnen Fachbereiche und die zu ihrer Beherrschung vorhandenen Regelwerke zusam-mengefasst sind. Diese Listen werden dann zur Gefährdungsidentifikation und zur Ableitung geeigneter anerkannter Regeln der Technik bei den verschiede-nen Risikobewertungen immer wieder ausgewertet.

11.4 Die Prinzipien der Risikoakzeptanz nach CSM-RA

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217

Kapitel 11.4

Bild 11.6: Risikoakzeptanzkriterium anerkannte Regeln der Technik

Anforderung an anerkannte Regeln der Technik:

• im Eisenbahnsektor allgemein bekannt oder begründet und für die Bewertungsstelle akzeptabel

• für die Kontrolle der betreffenden Gefährdungen in dem zu bewertenden System zutreffend

• allen Akteuren, die sie anwenden wollen, öffentlich zugänglich

Definition: schriftlich festgelegte Regeln, die bei ordnungsgemäßer Anwendung dazu dienen können, eine oder mehrere spezifische Gefährdungen zu kontrollieren.

Risiken aus Gefährdungen, die durch anerkannte Regeln der Technik abgedeckt werden, sind vertretbar:

• Das Risiko muss nicht weiter analysiert werden

• Anwendung der anerkannten Regel der Technik wird Sicherheitsanforderung im Gefährdungsprotokoll

Wenn anerkannte Regeln der Technik nicht vorhanden sind oder davon abge-wichen werden soll, kommt als weiteres Prinzip der Risikoakzeptanz der Ver-gleich mit einem Referenzsystem infrage. Hierbei ist ein anderes System zu suchen, das vergleichbare Eigenschaften wie das Bezugssystem hat, das sich in der Praxis bewährt hat und das aktuell noch zulassungsfähig ist. Auch soll-ten der rechtliche Rahmen und das Niveau der Risikoakzeptanz, z. B. durch den Grad der Selbstbestimmung, übertragbar sein. Ein Vergleich zwischen Eisen-bahn und Straßenverkehr ist wegen der viel stärkeren Selbstbestimmung im Straßenverkehr nicht angemessen. Vergleiche zwischen Luftverkehr und Eisen-bahnverkehr oder zwischen verschiedenen vorhandenen technischen Lösungen innerhalb des Eisenbahnverkehrs erscheinen durchaus möglich. Wenn die Ver-gleichbarkeit mit dem Referenzsystem begründet ist, können die Sicherheits-maßnahmen oder Sicherheitsregeln des Referenzsystems (z. B. aus einem dort bereits vorhandenen Gefährdungsprotokoll oder aus einem Sicherheitsnach-weis) auf das Betrachtungssystem übertragen werden, wobei die Risiken damit als akzeptiert gelten. Es ist bei Anwendung des Referenzsystems auch möglich, qualitativ oder quantitativ auf Systemebene zu begründen, dass die Gefährdun-gen durch Maßnahmen mit einem vergleichbaren Sicherheitsniveau abgedeckt werden.

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Bild 11.7: Kriterium: explizite Risikoabschätzung

• Methoden: Ereignisbaumanalyse, Fehlerbaumanalyse, ggf. auch Risikomatrix, wenn normierte Parameter vorliegen,• Kriterien: richtige Darstellung des Systems, solide Ergebnisse, d. h. kleine Änderungen dürfen keine großen Auswirkunken auf das Ergebnis haben

Risiken, die sich aus den Gefährdungen ergeben, werden unter Berücksichtigung vorhandener Sicherheitsmaßnahmen quantitativ oder qualitativ beurteilt.

Vertretbarkeit des Risikos anhand von Risikoakzeptanzkriterien bewertet, die sich aus• gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften oder• notifizierten nationalen Vorschriften ergeben (d. h. z. B. mindestens gleiche Sicherheit gemäß EBO § 2 Abs. 2) und keine großen Auswirkunken auf das Ergebnis haben

• Technische Systeme mit unmittelbaren katastrophalen Folgen bei funktionellem Ausfall ausreichend sicher, wenn Ausfallrate / h < 10 EXP-9, sofern kein strengeres nationales Kriterium vorhanden ist.• Wenn nationales Sicherheitsniveau auch mit höherer Ausfallrate als 10 EXP-9 erreichbar, kann das entsprechende Kriterium angewandt werden.

Wenn auch kein Referenzsystem zur Verfügung steht, muss eine sogenannte explizite Risikoabschätzung durchgeführt werden (siehe Bild 11.7). Hierzu wird die betreffende Gefährdung unter Berücksichtigung der Wirkung aller Sicher-heitsmaßnahmen und weiterer Reduktionsfaktoren qualitativ (z. B. mit einer Häufigkeits-Konsequenzenmatrix) oder quantitativ mittels einer Fehlerbauma-nalyse (siehe Bild 11.8) oder einer Folgenanalyse (Ereignisbaumanalyse – siehe Bild 11.9) bewertet. Die ermittelten Risiken aus einem Fehlerbaum oder Ereig-nisbaum werden dann mit einem Risikoakzeptanzkriterium verglichen. Wenn die ermittelten Risiken kleiner sind als das Risikoakzeptanzkriterium, ist die Gefährdung akzeptiert. Nicht trivial ist hierbei die Auswahl eines geeigneten Risikoakzeptanzkriteriums, dieses muss zwingend durch das jeweilige Rechts-system akzeptiert sein. Im deutschen Eisenbahnsystem ist bisher gemäß EBO § 2 Abs. 2 nur ein Risikoniveau erlaubt, das vergleichbar ist mit dem, das sich bei Anwendung der anerkannten Regeln der Technik ergibt. Nach CSM-RA ist bei Ausfall von technischen Systemen mit katastrophalen Folgen eine Ausfall-rate von 10−9/h im europäischen Eisenbahnsystem grundsätzlich akzeptiert. Dieses Kriterium darf jedoch nur angewendet werden, wenn es national kein schärferes Kriterium gibt. In Bezug auf das oben genannte deutsche Kriterium

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Kapitel 11.4

aus der EBO ist hierbei immer eine Einzelfallprüfung erforderlich, d. h. es muss festgestellt werden, ob das Sicherheitsniveau der anerkannten Regeln der Tech-nik nicht höher ist als 10−9/h. Dies kann insbesondere bei hoch sicheren Syste-men der Signaltechnik nach Analyse der real existierenden Systemarchitektu-ren und technischen Lösungen durchaus der Fall sein.

Künftig könnten durch die europäische Rechtssetzung mit den oben erwähnten gemeinsamen Sicherheitszielen aus der Sicherheitsrichtlinie (Commen Safety Targets – CST) durchaus weitere Risikoakzeptanzkriterien geschaffen werden.

Bild 11.8: Vorgehen bei expliziter Risikoabschätzung: Gefährdungsanalyse

Gefährdungsanalyse (nicht zwingend)

wenn Betreiber selbst für Ursachen der Gefährdung verantwortlich (z. B. durch Bedienhandlungen)• weitere Differenzierung zur Festlegung der Anforderungen an Hersteller

Technikgefährlich

ausgefallen

10 – 9 / h 10 – 4 / h 10 – 3

Signal zeigt grün,obwohl Abschnittbesetzt

BedienungErsatzsignal,ohneRückmeldung

Rotausleuchtung,obwohl Abschnittfrei, Signalfahrt- stellung nichtmöglich

Einfahrt in einen besetzten Abschnitt

ODER

UND

Technikhemmend

ausgefallen

Fehlerdes Menschen

in Rückfallebene

1,01 * 10 -7 ≈ 10 -7

(+)

(*)

10 - 7 / h

HR

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Weitere Risikoakzeptanzkriterien sind in der bereits vor Einführung der CSM-RA gültigen EN 50126 beispielhaft genannt (Bild 11.10). Die beispielhafte Nen-nung erlaubt jedoch nicht die Anwendung in allen Ländern oder in allen Fäl-len. Typisch für das britische Eisenbahnsystem ist das ALARP-Prinzip, in dem die Risiken in einem sog. ALARP-Bereich liegen und innerhalb dieses Bereiches soweit reduziert werden müssen, wie die Risikominderungen verhältnismäßig sind. Für die Verhältnismäßigkeit spielen Kosten-Nutzen-Betrachtungen und der Wert des Lebens durchaus eine Rolle. Nachteilig ist, dass eine genaue und nachvollziehbare Definition des ALARP-Bereiches nicht vorgenommen wird. Eine Anwendung dieses Akzeptanzkriteriums im deutschen Eisenbahnwesen ist nicht üblich, da kein Bezug zu dem Risikoakzeptanzkriterium nach EBO § 2 Abs. 2 herstellbar ist. Auch das MEM-Kriterium bildet diese rechtliche Vorgabe nicht hinreichend ab. Es kann deshalb nur dann in Deutschland angewendet werden, wenn für eine identifizierte Gefährdung bzw. ein Risiko bisher keiner-lei Regelwerke greifbar sind, aus denen ein Bezugsniveau abgeleitet werden könnte, d. h. das Risiko bisher nicht erkannt und oder unbewusst akzeptiert wurde und nach erstmaliger Identifizierung oder nach einem allgemein nicht akzeptierten Ereignis eine sinnvolle Begrenzung gesucht wird. Das MEM-Kri-terium leitet aus einem statistisch nachgewiesenen Todesfallrisiko durch Ein-wirkung technischer Systeme (z. B. 2 · 10−4/a nach EN 50126), das auf den Anteil des betrachteten Systems heruntergebrochen wird bzw. an dem ein neu einge-führtes System nur einen marginalen Anteil haben darf, ein akzeptables Risiko ab. Im Eisenbahnwesen sind dennoch einige Beispiele für die Anwendung des MEM-Kriteriums bekannt.

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Kapitel 11.4

Bild 11.9: Vorgehen bei expliziter Risikoabschätzung: Folgenanalyse

Folgenanalyse – z. B. Ereignisbäume:

(1,01 * 10 -7 /h* 0,2 * 0,5 * 5 O = 5,05 *10 -8 O/h) Risiko R = HR · ΠRf · F

Sicherer Zustand Beinaheunfall

Systematische Ereignissezur Gefährdungsabwehr

Zufällige Ereignisse zurGefährdungsabwehr

Unfalleintritt

Schadensausmaß F

(zweiter Zug imAbschnitt,rechtzeitigeErkennung desZuges)

(Notruf Zugfunknach ErkennungGefahr)

(5 O)

(1,01 * 10 -8 /h)

1,01 * 10 -7 /h ≈ 10 -7/hEinfahrt in einen besetzten Abschnitt

j n

HR

Gefährdungsanalyseoder Systemdesignanalyse

j n

0,8 0,2

0,5 0,5

Am besten für das deutsche Rechtssystem ist das GAMAB-Prinzip geeignet, wo-nach das Sicherheitsniveau der zu betrachtenden oder der neuen Systeme min-destens so hoch sein muss, wie das Sicherheitsniveau eines vergleichbaren be-stehenden Systems (Bild 11.11). Dieses Prinzip wird auch in der CSM-RA beim Vergleich mit dem Referenzsystem ausdrücklich erwähnt. Es lässt sich weiter-hin als Risikoakzeptanzkriterium auf eine explizite Risikoanalyse übertragen,

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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Bild 11.10: Vorgehen bei expliziter Risikoabschätzung: Risikoakzeptanzkriterien

Bewertung der Risiken bei expliziter Risikoabschätzung:

Risikoakzeptanzkriterien nach EN 50126

ALARP – (As Low As Reasonably Practicable)Nutzen-Kosten-Betrachtung, Risiken sind auszuschließen, sofern Kosten dazu nicht unverhältnismäßig

• Kein einheitlicher Bewertungsmaßstab, • für deutsche Sicherheitsanforderungen (EBO) nicht geeignet

MEM – (Minimum Endogenous Mortality)Ermittlung des akzeptierten Niveaus für das technische System anteilmäßig aus tatsächlicher Todesfallrate einer repräsentativen Person

• externe Vorgabe eines akzeptierten Risikos einheitlich und sinnvoll,• problematisch ist Aufteilung auf die einzelnen Systeme,• für deutsche Sicherheitsanforderungen (EBO) nicht geeignet

da das Risiko eines bestehenden Systems anhand der Unfallzahlen messbar ist und damit als Zielwert auf eine explizite Risikoanalyse übertragen werden kann. Wenn man als vergleichbares bestehendes System ein System definiert, das weitgehend den anerkannten Regeln der Technik entspricht, kommt man damit auch auf das bereits viel zitierte Akzeptanzkriterium im § 2 Abs. 2 EBO. Für die Nutzung dieses Risikoakzeptanzkriteriums bei expliziten Risikoanaly-sen stehen grundsätzlich zwei Wege zur Verfügung, die im deutschen Eisen-bahnsektor häufig gerade bei Risikoanalysen zu technischen Systeminnovatio-nen angewendet werden:

1. Es wird das Risiko des bestehenden Systems anhand von Unfallstatistiken bestimmt. Die Auswahl der relevanten Unfälle muss sich dabei an der Sys-temdefinition des Betrachtungssystems orientieren. Die Unfälle müssen da-bei detailliert betrachtet werden, um solche Unfälle, die einen offensichtli-chen Verstoß gegen anerkannte Regeln der Technik zur Ursache haben und die folglich nicht akzeptiert sind, auszuschließen. Weiterhin werden in der

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Kapitel 11.4

Regel Großereignisse, die mit einer Risikoaversion in Verbindung stehen, ausgeschlossen. Der langjährige Mittelwert der verbleibenden Unfälle stellt das Akzeptanzkriterium dar.

Bild 11.11: Risikoakzeptanzkriterien nach EN 50126

Bewertung der Risiken bei expliziter Risikoabschätzung:

Risikoakzeptanzkriterien nach EN 50126

GAMAB – (Globalement Au Moins Ausi Bon)globales Sicherheitsniveau neuer Systeme muss mindestens so hoch sein wie das existierender Systeme

• Forderung der EBO (Nachweis gleicher Sicherheit wie bei Einhaltung d. a. R. d. T.) am besten erfüllt,• dadurch im deutschen Eisenbahnrecht anwendbar,• höchstes Sicherheitsniveau der vergleichbaren existierenden Systeme, die den anerkannten Regeln der Technik entsprechen, auswählen

praktikable Vorgehensweisen

Analyse des Altsystems• qualitative Beschreibung,• quantitative Bewertung,• theoretische Ableitung des existieren- den Sicherheitsniveaus als Ziel

Auswertung der Unfalldaten• nur Unfälle durch Versagen innerhalb der Systemgrenzen,• Nichtberücksichtigung von Unfällen, die nicht mit gültigen a. R. d. T. vereinbar

2. Es wird zunächst mit einer Ursachenanalyse und/oder Folgenanalyse (Ereig-nisbaumanalyse) das Risiko des bestehenden Systems ermittelt. Dabei wird ebenfalls auf Ereignisauswertungen oder Expertenschätzungen zurückge-griffen. Das abgeleitete Risiko ist das Bezugsrisiko, das dem Bezugssystem zugrunde gelegt wird.

Die Abläufe des Bezugssystems werden dann in separaten Fehlerbäumen oder Er-eignisbäumen dargestellt. Mit den sich dort ergebenden funktionalen Abhängig-keiten kann aus dem bekannten Bezugsrisiko nach 1. oder 2. durch Rückrechnung z. B. eine tolerierbare Gefährdungsrate als Sicherheitsziel errechnet werden.

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Im Folgenden wird die Anwendung der vorstehend beschriebenen Analysever-fahren an drei Beispielen aus der Praxis beschrieben. Alle Beispiele beziehen sich noch auf die Vorgaben zu einer Risikoanalyse nach EN 50126 bei Einführung eines neuen Systems. Die Systemdefinition, die Gefährdungsidentifikation, die Risikoevaluierung anhand einer expliziten Risikoanalyse und der Nachweis der Einhaltung der Sicherheitsanforderungen würden jedoch auch den Anforde-rungen der CSM-RA entsprechen. Lediglich eine unabhängige Bewertung durch eine Bewertungsstelle wurde nicht durchgeführt.

Bei der Risikoanalyse zur Einführung des Elektronischen Buchfahrplans (EBULa) (siehe Bild 11.12) ging es um den Ersatz der gedruckten Buchfahrpläne auf dem Führerstand, aus dem der Triebfahrzeugführer z. B. die zulässige Geschwindig-keit, die Signalstandorte, die Grenzen der Weichenbereiche und die Fahrzeiten durch eine tabellarische Bildschirmanzeige entnimmt. Die Daten werden nach Eingabe der Zugnummer automatisch aufgerufen. Als Risikoakzeptanzkriteri-um wurde das Risiko des alten Verfahrens, das durch Betriebsvorschriften und damit durch anerkannte Regeln der Technik beschrieben war, herangezogen. In Fehlerbaumanalysen wurden die menschlichen Fehler beim Erstellungsprozess der Buchfahrpläne analysiert und quantifiziert. Anschließend wurden die Feh-ler bei der Dateneingabe, der Datenverteilung und der finalen Bearbeitung im Bordgerät bei dem neuen Verfahren betrachtet. Für die noch nicht festgelegten Werte der technischen Verarbeitung wurden aus dem Bezugsrisiko tolerable Gefährdungsraten abgeleitet, die von ihrer Größenordnung im Bereich eines SIL=0 lagen und damit keine besonderen technischen Maßnahmen erforder-ten und mit PC-Technik erreicht werden konnten /12/. Die Einhaltung dieser Werte wurde schließlich in einem langjährigen Probebetrieb noch ohne Sicher-heitsverantwortung (mit Parallelnutzung des gedruckten Buchfahrplans und EBuLa) nachgewiesen (vgl. Bild 11.12, dortige Bilder aus /8/).

11.5 Beispiele für Risikoanalysen im Eisenbahnbereich und Erfahrungen

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Kapitel 11.5

Bild 11.12: Beispiel I für Risikoakzeptanz bei expliziter Risikoabschätzung

1. 2.

• Analyse des Altsystems mit gedrucktem Buchfahrplan und menschlichem Fehler im Erstellungsprozess durch Fehlerbäume

• Das dabei entstehende Risiko ist Bezugsrisiko – Risikoakzeptanzkriterium

• Analyse des neuen Systems mit Fehlerbäumen bei Dateneingabe und Datenverarbeitung, bei denen Risiko des Altsystems theoretisch eingehalten werden musste (Gefährdungsraten im Bereich von SIL=0)

• Nachweis der Einhaltung praktisch durch Probebetrieb ohne Sicherheitsver-

antwortung

Bei der Risikoanalyse zur Geschwindigkeitserhöhung bei Bahnsteigvorbei-fahrten mit 230 km/h war nachzuweisen, dass die zusätzlich getroffenen Schutzmaßnahmen für die Reisenden auf dem Bahnsteig als Vorkehrungen ausreichend sind, um einen Aufenthalt von Reisenden im Gefahrenbereich zu vermeiden und um das Sicherheitsniveau gegenüber den bisher üblichen Bahnsteigvorbeifahrten mit 200 km/h nicht zu reduzieren (Bild 11.13). Hierzu wurde das bestehende Bezugsrisiko bei Bahnsteigvorbeifahrten mit 200 km/h zunächst aus den Unfallstatistiken unter Berücksichtigung der Unfälle, die der Systemdefinition entsprechen, ermittelt. Einzelne nicht klar zuordenbare Unfälle bzw. solche, bei denen Regelwerksverstöße zu vermuten waren, wur-den ausgeschlossen. Anschließend wurde für das Nachweissystem die Verbrei-terung des Gefahrenbereichs am Bahnsteig bei Vorbeifahrten mit 230 km/h durch aerodynamische Untersuchungen ermittelt. Danach wurde die größere Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Reisenden in dem verbreiterten Gefahren-bereich durch Umrechnung aus einem beobachteten Ist-Zustand abgeleitet. Aus der potenziell größeren Reisendenanzahl im Gefahrenbereich ergibt sich eine Erhöhung des Unfallrisikos. Abschließend wurde durch Expertenschät-zung die Wirkung der Absperrmaßnahmen zur Reduzierung der Reisenden im

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Gefahrenbereich und damit zur Reduzierung des Risikos bewertet. Es musste schließlich gezeigt werden, dass die Maßnahmen so wirksam sind, dass das Ri-siko mit den Maßnahmen kleiner ist als das Bezugsrisiko (im Sinne eines Si-cherheitszuschlags wegen Ungenauigkeiten). Nach der theoretischen Analyse wurde die Richtigkeit der Betrachtung im Rahmen einer Betriebserprobung mit verstärkten Kontrollmaßnahmen im Sinne eines ergänzenden Nachweises zur Wirksamkeit der Sicherheitsanforderungen überprüft (Beschreibung des Ver-fahrens /9/, Skizze der Maßnahmen aus /10/)

Bild 11.13: Beispiel II für Risikoakzeptanz bei expliziter Risikoabschätzung

• Ermittlung des Bezugsrisikos aus Unfallanalyse mit Personen auf Bahnsteigen nach Selektion der Unfälle

• Ermittlung der zu erwartenden Unfälle unter Wirkung der Schutzmaßnahmen in quantifizierten Ereignisbäumen (Expertenschätzung) und Nachweis, dass der Bezugswert eingehalten wird,

• Vergleich des tatsächlichen Reisendenverhaltens mit den Schätzungen während der Betriebserprobung

Risikoanalyse Geschwindigkeitserhöhung auf 230 km/h mit Bahnsteigvorbeifahrten:

Bei der Risikoanalyse zur Wirbelstrombremse war nachzuweisen, dass die Ge-fährdung durch eine nicht abgeschaltete Wirbelstrombremse eines ICE 3 auf einer nicht ertüchtigten Umleitungsstrecke zu keiner unzulässigen Risikoer-höhung führt (Bild 11.14). Die Gefährdung ergibt sich ausschließlich bei der Einschaltung von Bahnübergängen (BÜ) mit Fernüberwachung, weil hierbei nicht ertüchtigte Schienenkontakte durch die Wirbelstrombremse unerkannt zerstört werden können und die Sicherung des Bahnübergangs für den folgen-den Zug nicht aktiviert wird. Zur Ermittlung des Risikos wurden zunächst die betrieblichen Abläufe mit ihren Fehlern, die zur Nichtabschaltung der Wirbel-

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Kapitel 11.5

strombremse führen können, in Verbindung mit der Wahrscheinlichkeit einer Bremsung in einer Einschaltstrecke eines BÜ in Ereignisbäumen dargestellt. Das sich hieraus ergebende Risiko war zwar sehr gering, stellte aber dennoch eine geringfügige Erhöhung gegenüber dem bisherigen Zustand dar /13/. Die-ses Risiko wurde in Relation zum tatsächlichen Risiko an Bahnübergängen ge-bracht, womit gezeigt werden konnte, dass dieser Anteil tatsächlich marginal und somit vernachlässigbar ist. Eine Erhöhung des Risikos im System wurde zu-sätzlich dadurch ausgeschlossen, dass permanent Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit an BÜ bzw. zur Beseitigung von BÜ durchgeführt werden, deren Risikoreduktion deutlich über der marginalen Risikozunahme liegt.

Bild 11.14: Risikoanalyse – Wirbelstrombremse (WB)

• Vergleich des Risikoeintrags mit dem bestehenden Risiko an BÜ und Nachweis eines marginalen Anteils im Bereich der Schätzgenauigkeit des Bezugswertes

• Akzeptanz durch die Wirkung der geplanten Sicherheitsmaßnahmen an BÜ (Beseitigung, Umbau), deren Risikoreduktion deutlich stärker war als die Risikoerhöhung

• Gleisschaltmittel auf Umleitungs-strecken nicht ertüchtigt!

• Abschalten der WB nur betrieblich hinreichend sicher?

Ermittlung des zusätzlichen Risiko-eintrags der WB an FÜ-BÜ (kritischster Fall) unter Berücksichtigung der Maßnahmen im Betriebsverfahren in quantifizierten Ereignis-bäumen

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In den vorstehend beschriebenen Risikoanalysen waren auch menschliche Fehler zu erfassen. Eine eisenbahnspezifische Methodik zur Bewertung des menschlichen Fehlers wurde durch die Dissertation von Hinzen geschaffen (Bild 11.15 aus /11/). Hierbei werden die Umweltbedingungen, das Stressniveau und die Komplexität der Handlungen als Eingangsgrößen beschrieben. Eine mög-lichst exakte Beschreibung und Bewertung des menschlichen Handelns durch eine wissenschaftlich begründete Methodik ist für die Vertrauenswürdigkeit der Risikoanalysen eine wichtige Grundlage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die menschlichen Fehler einen hohen Beitrag zum Unfallgeschehen im Eisen-bahnwesen leisten, sodass die Reduzierung der unmittelbar vom Menschen ausgeführten Aufgaben einen Beitrag zur weiteren Verbesserung der Sicherheit leisten kann, den es durch Risikobetrachtungen zu identifizieren gilt.

Die Ergebnisse von Risikoanalysen dürfen jedoch nicht als „ewige Wahrheit“ bzw. als feststehende Vorgaben betrachtet werden. Sie sind ein notwendiges und sinnvolles Hilfsmittel zur Bestimmung der Sicherheitsanforderungen am Beginn des Entwicklungsprozesses. Ihre Aussagen enthalten oft Ungenauigkei-ten aufgrund von Schätzungen und können auch durchaus bewusst in eine be-stimmte Zielrichtung gelenkt werden. Neben zu optimistischen Schätzungen liegen nach den Erfahrungen des Eisenbahn-Bundesamtes Fehlermöglichkei-ten auch in der nicht gegebenen Unabhängigkeit von Ereignissen und in der falschen Verknüpfung von Größen, wenn die Einheiten nicht zueinander pass-fähig sind. Ein rechtlich fragwürdiges Risikoakzeptanzkriterium kann ebenfalls zu einem falschen Ergebnis führen. Es ist deshalb sinnvoll, dass Risikoanalysen von einer unabhängigen Bewertungsstelle oder einer Behörde kritisch geprüft werden und dass die Gefährdungsprotokolle auch mit den Erkenntnissen aus der Überwachung des Ist-Zustandes fortgeschrieben werden, wie es durch die CSM-RA gefordert wird.

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Kapitel 11.5

MenschlicheVerhaltensebene

Günstige Umweltbedingungen

Ungünstige Umweltbedingungen

StressdurchUnter-forde-rung

Optima-lesStress-niveau

StressdurchÜberfor-derung

StressdurchUnter-forde-rung

Optima-lesStress-niveau

StressdurchÜberfor-derung

fertigkeits- basiert

2·10-3 1·10-3 2·10-3 1·10-2 5·10-3 1·10-2

regelbasiert 2·10-3 1·10-2 2·10-2 1·10-1 5·10-2 1·10-1

wissensbasiert 2·10-1 1·10-1 5·10-1 1,0 5·10-1 1,0

Bild 11.15: Bewertung der Fehlerwahrscheinlichkeit des Menschen nach Hinzen:

(Eingangswerte für Risikoanalysen)

Literatur

/1/ Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) – aus www.juris.de.

/2/ VERORDNUNG (EG) Nr. 352/2009 DER KOMMISSION vom 24. April 2009 über die Festlegung einer gemeinsamen Sicherheitsmethode für die Evaluierung und Bewertung von Risiken gemäß Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie 2004/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates.

/3/ DURCHFÜHRUNGSVERORDNUNG (EU) Nr. 402/2013 DER KOMMISSION vom 30. April 2013 über die gemeinsame Sicherheitsmethode für die Evaluierung und Bewertung von Risiken und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 352/2009.

/4/ Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) – siehe www.juris.de.

/5/ RICHTLINIE 2004/49/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 29. April 2004 über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 95/18/EG des Rates über die Erteilung von Geneh-migungen an Eisenbahnunternehmen und der Richtlinie 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung.

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/6/ RICHTLINIE 2008/57/EG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 17. Juni 2008 über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Gemeinschaft.

/7/ DIN-EN 50126 Bahnanwendungen Spezifikation und Nachweis der Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit, Instandhaltbarkeit und Sicherheit (RAMS) – Deutsche Fassung EN 50126:1999.

/8/ Führerraumanzeige des Fahrplans mit EBuLa – Sachstand und Ausblick – Vortrag der DB Netz AG-Informationssysteme Kundeninteraktion/Vertrieb im Rahmen Fortbildung der Mitarbeiter/innen der betrieblichen Eisenbahnauf-sicht, 03. bis 05.05.2011/Altenahr.

/9/ Folien Basler & Partner AG zur Sicherheitsnachweisführung, VDE 2, Sicherheit an Bahnsteigen, Besprechung mit dem EBA am 05. Januar 2001.

/10/ VDE 2 – Konzeptvorschlag für infrastrukturelle Vorkehrungen, DB Stati-on & Service, SET Ja/SBB Ku; Stand: 30.04.2001.

/11/ Hinzen: „Der Einfluß des menschlichen Faktors auf die Sicherheit der Eisenbahn“, Dissertation an der RWTH Aachen, 1993.

/12/ Risikoanalyse EBuLa – vorgelegt mit Schreiben vom 17.05.2002 – TS CS (Dr.-Ing. Corinna Salander-Ludwig).

/13/ Zusicherung zum Betriebsverfahren zum Einsatz der Wirbelstrombremse auf Stre-cken mit nicht WB-fest ausgerüsteter Leit- und Sicherungstechnik, Bewertung durch eine Risikoanalyse – EBA-Bescheid 3420 – Arb 09/02 vom 17.01.2003.

/14/ Berichte des Eisenbahn-Bundesamts gemäß Artikel 18 der Richtlinie über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft (Richtlinie 2004/49/EG,„Sicherheitsrichtlinie“) über die Tätigkeiten als Sicherheitsbehörde für die Jahre 2007-2012 – siehe www.eisenbahn-bundesamt.de.

/15/ Intermediate report on the development of railway safety in theEuropean Union – 2013, European Railway Agency.

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Lösungsansätze

12

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233

Dr. H.-J. Bischoff; Sektion Maschinen- und Systemsicherheit der IVSS, GfS, Deutschland

In einer globalen Wirtschaft, mit deren Anforderungen und Auswirkungen sich die internationale Politik (insbesondere G 20) und Wirtschaft befassen, wird auch die Arbeitswelt zunehmend globaler. Die Entwicklung dort wird interna-tional bisher nicht angemessen berücksichtigt.

In einer globalisierten Welt ist das Arbeitsleben stark durch sich daraus entwi-ckelnde Phänomene beeinflusst. Sicherheit, Gesundheit und gesunde Umwelt sind Bereiche, denen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Wenn wir Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit als öffentliches Gut verstehen, müs-sen die Rollen der Akteure auf diesem Gebiet näher bestimmt werden. Neue Ri-siken entstehen in der allgemeinen Umwelt und besonders in den Arbeitsumge-bungen und daraus sich ergebende neue Herausforderungen für Sicherheit und Gesundheit müssen angemessen behandelt werden.

In diesem Zusammenhang sei nur hingewiesen auf neue Trends in wirtschaftli-chen Strukturen und Arbeitsbedingungen. Das Gewichtung in der Gesellschaft mit einer Entwicklung von der Primärgesellschft (vor allem Landwirtschaft, Fi-scherei) über die Sekundärgesellschaft (vor allem industrielle Produktion) zur Tertiärgesellschaft (vor allem Dienstleistungen, Informationstechnologien) hat sich radikal verändert. Die Welt ist mehr und mehr verbunden durch die rasante Entwicklung und Verbreitung von Kommunikations- und Informationstechno-logien. Dadurch hat sich der Zeitenrhythmus der ganzen Welt wesentlich ver-ändert, hin zur „24-Stunden-/7-Tage-Gesellschaft“. Die Situation der Beschäf-tigten ist viel weniger stabil geworden. Wir haben heute in vielfacher Hinsicht „Wanderarbeitnehmer“: Innerhalb einzelner Staaten (z. B. neue/alte Bundes-länder), in Mega Cities, für bestimmte Projekte (z. B. große Bauprojekte); für die Erbringung von Dienstleistungen (z. B. Ernte, Pflege); durch Neugliederung von Wirtschaftsunternehmen (z. B. Outsourcing), aber auch durch die Entwicklung

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gemeinsamer Märkte wie z. B. EU, Mercosur, NAFTA. Die besonders aus dem Prinzip 24/7 resultierenden Anforderungen der Leistungen „ just in time“ füh-ren zu neuen, besonders psychischen, aber auch körperlichen Beanspruchun-gen und Belastungen. Die Medienpräsenz ist allumfassend und verbreitet heute Informationen über globale Ereignisse sozusagen in Echtzeit. Dies hat Auswir-kungen auf einige weltweite Demokratisierungs- und Humanisierungsprozesse sowie auf Umweltbelange, wie Umweltschutz, das Gleichgewicht von Ökosys-temen, nachhaltige Entwicklung. Zum anderen nehmen diese Entwicklungen Einfluss auf Arbeitszeiten und in Konsequenz auch auf Arbeitsbedingungen. Outsourcing, Downsourcing und die Verlagerung von Produktionen auf neue Produktionsstätten, häufige Veränderungen durch Fusionen und Auflösungen von Firmen, Verlagerung von Arbeiten in Niedriglohnländer führen zur Auflö-sung von Betriebsstrukturen, die in der industriellen Gesellschaft sehr stabil waren. Solche Fragmentierungen schaffen neue Risikobereiche im modernen Arbeitsleben mit der großen Herausforderung, diese Risiken in sich häufig än-dernden Situationen zu identifizieren, zu beurteilen und zu managen (Näheres siehe Bischoff, Herausgeber „Risks in Modern Society“, Kapitel 2, Jorma Ranta-nen – Springer-Verlag).

Die Konsequenzen sind weniger im Bereich von Arbeitsunfällen zu spüren. Die größere Veränderung ergibt sich im Bereich von Gesundheitsgefahren und Be-rufskrankheiten.

Einige beispielhafte Lösungsansätze für diese neuen Herausforderungen in der Arbeitswelt bestehen in:

Stärkung der Position der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS)

Sie ist die weltweit führende internationale Organisation für Institutionen, Re-gierungsstellen und Behörden, die sich mit den verschiedenen Fragen der so-zialen Sicherheit beschäftigen. Die IVSS wurde 1927 gegründet mit Sitz beim Internationalen Arbeitsamt in Genf. Derzeit hat die IVSS ca. 350 Mitgliedsins-titutionen aus über 150 Ländern aus den verschiedenen Bereichen der sozialen Sicherheit.

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Kapitel 12

Für arbeitsbedingte Risiken spielt eine besondere Rolle der Besondere Aus-schuss für Prävention mit seinen dreizehn internationalen Sektionen. Er ist vor allem an der Ausgestaltung und Umsetzung von Präventionsaktivitäten der IVSS beteiligt und kümmert sich um horizontale und vertikale Fragestellungen für die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Dabei verfolgen die Sektio-nen vergleichbare Ziele in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen: benutzerori-entierte praktische Unterstützung; Erarbeitung praxisorientierter Lösungen; Durchführung internationaler Veranstaltungen für Experten zur Diskussion ausgewählter Fragestellungen; Erarbeitung von Publikationen für den Bereich Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Die IVSS-Sektion Maschinen- und Systemsicherheit beschäftigt sich aktuell mit Fragen der Risikobeurteilung, einschließlich dem Explosionsschutz, der Bedeutung von Steuerungen beim Einsatz in Maschinen und Anlagen, Maßnahmen gegen die Manipulation von Schutzeinrichtungen, der Bedeutung von Ergonomie und dem Human Factor.

Hauptzielgruppen sind Hersteller und Betreiber von Maschinen und Anlagen.

Außerdem koordiniert die Sektion das Arbeitsprogramm des BesonderenAusschusses für kleine und mittlere Betriebe.

Lösungsansätze für die Arbeitswelt – ein paar Aspekte

Aspekt 1 – Verpflichtung zur Risikobeurteilung:Der europäische Binnenmarkt steht für den freien Verkehr von Waren, Perso-nen, Dienstleistungen und Kapital. Eine Einschränkung des freien Warenver-kehrs in der EU ist nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig. Für Bereiche mit höherem Risiko, z. B. der Einsatz von Maschinen, gilt ein EU-Recht mit einer Harmonisierung technischer Vorschriften. Dort sind grundlegende Sicherheits-anforderungen verbindlich festgelegt. Die Spezifizierung dieser Anforderungen erfolgt in harmonisierten Normen.

Dieses EU-Regelwerk hat eine hohe wirtschaftliche Bedeutung für Design und Herstellung von Maschinen in der EU. Die weiter gehende Erwartung ist, dass sichere Maschinen die Zahl von Unfällen und Gesundheitsschäden sowohl am Arbeitsplatz als auch im Privatbereich reduzieren.

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Für den Hersteller ergeben sich die entsprechenden gesetzlichen Pflichten aus Artikel 114 des EU-Vertrages in Verbindung mit der Maschinenrichtlinie, Anhang 1. Sie sind konkretisiert z. B. in der EN ISO 12100 „Sicherheit von Maschinen“.

Im Anhang 1 der Maschinenrichtlinie sind grundlegende Sicherheits- und Ge-sundheitsanforderungen für die Konstruktion und den Bau von Maschinen geregelt. Diese Anforderungen sind bindend. Wenn die damit gesetzten Ziele aufgrund des Standes der Technik nicht erreichbar sind, ist eine Maschine so-weit wie möglich auf diese Ziele hin zu konstruieren und zu bauen. Der Her-steller muss für die Vornahme einer Risikobeurteilung sorgen, um die für die Maschine geltenden Anforderungen zu ermitteln. Konstruktion und Bau der Maschine müssen unter Berücksichtigung der Ergebnisse dieser Risikobeur-teilung erfolgen. Die Pflichten des Herstellers bei der Risikobeurteilung sind in der Maschinenrichtlinie, Anhang 1, konkret vorgegeben. Ebenso die Rangfol-ge der zu treffenden Maßnahmen: Risikobeseitigung oder Risikominimierung durch Integration in sichere Konstruktion und Bau der Maschine notwendige Schutzmaßnahmen gegen nicht zu beseitigende Risiken Unterrichtung der Benutzer über Restrisiken, ggf. spezielle Ausbildung oder Einarbeitung der an Maschinen tätigen Personen sowie persönliche Schutzausrüstungen.

Für den Betreiber ergibt sich die gesetzliche Verpflichtung aus Artikel 153 EU-Vertrag sowie der Arbeitsschutzrahmenrichtlinie, Artikel 9. Danach muss der Arbeitgeber über die Evaluierung der am Arbeitsplatz bestehenden Gefah-ren für Sicherheit und Gesundheit, auch hinsichtlich der besonders gefährdeten Arbeitsgruppen, verfügen und er muss die durchzuführenden Schutzmaßnah-men und notwendigen Schutzmittel festlegen.

Hierbei handelt es sich um europäische Mindestregelungen, die durch natio-nale Bestimmungen im Sinne eines weitergehenden Beschäftigtenschutzes er-weitert werden können.

Da die einschlägigen EU-Richtlinien für Hersteller und Betreiber von Maschi-nen seit ca. 25 Jahren in Kraft und den Entwicklungen auf dem Gebiet der Tech-nik angepasst worden sind, müsste man eigentlich davon ausgehen, dass die Ri-sikokompetenz zur Beurteilung von Risiken in der Arbeitswelt in hohem Maße besteht. Ein Grund für weiter gehenden Handlungsbedarf ergibt sich jedoch aus der eingangs beschriebenen starken Veränderung der Arbeitswelt, besonders in den letzten Jahren.

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Kapitel 12

Aspekt 2 – „Comprehensive Approach zur Förderung von Maschinen- und Systemsicherheit“:Mit den beschriebenen Pflichten zur Risikobeurteilung als Klammer ist die IVSS-Sektion Maschinen- und Systemsicherheit zurzeit dabei, zur Verbesse-rung der Risikokompetenz über die gesamte Lebensdauer von Maschinen in einem internationalen Projekt beizutragen, das in verschiedene Module für un-terschiedliche Zielgruppen gegliedert ist:

1. „Sicherheit lehren und lernen“: Sicherheit muss schon an der Hochschule für künftige Ingenieure gelehrt und gelernt werden. Dies ist bisher kein Pflicht-thema in den Lehrplänen trotz der oben beschriebenen Verpflichtungen zur Risikobeurteilung sowohl für Hersteller als auch für Betreiber. In die allge-meine Ausbildung künftiger Ingenieure, z. B. Maschinenbau, Elektrotechnik, ist das Thema noch nicht integriert. Wir haben dazu ein Konzept entwickelt, das Experten noch um konkrete Module erweitern, die auf unterschiedliche Zeiteinheiten für die Lehre im allgemeinen Studium ausgerichtet sind.

2. „Sicherheit integrieren“: Mit einer Risikobeurteilung erfüllt der Hersteller nicht nur eine gesetzliche Pflicht, sondern verbessert auch seine Markt-chancen durch entsprechende Berücksichtigung von Stand der Technik und wissenschaftlicher Weiterentwicklung. Auch Unfallversicherungsträger und Präventionsdienste in vielen Ländern tragen durch Beratung und Kontrolle der Hersteller zur Weiterentwicklung bei.

3. „Sicherheit berücksichtigen“: Die Berücksichtigung von Anforderungen aus Risikobeurteilungen beim Handel mit Maschinen und Einkauf von Maschi-nen muss eine größere Bedeutung erlangen. Hier gibt es vielfältige Angebote zur Unterstützung durch Unfallversicherungsträger. In diesem Zusammen-hang sind auch die Instrumente der Marktüberwachung und Marktbeobach-tung anzusprechen. Marktüberwachung ist eine offizielle Aufgabe autori-sierter Institutionen in den EU-Mitgliedsstaaten. Marktbeobachtung ist ein erfolgreiches Instrument, insbesondere durch die Konkurrenz von Maschi-nen- und Anlagenherstellern.

4. „Sicherheit anwenden“: Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sind ein öf-fentliches Gut und ein ethisches Anliegen. Es führt zum einen zu Rechten der Beschäftigten, deren Prinzipien z. B. in der einschlägigen EU-Rahmenricht-linie beschrieben und in nationalen Bestimmungen verankert sind, deren

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Adressaten die Arbeitgeber sind. Untersuchungen zeigen zum anderen, dass „gesunde und sichere Betriebe“ in Sachen Produktivität und Qualität über-durchschnittliche Ergebnisse erzielen und damit ihre Konkurrenzfähigkeit verbessern. Dass Präventionsdienste und Unfallversicherungsträger die Be-treiber verstärkt beraten, hat also zwei gute Gründe.

Schließlich gibt es durch Versicherungsträger unterschiedliche Anreizsysteme zur Förderung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in Umsetzung von Ergebnissen von Risikobeurteilungen: Bonus-Systeme, Malus-Systeme, kom-binierte Bonus-Malus-Systeme; besondere Prämien für überdurchschnittliche Präventionsaktivitäten von Betrieben; weite Spannbreite des Mitgliedsbeitrags abhängig von Risiken und Unfallgeschehen in Betrieben. Aspekt 3 – die große Welt der Kleinbetriebe:Wenn man nach einem europäischen Kriterium die Anzahl der Beschäftigten nimmt, um einen Betrieb von der Größe her zuzuordnen, gilt für die EU: Mikro-betriebe – bis 9 Beschäftigte (Kleinstbetriebe) /Kleinbetriebe – bis 50 Beschäf-tigte/mittlere Betriebe – bis 250 Beschäftigte/große Betriebe – mehr als 250 Beschäftigte.

Legt man diese Zählweise zugrunde, gibt es über alle Branchen in den EU-Mit-gliedsstaaten: 93 % Mikrobetriebe, knapp 6 % Kleinbetriebe, 1 % mittlere Be-triebe und nur 0,2 % große Betriebe.

Auch wenn international die Zählweise nicht identisch ist, sind die Ergebnisse doch ähnlich. Eine neue Erhebung in den USA hat z. B. für 2014 ergeben, dass 85 % aller dort tätigen Betriebe nicht mehr als fünf Beschäftigte haben.

Aus diesen Zahlen ergibt sich eine besondere Schwierigkeit für funktionieren-de Lösungsansätze: die große Zahl von Klein- und Mittelbetrieben. Sie sind für persönliche Beratung oder Kontrolle nur schwer erreichbar, weil dafür – selbst bei erheblicher Personalaufstockung – die personellen Ressourcen nicht aus-reichen. Zum anderen ist die Motivation für mehr Prävention gegen arbeitsbe-dingte Risiken nicht leicht zu erreichen, wenn – abhängig von der Branche – im Kleinstbetrieb ein Unfall sich nur alle vier bis acht Jahre ereignet und vor dem Hintergrund einer nicht unerheblichen Fluktuation von Betriebsinhabern Un-ternehmer viele noch nie einen Arbeitsunfall in ihrem Betrieb erlebt haben.

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239

Kapitel 12

Mitglieder aus verschiedenen IVSS-Sektionen: AUVA Wien, BGN Mannheim, Carsat Strasbourg, IAPA Toronto, INAIL Rom, INRS Paris, Suva Luzern, Prevent Brüssel mit besonderem Know-how beim Umgang mit Kleinstbetrieben haben deshalb die „Zehn Schlüssel zum Erfolg“ erarbeitet. Sie geben Hinweise zur Ein-schätzung der Risikokompetenz von Betrieben.

Die zehn Schlüssel zum Erfolg:

1. Gesunde Unternehmen brauchen gesunde Beschäftigte.2. Agieren statt reagieren.3. Sich als Arbeitgeber aktiv einbringen.4. Alle beteiligen.5. Gute Arbeitsbedingungen rechnen sich.6. Die Beteiligten informieren.7. Intern kommunizieren.8. Aus Vorfällen lernen.9. Gefahren an der Quelle beseitigen.10. Sich auf dem Laufenden halten.

Siehe Download unter: http://safety-work.org

Außerdem haben mehrere Partner eine Website entwickelt: www.safety-work.org. Es handelt sich um eine Internetseite insbesondere für Kleinbetriebe und deren Partner mit unterschiedlichen Beispielen guter Praxis.

Für eine interne Bewertung haben wir dazu einen Selbsttest eingestellt, mit dem der einzelne Betrieb bewerten kann, wie er hinsichtlich der Umsetzung der „Zehn Schlüssel zum Erfolg“ steht. Dies ersetzt nicht die gesetzliche Verpflich-tung zur Risikobeurteilung. Es berücksichtigt aber die wesentlichen Themen, um den Grad der Risikokompetenz eines Betriebes zu ermitteln.

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Menschliches Verhaltenund Risikokompetenz – Fallanalysen

13

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243

Dr. Sebastian Festag, Bergische Universität Wuppertal, GfS, Deutschland

Sicherheitsprobleme treten auf sehr unterschiedliche Weise in Erscheinung, als Bagatellen, Unfälle, Katastrophen, Störungen, Belastungen, Erkrankungen oder Anschläge. Vielen dieser Ereignisse ist gemeinsam, dass menschliche Ver-haltens- und Reaktionsweisen innerhalb des Ereignisablaufes eine wichtige Rolle spielen. Ein wesentlicher Teil davon steht wiederum mit den technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen unserer Umwelt im Zusammen-hang. Das liegt einerseits an den physiologischen Faktoren und andererseits an Faktoren, die auf das psychische und soziale Verhalten der Betroffenen zurück-gehen. Sie sind ein wichtiger Teil der aktuellen Problemlage. Im Rahmen von Untersuchungen haben wir dazu mehrere unterschiedliche Situationen unter sicherheitswissenschaftlichen Gesichtspunkten analysiert (vgl. [1]). Zwei Fälle, die sich im betrieblichen Umfeld ereigneten, greife ich für den vorliegenden Beitrag heraus. Im Folgenden stelle ich diese beiden Fallana-lysen vor und werte sie anschließend gemeinsam unter Berücksichtigung des Themas der hier zur Diskussion stehenden Veranstaltung aus.

13.1 Einführung

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244

Bei dem ersten Fall handelt es sich um die Analyse der endgültigen Schließung eines in Deutschland ansässigen Produktionsbetriebes. Bis zu seiner endgülti-gen Schließung gehört der Betrieb, nach mehreren unternehmerischen Über-nahmen und Zusammenschlüssen, einem großen Konzern an, mit zahlreichen über die Welt verteilten Standorten. Die Schließung des Betriebes erfolgte auf-grund der wirtschaftlichen Schieflage. Von der Schließung sind über 300 Mit-arbeiter des Betriebes betroffen. Zur Überwindung der wirtschaftlichen Schie-flage entwickelte der Betrieb zuvor ein Produkt mit neuen und einzigartigen Eigenschaften. Da das Produkt nach einer Einstellungszeit stabil hergestellt werden konnte und sich in den Markt einführen ließ, setzte sich die Hoffnung auf ein langfristiges Überleben des Betriebes und eine Kehrtwende in der an-gespannten betriebswirtschaftlichen Situation durch. Das Produkt war erfolg-reich, sodass Mitarbeiter des hier angesprochenen Betriebes aufgefordert wur-den, an der Überführung der Produkteigenschaften auf ein neu gegründetes Schwesterwerk im Ausland, mit größeren Maschinen bei gleichzeitig weniger Personalstellen und einer implizit hohen Erwartung an die Wirtschaftlichkeit, behilflich zu sein. Währenddessen wurde von der Konzernführung der Be-schluss der Schließung des untersuchten Betriebes aus Gründen „langfristig unprofitabler Ergebnisse“ sowie zur „Steigerung der Unternehmensrentabili-tät“ und der „wirtschaftlichen Ertragskraft“ gefasst.

Diese Schließungsphase wurde von uns beobachtet und ausgewertet, wobei un-ter anderem 91 meldepflichtige, nicht meldepflichtige, Fremdfirmen- und We-geunfälle mit 631 Ausfalltagen zur Bewertung der Sicherheitssituation vor und89 Unfälle mit 418 Ausfalltagen zur Bewertung während der Schließungsphase in die Untersuchung eingehen.

13.2 Die Schließung eines Industriebetriebes

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245

Kapitel 13.2

Bild 13.1: Fallanalyse A: Betriebsschließung – Chronologie – (vgl. Festag, 2012)

Unte

rsuc

hung

sbeg

inn

Zwis

chen

beric

ht A

Zwis

chen

beric

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Zwis

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beric

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Zwis

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beric

ht F

Betrieb steht unter besonderer Beobachtung

Beschluss der Betriebsschließung

(in 14 Monaten)geplante

Betriebsschließung

sparen von Kosten langfristig unprofitabler

Ergebnisse

zur Steigerung der Unternehmensren-

tabilität

und der wirtschaftlichen

Ertragskraft

allg. angespannte Marktsituation

unternehm. Übernahmen u. Zusammenschlüsse

erfolgreiche Einführung eines neuen Produktes

Gründung eines neuen Schwesterwerks

Kundenversprechen

reibungsfreie Produktion zur

Gewährleistung der Gehälter

Sozialplan

viele kleine Maschinenstill-stände und ein

großer stören die Produktion

Maschinen-stillstände &

Rekordergebnisse im Vertrieb

Verlust von Mitarbeitern aus

Schlüssel- positionen

neg. Betriebs- bilanz durch

hohe Fixkosten

viele Stillstände

hoher Krankenstand

Produktion früher eingestellt

Maschine A produziert

Verluste

Maschine B produziert

Rekorde

Bild 13.1 zeigt wichtige Ereignisse während der Schließungsphase, die aus Be-kanntmachungen des Betriebes hervorgehen. Wie aus den Abläufen und unse-ren Untersuchungsergebnissen hervorgeht, sinken nach der Verkündung der Schließung zunächst die Unfallzahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, um dann im Laufe der Zeit über ihr gewöhnliches Maß hinaus zu steigen (siehe Bild 13.2).

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

246

Bild 13.2: Fallanalyse A: Betriebsschließung – Ergebnisse – (vgl. Festag, 2012)

-50

-0

-50

100

150

200Ar

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[Ver

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]

Untersuchungszeitraum

Das Sinken der Unfallkennzahlen zum Beginn der Schließungsphase deuten wir als Hoffnung zur Kehrtwende bei den Mitarbeitern, da nach der Verkün-dung der Betriebsschließung das Aufhalten des Beschlusses – je nach Be-triebsergebnis – offengelassen wurde. Das Ansteigen der Unfallkennwerte im Laufe der Zeit sehen wir dagegen als Resignation und Frust, da die Endgültig-keit der Betriebsschließung zunehmend erkennbar wurde. Dieser Effekt ist tatsächlich sogar noch größer, da zum Ende des Untersuchungszeitraumes weniger Mitarbeiter im Betrieb beschäftigt waren. Zum Ende der Betriebs-schließung gingen nicht mehr genügend Mitarbeiter ihrer Arbeit nach, sodass die Produktion zudem frühzeitig eingestellt werden musste. Mit dem zeitli-chen Verlauf spitzte sich die Situation weiter zu. Es kam vermehrt zu Unfällen, Produktionsstörungen und Maschinenstillständen. Darüber hinaus ereigneten sich Sachbeschädigungen, Beleidigungen und persönliche Übergriffe mit Per-sonenschäden.

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247

13.3 Die Stilllegung einer Produktionsanlage

Der zweite Fall behandelt die Analyse der Stilllegung einer Produktionsanlage eines Industrieunternehmens (vgl. auch [2]). Bei der Produktionsanlage handelt es sich um eine von drei parallel und unabhängig voneinander gefahrenen Pro-duktionsanlagen. In dem betroffenen Betrieb waren insgesamt etwa 1.000 Mit-arbeiter beschäftigt, wovon im Zuge der Anlagenstilllegung etwa ein Drittel der Personalstellen abgebaut wurde.

In der Untersuchung wurden neben den Angaben über die Mitarbeiteranzahl – als Maß der Beschlussumsetzung –, zahlreiche Leistungs- und Sicherheitskenn-werte des Betriebes über 10 Jahre monatsweise ausgewertet. Entsprechend der Abfolge der Führungsbeschlüsse wurde vor der Ankündigung der Anlagenstill-legung der „normale“ bzw. „störungsfreie“ Betriebsverlauf anhand der Kenn-werte als Referenzzeitraum charakterisiert. Daraufhin wurden die Abläufe an der betroffenen (Anlage A) und den benachbarten Produktionsanlagen (Anlage B und C) von der Ankündigung bis zur tatsächlichen Stilllegung und dem Zeit-raum danach miteinander verglichen und unter der Anwendung des Interquar-tildistanzverfahrens zur Bewertung auf den Referenzzeitraum bezogen.

Die Analyse lieferte ein erstaunliches Ergebnis. An der direkt betroffenen Pro-duktionsanlage verbesserte sich während der Anlagenstilllegung die Situation in Bezug auf die Produktionsleistung und dem Auftreten von Störungen und Unfällen, während sie sich an den benachbarten Produktionsanlagen zum Teil statistisch signifikant verschlechterte (Bild 13.3).

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

248

Bild 13.3: Fallanalyse B: Anlagenstilllegung – Ergebnisse I – (vgl. [1])

Anlage A Anlage B Anlage C

-25,8

-15,4

-28,0

34,9

30,4

39,3 •

17,6

60,0 •

5,9

Auffälligkeiten [%]

Alarme [%]

Warnungen [%]

Ähnlich wie bei der Betriebsschließung führen wir das bei den Mitarbeitern der direkt betroffenen Anlage auf eine „Hoffnung zur Kehrtwende“ und bei den Mitarbeitern der indirekt betroffenen benachbarten Anlagen auf Frustrationen und Aggressionen zurück. Nach der Anlagenstilllegung verschlechtert sich die Situation an den beiden benachbarten und weiterbetriebenen Produktions-anlagen weiter, wie Bild 13.4 anhand der weißen Balken zeigt. Zwischen Pro-duktions- bzw. Sicherheitskennwerten und der Mitarbeiteranzahl ergaben sich sogar teilweise statistisch bedeutsame Zusammenhänge. Mit sinkender Mitar-beiteranzahl erhöhten sich die Sicherheitsprobleme.

Bild 13.4: Fallanalyse B: Anlagenstilllegung – Ergebnisse II – (vgl. [1])

Anlage A Anlage B Anlage C

341,9

247,8

391,8

94,1

66,7

105,9 •

-25,8

-15,4

-28,0

34,9

30,4

39,3 •

17,6

60,0 •

5,9

Auffälligkeiten [%]

Alarme [%]

Warnungen [%]

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249

Zunächst wurde durch die Fallanalysen offensichtlich, dass die Führungsbe-schlüsse erhebliche Kollateralschäden produziert haben. Ersichtlich wird zu-dem, dass das Verhalten der Mitarbeiter sehr unterschiedlich und zum Teil sehr unerwartet ist. Die Nichtberücksichtigung solcher Verhaltens- bzw. Reaktions-weisen kann bei Managementbeschlüssen, wie sie hier angesprochen wurden, zu erheblichen Problemen und Gefahren führen. Sie werden auf einer syste-misch wirkenden Weise begünstigt. Zwar kennen wir die exakten Mechanis-men nicht, trotzdem lässt sich bereits so viel sagen, dass durch das mangelnde Verständnis solcher Abläufe – insbesondere im Zusammenhang mit mensch-lichen Reaktionsweisen – Sicherheitsprobleme erzeugt bzw. verstärkt werden; auch wenn Gegenteiliges mit dem Vorgehen angestrebt wird.

Bild 13.5 zeigt diesen kontraproduktiven Mechanismus (siehe [3]). Die Analysen zeigen, dass menschliche Verhaltens- und Reaktionsweisen beim allgemeinen Vor-gehen, aber auch bei dem Ableiten von Sicherheitsstrategien, nicht hinreichend berücksichtigt werden und dadurch Probleme erzeugen bzw. verstärken können.

Es ergeben sich zwei weitere Befunde:

1. Wie wir anhand der Fallanalysen sehen, tauchen in beiden Fällen auch siche-rungsrelevante (security) Probleme auf. Das erfordert die Verzahnung mit der Sicherheitstechnik (safety) sowie die Integration in die Sicherheitswissenschaft.

2. Im Normalbetrieb eines Ablaufes und im Modus der gewöhnlichen Störungsbe-seitigung sind Sicherheits- bzw. sicherheitstechnische Maßnahmen heutzuta-ge oftmals etabliert. Wie wir hier gesehen haben, ist der Bedarf an Sicherheits-maßnahmen außerhalb des „Normalzustandes“ hoch bzw. dann sogar unter Umständen noch höher (solchen Maßnahmen werden in kritischen Zeiten, aber oftmals nur wenig Raum gegeben, z. B. weil die Betriebsführung während der Stilllegung einer Produktionsanlage mit dem Überleben des Betriebes be-schäftigt ist (vgl. [4]).

13.4 Zusammenfassung und Fazit

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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Bild 13.5: Kontraproduktiver Mechanismus (vgl. Festag, 2012; siehe auch Festag & Hartwig 1/2013)

System

Randbedingungen

Anfangs- bedingungen

eingeleiteteBewältigungs-

strategie

angestrebte Situation

tatsächliche Situation

positiveEntwicklung

Normal- zustand

negativeEntwicklung

Welche Lehre können wir aus den Fällen ziehen, um dieser Situation entgegen zutreten?

Zunächst gilt es festzuhalten, dass wir heute nur ein sehr lückenhaftes Bild über und Verständnis von solchen Abläufen – wie wir sie analysierten – haben. Prin-zipiell ist aber festzustellen, dass Führungskräfte von Betrieben Kompetenzen im Umgang mit Gefahren und Risiken in Bezug auf die Reichweite ihrer Ent-scheidungen benötigen. Davon sind nicht nur die Fachkräfte für Sicherheit, Si-cherheitsingenieure etc. betroffen, sondern alle Führungskräfte.

Innerhalb der Auseinandersetzung mit Risiken sind menschliche Verhaltens-weisen und individuelle Befindlichkeiten zu berücksichtigen. Es gibt keine all-gemeingültige einfache Lösung für Sicherheitsprobleme dieser Art. Es müssen neue und andere Strategien zur Risikobewältigung entwickelt werden. Diese Strategien müssen die Reaktionen der Betroffenen als individuelle Ganzheit be-rücksichtigen und an die Fallgegebenheiten gebunden sein.

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251

Kapitel 13

Literatur

[1] Festag, S. (2012). Systemsicherheit und menschlicher Faktor. Über das Versagen von Strategien zur Risikobewältigung. Dissertation, Bergische Universität Wuppertal – Abt. Sicherheitstechnik.

[2] Festag, S. & Hartwig, S. (2013). Sicherheitsprobleme durch die Vernachlässigung der Mitarbeiterreaktionen auf betriebliche Managementbeschlüsse. Technische Sicherheit, Band 3, Nr. 1 Januar/Februar, Springer Verlag, S. 17–22.

[3] Festag, S. (5/2014). Das Versagen von unangepassten Sicherheitsstrategien. Technische Sicherheit, Band 5, Nr. 5 – Mai, Springer Verlag, S. 51–55.

[4] Burkhardt, F. (1981). Information und Motivation zur Arbeitssicherheit. Wiesbaden: Universum Verlagsanstalt.

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Methodische Herausforderungen bei der Risikobeurteilung und deren Konsequenzen am Beispiel der Feuer-wehrbedarfsplanung

14

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Ing. Adrian Ridder, M.Sc., Bergische Universität Wuppertal, GfS, Deutschland

Für die Feuerwehrbedarfsplanung (synonym u. a. auch „Brandschutzbedarfs-planung“, „Gefahrenabwehrplanung“, „Bedarfs- und Entwicklungsplanung“) werden methodische Grundlagen zur Fundierung der Entscheidungen über die Frage benötigt, „wie viel Feuerwehr“ nötig ist für eine Kommune. Während historisch derartige Entscheidungen oftmals auf Grundlage von Erfahrungen und Intuition getroffen wurden, existieren aktuelle Entwicklungen hin zu softwaregestützten Algorithmen und datenbasierten Entscheidungsunterstüt-zungsmodellen. Es kann festgestellt werden, dass auch die Anwendung von ri-sikoanalytischen Verfahren zum Teil rechtlich verlangt wird (z. B. IM SA 2009, BRANDENBURG 2004:§3) und die Risikoanalyse als notwendige, „unabdingba-re Voraussetzung für die richtige Bedarfsplanung“ (AGBF BUND 1998; vgl. auch AK BSBP NRW 2001) betrachtet wird, man mithin erhofft, durch ihren Einsatz eine zielgerichtetere und genauere Bedarfsplanung erreichen zu können als bei einfacheren, gröberen Verfahren. In der Literatur findet sich eine Anzahl in- und ausländischer Methoden zur Risikoanalyse bei der Bedarfsplanung (z. B. AK BSBP NRW 2001, FAASCH 1972, SCHUBERT 2001:6, GRABSKI 2007, AG RISIKO-ANALYSE 2009, BBK 2010:15, LSTE, VAN DER SCHAAF & JEULINK 1992), gleich-wohl wird die Erkenntnis konstatiert, dass die für eine valide Risikoanalyse notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen fehlen (vgl. AK BSBP NRW 2001).

Basierend auf der Auswertung einer Vielzahl von Bedarfsplänen von über 30 Methoden zur Feuerwehrbedarfsplanung und von Einsatzdaten aus zwei Groß-städten, einem Landkreis sowie der ADAC-Luftrettung wurden nachfolgende Gedanken entwickelt, die einen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über die Bedarfsplanung am Beispiel der Feuerwehr darstellen.

14.1 Einführung

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Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwendeten Begrifflichkeiten werden an das Ursache-Wirkungs-Modell von (COMPES 1973) sowie internationale Nor-men angelehnt. Im Folgenden werden die Begriffe „Risiko“ und „Schutzziel“ kurz erläutert, da hier teils stark unterschiedliche Interpretationen existieren:

Grundsätzlich versteht man nach ISO 31000 unter Risiko ganz allgemein die Auswirkung von Ungewissheit 1 auf Ziele. Eine Auswirkung stellt dabei eine Abweichung von Erwartungen dar, während man unter „Ungewissheit“ den Zustand versteht, der sich aus dem gänzlichen oder teilweisen Fehlen von In-formationen oder Wissen über ein Ereignis, seine Auswirkung oder seine Wahr-scheinlichkeit ergibt. Diese Risiko-Definition wird konkretisiert durch die Er-kenntnis, dass Risiken häufig durch eine Kombination der Auswirkungen und der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses beschrieben werden können (ISO 31000:2009:1). Es bleibt festzuhalten, dass die oft verwendete Formel „Risiko ist Eintrittswahrscheinlichkeit multipliziert mit der Schadensschwere“ zumin-dest stark verkürzt, wenn nicht gar unkorrekt ist, da die Art des Zusammen-hangs von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensschwere nicht a priori für alle Anwendungsbereiche festlegbar ist.

Durch eine Veröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeu-erwehren in Deutschland wurde ein sog. „Schutzziel“ geprägt, das beschreibt, mit wie vielen Feuerwehrangehörigen in welcher Zeit in wie viel Prozent der Fälle die Feuerwehr vor Ort sein soll (vgl. AGBF BUND 1998:2). In der folgen-den Verwendung dieses Konzeptes entwickelten sich fast schon dogmatische

1 Nach dem ÖSTERREICHISCHEN NORMUNGSINSTITUT (ON) 2010 wird das im englischen Original verwendete Wort „uncertainty“ mit „Unsicherheit“ ins Deutsche übersetzt; dies ist als Antonym zu „Sicherheit“ im behandelten Kontext jedoch missverständlich. „Unge-wissheit“ beschreibt ausdrucksstärker den gemeinten Umstand, nämlich den Fakt, dass wichtige Informationen nicht vorliegen und somit „nicht gewusst“ werden. Im Folgen-den wird durchgängig „Ungewissheit“ für „uncertainty“ verwendet.

14.2 Begriffsmodell

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Kapitel 14.2

Tendenzen hinsichtlich der Unantastbarkeit dieses Konzeptes und der kon-kret definierten Zahlenwerte. Dazu ist anzumerken, dass im hier betrachteten Kontext der Begriff oft unkorrekt verwendet wird. Denn ein Schutzziel besteht nicht nur aus Erreichungsgrad, Funktionsstärke und Hilfsfrist, sondern im Bereich der Gefahrenabwehr ist ein Schutzziel der angestrebte Zustand eines Schutzguts, der bei einem Ereignis erhalten bleiben soll (vgl. z. B. BBK 2011). Somit beschreiben die o. g. drei Komponenten vielmehr „zur Schutzzielerrei-chung abgeleitete Maßnahmen“ und nicht das Schutzziel selbst. Das lautet nämlich gemäß unserem Wertemodell primär „körperliche Unversehrtheit der zu rettenden Personen“. Insofern kann einem Schutzziel auch keine „uneinge-schränkte Gültigkeit“ (KNORR 2012) (oder Ungültigkeit) attestiert werden, da es aufgrund unserer Rechtsordnung vorgegeben ist. Auch die zur Schutzzielerrei-chung abgeleiteten Maßnahmen können nicht gültig oder ungültig sein, da es hier keinen absoluten Maßstab geben kann und eine Festlegung des mittels die-ser Maßnahmen ausgedrückten Sicherheitsniveaus vor allem ein politisch-ge-sellschaftlicher Prozess ist, in dem eine – je nach örtlichen Gegebenheiten u. U. stark verschiedene – Akzeptanz oder Aversion des Risikos einer Personenschädi-gung zum Ausdruck kommt (vgl. RIDDER 2013:6). Ergo bleibt bei von der AGBF abweichenden Definitionen von „Planungszielen“ (so ein aus Sicht des Verfas-sers passenderer Begriff) das – moralisch aufgeladene – Schutzziel der Rettung von Menschen unangetastet und es werden vielmehr die zur Erreichung dieses Zieles vorgesehenen Maßnahmen angepasst.

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In verschiedenen Rechtsgrundlagen und bestehenden Methoden zur Bedarfs-planung wird gefordert bzw. postuliert, dass ein risikobasierter Ansatz verwen-det werden sollte. Die relevanten methodischen Hintergründe sind nachfol-gend kurz beschrieben.

Der Risikomanagement-Prozess gemäß ISO 31000 (siehe Bild 14.1) zeigt, dass der Hauptschritt „Risikobeurteilung“ den Prozess von der Risikoidentifikati-on über die Risikoanalyse bis hin zur Risikobewertung umfasst. Ein wichtiger Schritt ist die Risikoidentifikation, da nur Risiken, die in diesem Schritt erkannt werden, im späteren Verlauf Berücksichtigung finden. Dabei sollten möglichst viele Risiken und Risikokombinationen einschließlich ihrer Ursachen und Fol-gen erkannt werden. Die Risikoanalyse ist der Prozess zur Erfassung des Wesens eines Risikos und zur Bestimmung der Risikohöhe. Unter „Risikohöhe“ versteht man dabei das Ausmaß eines Risikos oder einer Kombination von Risiken, das als bestimmte Kombination von Auswirkungen und ihrer Wahrscheinlichkeit zum Ausdruck gebracht wird (ISO Guide 73:2009), (ISO 31000:2009). Die Risi-koanalyse soll somit Verständnis für Risiken schaffen, ein aussagekräftiges Sy-nonym könnte in dieser Hinsicht der Begriff der „Risikocharakterisierung“ sein (CRC 1996), (EUROPÄISCHE KOMMISSION 2000).

Basierend auf der Risikoanalyse wird im nächsten Schritt der Risikobewertung bewertet, ob die vorliegende Risikohöhe zu hoch oder akzeptabel ist, und ent-schieden, welche Risiken gemindert werden müssen und mit welcher Priorisie-rung dies geschehen soll. Übersteigt die Risikohöhe die Risiko-Akzeptanzkrite-rien, sind Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen (Risikobewältigung).

Der primäre Zweck von Risikoanalysen besteht darin, Entscheidungsträger für Entscheidungen über den Mitteleinsatz zu informieren und fundierte, sachge-rechte Entscheidungen zu ermöglichen (vgl. SCHUBERT 2001:3; ISO 31000:2009; EUROPÄISCHE KOMMISSION 2000). Ziel des Prozessschrittes der Risikoana-lyse ist es damit, eine potenziell gefährliche Situation so akkurat, genau und

14.3 Der risikobasierte Ansatz: Hintergründe und Stand der Technik

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Kapitel 14.3

Risiko: Stand der Technik

Risikobeurteilung

Kom

mun

ikat

ion

und

Kons

ulta

tion

Erstellen des Zusammenhanges

Risikobewältigung

Risikoidentifikation

Über

wac

hung

und

Übe

rprü

fung Wissenschaft

Datenerhebung /-analyse

Risikobewertung

Risikoanalyse Entscheider/Politik

Akzeptabel ja / nein

Bild 14.1: Risikomanagement-Prozess (nach ISO 31000:2009) entscheidungsrelevant wie möglich zu beschreiben, die signifikanten Sorgen der Stakeholder zu behandeln und die so gewonnene Information für die Öf-fentlichkeit und interessierte Kreise verständlich und zugänglich zu gestalten (CRC 1996:16). Das BBK hat diesen Sachverhalt wie folgt treffend beschrieben:

„Die Aufbereitung und Bereitstellung der Ergebnisse der Risikoanalyse für po-litische Entscheidungsträger und die Bevölkerung ist wichtiger Bestandteil des Risikomanagements. Denn während die Analyse der Risiken ein nüchterner, wissenschaftlicher Prozess ist, werden die Risikobewertung und die daraus fol-gende Abwägung und Auswahl von risikomindernden Maßnahmen in erhebli-chem Umfang von politischen und gesellschaftlichen Aspekten mitbestimmt. Hierzu muss ein entsprechender Dialog zwischen Fachbehörden, Wissenschaft, Politik und Bevölkerung stattfinden, wobei die erkannten Risiken ebenso zu kommunizieren sind wie Erkenntnislücken und Unsicherheiten“ (BBK 2010:46).

Ein solcher Dialog ist in der Anwendung der Feuerwehrbedarfsplanung in Deutschland erst im Entstehen begriffen und bedarf weiterer unterstützender Forschung.

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260

Von elementarer Bedeutung für Risikobeurteilungen ist die Frage, welches konkrete Risiko beurteilt werden soll. Je nach Anwendungsgebiet stehen unter-schiedliche Risiken zur Diskussion, z. B. das Gesundheitsrisiko aus dem Anbau von Genmais, das Ausfallrisiko eines Bauteils in einem Pkw oder das Brandto-desrisiko für Zivilisten u. v. m. Letzteres wird z. B. in einem ausländischen An-satz zur Feuerwehrbedarfsplanung in Form des Brandtodesrisikos der Bewoh-ner in Abhängigkeit des Gebäudetyps verwendet (VAN DER SCHAAF & JEULINK 1992). Andere Methoden der Feuerwehrbedarfsplanung versuchen ein „Risiko“ (das nicht weiter spezifiziert wird) zu beschreiben, mit dem fassbar gemacht werden soll, mit welcher Wahrscheinlichkeit Ereignisse auftreten und welches Ausmaß diese haben werden, um darauf basierend die Feuerwehr zu planen. Dazu werden bei der Gefahrenanalyse Zusammenhänge unterstellt zwischen einzelnen Faktoren der betrachteten Gebietskörperschaft und dem Risiko (Auf-treten und Ausmaß) von Ereignissen (z. B. bei den Verfahren nach SCHUBERT 2001, GRABSKI 2007 ausgehend von Einwohnerzahl, Art der Flächennutzung und Art der vorhandenen Objekte) oder es werden Szenario-Ereignisse gebil-det (z. B. BBK 2010:15, LSTE o.J.) und basierend darauf die Zuordnung in „Risi-kostufen/-klassen“ vorgenommen. Diese unterstellten Zusammenhänge sind bis dato hypothetisch und nicht validiert, d. h. es sind keine Forschungsarbeiten bekannt, die derartige Zusammenhänge bestätigen würden. Erste Ansätze zur Überprüfung einiger Hypothesen wurden von (HILDEBRAND 2013), (LANGER 2013) und (EDNER 2013) unter Anleitung des Verfassers angestellt.

Für den Szenarien-Ansatz existierten bis zur Arbeit von (SCHMID 2014) keine methodischen Ansätze dazu, wie Szenarien holistisch designt und vergleichbar angewendet werden können. Die Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit der erkannten Gefahren basiert zum einen auf der Schätzung subjektiver Wahr-scheinlichkeiten – im Gegensatz zur frequentistischen Wahrscheinlichkeit (vgl. BJERGA & FLAGE 2013:3198) –, zum anderen werden retrospektive Daten her-angezogen.

14.4 Relevante Risiken

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261

Kapitel 14.4

Der oben beschriebene tradierte Ansatz zur Feuerwehrbedarfsplanung ver-sucht, den klassischen Risiko-Ansatz von „Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schadensschwere“ umzusetzen. Um dabei jedoch weiter bestehende Ungewiss-heiten und Unzulänglichkeiten aufzudecken, kann die allgemeinere Definition des Risikos nach ISO 31000 („Risiko beschreibt die Auswirkung von Ungewiss-heit auf Ziele“) herangezogen werden. Versucht man, die Verfahrensweise ak-tueller Methoden für die Feuerwehrbedarfsplanung in Form der ISO-Definition zu beschreiben, ergibt sich Folgendes:

Ziel: Jede Zone (Dorf, Stadtteil o. Ä.) in die korrekte Risikoklasse einordnen und die entsprechende Bewältigungskapazität so definieren, dass alle dort erwar-teten Belastungen adäquat abgearbeitet werden können, d. h. für jedes dort als berücksichtigenswert betrachtete Ereignis eine ausreichende Bewältigungska-pazität zur Verfügung stellen.

Ungewissheiten: Zeitpunkt der Entstehung des Ereignisses, Art und Ausmaß des Ereignisses, notwendige Bewältigungskapazität zur Bewältigung des Ereig-nisses, Korrektheit der Zuordnung von Zone in Risikoklasse und von Risikoklas-se zu Bewältigungskapazität.

Auswirkungen (Abweichungen von den Erwartungen): mehr zeitgleiche Ereig-nisse als erwartet, nicht erwartetes Ereignis tritt auf, Art und Ausmaß des Er-eignisses anders bzw. größer als erwartet, größere Bewältigungskapazität not-wendig als erwartet.

Im tradierten Ansatz der Bedarfsplanung besteht unter Verwendung des ISO-Ri-sikobegriffs („Auswirkungen von Ungewissheit auf Ziele“) das Risiko also darin, dass die getroffenen Annahmen darüber, welche Risikoklassen zu definieren sind, welche Zone in welche Risikoklasse gehört und welche Bewältigungska-pazität für welche Risikoklasse nötig ist, nicht korrekt sind und somit nicht alle dort auftretenden Ereignisse bewältigt werden können. Anschaulich kann man von einem „Zuordnungsrisiko“ sprechen. Dieses Zuordnungsrisiko birgt kon-zeptionell eine hohe epistemische Ungewissheit (vgl. AGUIRRE 2013:3221).

Alternativ zum Zuordnungsrisiko lässt sich – ebenfalls gemäß ISO-Definition – ein „Überlastungsrisiko“ als das für die Feuerwehrbedarfsplanung relevante Risiko definieren, das geringere epistemische Ungewissheiten aufweist:

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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Ziel: bei Ereignissen in definierter Zeit effektiv Schaden minimieren.

Ungewissheiten: Ort des Ereignisses, Zeitpunkt der Entstehung des Ereignisses, Art und Ausmaß des Ereignisses, notwendige Bewältigungskapazität zur Be-wältigung des Ereignisses.

Auswirkungen (Abweichungen von diesen Erwartungen): Das Ziel kann aus verschiedenen Gründen nicht vollumfänglich erreicht werden. Also besäße im Anforderungs- bzw. Belastungsfall das System „Feuerwehr“ keine ausreichen-de Leistungsfähigkeit 1. Somit wäre hier von einem „Überlastungsrisiko“ für das System „Feuerwehr“ zu sprechen. Dieses lässt sich wie folgt definieren:

„Abweichung der tatsächlichen von den planerisch als erwartbar festgelegten Gefahren-Charakteristika (Ort, Zeit, Art, Ausmaß, notwendige Bewältigungs-kapazität), wodurch bei Ereignissen nicht mehr in definierter Zeit mit vorbe-stimmter Effektivität Schaden minimiert werden kann, die Leistungsfähigkeit der Feuerwehr also nicht ausreichend ist („Überlastungsfall“). Das Überlas-tungsrisiko lässt sich charakterisieren durch den im Überlastungsfall entste-henden Schaden und seine Eintrittswahrscheinlichkeit.“

Vom Begriff der „Überlastung“ ist die „Überforderung“ zu unterscheiden: Eine Überforderung liegt vor, wenn ganz allgemein die Belastung größer ist als die aktuelle Leistungsfähigkeit des Systems Feuerwehr. Im hier betrachteten Kon-text sind dabei drei Fälle zu unterscheiden: Es kommt zur Überforderung (siehe Bild 14.2) und die Leistungsfähigkeit der Feuerwehr liegt dabei:

1. unterhalb,

2. genau bei,

3. oberhalb

1 Oder eine zu große, denn definitionsgemäß beschreiben Risiken sowohl positive wie negative Abweichungen. Grundsätzlich kann man in praxi jedoch davon ausgehen, dass eher eine zu geringe Leistungsfähigkeit der typische und kritische Anwendungsfall ist.

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263

Kapitel 14.4

Leis

tung

sfäh

igke

it

Fall 1

Überlastung

Überforderung

Fall 3Fall 2

im Anforderungsfall notwendige Leistungsfähigkeit

Planerische Soll- Leistungsfähigkeit

Ist-Leistungsfähigkeit

Bild 14.2: Zur Unterscheidung von Überlastung und Überforderung

der planerischen Soll-Leistungsfähigkeit („Sicherheitsniveau“). Die Fälle 2 und 3 stellen dabei zwar eine Überforderung, jedoch keine „Überlastung“ im hier verwendeten Sinne dar, da die Feuerwehr ihre auftragsgemäße Leistungsfähig-keit erreicht oder sogar übertroffen und damit das geforderte Sicherheitsniveau gewährleistet hat. Eine „Überforderung“ in diesen Fällen wurde definitions-gemäß planerisch von den Entscheidungsträgern akzeptiert und als Restrisiko hingenommen.

Anders gestaltet sich Fall 1: Dies stellt sowohl eine Überforderung als auch eine Überlastung dar, da in diesem Fall das planerisch vorgesehene Sicherheitsni-veau nicht erreicht wurde.

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14.5 Beurteilung der Anwendbarkeit der Risikoanalyse zur Bedarfsplanung

14.5.1 Grenzen der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Risikoansatzes

Der risikobasierte Ansatz unterliegt wie jedes Konzept Einschränkungen und Grenzen hinsichtlich seiner grundsätzlichen Nutzbarkeit für unterschiedliche Anwendungen, wie eben auch der Feuerwehrbedarfsplanung.

Zum einen ist die „Uneindeutigkeit“ der Aussagen von Risikobetrachtungen zu nennen: Menschen erhoffen – besonders in Fragen technischen Risikos – klare, belastbare Aussagen. Risikobewertungen können jedoch systemimmanent eine solche „ glasklare“ Aussage mit scharfer Abgrenzung eines sicheren Bereichs vom unsicheren nicht liefern, sondern beinhalten immer Wahrscheinlichkeits-aussagen. Risikobewertungen wirken daher oftmals nicht überzeugend auf die Öffentlichkeit (SLOVIC 2002:313).

Außerdem bestehen auch in der Quantifizierung von Risiken Grenzen der An-wendbarkeit. Als grundsätzliche Probleme bei einer Nutzung des risikobasier-ten Ansatzes sind in der Literatur u. a. folgende Punkte bekannt (vgl. MEYNA 1982:166–168, CRC 1996:16):

1. Mangelndes Verständnis und Unvollständigkeit der Kenntnis von Ursäch-lichkeiten und Abhängigkeiten bei der Schadensentstehung.

2. Datenungewissheiten: Zum einen ist hier eine „unwahre“ Ermittlung der Ein-trittswahrscheinlichkeit zu nennen. Prospektiv, also in die Zukunft gerichtet, kann nur sehr grob und unter massiver Beeinflussung durch die subjektive Beurteilung des Analysierenden die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereig-nisse abgeschätzt werden, eine Quantifizierung ist kaum seriös leistbar (vgl. SCHUBERT 2001:8). Eine retrospektive (vergangenheitsbezogene) Erhebung von Eintrittshäufigkeiten liefert zwar für eingetretene Ereignisse realistische und objektive Daten; nicht eingetretene Ereignisse würden dadurch jedoch systematisch untergewichtet, da sie ja nicht stattgefunden haben und ihre

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Kapitel 14.5

Häufigkeit daher „null“ war (vgl. ebd.). Davon abgesehen ist grundsätzlich fragwürdig, inwiefern eine Extrapolation vergangenheitsbezogener Daten in die Zukunft statthaft ist. Hier gilt es, das Postulat von (KNIGHT 1921) zu be-achten, der feststellte, dass man im Bereich der statistischen Wahrscheinlich-keitslehre die „wahre“ Wahrscheinlichkeit nicht aus bestehenden Daten be-rechnen kann, sondern sie auf induktivem Wege aus der Untersuchung einer großen Anzahl von Fällen ableiten muss. Diese Einschränkung führt somit zu einer logischen Schwäche, da die Statistik somit bestenfalls eine Wahrschein-lichkeit davon angeben kann, was die wahre Wahrscheinlichkeit ist.

3. Die Datenbasis ist nicht immer vollständig, teils mit Streubereichen behaf-tet und oft liegen Daten nicht exakt für den thematisierten Anwendungsfall vor, weshalb man sich mit Daten von „ähnlichen“ Systemen bzw. Sachver-halten behilft.

Aus den vorgenannten Punkten resultiert eine große Streubreite bei den Ein-gangsdaten und damit beim ermittelten Risiko selbst. Die Aussagekraft von ermittelten Risikowerten ist somit begrenzt und mit einer bestimmten Streu-breite behaftet, die sich im optimalen Fall als Vertrauensbereich subjektiv quantifizieren lässt (vgl. MEYNA 1982:166–168).

Außerdem wohnt dem risikobasierten Ansatz die potenzielle Anwendungs-schwäche inne, dass in einem simplifizierten Ansatz das Produkt aus Scha-denseintrittswahrscheinlichkeit und Schadensschwere gebildet wird, was zu Fehlinterpretationen des Ergebnisses führen kann. Denn dabei kommt die Ver-wendbarkeit des Risikobegriff insbesondere bei seltenen Ereignissen wie Groß-schadenslagen an ihre Grenze, da Ereignisse mit häufigerem Auftreten, jedoch geringerem Schaden durch die Verrechnung als schwerwiegender bewertet werden. Sogenannte low-probability/high-impact-Ereignisse hingegen, wie sie Großschadenslagen und je nach Einsatzgebiet auch der klassische „kritische Wohnungsbrand“ (HILDEBRAND 6.2.13) darstellen, werden bei einer derarti-gen Betrachtungsweise unterbewertet, bagatellisiert und fallen oft, etwa aus Gründen der „Wahrung praktischer Vernunft“ oder aus „ökonomischen Erwä-gungsgründen“, aus der Betrachtung heraus (vgl. TALEB 2010, SHEFFI 2006, ZIO 2007). Die Existenz von derartigen kaum beseitigbaren Ungewissheiten bei der Betrachtung von Sicherheitsfragen ist schon länger erkannt (KNIGHT 1921) und rückt in jüngerer Vergangenheit wieder verstärkt in den Fokus (BOECKEL-MANN & MILDNER 2011), (RIDDER & BARTH 2012).

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14.5.2 Einschränkungen der Anwendbarkeit der Risikoanalyse für die Bedarfsplanung

Bei der Feuerwehrbedarfsplanung wird ein komplexes und kompliziertes Sys-tem (vgl. RENN et al. 2007:164–165) untersucht. Die bestehenden Ungewisshei-ten über die weitgehend noch unbekannten Wechselwirkungen innerhalb des Systems können dort auch mit viel Aufwand kaum reduziert werden, womit eine hohe epistemische Ungewissheit systemimmanent verbleibt, zusätzlich zur grundsätzlich nicht beseitigbaren aleatorischen Ungewissheit.

Zur Frage, ob die Methode der Risikoanalyse für die Feuerwehrbedarfsplanung angewendet werden kann, muss man sich vor Augen führen, worauf eine Risi-koanalyse grundsätzlich abzielt: Es wird versucht, ein Risiko zu ermitteln und zu hinterfragen, welche Ansatzpunkte zur Senkung seiner Auswirkungen und seiner Eintrittswahrscheinlichkeit bestehen (vgl. Zio 2007). Die Risikoanalyse thematisiert nicht, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn der mit dem Risiko abgeschätzte Schaden sich dann tatsächlich manifestiert und es zum Schadensereignis kommt. Dazu wäre eine direkte Ableitbarkeit der notwendi-gen Bewältigungskapazität aus dem ermittelten Risiko notwendig, wofür je-doch noch kein methodischer Zugang existiert.

Grundsätzlich erscheint der Ansatz einer Risikoanalyse zur Beplanung einer Feuerwehr zwar notwendig, um örtlich angepasste Lösungen zu finden und somit den gesetzlichen Auftrag der Kommunen für die feuerwehrliche Gefah-renabwehr zu erfüllen. Würden die örtlichen Bedingungen nicht berücksich-tigt, wäre eine einheitliche Standard-Feuerwehreinheit in einer bundesweit einheitlichen Hilfsfrist die logische Konsequenz; macht man sich die Folgen ei-nes solchen Ansatzes klar wird jedoch ersichtlich, dass eine solche Lösung nicht tragfähig wäre, da somit beispielsweise in einer Großstadt wie Berlin und in ei-nem 1000-Einwohner-Dorf die gleiche Feuerwehrleistungsfähigkeit notwendig wäre, was unangemessen erscheint. Jedoch ist die Planung einer solchen ange-passten „Versorgung“ mit Feuerwehrleistung nicht allein mit der Methode „Ri-sikoanalyse“ darstellbar, da keine unmittelbare Übersetzung von Risiko in not-wendigerweise vorzuhaltende Bewältigungskapazität möglich ist. Ein weiteres grundsätzliches Problem mit dem Risikoansatz besteht in der Notwendigkeit der Existenz von entsprechenden Risikoakzeptanzkriterien für die Bewertung von Risiken, die in Deutschland derzeit nicht existieren.

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Kapitel 14.5

Weiterhin ist das Paradoxon der Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlich-keit zu berücksichtigen: Einerseits ist mit dem Eintritt eines Ereignisses jeder Größenart jederzeit zu rechnen, andererseits kann aus praktischen und finanzi-ellen Gründen nicht überall für alle Ereignisse die notwendige Bewältigungska-pazität vorgeplant werden. Erfahrungsgemäß stellt sich der Status quo so dar, dass mit einem „Grundstock“ an Bewältigungskapazität eine große Bandbreite von Ereignissen abgedeckt werden kann („Grundschutz“). Darüber hinaus gibt es in erster Näherung eine zweite Bewältigungsstufe, für die zusätzliche Kapazi-täten vorgehalten werden (siehe Bild 14.3); wächst das Ereignis quantitativ an, wird es weiterhin mit den gleichen oder zusätzlichen Kapazitäten derselben Art abgearbeitet, ggf. ergänzt um Reserve-Einheiten o. Ä. (Szenario 5 in Bild 14.3). Für eine dritte Stufe (Szenario 6 in Bild 14.3) werden üblicherweise noch ge-sonderte Bewältigungskapazitäten vorgehalten, allen darüber hinausgehenden Szenarien und Ereignissen kann – wenn überhaupt – noch durch quantitative Verstärkung, jedoch nicht mehr qualitativ entgegengewirkt werden (der dar-gestellte Zusammenhang ist als hypothetisch zu betrachten, je nach örtlicher Feuerwehrorganisation können auch mehr oder weniger „Stufen“ vorliegen).

geso

nder

t vor

geha

ltene

Bew

ältig

ungs

kapa

zitä

t

BewältigungsaufwandSz = SzenarioSz 1 = PapierkorbbrandSz 2 = ZimmerbrandSz 3 = krit. Wohnungsbrand

Sz 4 = FabrikgebäudebrandSz 5 = FabrikvollbrandSz 6 = Fabrikvollbrand mit

gefährlichen Stoffen

Sz 1 Sz 2 Sz 3 Sz 4 Sz 5 Sz 6

HLF

ELW 3ErkKwDekon

Bild 14.3: Schematische Darstellung der gesondert vorgehaltenen Bewältigungskapazität

über Szenarien mit steigendem Bewältigungsaufwand

WerferDLKGTLFSW

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Ein solcher mehrstufiger Ansatz scheint sich in der Vergangenheit als zweckmä-ßig erwiesen zu haben zum Umgang mit dem Eintrittswahrscheinlichkeit-Pa-radoxon. Entgegen anderer Meinungen aus der Literatur, die die Berücksich-tigung von Eintrittswahrscheinlichkeiten für diesen Bereich als „nicht seriös“ bezeichnen und die jederzeitige Eintrittsmöglichkeit aller Ereignisse betonen (vgl. z. B. IM HESSEN 2000:4), scheint diese Größe dennoch berücksichtigens-wert zu sein. Zwar gilt es dabei, Effekte wie die Schwankungen der Häufigkeiten über Jahre hinweg zu berücksichtigen. Zur praktischen Handhabung wird oft-mals eine Mittelwertbildung vorgenommen. Dabei ist jedoch zu berücksichti-gen, dass viele Risiken zeitlich nicht konstant sind und unterschiedliche (z. B. ansteigende und abfallende) Trends bestehen können, die bei Mittelwertbil-dung u. U. unterdrückt werden (vgl. FRITZSCHE 1992:28). Jedoch sind kurzfris-tige Voraussagen (nicht mehr als ein Jahr in die Zukunft) möglich auf Grundlage der Analyse von vergangenen Daten und deren Extrapolation; eine weiter ge-hende Vorhersage ist jedoch nicht möglich, da nur extrapoliert wird und keine Kenntnis über Kausalitäten vorhanden ist (vgl. CHAIKEN & ROLPH 1971:14). Bei solchen Betrachtungen können auch generelle Häufigkeitsindikatoren zugrun-de gelegt werden, wie z. B. die Anzahl an Notrufen, Verletzten und Einsätzen in bestimmten Gebieten, da durch diese Häufigkeiten eine rein quantitative Bean-spruchung der Feuerwehr vorliegt, der Rechnung getragen werden muss.

Gleichzeitig kann die Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse jedoch nicht alleinig ausschlaggebend sein für die Frage, ob für ein Ereignis Bewälti-gungskapazität vorgehalten werden sollte oder nicht; bei Anwendung der Risi-koanalyse nach der „reinen“ Lehre besteht sonst die Gefahr, dass durch die Über-gewichtung der Eintrittswahrscheinlichkeit gegenüber der Schadensschwere die Feuerwehr keine Bewältigungskapazität vorhalten würde, da das Ereignis ja „zu selten“ wäre. Hier ist jedoch der Vorhaltungscharakter der Gefahrenabwehr zu betonen, denn die Feuerwehr ist in dieser Hinsicht quasi die letzte Rückfalle-bene; hier nicht vorgehaltene Ressourcen werden (mit einigen Ausnahmen im Katastrophenschutz) auch von niemandem sonst vorgehalten, womit potenziell schwere Gefahrenlagen nicht mehr adäquat angegangen werden könnten.

Insofern erscheint die Verknüpfung der Methodiken von Gefahren- und Risiko-analyse sinnfällig, da bei der Gefahrenanalyse auch seltene Ereignisse vollum-fänglich in die Betrachtungen mit einbezogen werden (vgl. auch SCHUBERT 2001:10–11).

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Wie oben schon beschrieben ist die Frage relevant, ab wann ein Risiko „klein ge-nug“ ist, um den damit behafteten Sachverhalt als „sicher“ betrachten zu kön-nen. Dazu wurden Prinzipien zur Risikoakzeptanz entwickelt wie die Reduk-tion des Risikos auf ein „As Low As Reasonably Practical/Possible“-(ALARP-)Level oder die Anlehnung des akzeptierten Risikos an die „minimale endogene Mortalität“ (MEM) (EN 50126).

Allgemein akzeptierte Risikokriterien sind in Deutschland derzeit nicht vorhan-den, sei es für Bereiche wie Anlagensicherheit (vgl. STEPHAN U. A. 2013:1264) als auch für die Feuerwehrbedarfsplanung. Im Ausland existieren in anderen technischen Bereichen allgemeine Akzeptanzkriterien in Form von akzeptier-ten Todesfallwahrscheinlichkeiten (10−y Tote pro Person und Jahr, z. B. in HE-ALTH AND SAFETY EXECUTIVE 2001), diese können aber nicht einfach über-nommen werden, da Risikoakzeptanz eine Frage der zugrunde gelegten Werte und Moralvorstellungen ist und somit eine politisch-gesellschaftliche Entschei-dung, keine risikowissenschaftliche. Die Frage der Risikoakzeptanz muss darü-ber hinaus weiter gefasst werden. Risikoanalytisch begründeten Entscheidun-gen ist inhärent, dass ein wie auch immer geartetes Risiko schlussendlich als nicht weiter reduzierbar akzeptiert werden muss. Bis dato herrscht in der Dis-kussion über die Feuerwehrbedarfsplanung jedoch ein sicherheitsorientierter Ansatz vor, d. h. es wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich die Sicherheit aller Beteiligten gewährleistet wird, also „immer jeder“ gerettet werden kann. Zwar ist den beteiligten Entscheidern vermutlich bewusst, dass dies faktisch nicht möglich ist. Eingang in die relevanten Planungsgrundlagen hat dieses Be-wusstsein jedoch bis dato noch nicht gefunden (bzw. nur implizit in Form von sog. Erreichungsgraden), da andernfalls bereits beispielsweise darüber disku-tiert worden wäre, wie viele Brandtote in Deutschland pro Jahr akzeptabel sind, in wie vielen Fällen es akzeptabel wäre, wenn die Feuerwehr nicht rechtzeitig eintrifft, oder wie oft es akzeptabel ist, dass sie nicht in ausreichender Bewälti-gungskapazität vor Ort wäre.

14.6 Risikoakzeptanz

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Weitere relevante Prinzipien zur Risikoakzeptanz sind das Prinzip des „de mi-nimis“-Risikos (ARNDT 2011) und das sog. „Vorsorgeprinzip“ (ARNDT 16.5.11, Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000).

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass politisch verantwortet werden muss, was ein „zumutbares Risiko“ ist und welche Risiken „zu hoch“ sind. Die politi-sche Verantwortlichkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass aufgrund der Natur des Risikobegriffs wissenschaftlich keine „absoluten“ und „festen“ Vorgaben darüber ermittelt werden können, was „sicher“ ist und was nicht. Die dennoch zu treffende Entscheidung muss ethisch-moralisch bewertet werden, was nicht der Anwendungsbereich der ingenieursmäßigen Betrachtung ist. Vielmehr müssen die Politiker als Volksvertreter diese Entscheidung unter Wahrung je-weiliger gesellschaftlicher Konventionen und Konsense treffen (vgl. auch EU-ROPÄISCHE KOMMISSION 2000:4). Dies gilt für den grundsätzlichen Umgang mit Risiken genauso wie für die Feuerwehrbedarfsplanung, wie z. B. in (LSTE o. J.) zum Ausdruck gebracht:

„Das angestrebte Sicherheitsniveau ist eine Entscheidung des kommunalen Aufgabenträgers. Die Willensbildung und der Beschluss dieses Sicherheitsni-veaus erfolgen durch die gewählten Mandatsträger und führen zu einer Selbst-bindung.“

14.6.1 Definition von Überlastungsrisiko-Akzeptanzkriterien

Auch für das beschriebene Überlastungsrisikos müssen Risikoakzeptanzkrite-rien definiert werden. Jede Überschreitung dieser Kriterien stellt einen Über-lastungsfall dar und wird zur Berechnung dessen Eintrittswahrscheinlichkeit verwendet. Dazu ist zu klären, was jeweils unter „definierter Zeit“ sowie unter „vorbestimmter Effektivität“ der Schadensminimierung zu verstehen ist. Der aus Sicht der Schadensentstehung wichtigste Parameter ist dabei die notwendi-ge Effektivität, also die Frage, wie der Sollzustand aussehen soll; entsprechende zeitliche Festlegungen lassen sich dem unterordnen. Je nach Level der örtlich zu definierenden Risikoakzeptanz können unterschiedliche akzeptable Soll-zustände definiert werden, unterteilt nach Sach- und Personenschaden. Diese lassen sich anhand von verschiedenen Parametern unterschiedlicher Ausprä-gungsoptionen matrizenhaft beschreiben (s. folgende Tabelle).

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Kapitel 14.6

So muss grundsätzlich der Zeitraum definiert werden, in dem die Einhaltung der Akzeptanzkriterien geprüft werden soll; eine Möglichkeit ist die Vorgabe, dass Personen- und Sachschaden während des gesamten Ereignisverlaufes un-terhalb der Risikoakzeptanzkriterien bleiben sollen. Das ist insofern das stren-gere Kriterium, da diese Maßgabe nur Sinn macht, wenn sie mit Anforderun-gen an die Eintreff- und Entwicklungszeit verknüpft wird, denn nur so kann die Feuerwehr darauf Einfluss nehmen. Bei der anderen Vorgabe würde sich die Feuerwehr auf ihren unmittelbaren Einflussbereich beschränken, indem nur die Zeit ihrer Anwesenheit an der Einsatzstelle zur Betrachtungsgrundlage er-klärt würde.

Parameter Mögliche Ausprägungsoptionen

Personenschaden:

Betrachtungszeitraum gesamte Ereignisdauer nach Einsatzbereitschaft der Fw an der Einsatzstelle

Anzahl der Betroffenen 1 n

Schadensschwere 1 verletzt tot

Bezugsgröße pro Ereignis pro Zeitraum (z. B. 1 a)

Sachschaden 2:

Betrachtungszeitraum gesamte Ereignisdauer nach Einsatzbereitschaft der Fw an der Einsatzstelle

Unvermeidbare 3 Scha-densausweitung über Ausgangsstelle hinaus

keine Brandraum, Brandwohnung, Brandetage/-gebäude, andere Bereiche

Grad der Schädigung oberflächlich, beseitigbar vollständig, irreparabel

Bezugsgröße pro Ereignis pro Zeitraum 4

1 Detailliertere Abstufungen, z. B. mit Unterscheidung reversibler/irreversibler Verletzungen sind denkbar, erscheinen jedoch wenig praktikabel in der Umsetzung.

2 Monetäre Schadenskategorien sind erfahrungsgemäß seitens der Feuerwehr kaum zu erfassen und würden reine Schätzwerte darstellen, die kaum valide wären.

3 U. U. ist eine Ausweitung des Sachschadens unvermeidlich, z. B. durch Abnehmen des Daches bei der TH, um die Rettung zu ermöglichen.

4 Dann jeweils mit Angabe der zulässigen prozentualen Anteile, z. B. „in nicht mehr als 30 % der Ereignisse Schadensausweitung auf die Brandwohnung nach Eintreffen der Feuerwehr“.

Tabelle 14.1: Parameter für Risikoakzeptanzkriterien

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Weiterhin müsste postuliert werden, wie viele Betroffene welcher Schadens-schwere als akzeptabel betrachtet werden, also z. B. fünf Tote pro Jahr oder zwei Verletzte pro Einsatz. Als ergänzender Indikator könnte der Anteil der tatsäch-lich geretteten von den gefährdeten Personen ermittelt werden, der genaue-re Aussagen über die Leistungsfähigkeit der Feuerwehr zulässt (vgl. RIDDER, KIßLINGER & BARTH 2014).

Im Bereich des Sachschadens ist zu den grundlegenden Parametern zu ergän-zen, welche Schadensausweitung über die Ausgangsstelle hinaus akzeptiert wird, detailliert durch die Angabe des jeweiligen Schädigungsgrades pro ge-schädigtem Bereich/Gegenstand.

Einschlägige statistische Erfahrungswerte in Abhängigkeit der Eintreffzeit vor-ausgesetzt, lässt sich aus den gewählten Risikoakzeptanzkriterien unmittelbar ableiten, welche Eintreffzeiten als akzeptabel betrachtet werden können.

14.6.2 Risikoakzeptanzkriterien als Qualitätsindikatoren

Die so definierten Risikoakzeptanzkriterien können unmittelbar auch als Qua-litätsindikatoren verwendet werden; gegenüber tradierten Konzepten wie z. B. (AGBF BUND 1998) stellt diese Vorgehensweise insofern einen Paradigmen-wechsel dar, als dass keine Input-, sondern eine Output-orientierte Betrach-tungsweise verwendet wird. Denn statt zu messen, wie schnell wie viele Funk-tionen in welchem Anteil der Fälle vor Ort waren (ohne Berücksichtigung des Einsatzverlaufes und -erfolges i. S. v. Outcomes), wird gemessen, wie gut die gesetzten Ziele erreicht wurden, in erster Näherung unabhängig von den einge-setzten Ressourcen.

Die dazu notwendigen Daten werden in heutigen fortschrittlichen Berichtswe-sen-Systemen von Feuerwehren schon erhoben, müssten ggf. zusätzlich detail-liert werden und eine gleichbleibend hohe Güte der berichteten Daten durch Optimierung des Erfassungsprozesses sollte sichergestellt werden.

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14.7 Fazit

Die Berücksichtigung von Risiken bei der Feuerwehrbedarfsplanung sollte sich von einer intuitiven, erfahrungsbasierten Sichtweise der Feuerwehrpraktiker hin zu einem informierten Umgang mit Entscheidungsalternativen durch die politischen Mandatsträger entwickeln. Vor allem diesen Entscheidungsträgern muss seitens der Fachleute (Feuerwehrangehörige und Sicherheitswissen-schaftler) methodische Hilfestellung zur Entwicklung einer „Risikokompetenz“ gegeben werden.

Die Risikobeurteilung ist kein isoliert zu betrachtendes methodisches Werk-zeug, sondern einzubetten in einen umfänglichen Risikomanagement-Prozess; vor allem entsprechende Risikoakzeptanzkriterien sind vorzugeben. Risiken existieren nicht „da draußen“ und warten darauf, gemessen zu werden. Ob-wohl diese Gefahren real sind, gibt es kein „reales Risiko“ oder „objektives Ri-siko“ (SLOVIC 2002). Immer bedarf es der Interpretation durch den Bewerten-den, um eine Aussage darüber treffen zu können, ob eine Situation „sicher“ ist bzw. ob ihr ein „akzeptables“ Risiko innewohnt, oder ob das Risiko „zu hoch“ ist. Diese Einschätzung ist somit immer relativ, hängt stark von den kulturellen und gesellschaftlichen Normen und sonst üblichen Sicherheitsniveaus ab und kann daher stark schwanken. Sie darf somit nicht als absolute, „harte“ Grenze betrachtet werden, die quasi naturgesetzliche Geltungskraft hätte.

Für eine alleinige Anwendung der Risikobeurteilung als Planungsmethodik bestehen zu viele Anwendungsgrenzen, weshalb eine auf den Untersuchungs-gegenstand angepasste Methodik zur Risikobeurteilung nötig ist. Eine Bedarfs-planung ganz ohne Berücksichtigung von „Risiko“ (Eintrittswahrscheinlichkeit & Schadensschwere) ist nicht machbar. Eine Bedarfsplanung ist jedoch aktuell auch nicht rein risikobasiert machbar, sondern muss – aufbauend auf einer Ge-fahrenanalyse – ergänzt werden um den Ansatz des Bewältigungsaufwandes und der Bewältigungskapazität sowie den szenariobasierten Ansatz.

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Weitere Forschungen sind nötig zur Verbesserung des methodischen Zugangs und zur Erhebung statistischer Grunddaten. Nur so kann der Übergang von der intuitiven, subjektiven Einschätzung von Risiken hin zu einem analytisch fun-dierten und von den verantwortlichen Stellen getragenen, bewussten Umgang mit Risiken gelingen.

Danksagung

Das diesem Bericht zugrunde liegende Forschungsvorhaben „TIBRO – Innovative Sicherheitsarchitektur der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr“ wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förder-kennzeichen 13N12174 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt liegt beim Autor.

Literatur

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Aguirre, Felipe, u. a. 2013. On the distinction between aleatory and epistemic uncertainty and its implications on reliability and risk analysis, in Steenber-gen, Raphael D., u. a. (Hg.): Safety, Reliability and Risk Management: Beyond the Horizon: ESREL 2013. London: Taylor & Francis Group Ltd, 3221–3227.

Arbeitskreis Brandschutzbedarfsplan NRW (AK BSBP NRW) 2001. Hinweise und Empfehlungen für die Anfertigung von Brandschutzbedarfsplänen für die Gemeinden des Landes Nordrhein-Westfalen.

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Kapitel 14

Arndt, Volker 16.5.11. Methoden der Schwachstellen- und Risikoanalyse. Frankfurt am Main.

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Kapitel 14

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Ansätze zur Vermittlungvon Risikokompetenz

15

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15.1 Risiken und ihre Rolle im System Mensch – Technik – Gesellschaft

Prof. Dr. Dr. Juraj Sinay; Technische Universität in Kosice, GfS, Slowakische Republik

„Safety first – Sicherheit an erster Stelle“ – „Vision Zero – Vision der Nullzahl von Unfällen“, dies sind Gedanken, die in der Gegenwart auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens eine absolute Priorität haben. In der Zeit, in der sich die Gesellschaft um eine komplexe Beurteilung der Sicherheit des Systems Mensch – Technik – Gesellschaft bemüht, steht dieser Gedanke in Bezug nicht nur zur klassischen Sicherheit und zum Arbeits- und Gesundheitsschutz oder der Sicherheit von Maschinen und Maschinensystemen, sondern auch in Bezug zum Bevölkerungsschutz. Die Erfahrung sowie die gesellschaftliche und tech-nologische Entwicklung haben bestätigt, dass es unter gegenwärtigen Bedin-gungen des Gesellschaftszustandes nicht möglich ist, die Rolle des Menschen zu ersetzen, und dass die Schnittstelle Mensch – Technik – Gesellschaft ständig aktuell bleibt.

Das Risikomanagement kann als Integration einzelner Gebiete wahrgenommen werden, deren Ziel ist, die Sicherheit im System Mensch – Technik – Gesell-schaft zu gewähren. Daraus kann abgeleitet werden, dass das Risikomanage-ment den Bestandteil der Wissenschaft über die Sicherheit bildet. Noch vor einigen Jahren behaupteten die Experten, dass die Sicherheitstechnik in die Gruppe der technischen Wissenszweige gehöre. Es wurde vorausgesetzt, dass sich die Automatisierung in den meisten Bereichen der Technik schnell durch-setzen wird, wodurch sich der menschliche Faktor in einem wesentlich kleine-ren Maße an der Entstehung der negativen Erscheinungen in der Technik sowie im Rahmen der gesellschaftlichen Beziehungen beteiligen wird. Die Entwick-lung der Technik auch als Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens bestätigte eindeutig, dass es eine Menge Gebiete gibt, in denen man die Rolle des Men-schen nicht ersetzen kann.

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Die Risiken in einer modernen Industriegesellschaft sind von einer Menge Fak-toren abhängig, die oft nicht Gegenstand der gegenwärtigen wissenschaftlichen und technischen Bereiche sind – es handelt sich um neue und neu entstehende Risiken. Die Sicherheitstechnik und damit auch die Systeme der Risikosteuerung entwickeln Methoden und Verfahren so, dass es möglich ist, den Einfluss mög-lichst komplex – also aus allen Bereichen – zu berücksichtigen, die an der Risi-koentstehung beteiligt sind. Der Fachmann auf dem Gebiet der Sicherheit und des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, in der Sicherheit von technischen Syste-men, aber auch auf dem Gebiet des Bevölkerungsschutzes sollte Kenntnisse und Erfahrungen bzw. Fertigkeiten eines Maschinenbauers, Elektrikers, Physikers, Chemikers, Psychologen, Soziologen, Arztes eventuell anderer Fachleute in sich integrieren. Selbstverständlich können weder ein einzelner Mensch noch eine kleine Gruppe von Fachleuten in der Lage sein, so eine umfangreiche Datenba-sis von Informationen zu gewinnen, diese auszuwerten und sie nachher entspre-chend einzusetzen. Deshalb wird von einem qualifizierten Fachmann im Bereich der Sicherheit gefordert, dass er sich durch die Fähigkeit auszeichnet, neue In-formationen aufzunehmen, diese zu sortieren, ihre Wichtigkeit und Bedeutung zu beurteilen und nachfolgend Bedingungen für die Teamarbeit zu schaffen. Die Bedingung dazu ist, dass alle legislativen Vorschriften, ob auf der Ebene der Euro-päischen Union z. B. die Richtlinien 391/89/ES oder 42/2006/ES, die anspruchs-vollen Bedingungen definieren, die an die Integration der Anforderungen der Si-cherheit in eigene Produkte bzw. Produktionstechnologien gestellt sind.

Die Tätigkeiten im Rahmen des Risikomanagements erfordern die Kenntnis von komplizierten (mehrparametrischen) Beziehungen zwischen der Technik (Ma-schinen und Maschinensysteme), der Arbeitsorganisation und dem Humanfak-tor (Bedienung, Beschäftigte). Die Intensität dieser Tätigkeiten wird durch die Bedürfnisse der Gesellschaftssysteme, durch die Entwicklungsstufe und das Niveau der vorhandenen Erkenntnisse als auch durch Forschungsergebnisse im Bereich der Risiken bestimmt.

Neue Einstellungen im Rahmen des Sicherheitsmanagements erfordern in all ihren Formen, dass sich jeder Mensch der Risiken bewusst wird, mit denen er am Arbeitsplatz wie auch im täglichen Leben umgehen muss. Es ist auch in die-ser Phase wichtig, in der der Mensch der Gestalter von Gegenständen (z. B. Ma-schinen, Maschinensysteme, Arbeitsplätze) zur Nutzung in unterschiedlichen Industrietechnologien ist, d. h. er hat die Möglichkeit, die Risiken schon am An-fang ihres technischen Lebens zu beeinflussen.

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Kapitel 15.1

In diesem Zusammenhang ist das Zitat von Prof. Henning Kagermann aus dem DE Magazin Deutschland 4/2013 angebracht, wo er im Artikel „Eine Vision für die Wirtschaft von morgen“ auf Seite 31 anführte: „Auf technischer Ebene ist entscheidend, Sicherheit als Konstruktionsprinzip – Security by design – zu etablieren.“

Zur Sicherung der Bedingungen einer sicheren Arbeit ist die Anwendung von effektiven Vorbeugungsmaßnahmen mit dem Ziel notwendig, dem humanen Faktor auf dem Arbeitsplatz eine intensive Aufmerksamkeit zu widmen. In die-sem Zusammenhang ist es die Pflicht des Maschinen- und des Maschinensys-tembenutzers, die Risiken am Arbeitsplatz zu identifizieren und Maßnahmen zu ihrer Abschaffung bzw. Minimierung zu treffen und damit die Bedingungen zum Einsatz wirksamer Vorbeugungsmaßnahmen zu schaffen. Die Fähigkeit, diese Maßnahmen zu realisieren, erfordert eine multidisziplinäre Einstellung, was wiederum die Einführung der Systeme zur Ausbildung der Fachleute vor-aussetzt, um angemessene Kompetenzen zu gewinnen.

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Ungefähr seit 1990 wird in den Fachkreisen von der Kompetenz als Qualifizie-rung der Fachleute gesprochen. Die Qualifizierung wird als Voraussetzung zur Durchführung bestimmter Tätigkeiten erforderlich. Dies ist dadurch gegeben, dass sie vor allem die Erfüllung der definierten Bedingungen zur Durchführung der Tätigkeiten im Rahmen eines konkreten Tätigkeitsgebietes umfasst, die an die persönlichen Voraussetzungen gebunden sind. Die Kompetenzen werden im Allgemeinen nicht auf konkrete Berufe oder Tätigkeiten bezogen, sondern mehr auf allgemeine Fähigkeiten (Veranlagungen) des Menschen zur Bewäl-tigung wichtiger Anforderungen, die aus dem Charakter der Applikation von effektiven Vorbeugungsmaßnahmen hervorgehen. Sie richten sich nicht nur auf theoretische, im Ausbildungsprozess erworbene Erkenntnisse, sondern die erworbenen Erfahrungen werden berücksichtigt. Der Begriff „Schlüsselqualifi-kationen“ wird manchmal als Synonym zum Begriff „Kompetenz“ verwendet.

Die Kompetenz schließt Erfahrungen, Fertigkeiten, Kenntnisse als Bestandteil der Qualifikation, Erkenntnisse und Kommunikationsfähigkeiten mit ein. Eine der entscheidenden Kompetenzen ist die sog. Fachkompetenz oder Kompetenz in einem Fachbereich.

15.2.1 Kompetenzen im Rahmen des Risikomanagements

Die Kompetenzen für das Gebiet der Risikosteuerung schließen ein(siehe Bild 15.1):

• Kenntnisse (Erkenntnisse) in verschiedenen Wissensbereichen und ihre ko-ordinierte Nutzung in einzelnen Gebieten als Bestandteil einer komplexen Risikobeurteilung,

• praktische Erfahrungen und Fertigkeiten im Bereich der Applikation von Risikomanagementsystemen, erworben während konkreter Tätigkeiten der Maschinen und Maschinensysteme.

15.2 Kompetenz und Qualifikationen

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Kapitel 15.2

• Weder Sicherheit, noch Risiken kennen Staatsgrenzen – sie sind Bestandteil der globalisierten Arbeitsmärkte.

• Existenz des europäischen Ausbildungs- und Forschungsraumes und seine Tätigkeit in den Strukturen in der Welt,

• Identifizieren der minimalen Anforderungen auf den Kompetenzkern, die die Basis zur Schaffung eines Pakets von geforderten Kenntnissen in Form ei-ner Ausbildungsgrundlage bilden müssen – dieses Paket muss Grundanfor-derungen enthalten, die aus der europäischen Legislatur unter den EU-Be-dingungen sowie aus den nationalen Legislaturvorschriften hervorgehen.

Kompetenzen fürSafety & Security

PraxisErfahrung

FähigkeitenSprachen

ÖffentlichesGesundheitswesen

Erste Hilfe

Natur- wissenschaftenN MathematikN PhysikN ChemieN BiologieN AstronomieN UmweltthemenN ÖkologieN Meteorologie

Technische WissenschaftenN BauwesenN ElektrotechnikN AutomatisierungN MaschinenbauN WerkstofftechnikN BiotechnikN UmwelttechnikN Nanotechnologie

Sozial- wissenschaftenN PsychologieN WirtschaftN PädagogieN SoziologieN RechtN KommunikationN Politologie

Informations- wissenschaftenN InformatikN Informations-

technologieN Kommunikations-

technologieN SoftwareN HardwareN Kommunikations-

mittel

Wissen / Kenntnisse

Bild 15.1: Definieren der Kompetenzbestandteile für das Gebiet Safety wie auch Security

• Möglichkeit der Bildung von internationalen Ausbildungsnetzen, die die Bedingungen der nationalen Ausbildungssysteme in allen ihren Formen be-rücksichtigen,

• Nutzung des Feedbacks zwischen dem Gestalter bzw. Konstrukteur und dem Benutzer von Maschinen und Maschinensystemen und ihren Gestaltern laut Bild 15.2,

• aktive Tätigkeit im Rahmen des Transfers von Erkenntnissen.

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

286

Informationen, die von dem Designer zugeführt werdenüber

R E S T R I S I K E N

für Maschinen- und Maschinensystemen-Benutzer

erwartet

vorgeschlagenen Maßnahmen, um sie durch den Benutzer zu minimieren

A

Informationen, die Benutzer bietenüber

R E S T R I S I K E N

in der Rückkopplungfür Maschinen- und Maschinensystemen-Bauer

reale Risiken

B

Bild 15.2: Kommunikationen zwischen den Akteuren der Nutzung von Maschinen und Maschinensystemen

Die Fachleute im Bereich der Risikosteuerung und damit auch im Rahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes nutzen ihre Kompetenzen vor allem auf die-sen Gebieten: 1. Risikosteuerung (Arbeits- und Gesundheitsschutz) innerhalb der Gesell-

schaft bzw. des Betriebes, in Übereinstimmung mit der gültigen Legislative im Einverständnis mit den Prinzipien der Firmenkultur,

2. Gewährung eines aktiven Gesundheitsschutzes aller Menschen in Zusammen-arbeit mit dem Topmanagement der Firma, mit den Topmanagern und in Zu-sammenarbeit mit den nationalen Autoritäten für das Gebiet des Arbeits- und

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Kapitel 15.2

Gesundheitsschutzes mit dem Ziel, Gefahren, Gefährdungen, Risikobeurtei-lung auf verschiedenen Tätigkeitsgebieten im Rahmen des Unternehmens zu identifizieren,

3. Risikoabschaffung und -minimierung als Bestandteil effektiver Vorbeu-gungsmaßnahmen.

15.2.2 Aufgaben- und Kompetenzstellung

Die Verantwortungs- und Aufgabengebiete der leitenden Mitarbeiter im Be-reich der Arbeitssicherheit sowie die geforderten Kompetenzen müssen genau festgelegt werden. Dies gilt auch für die Entscheidungsbereiche. Es handelt sich dabei um folgende Anforderungen:

• Die leitenden Mitarbeiter kennen ihre Pflichten auf dem Gebiet des Sicher-heits- und des Gesundheitsschutzes.

• Die Pflichten des Arbeitgebers werden schriftlich formuliert und an die Fach-leute für Risikosteuerung in der Firma delegiert.

• Die Aufgaben aller Akteure im Risikomanagementsystem sind gegenseitig abgestimmt und so definiert, dass sie genug Zeit zu ihrer Realisierung zur Verfügung haben.

• Die Kompetenzen der leitenden Mitarbeiter sind genau definiert.• Form und Inhalt der Vertretbarkeit sind gewahrt.

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Die Kompetenz eines Fachmanns muss von seinen Fachkenntnissen ausgehen. Nur in diesem Falle kann er Partner von Fachleuten in der Etappe des Planens und Konstruierens, des Ankaufs, des Entwurfes von geeigneten technologi-schen und logistischen Prozessen, der Auswahl der passenden Materialien, der Herstellung, des Prüfens und der Wahl der Strategie der Instandhaltung sowie bei der Realisierung verschiedener Ausbildungsgebiete sein.

Das rechtzeitige Identifizieren von komplexen Beziehungen ist das Wesen des Definierens der Risiken und Voraussetzung für Entscheidungsprozesse der Top-manager vor, während und nach einer negativen Erscheinung (Krise). Deshalb müssen auf dem Gebiet der Ausbildung solche Bedingungen geschaffen wer-den, dass die leitenden Fachleute im Bereich der Sicherheit (Risikosteuerung) nicht nur Fachkenntnisse gewinnen, sondern auch Fähigkeiten, alle Tätigkeiten im Rahmen der Vorbeugungsmaßnahmen zu leiten.

Einige der Module zur Gewinnung von Kompetenzen im Rahmen der Risiko-steuerung können folgenderweise definiert werden (siehe Bild 15.3):

• Identifizierung von Risiken – multidisziplinäre Einstellung,• Risikoanalyse und -abschätzung – Verknüpfung der naturwissenschaftlichen

(mathematische Statistik) und der technischen Einstellung,• Methodenapplikation zur Risikominimierung – Vorbeugung – in Form der

multidisziplinären Einstellung,• Training und Ausbildung unter Berücksichtigung des juristischen Rahmens,• Management der kritischen Situationen – Erfahrungen und Fertigkeiten im

Rahmen der Risikosteuerung unter den Bedingungen der Industriepraxis,• effektive Kommunikation (Arbeit mit Öffentlichkeit, Vermittlung von Infor-

mationen über den Risikoeinfluss in der Gesellschaft).

15.3 Ausbildung als Bestandteil des Erwerbens von Kompetenzen

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Kapitel 15.3

Personen am Arbeitsplatz

Arbeitsschutz- Manager

Dynamische und

statische Muskelbelastung

Herz-Kreislauf-

Lungenbelastung

Skelettbelastung

Bildung

Schulung

Kompetenz

Last Umgebung

Last Umgebung

Last Umgebung

Klima

Vibration

Stra

hlun

g

Gefährliche Stoffe

PsychologischeBelastung

Körp

erlic

heBe

lastun

g

Sinnesorgane

Belastung

Mentale Belastung

Emotionale

Belastung

Vibration

Lärm

Schocks

Röntgenstrahlung

UV-Strahlung

Laserstrahlung

Beleuchtung, Farbe

Gase Staub

Dämpfe

Temperaturstrahlung Luftgeschwindigkeit

Luftfeuchtigkeit Lufttemperatur

Druck

Bild 15.3: Modell der Kompetenzvermittlung durch einen Fachmann im Bereich der Risikosteuerung

Die Entwicklung auf allen Gebieten der Arbeitssicherheit stellt erhöhte Ansprü-che an die Beschäftigten zum Lernen. Heutzutage bildet das lebenslange Lernen einen Bestandteil der Bereitschaft zur Bewältigung der Änderungen auf dem Arbeitsmarkt. Dies gilt für die Studenten des Bachelor- als auch die des Ingeni-eurstudiums an den Hochschulen, an denen die Sicherheit als ein selbstständi-ges Studienprogramm oder als Bestandteil der Studienpläne anderer Studien-bereiche unterrichtet wird. Die zur Lösung der Fragen der Sicherheit und des

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Arbeits- und Gesundheitsschutzes in einem Unternehmen erforderliche Fach-kompetenz muss von den Fachleuten für diesen Bereich gewährleistet werden, allerdings die Unternehmenskultur der Sicherheit muss von allen Beschäftig-ten gewährleistet werden, die sich der Bedeutung und der Vorbeugungsaufgabe im Rahmen aller Tätigkeiten im Unternehmen bewusst sind.

Die gegenwärtigen Ausbildungssysteme vor allem auf dem Gebiet des Bachelor- und des Ingenieurstudiums sowie in der Forschung zeichnen sich durch eine „Aufgeschlossenheit“ aus, nicht nur im Bereich der Ausbildungs- und Lehrer-mobilitäten, beim Austausch von wissenschaftlichen und fachlichen Informa-tionen, sondern auch bei gesellschaftlichen Lösungen im Rahmen der interna-tionalen Forschungsteams. Der Grund für diese Aktivitäten ist das Streben, auf dem Arbeitsmarkt gut ausgebildete Fachleute zu haben, die fähig sind, in ver-schiedenen Ländern zu arbeiten, in denen die Mutterkonzerne als Bestandteil der globalen Wirtschaft ihre Firmen haben. Die Ausbildung der Fachleute im Bereich der Sicherheit und des Arbeits- und Gesundheitsschutzes als auch der Sicherheit von technischen Systemen als Bestandteil der Schaffung von Kom-petenzen der Fachleute für Risikomanagementsysteme kann in der Zukunft realisiert werden, ob in Form des Hochschulstudiums oder in Form der lebens-langen Bildung, z. B. mittels folgender Modelle:

1. im spezialisierten Studienprogramm mit Arbeitsbezeichnung „Sicherheit von technischen Systemen, Sicherheit und Arbeits- und Gesundheitsschutz“ auf allen Studienstufen, also Bachelor-, Ingenieur- und Doktorstudium (sie-he Bild 15.4),

2. mittels der lebenslangen Bildung, nach Abschluss vor allem des technisch (naturwissenschaftlich) ausgerichteten Studienprogramms (siehe Bild 15.5).

Qualitäts- management

Machinen- sicherheit

Umweltschutz-management

Machinensicherheit undArbeitsschutz

Maschinen-bau

Bau- wesen IKT Qualitäts-

managementArbeits- schutz

Umwelt-schutzBc. Praxis

Beruf

Ing. PraxisBeruf

PhD.WissenschaftForschungManagement-Positionen

Bild 15.4: Modell des spezialisierten Studiums

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Kapitel 15.3

In einer modernen Gesellschaft wird unter anderem erwartet, dass die Sicher-heit als Eigenschaft aller Erzeugnisse und Technologien das erstrangige Ziel al-ler Tätigkeiten ist. Um dieses Ziel erreichen zu können, ist es wichtig, dass das Gewinnen von Erkenntnissen und Erfahrungen in klassischen Ingenieurberei-chen Bestandteil der Studienprogramme ist, wie z. B. Maschinenbaubereiche, Produktionstechnologien, Bauwesen, Montanwissenschaften, Elektrotechnik.

ArbeitsschutzMachinensicherheit

Gefärliche StoffeBrand- und Explosionsschutz

Maschinen-bau

Bau- wesen IKT Qualitäts-

managementArbeits- schutz

Umwelt-schutzBc. Praxis

Beruf

Weiterbildung PraxisBeruf

Maschinen-bau

Bau- wesen IKT Elektro-

technikWerkstoff-

technik UmweltIng. PraxisBeruf

Bild 15.5: Modell der lebenslangen Bildung

Infolge der Globalisierung der Arbeitsmärkte, der Entwicklung von neuen Tech-niken und Technologien entstehen neue Risiken. Die an die entstehenden inter-nationalen Arbeitsmärkte gestellten Anforderungen sind durch die Integration der europäischen Legislatur in die Legislatur der einzelnen Mitgliedsstaaten bedingt. Diese Tatsache schafft die Bedingungen für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Forschung und Hochschulbildung. Damit dieser Prozess effek-tiv wird, veröffentlicht die Europäische Union Ausschreibungen für Projekte, die die Netzbildung zwischen den relevanten Institutionen auf dem Gebiet der Forschung und Ausbildung ermöglichen. Die Projekte sind vor allem darauf gerichtet, dass Bedingungen für eine einheitliche „europäische“ Kultur der Si-cherheit in übernationalen Gesellschaften geschaffen werden.

Das rechtzeitige Identifizieren der komplexen Beziehungen bildet das Wesen des Definierens von Risiken und die Voraussetzung für Entscheidungsprozesse der Topmanager vor, während und nach einer negativen Erscheinung (Krise). Deshalb müssen die Bedingungen auf dem Gebiet der Ausbildung so geschaf-fen werden, dass die leitenden Fachleute im Bereich der Sicherheit (Risikosteu-erung) nicht nur fachliche Fertigkeiten, sondern auch Fähigkeiten gewinnen, alle Tätigkeiten im Rahmen der Vorbeugungsmaßnahmen zu steuern.

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Einige der Module zur Gewinnung von Kompetenzen im Rahmen der Risiko-steuerung können folgenderweise definiert werden:

• Risikoidentifizierung – multidisziplinäre Einstellung,• Risikoanalyse und -abschätzung – Verbindung der naturwissenschaftlichen

(mathematische Statistik) und technischen Einstellung,• Applikation der Methoden zu Risikominimierung – Prävention,• rechtlicher Rahmen – Legislatur – der Gesellschaft + die nationale,• Management der kritischen Situationen – gesellschaftliche Einstellung,

Politologie, Psychologie, Soziologie u.ä.• Prinzipien einer effektiven Kommunikation (Arbeit mit Öffentlichkeit,

Vermittlung der Informationen über Risikowirkung in der Gesellschaft),• Fallstudien innerhalb der Firma, Gesellschaft, der öffentlichen Institutionen

u. Ä.

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15.4 Schlussfolgerung

Die erhaltenen Kompetenzen müssen formuliert und nachfolgend so erworben werden, dass die Experten im Bereich des Risikomanagements (Sicherheit und Arbeits- und Gesundheitsschutz) fähig sind, Systemkonzeptionen zur Risikomi-nimierung als eine effektive Vorbeugungsform zu schaffen, diese in die Praxis in den Firmen bzw. verschiedenen Gesellschaftszweigen einzuführen, ihre Wei-terentwicklung zu verfolgen und den neuen Techniken und Technologien ein-schließlich der Maschinen und Maschinensysteme anzupassen. Ein wichtiges Gebiet ist auch die Leitung der Personen unter gewöhnlichen Arbeitsbedingun-gen sowie unter den Bedingungen der Störungszustände unter Berücksichti-gung der Tendenzen der Bildung von Systemen zur Steuerung einer integrier-ten Sicherheit, dort also, wo die Tätigkeiten im Rahmen von Safety und Security (z. B. Energetik, vor allem Kernenergetik, Gewinnung und Übertragung von energetischen Medien) realisiert werden.

Die Anforderung der Gesellschaft wie auch der Volkswirtschaft ist, das Sicher-heitsmanagement (Safety sowie Security) nicht isoliert zu realisieren, sondern dass es zum Bestandteil einer integrierten Einstellung im Rahmen des Risiko-managements – also Safety + Security – wird, dem auch Systeme zur Vermitt-lung der Kompetenzen der Fachleute für ihre Steuerung, aber auch den Topma-nagern für ihre Integration im Rahmen der komplexen Managementsysteme einer Firma anzupassen sind. Die Inhalte des Vortrages sind Teilergebnisse des Projektes der Agentur für Wissenschaft und Forschung der Slowakischen Repu-blik Nr. APVV – 0337-11.

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[2] Technologische Kompetenz – 110622-CP-1-2003-1-DE-Grundtvig-G1S. 23 bis 35.

[3] Zauberformel „Kompetenz“ – Beitrag zur Klärung eines strapaziertenBegriffs – BAUA Aktuell 3-2009, S. 5 bis 9.

[4] Sinay, J.: Anforderungen an eine moderne Arbeitsgesellschaft – Arbeitsschutztag Sachsen-Anhalt, Landesarbeitskreis für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in Sachsen-Anhalt. Otto von Guericke Universität Magdeburg/SRN, 2010.

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Fazit

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Wie wir gesehen haben, sind Kompetenzen im Umgang mit Gefahren und Risi-ken – was oftmals unter dem Schlagwort „Risikokompetenz“ zusammengefasst wird – für einen wirksamen Schutz der Bevölkerung wichtig. Es handelt sich dabei um ein großes Themengebiet. Es ist unser Anliegen, die Kompetenzen im Umgang mit Gefahren und Risiken sowie den Bevölkerungsschutz auf der Grundlage bisheriger Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Auf diesem Wege müs-sen neue Erkenntnisse in Bewährtes eingearbeitet werden.

Entsprechend dem Wesen der Sicherheitswissenschaft ist dazu eine interdis-ziplinäre Auseinandersetzung erforderlich. Es ist dabei wichtig, sich den Un-terschied zwischen einer multidisziplinären und interdisziplinären Auseinan-dersetzung bewusst zu machen. Im letzteren Fall werden die Inhalte nicht nur aus verschiedenen Bereichen betrachtet und untersucht, sondern auf dieser Grundlage in ein eigenständiges Instrumentarium und in eine autonome Ter-minologie und Methodologie überführt und weiterentwickelt. Dabei werden die Erkenntnisse kritisch geordnet und konzentriert, wodurch Analogien und Unterschiede zu anderen Gebieten aufgedeckt werden können.

Bei der Betrachtung von Gefahren und Risiken sind Langzeitfolgen zu berück-sichtigen. Das trifft auch auf die Wirksamkeitskontrolle von Beurteilungs-methoden und Bewältigungsstrategien zu. Erst dadurch können Risiken und Chancen in ihrer Gesamtheit bewertet und Verzerrungen durch kurzeitige Betrachtungen vermieden werden. Methoden sollen im Kontext bevölkerungs-schutzrelevanter Risiken eine größere zeitliche Spannweite bieten. Mit ande-ren Worten, methodisch sollen auch Beurteilungen möglich sein, die über den Eintritt(-szeitpunkt) eines unerwünschten Ereignisses hinausreichen und beispielsweise Kaskaden oder/und Domino-Effekte berücksichtigen sowie die Bewältigung bewerten.

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Risikokompetenz: Beurteilung von Risiken | Band 7

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Wie aus den vorliegenden Beiträgen ersichtlich wird, gibt es die (eine) Univer-salmethode zur Beurteilung bevölkerungsschutzrelevanter Risiken nicht. Im konkreten Untersuchungsfall muss aus der Vielzahl der verfügbaren Methoden die für die entsprechende Zielsetzung optimale ausgewählt und angemessen umgesetzt werden. Infolge der großen Menge an Beurteilungsmethoden sowie der variierenden Kompliziertheit bei der Anwendung erfordert das eine pro-funde Methodenkompetenz in Theorie und Praxis.

Es wird eine zunehmende Anzahl an Beurteilungsverfahren praktiziert, von der zivilen Ebene des Katastrophenschutzes1 über die industrielle Ebene der Um-welt- und Anlagensicherheit2 bis hin zu der betrieblichen Ebene der Betriebs- und Arbeitssicherheit3.

Aus dem Vergleich zwischen Methoden, die einerseits auf tradierte und ande-rerseits auf neue Technologien angewendet werden, resultiert der Eindruck, der gegenwärtige Stand bei den Methoden sei hinter die technologische Ent-wicklung zurückgefallen. In dem methodischen Defizit begründet sich un-mittelbar ein grundlegender, unabhängiger und sicherheitswissenschaft-licher Forschungsbedarf bezüglich innovativer und effektiver Methoden bzw. Verfahren, die auf die Gegebenheiten neuer Technologien ausgerich-tet sind.

Neben dem Bedarf an effektiven Methoden besteht in der praktischen Anwendung auch ein zunehmender Bedarf an effizienten Methoden. Es wurde beispielhaft an-geführt, dass in der Kernenergietechnik bzw. Reaktorsicherheit der Bearbeitungs-aufwand für eine Risikobeurteilung in der Größenordnung von Personenmonaten

1 Siehe auch Methode für eine Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz (BBK).

2 Siehe auch Sicherheitsanalysen, StörfallV oder VDI 3783; Erkennen und Beherrschen exo-thermer chemischer Reaktionen, TRAS 410; Ereignisablaufanalyse, DIN 25419; PAAG-Ver-fahren.

3 Siehe auch Gefährdungsbeurteilung, TRBS 1201; Leitmerkmalmethoden, BAuA und LASI; Gefährliche explosionsfähige Atmosphäre – Beurteilung der Explosionsgefährdung, TRBS 2152 Teil 1/TRGS 721; Leitfaden zur Untersuchung von Arbeitsunfällen, BAuA; Gefähr-dungsbeurteilung – Sieben Schritte zum Ziel, BGI 570/Merkblatt A 016; Gefährdungsbe-urteilung – Gefährdungskatalog, BGI 571/Merkblatt A 017).

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Fazit

bis -jahren lag. In der chemischen Industrie werden gelegentlich einige Personen-monate, oft aber nur -wochen bis -tage akzeptiert, und in der Informationstechno-logie reduziert sich der Zeitaufwand oftmals auf Personenstunden. Augenschein-lich gibt es, parallel zu dem technologischen Fortschritt, auch einen Trend zu immer kürzeren Bearbeitungszeiten bei Risikobeurteilungen.

Im Zuge des Trends nach Effektivität und Effizienz rückt offensichtlich der Be-darf an eine umfassende und vollständige Risikobeurteilung oftmals mehr und mehr in den Hintergrund. Mit anderen Worten, mit dem Bewusstsein um die in der Realität meist bestehenden Ungewissheiten werden von den Analysten vermehrt auch Unsicherheiten bei der Beurteilung als auch bei der Sicherheits-konzeption toleriert. Gut wiedererkennbar ist dies an den zunehmend dis-kutierten Ansätzen der Vulnerabilitätsanalyse und dem Resilienzkonzept und den damit erhofften Chancen für den Bevölkerungsschutz.

In der Grundlagenforschung nimmt die DFG eine wichtige Rolle ein. Bis heute ist dort keine eigenständige sicherheitswissenschaftliche Grundlagenforschung etabliert – trotz der bereits erwähnten Historie der Institution, die eng mit dem Bevölkerungsschutz verbunden ist. Das Förderungsdefizit wird dadurch ver-stärkt, dass die Schutzkommission heute nicht mehr auf eigene Fördermittel zugreifen kann, um eine angemessene Eigenforschung zum Zwecke des Bevöl-kerungsschutzes betreiben zu können.

Derzeit wird der Bevölkerungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland in wesentlichen Teilen durch das Engagement der rund 1,7 Millionen „ehrenamt-lichen“ Kräfte geleistet, wobei die ehrenamtlichen Ressourcen oftmals durch aktiv im Einsatzgeschehen hauptberufliche Kräfte unterstützt werden. Es ist ein erklärtes Ziel des Bundesministeriums des Innern und des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, die ehrenamtliche Arbeit in den mitwirkenden Organisationen zu fördern und für die Zukunft zu sichern. Viele Bundesländer beschäftigen sich derzeit intensiv mit der Stärkung des Ehren-amtes, z. B. bei Feuerwehren und Hilfeleistungsorganisationen. In NRW wurde beispielsweise ein Projekt gestartet, das sich mit der nachhaltigen Stärkung des Ehrenamtes in den Feuerwehren befasst. Neben ehrenamtlichen Einsatzkräf-ten leisten zahlreiche ehrenamtlich engagierte Bürger wichtige Beiträge zum Bevölkerungsschutz in Deutschland und bringen dadurch Ressourcen in den Bevölkerungsschutz ein. Das findet oftmals weniger in der aktiven Gefahrenab-wehr, sondern beispielsweise in der Planung, Beratung oder Konzeption statt.

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Die Kompetenzen der Bevölkerung im Umgang mit Gefahren und Risiken sind mit zahlreichen Implikationen verbunden und auf vielen unterschiedlichen Ebenen zu fördern. Dabei können wir auf Bewährtes zurückgreifen, aber müs-sen dieses den Anforderungen und der Entwicklung entsprechend im Gleich-schritt weiterentwickeln. Hier sind die Entwicklungen auseinandergelaufen.

November 2014 Dr. Sebastian Festag & Prof. Dr. Uli Barth

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Nachwort

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Mit dem Workshop „Risikokompetenz“ wurde der thematisierte Gegenstand keinesfalles endgültig abgehandelt. Das lag auch nicht in der Absicht der Veran-staltungsplaner. Vielmehr eröffnen die Zusammenkunft und der Diskurs eines Teilnehmerkreises aus Mitgliedern der Schutzkommission beim Bundesminis-terium des Innern, Mitgliedern der Gesellschaft für Sicherheitswissenschaft e.V. und weiteren, an dem Sachthema interessierten, Experten wahrscheinlich eine Reihe weiterer Möglichkeiten zur kontroversen und konstruktiven Ausei-nandersetzung mit diesem für den Schutz der Bevölkerung in Deutschland und für die Sicherheitswissenschaft unbestritten wichtigen Thema.

Die zum Ende des Workshops unter allen Teilnehmern durchgeführte Evalua-tion unterstrich diesen Tenor. Des Weiteren ergab die Evaluierung aber auch, dass bei folgenden Veranstaltungen der diesmal bewusst angelegte technische Fokus in soziotechnologischer Hinsicht erweitert werden soll. Ferner wurde an-geregt, bereits bei der Planung des Veranstaltungsprogramms mehr Raum für Diskussionen und Gespräche vorzusehen.

November 2014 Prof. Dr. Uli Barth Prof. Dr. Heinz-Willy Brenig Dr. Sebastian Festag Dr. Willi Marzi Dr. Horst Miska Prof. Dr. Peer Rechenbach

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ISBN-10: 3-939347-64-7ISBN-13: 978-3-939347-64-4


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