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Rezensionen in der ISHZ 49 / 2007 · 2020. 8. 8. · Ärgerlich ist auch ein Lapsus in Fußnote 44...

Date post: 27-Feb-2021
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Das Buch Projekt Zeitgeschichte Neumünster 1914–1949 greift eine Forschungslücke auf. Darin ver- sucht der Herausgeber Alfred Heg- gen, Direktor des Gymnasiums in Plön und seines Zeichens einer der Engagierten in seiner Wahlheimat Neumünster, die dort noch in den Anfängen steckende Zeitgeschichts- forschung voranzubringen. Neumünster ist bisher nur am Rande erforscht worden, was an ei- ner Mischung von politischem Des- interesse – auch und insbesondere der die Stadt fast durchgängig re- gierenden SPD – sowie dem Fehlen einer lokalen geschichtswerkstatt- ähnlichen Szene liegt. Das grundsätzliche Problem der Veröffentlichung ist genau der im Titel des Buches benannte Projekt- Charakter. Heggen knüpft an zwei Publikationen an, die als Schulpro- jekte versucht haben, Quellen und Dokumente von Schülern für Schü- ler zusammenzutragen (Neumünster im Zeichen des Hakenkreuzes und Neumünster – Vom Kaiserreich zur Inflation, beide 1983). Dementspre- chend betont der Herausgeber die „Aspekthaftigkeit und die Vorläu- figkeit der Darstellung bzw. aufge- führten Materialien“ (S. 6). In den von Heggen verfassten neun Kapi- teln zur Weimarer Republik und NS-Zeit spiegelt sich dies wider. Auffällig ist der sehr unter- schiedliche Charakter der Beiträge: während Heggen auf 4 bis 24 Sei- ten eher skizzenhaft und deutlich im Sinne eines offenen Projektes schreibt, das es zu ergänzen und auszubauen gilt, sind die Aufsätze von Klaus Tidow zur Zwangsarbeit und Franz Großekettler zum Alltag in der Nachkriegszeitsowohl vom Umfang (ca. 30–40 Seiten) als auch vom Aufbau in sich geschlossener und eher klassische Geschichtsauf- sätze, während Jürgen Zähles Bei- trag zur Geschichte der Holsten- 137 Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Nr. 49. Winter 2007. S. 136– 161. Lage der Lager: Eine CD-ROM verzeichnet alle bisher bekannten Hamburger Zwangsarbeiterlager Quelle: Zwangsarbeit in der Hamburger Kriegswirtschaft, Screenshot REZENSIONEN Gut gemeint – aber nicht immer gut genug Alfred Heggen (Hg.), Projekt Zeit- geschichte Neumünster 1914–1949. Neumünster: Karl Wachholtz Verlag 2006. 243 S.
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Page 1: Rezensionen in der ISHZ 49 / 2007 · 2020. 8. 8. · Ärgerlich ist auch ein Lapsus in Fußnote 44 („der Hamburger Gau-leiter Lohse aus Altona“, S. 230) oder das Fehlen einer

Das Buch Projekt ZeitgeschichteNeumünster 1914–1949 greift eineForschungslücke auf. Darin ver-sucht der Herausgeber Alfred Heg-gen, Direktor des Gymnasiums inPlön und seines Zeichens einer derEngagierten in seiner WahlheimatNeumünster, die dort noch in denAnfängen steckende Zeitgeschichts-forschung voranzubringen.

Neumünster ist bisher nur amRande erforscht worden, was an ei-ner Mischung von politischem Des-interesse – auch und insbesondereder die Stadt fast durchgängig re-gierenden SPD – sowie dem Fehleneiner lokalen geschichtswerkstatt-ähnlichen Szene liegt.

Das grundsätzliche Problem derVeröffentlichung ist genau der imTitel des Buches benannte Projekt-Charakter. Heggen knüpft an zweiPublikationen an, die als Schulpro-jekte versucht haben, Quellen undDokumente von Schülern für Schü-ler zusammenzutragen (Neumünsterim Zeichen des Hakenkreuzes undNeumünster – Vom Kaiserreich zurInflation, beide 1983). Dementspre-chend betont der Herausgeber die„Aspekthaftigkeit und die Vorläu-figkeit der Darstellung bzw. aufge-führten Materialien“ (S. 6). In denvon Heggen verfassten neun Kapi-teln zur Weimarer Republik undNS-Zeit spiegelt sich dies wider.

Auffällig ist der sehr unter-schiedliche Charakter der Beiträge:während Heggen auf 4 bis 24 Sei-ten eher skizzenhaft und deutlichim Sinne eines offenen Projektesschreibt, das es zu ergänzen undauszubauen gilt, sind die Aufsätzevon Klaus Tidow zur Zwangsarbeitund Franz Großekettler zum Alltagin der Nachkriegszeitsowohl vomUmfang (ca. 30–40 Seiten) als auchvom Aufbau in sich geschlossenerund eher klassische Geschichtsauf-sätze, während Jürgen Zähles Bei-trag zur Geschichte der Holsten-

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Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Nr. 49. Winter 2007. S. 136– 161.

Lage der Lager: Eine CD-ROM verzeichnet alle bisher bekannten Hamburger Zwangsarbeiterlager

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REZENSIONEN

Gut gemeint – aber nicht immer gut genug

Alfred Heggen (Hg.), Projekt Zeit-geschichte Neumünster 1914–1949. Neumünster: Karl Wachholtz Verlag2006. 243 S.

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neuere Unterschungen2 als auchden neuesten Forschungsstand zurParteiengeschichte – etwa aus derReihe „Beiträge zur Geschichte desParlamentarismus und der politi-schen Parteien“ – auszublenden. ImDetail fehlen so etwa der agrar-romantische und antisemitische An-satz der DNVP, die antidemokrati-sche und monarchistische Sicht-weise der DVP am Anfang derRepublik oder Erklärungsansätzedazu, warum Neumünster noch1921 die sozialdemokratische Hoch-burg reichsweit (!) darstellte.3

Die größte Schwäche stellt dertabellarische Anhang der Wahler-gebnisse dar. Abgesehen davon,dass stillschweigend von abgegebe-nen gültigen Stimmen ausgegangenwird, fehlen zusammenfassend diesonstigen Parteien in allen (!) Tabel-len, und es gibt keine einzige Quel-lenangabe. Ein oberflächlicher Ver-gleich mit den einschlägigen Ver-öffentlichungen stimmt den Rezen-senten ob der Abweichungen etwasratlos und lässt ihn vermuten, dasses sich um Zeitungsquellen handelt.Da mit der Statistik des DeutschenReichs eine zentrale Quelle vorhan-den ist, die für Neumünster – mitAusnahme von 1919 – immer dieErgebnisse abbildet, sind einige derLücken in den Tabellen zu monie-

ren (Reichstagswahl 1921, Reichs-tagswahl Mai 1924), ebenso dasFehlen von Angaben zum Wahler-gebnis in Preußen als Vergleichs-maßstab für das abgedruckte Pro-vinzergebnis und das fehlende Neu-münster-Ergebnis, während es ananderer Stelle tatsächlich nichtüberrascht (Provinziallandtagswahl1921). Auch bleibt unklar, ob imStadtarchiv Quellen zu den Wahlenzu finden sind, die über Zeitungs-quellen hinausgehen. Warum derAutor beim Abdruck der Ergeb-nisse der städtischen Wahllokale1930 lediglich fünf Parteien angibt,wird weder erläutert noch proble-matisiert.

Mit „Bauern, Bomben, Bonzen“greift Heggen im nächsten Kapiteldie Ereignisse um die Landvolkbe-wegung sowie einen der beidenProzesse in Neumünster auf. ImGegensatz zu den vorherigen Kapi-teln ordnet er an dieser Stelle dieEreignisse ausführlicher ein, so dassdie folgenden 16 Seiten, die fast nuraus Quellennachdrucken und Fotosbestehen, verständlich werden.Durch den fehlenden Bezug zumneueren Forschungsstand – dieArbeit von Nils Werner zu denLandvolkprozessen wird nicht her-angezogen4 – leidet aber auch hierdie Qualität deutlich.

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schule eine Mischung aus beidemdarstellt. Der Versuch, über Hin-weise am Ende der Kapitel auf mög-liche weitere Forschungsansätze/Projekte eine gemeinsame Klammerfür alle Beiträge zu schaffen, über-zeugt aufgrund des starken Un-gleichgewichts der Aufsätze leidernicht.

Obwohl in der Einleitung „dieAufforderung vor allem an Schüle-rinnen und Schüler […] weiter zuforschen“ formuliert wird, ist derAufbau der einzelnen Aufsätze kei-neswegs so gehalten, dass Jugendli-che gut damit arbeiten können.Somit stellt sich die Frage nach Zielund Zielgruppe des Buches: Soll esdie Geschichtsinteressierten zumMitforschen motivieren? Soll es denLehrkräften ermöglichen, Projektean Schulen voranzubringen? Soll esden Forschungsstand dokumentie-ren? Eigentlich will es von allemetwas, so dass es bedauerlicherweisebei allem Mängel aufweist undgleichzeitig zu loben ist, dass sichüberhaupt jemand der Stadtge-schichte angenommen hat.

Im ersten Kapitel zum „Alltagim I. Weltkrieg“ wird Heggens Vor-gehen exemplarisch deutlich: Erbeleuchtet einzelne Aspekte diesesAlltags anhand des Materials fürNeumünster, wobei den Zeitungs-und Aktenquellen durch Zitatebreiter Raum gegeben wird. Einequalitative Einordnung in den über-regionalen Forschungsstand findethingegen wenn überhaupt, dann

nur sporadisch statt. Grundsätzlichfehlt hier wie auch bei dem folgen-den Kapitel „Der Arbeiter- und Sol-datenrat in Neumünster 1918/19“eine kurze Einführung ins Gesche-hen, die es Lesern ohne Vorkennt-nisse ermöglichen würde, das Fol-gende einordnen zu können. Sowird das Wissen um die Ereignisseder Novemberrevolution voraus-gesetzt (S. 26), und eine qualitativeBewertung des Gremiums „Arbei-ter- und Soldatenrat“ unterbleibt.

Ähnlich schwer fällt es dem Re-zensenten, dem Kapitel „Wahlenwährend der Weimarer Republik –Materialien“ Positives abzugewin-nen. Dies liegt einerseits daran, dasssich der Autor im Kern auf Zitatezur Parteienlandschaft beschränkt,die er dem 1932 erschienenen BuchDie politischen Parteien in Deutsch-land von Sigmund Neumann ent-nimmt.1 Seine Begründung dafürlautet so: „Seinen besonderen per-spektiven Reiz erhält es durch dieTatsache, dass Neumann die Pro-grammatik und politische Bedeu-tung der Jahre 1918 bis 1932 auf-arbeitet, aber eben ohne Kenntnisder darauf folgenden Entwick-lung.“ (S. 33).

Abgesehen davon, dass auch dieArbeit von Rudolf Heberle faktisch„zeitgenössisch“ verfasst wurdeund den Vorteil hat, regionalge-schichtlich zu analysieren, trägt die-ses Konzept dazu bei, sowohl denBezug zu Schleswig-Holstein wieauch überregionale bzw. regionale

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2. Peter Wulf, „Jüdische Weltherrschaftspläne“ Antisemitismus in bürgerlichen und bäuer-lichen Parteien und Verbänden in Schleswig-Holstein zu Beginn der Weimarer Republik. In:ZSHG, Bd. 128, Neumünster 2003, S. 149-183.3. Jürgen Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann, Wahlen und Abstimmungen inder Weimarer Republik. Materialien zum Wahlverhalten 1919–1933. München 1986.4. Nils Werner: Die Prozesse gegen die Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein 1929/32.Beitrag zur Justizkritik in der späten Weimarer Republik. Frankfurt am Main 2001 (insb. S. 100ff. und S. 122ff.).1. Nachdrucke erschienen 1965 und 1977.

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von Stefan Klemp.7 Außerdem soll-ten Termini wie „Polenfeldzug“und „Russlandfeldzug“ heute ei-gentlich nicht mehr vorkommen,und der Rückgriff auf die Publika-tion von Huck/Neufeldt/Tessin ausdem Jahr 1957 ist angesichts vonderen teils apologetischen Formu-lierungen unglücklich zu nennen.

Im Anschluss folgenden dieAufsätze der drei anderen Autoren:Klaus Tidow weicht beim ThemaZwangsarbeit in Neumünster dabeiinsofern von den vorherigen Kapi-teln ab, als dass er leider auf Fußno-ten verzichtet und dafür in Klam-mer gesetzte Quellen- und Literatur-turhinweise verwendet, was die Les-barkeit beeinträchtigt. Nach einerkurzen Einführung ins Thema, derEinordnung der Wirtschaftstrukturder Betriebe sowie zur Herkunftder Zwangsarbeiter reiht Tidow dieverschiedenen Erkenntnisse überdie Lager in der Stadt hintereinan-der. Es folgen Abschnitte, in denendie Lebens- und Arbeitsbedingun-gen, die Überwachung oder auchErnährungslage thematisiert wer-den. All dies eher kurz und zum Teilnur durch Quellennachdruck unter-füttert. Tidow schließt mit einer Li-teratur- und Quellenliste des Stadt-archivs sowie einer tabellarischenÜbersicht der Lager in Neumüns-ter. Auch bei ihm fehlt im Text diequalitative Einordnung in denschleswig-holsteinischen und über-regionalen Forschungsstand, doch

zumindest wird ein Teil der Litera-tur genannt.

Der Aufsatz von Jürgen Zählesoll die Holstenschule thematisie-ren, wobei der Autor in der Über-schrift die Bildungs- und Lehrplänein den Vordergrund stellt. Allge-meines über das Schulwesen in Kai-serzeit, Weimar und Nationalsozia-lismus stehen vor Quellennach-drucken, wobei diese jeweils kursivstehen. Dieses Grundprinzip durch-bricht der Autor allerdings mehr-fach (insb. S. 163f., S. 168), und demLeser fällt es deshalb an einigenStellen schwer, Zitate von der Mei-nung bzw. Bewertung des Autorsresp. die Position der zitierten Lite-ratur klar zu unterscheiden. DieBezüge zur Holstenschule bleibenin der Regel allgemein, und erstnach knapp 20 Seiten folgen neunweitere, die zumindest Erinnerun-gen an den nationalsozialistischenSchulleiter darstellen. Das Grund-problem (Lehrpläne als Vorgabeund die tatsächliche Praxis in derSchule) löst dies aber nicht und wirdlediglich indirekt thematisiert (vgl.dazu die grundlegende Kritik zueiner solchen Vorgehensweise beiBettina Goldberg in ISHZ 41/42, S. 27).

Dagegen macht der Aufsatz vonFranz Großekettler zur „Alltagsbe-wältigung in den ersten Nachkriegs-jahren“ einen in sich geschlossene-ren Eindruck als alle anderen Bei-träge. Durch den Fokus auf den All- 141

Auch im Kapitel „PolitischeUnruhen 1930–1932“ sind Schwä-chen zu finden. Etwa wenn auf dieErmordung des NationalsozialistenMartin Martens im November 1931ausführlich anhand von Zeitungs-quellen eingegangen, doch wederim Text noch Fußnoten deutlichwird, ob die entsprechenden Ge-richtsakten überhaupt noch vor-handen sind, gesucht wurden odernicht mehr existieren (S. 73ff.).Ärgerlich ist auch ein Lapsus inFußnote 44 („der Hamburger Gau-leiter Lohse aus Altona“, S. 230)oder das Fehlen einer Quellenanga-be zu einem Brief eines Polizeimeis-ters (S. 85).

Die Erforschung und Einord-nung von Verfolgung und Wider-stand in Neumünster steckt noch inden Anfängen, so dass Heggen hierlediglich (un-)bekanntere Einzelfäl-le aneinanderreiht, wobei wiederumeine Einführung in den nachfolgen-den Text fehlt. Ansätze dazu findensich später auf Seite 86, doch stehtso alles mehr oder weniger unzu-sammenhängend hintereinander.

Beim Kapitel zu den antisemiti-schen Aktionen 1933 fällt auf, dassHeggen nicht auf den Kenntnis-stand aus Menora und Hakenkreuzbzw. Matrosenanzug und Davidsterneingeht und den Aufsatz von Cars-ten Obst zur jüdischen BevölkerungNeumünsters und deren Kultur5

ignoriert (S. 99ff.). Unverständlichist auch, dass der Autor nichts zumHintergrund des Boykotts sagt unddamit die Ereignisse für unwissendeLeser kaum richtig einzuordnensind.

Wie wichtig Kenntnisse zumForschungsstand sind, zeigt sich im Kapitel zur Ermordung desKPD-Funktionärs Rudolf Timm(ein Nachdruck von 2002): Heggenmacht am Ende den „Projektvor-schlag“ zur Erforschung des späterebenfalls in Neumünster ermorde-ten Christian Heuck, wobei die Zu-sammenhänge doch eigentlich ab-schließend geklärt sein sollten undveröffentlicht sind (vgl. ReimerMöller in ISHZ 41/42, S. 154-164).Außerdem legt sich der Autor dieAnonymisierung des Haupttäters,dem Leiter der Polizei, HinrichMöller, auf, um gleichzeitig aber ineiner Fußnote auf das Buch vonStephan Linck zu verweisen, wo der„Klarname“ genannt wird.6 Das istinkonsequenter und unangebrach-ter Täterschutz (Fußnote 5, S. 230).

Problematischer ist die Darstel-lung Heggens zum „Polizeibataillon106“, das sich hauptsächlich ausNeumünster und Kiel rekrutierte.Hier bleibt die einschlägige Litera-tur unberücksichtigt (S. 112ff.),seien es die Frschungsergebnissevon Stephan Linck zur Polizeige-schichte in Schleswig-Holstein oder

1405. Carsten Obst, „…muß wegen seiner jüdischen Abstammung die Gilde verlassen“. Juden-verfolgung in Neumünster. In: Gerhard Paul/Miriam Gillis-Carlebach (Hg.), Menora undHakenkreuz. Neumünster 1998, S. 345-352.6. Stephan Linck, Der Ordnung verpflichtet: Deutsche Polizei 1933–1949. Der Fall Flensburg.Paderborn 2000, S. 71 und S. 116-122.

7. Stefan Klemp, „Nicht ermittelt!“ Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Hand-buch. Essen 2005.

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Die Anfang des Jahrtausends ge-gründete Stiftung „Erinnerung, Ver-antwortung und Zukunft“ zahlte4,3 Mrd. Euro an ca. 1,6 Mio. ehe-malige Zwangsarbeiter1 als Ent-schädigung. Seitdem betrachtet esdie Stiftung als eine wesentlicheAufgabe, Besuchsprogramme fürNS-Opfer vor allem finanziell zuunterstützen. So konnten zwischen2002 und 2005 etwa 2.400 ehema-lige Zwangsarbeiter nach Deutsch-land eingeladen werden, dank 2,6Mio. Euro Beihilfe.

Es gibt derzeit keinen zusam-menfassenden Überblick über Be-suchsprogramme für NS-Opfer inDeutschland. Kräutlers Buch er-hebt nicht den Anspruch auf Voll-ständigkeit, will aber einen erstenGesamtüberblick geben, auch überdie Entstehung und Entwicklungvon städtischen und kommunalenBesuchsprogrammen. Grundlageist eine 2005 durchgeführte Umfra-ge. Von den 700 angeschriebenenStädten und Gemeinden antworteteetwas mehr als die Hälfte.

Im Buch werden über zweiHauptkapitel zwei Gruppen unter-schieden: Jüdische Emigranten undÜberlebende der Verfolgung bildendie eine, Ex-Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene dieandere Gruppe. Die einzelnen Un-terkapitel behandeln die Gründungvon Besuchsprogrammen, deren

Vorbereitung, Umfang und Verlaufsowie deren Auswirkungen. ImAnhang finden sich – für beideOpfergruppen getrennt – spärliche,aber detaillierte Hinweise auf Lite-ratur, Film- und Audiodokumentesowie Internetseiten zur Thematik.

Unterschieden werden kommu-nale und sogenannte bürgerschaftli-che Veranstaltungen, also Besuchs-programme, die von Privatinitia-tiven, Arbeitskreisen, Geschichts-werkstätten und dergleichen orga-nisiert werden. Deren Leistung 143

tag und manche Bewertung (sei esdie Westverschiebung Polens, ohnederen Gebietsverluste im Osten zubenennen; sei es die Verwendungdes Begriffes „Fremdarbeiter“ ohneAnfühungszeichen; sei es die still-schweigende Voraussetzung, dassalle Leser wissen, wer Hans Böcklerwar), dem Andeuten von Konflik-ten zwischen der alteingesessenenBevölkerung und den Flüchtlingen,ohne diesen Aspekt zu vertiefenbzw. dies nur eher indirekt durchQuellennachdrucke zu tun.

Der Teil zur Entnazifizierungbenennt zwar die Zahlen für Neu-münster, ordnet diese aber nichtein. Auch die implizierte Kritik desAutors an ihrem Scheitern (S. 218)vermag nicht darüber hinwegzutäu-schen, dass er selbst weder mögli-che Belastete und Täter aus derNeumünsteraner Stadtgeschichtenennt noch im abschließenden Bei-spiel des Schriftleiters des Holstei-nischen Couriers klar macht, ob derdort genannte Paul S. zu Recht oderzu Unrecht so entnazifiziert wurdewie dort beschrieben (S. 220ff.).8

Gut getan hätte dem Buch einegemeinsame Literaturliste, doch soliefert nur Tidow für seinen Aufsatzeine, und die anderen Autoren„verstecken“ ihre Literaturnach-weise in den Fußnoten. Dass einPersonen- und ein sehr kleinesSachregister erstellt wurde, ist hilf-reich und bei einem solchen Projektnicht selbstverständlich.

Hinsichtlich der Forschungsla-ge ist Neumünster ein eher blinderFleck auf der GeschichtslandkarteSchleswig-Holsteins. Alfred Heg-gen und seinen Mitstreitern ist zuverdanken, dass sich dies verändernkönnte. Doch auch für Lokalge-schichtsforschende bleibt die Not-wendigkeit, sowohl die wichtigsteLiteratur Schleswig-Holsteins zukennen als auch ihren Forschungs-gegenstand in überregionale Er-kenntnisse einordnen zu können.

Der Band macht den Rezensen-ten insgesamt etwas ratlos: Warumreihen die Autoren Aspekte anein-ander und stellen ihnen keine kurzegeschlossene Einführung voraus?Warum werden selbst kurze Quel-lentexte vorher nicht angemesseneingeordnet? Warum gibt es keineEinheitlichkeit bei den Anmerkun-gen? Wozu dienen Projektvorschlä-ge, wenn der Forschungsstand be-reits weiter ist als angedeutet?

Alles in allem scheint der Bandeine Art Zettelkasten darzustellen,den man der Öffentlichkeit nunendlich einmal präsentieren wollte.Der Sache ist dadurch meines Er-achtens aber nicht gedient worden,und dem Wachholtz-Verlag mussdeutlich gesagt werden, dass demBuch ein qualitatives Lektorat gutgetan hätte. Nichtsdestotrotz mussman die Publikation gelesen haben,denn es gibt einfach zu wenig In-formationen zur NeumünsteranerStadtgeschichte. Frank Omland142

NS-Opfer auf Besuch

Anja Kräutler, „Dieselbe Stadt – unddoch eine ganz andere“. Kommunaleund bürgerschaftliche Besuchspro-gramme für ehemalige Zwangsarbeiterund andere Opfer nationalsozialisti-schen Unrechts. Berlin: Fonds „Erinne-rung und Zukunft“ 2006. 128 S.

1. Es wird in diesem Beitrag aus Lesbarkeitsgründen generell die männliche Pluralformgewählt, gemeint sind immer Männer und Frauen.

8. vgl. dazu Markus Oddey, Unter Druck gesetzt. Presse und Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein. Eutin 2005.

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arbeit auseinandersetzt. Die StadtKöln führt jährlich das deutsch-landweit umfangreichste Besuchs-programm für ehemalige Zwangs-arbeiter durch. Hier wurde auch einLeitfaden für andere Kommunenerarbeitet.

Der besondere Einsatz von fünfBetrieben, die früher Zwangsarbei-ter beschäftigten, wird in einem ge-sonderten Kapitel behandelt. Volks-wagen unterhält die einzige werks-eigene Erinnerungs- und Doku-mentationsstätte zur Zwangsarbeit.

Die Diskussion mit Jugend-lichen wird von den Opfern desNS-Regimes als ein ganz wichtigerBestandteil der Besuchsprogrammeangesehen, wohingegen Diskussio-nen mit Deutschen der Kriegsgene-ration als schwierig empfundenwerden. In diesem Zusammenhangüberrascht die Vielzahl und Vielfaltder Aktivitäten von Schulprojektenund Initiativen, die von Korrespon-denzen und Archivarbeiten überAusstellungen, Benefizveranstaltun-gen und Errichtung von Mahnortenbis hin zu Video- und Audiodoku-mentationen reichen.

Schleswig-Holstein erfährt kei-nerlei Erwähnung bei der Behand-lung von Besuchsprogrammen fürehemalige Zwangsarbeiter. Sindwirklich niemals von irgendeinerKommune dieses Bundeslandesseit Kriegsende Besuchsprogrammefür NS-Opfer durchgeführt wor-

den? Hinlänglich bekannt sind dieBesuchsprogramme der (Kirchen-)Gemeinden Ladelund und Putten(Niederlande) seit den 60-er Jah-ren.3 Als Initiative sei die Heinrich-Böll-Stiftung Kiel erwähnt. Sie führtbis heute regelmäßig Besuchspro-gramme für polnische und russischeEx-Zwangsarbeiter durch. VieleEinladungen nach Schleswig-Hol-stein sind aber auch auf rein privateInitiative oder das Engagement ein-zelner Kreistagsabgeordneter (z.B.Friedrichstadt, siehe ISHZ 43, Pres-sespiegel S. 153) zurückzuführen.

Nicht nur wegen des Fehlensirgendeiner Erwähnung des nörd-lichsten Bundeslandes, sondern ge-rade wegen o.g. Schwächen stelltsich die Frage nach der Erfüllungdes Anspruchs der Autorin, einenersten Gesamtüberblick über Be-suchsprogramme in Deutschland zugeben. Hierzu erscheint das Buchzu unausgereift in seiner Strukturund zu unvollkommen in der Da-tenerfassung und -verarbeitung.

Wer sich intensiver mit Be-suchsprogrammen beschäftigenmöchte, dem sei die Publikationtrotzdem empfohlen, enthält siedoch viele Beispiele und auch somanchen praktischen Hinweis. Diesensible Sichtweise der Autorindeutet notwendiges Feingefühl imUmgang mit Opfern des Faschis-mus an – eine absolute Notwendig-keit. Peter Meyer-Strüvy

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wird vor allem bei Betrachtung vonBesuchen von Ex-Zwangsarbeitern,Kriegsgefangenen und ehemaligenKZ-Insassen hervorgehoben. Gene-rell erkennt die Autorin an, dassauch die kommunalen Programme– worauf der Schwerpunkt liegt –ohne Unterstützung dieser Privat-initiativen nicht denkbar sind.

Anlass für Besuche bilden häu-fig prägnante Jahrestage wie z.B.der 9. November (Pogrom 1938),der 8. Mai (Kriegsende 1945) oderder 27. Januar (Befreiung des La-gers Auschwitz 1945), aber auchder Fernsehfilm „Holocaust“ oderdie öffentliche Diskussion um Ent-schädigung von Zwangsarbeiternführten zu steigenden Interessenund Einladungen an Betroffene,deren Besucherhöchststand zwi-schen 2000 und 2003 lag. Inzwi-schen sind die Zahlen generell rük-kläufig. Das liegt natürlich nichtnur an nachlassendem Interesse derÖffentlichkeit, sondern auch amTod bzw. dem hohen Alter derOpfer, das eine Reise nach Deutsch-land zu beschwerlich macht. EinigeInitiativen gehen mittlerweile dazuüber, die Betroffenen an ihrem Hei-matort aufzusuchen. Interessant ist,dass sich bei Opfern der Shoa dasBe-suchsinteresse mittlerweile auchauf die zweite und gar dritte Gene-ration überträgt, was bei denZwangsarbeitern nicht der Fall ist.

Die erste große jüdische Besu-chergruppe kam 1969 mit 126 Gäs-

ten nach Berlin. Seitdem sollen33.000 Besucher alleine in derHauptstadt gewesen sein. Bis heutezählte die Autorin über 300 Städte,die solche Veranstaltungen durch-geführt haben. Schleswig-Holsteinerfährt hier seine einzige Erwäh-nung im Buch mit Besuchsprogram-men für über 200 jüdische Personenin den Jahren 1986 bis 1992.

An dieser Stelle, wie auch in denKapiteln über Ex-Zwangsarbeiter,werden einzelne Beispiele scheinbarwahllos aneinandergereiht, wobeilediglich der Fettdruck der Städte-namen die Unübersichtlichkeit mil-dert. Hier wünscht man sich zumin-dest ein Ortsregister im Anhang,um etwas Übersicht zu bekommen.2

Denkbar wäre zusätzlich eine tabel-larische Aufstellung über Eckpunk-te der Besuche (Dauer, Besucheran-zahl, finanzielle Unterstützung, Artund Umfang der Betreuung usw.),deren Programmpunkte meist ähn-liche Muster aufweisen.

Die Stärken dieser Schrift liegenim Festhalten einzelner Details. Sowurden die jüdischen Besucher imsaarländischen Merzig nicht in Ho-tels, sondern privat untergebracht,was sehr positiv aufgenommen wur-de. In Marl (Ruhrgebiet) hat dieKommune 1991 zusammen mitdem betroffenen Betrieb, der HülsAG, polnische Zwangsarbeiter ein-geladen – eine der wenigen Ausnah-men, bei der sich ein Betrieb direktmit den Opfern seiner Zwangs-144

2. Alleine vom Umfang der erwähnten Städte und Gemeinden her scheinen auch nicht alle beider 2005 durchgeführten Umfrage erhaltenen Antworten verarbeitet zu sein.

3. In Ladelund unterhielten die Nazis Ende 1944 ein Außenlager des KZ Neuengamme, indem sehr viele Niederländer aus Putten umgebracht wurden. Heute befinden sich in LadelundGedenkstätte und Dauerausstellung.

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(S. 24). Dies konnte angesichts gro-ßer Überlieferungsverluste – etwaaus dem Bereich der HamburgerStapo-Stelle, des Landesarbeitsam-tes oder der AOK – nur über eineeindrucksvolle ausgedehnte Archiv-recherche gelingen. Neben denzahllosen verstreuten Hinweisen inder unvollständigen Überlieferungvon Stadt (Lagerbücher existierenz. B. nicht mehr), Staat und Partei-instanzen wertete Littmann auchzeitgenössische Krankenhausunter-lagen und Prozessakten der Kriegs-und Nachkriegszeit aus; als beson-ders wertvoll erwiesen sich diehistorischen Unterlagen im Archivder Handelskammer und in denBetriebsarchiven der Werft Blohm& Voss und der Reederei Hapag-Lloyd, zumal die damaligen Leiterdieser beiden Unternehmen zu denführenden Hamburger Industriel-len gehörten (S. 26).

Die Entscheidungsprozesse zwi-schen den maßgeblichen Instanzenaus Behörden, Wirtschaft, Militärund Partei konnten daher im Hin-blick auf den „Arbeitseinsatz“ fürdie gesamte Kriegszeit minutiös re-konstruiert werden. Um die lücken-haften Angaben zur Alltagsrealitätder Zwangsarbeiter ergänzen zukönnen, flossen zusätzlich Angabenvon 120 ehemaligen Zwangsarbei-tenden in die Arbeit ein, die derVerfasserin im Rahmen einer Frage-bogenaktion geantwortet hatten,sowie eine Reihe weiterführenderInterviews mit diesen Zeitzeugen.Ehemalige „Ostarbeiter“ waren al-

lerdings – obgleich sie auch in Ham-burg die größte Zwangsarbeiter-gruppe bildeten – nicht unter denBefragten.

Deutlich wird in der Arbeit,dass Wirtschaftsvertreter die Ent-scheidungsprozesse nicht nur we-sentlich mitbestimmten, sonderndass sie mit der Hamburger Gau-wirtschaftskammer ab der zweitenJahreshälfte 1943 im Rahmen desneugeschaffenen Systems der be-zirksweise gegliederten „Industrie-blocks“ (diese unterstanden jeweilsBlockleitern, die aus Vertretern derHamburger Wirtschaftselite ernanntworden waren) auch offiziell in dieWirtschaftslenkung und in die Ver-waltung des „Arbeitseinsatzes“ ein-gebunden waren.

Die „Industrieblocks“ solltenals dezentrale Steuerungselementenach den verheerenden Zerstörun-gen durch die „Operation Gomor-rha“ wirksame Voraussetzungen fürWiederaufbau und Weiterführungder Rüstungsproduktion schaffen(S. 403ff.). Zuvor waren der Gau-wirtschaftskammer schon 1942hoheitliche Aufgaben im Bereichder Wirtschaftslenkung übertragenworden (S. 295).

Wie in anderen Großstädten liefdie Heranziehung ausländischerArbeitskräfte in den ersten beidenKriegsjahren zunächst zögerlich an,aus Sicherheitsbedenken und imBestreben der Kammer und derBetriebe, die Stammbelegschaftenmit ihren Facharbeitern zu sichernund die Stilllegung kleinerer Betrie-

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Mit der anzuzeigenden Arbeit vonFriederike Littmann, hervorgegan-gen aus einer Dissertation an derUniversität Hamburg 2003, dürftevorläufig eine der letzten großenLücken in der historischen Aufar-beitung der NS-Zwangsarbeit imnord(west)deutschen Raum ge-schlossen worden sein.

Die Eckdaten lassen die Dimen-sionen erahnen: Auf 400.000 bis500.000 Personen schätzten späterehemalige Gestapomitarbeiter dieGesamtzahl ausländischer Arbeits-kräfte während des Zweiten Welt-kriegs in Hamburg (S. 545). DieFluktuation muss erheblich gewe-sen sein; in der zweiten Kriegshälftewaren zu einzelnen Stichdaten je-weils 70.000 bis 90.000 Zwangsar-beiter in Hamburg registriert. Über1.000 Lager existierten damals imStadtgebiet, mehr als 1.000 Betriebekonnten als Arbeitsorte namhaftgemacht werden, hinzu kamen zahl-reiche Handwerksbetriebe, Privat-haushalte und landwirtschaftlicheBetriebe.

Die Zahl der Untersuchungenzur Zwangsarbeit 1939–1945 istmittlerweile kaum noch zu über-blicken. Das Buch versteht sich indiesem Forschungskontext als Re-gionalstudie, die die vorliegendenErgebnisse für den Stadtstaat Ham-burg zusammenführt und in vielenFacetten noch ergänzen kann.Überzeugend kann die Verfasserindabei das immer noch zählebige

Topos vom vermeintlich liberalen„Sonderweg“ der Hansestadt bzw.ihres Wirtschaftsbürgertums wäh-rend der NS-Herrschaft als haltlose„Schutzbehauptung“ zurückweisen

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Forschungslücke geschlossen

Friederike Littmann, AusländischeZwangsarbeiter in der HamburgerKriegswirtschaft 1939–1945 (=ForumZeitgeschichte 16, hg. v. d. Forschungs-stelle für Zeitgeschichte in Hamburg).Hamburg: Verlag Dölling und Galitz2006. 678 S.Zwangsarbeit in der Hamburger Kriegs-wirtschaft 1939–1945. Wegweiser zuLagerstandorten und Einsatzstättenausländischer Zwangsarbeitskräfte ba-sierend auf einer Datenbank von Frie-derike Littman. CD-ROM, hg. v. d. Lan-deszentrale für Politische Bildung Hamburg / Freundeskreis KZ-GedenkstätteNeuengamme e.V. / KZ-GedenkstätteNeuengamme. Hamburg 2007.

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che, Leistungssteigerungen durchZulagen an Naturalien zu erzielen,blieben nun freilich ineffizient.

Eingestreut in die chronologi-sche Schilderung sind Themen-blöcke zu den Lebens- und Arbeits-bedingungen der Westarbeiter undPolen in der ersten Kriegshälfte, derRolle der Hamburger Kommunal-verwaltung (sowohl als einer derAdministratoren als auch als „Ar-beitgeber“ im „Ausländereinsatz“)sowie ein 150-seitiger Abschnitt überdie Alltagsrealität von Zwangsarbeit.

Hinsichtlich der west- und nord-europäischen sowie der tschechi-schen Arbeitskräfte unterstreichtLittmann, dass die postulierte„Freiwilligkeit“ ihres Aufenthaltesim Reich auch in der ersten Kriegs-hälfte aufgrund kriegsbedingtersozialer Notlagen und starkemdeutschen Druck auf die Sozialver-waltungen und Betriebe in den be-setzten Ländern weitgehend Fik-tion gewesen sei (S. 175); allerdingsbleibt in der Arbeit ungeklärt, wiedie hauptsächlich im Landesarbeits-amtsbezirk „Nordmark“ eingesetz-ten Dänen größtenteils bereits langevor Kriegsende wieder aus ihm verschwanden.

Anders als im ländlichen Raumwaren polnische Zwangsarbeiter inHamburg (wie etwa auch in Kiel)relativ gering vertreten (S. 206),ähnlich verhielt es sich mit dem Ein-satz von Kriegsgefangenen. Demgroßen Kriegsgefangenenlager „AmÜberseeheim“ in Hamburg-Veddelist ein längerer Exkurs gewidmet.

Am Beispiel der HamburgerGemeindeverwaltung und ihrerEigenbetriebe zeigt Littmann, dassder Zwangsarbeitseinsatz von Kom-munen nicht nur im Rahmen derÜbernahme staatlicher Aufgaben(z. B. Trümmerräumung) genutztwurde, sondern auch für genuinkommunale Aufgaben. Die Behand-lung der Zwangsarbeiter unter-schied sich hierbei in keiner Weisevon der in privaten Betrieben (S. 275ff.).

Eine zentrale Rolle in der städ-tischen Aufgabenwahrnehmungspielte das „Amt für kriegswichti-gen Einsatz“ (AkE), dem nicht nurdie Koordinierung und Durchfüh-rung des Lagerbaus ob-lag, sonderndas mit der Vermittlung vonArbeitskräften im gesamten Baube-reich auch Funktionen des Arbeits-amtes übernahm (S. 229).

Der Abschnitt zur Alltagsrea-lität geht zunächst auf die Ernäh-rungssituation ein, wobei Littmannnicht nur die grundsätzlicheSchlechterstellung der Ausländergegenüber der deutschen Zivil-bevölkerung herausstreicht, da fürerstere Sondervergünstigungen weit-gehend entfielen (S. 428), sondernbesonders die bedrückende Lageder „Ostarbeiter“ hervorhebt; auchspätere, vorgebliche Erhöhungenihrer bekanntlich von vornhereinbewusst zu gering angesetzten Ver-pflegungssätze bedeuteten faktischnur eine Umverteilung zugunstender kleinen Gruppe der sowjeti-schen Schwerarbeiter (S. 434).

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be zu vermeiden (S. 115). Eigen-mächtige Werbungen im Auslandund das „Wegengagieren“ (Abwer-ben) von „Fremdarbeitern“ erfolg-ten trotz gesetzlicher Verbote aberbereits in dieser Zeit.

Seit dem Beginn des Kriegesgegen die Sowjetunion wurden Be-triebe aber im großen Maßstabauch von sich aus initiativ, um aus-ländische Arbeitskräfte zu erlangen(S. 137-145). Ein prinzipieller Ge-gensatz der Privatwirtschaft zu den rassistischen und repressivenGrundlinien der NS-Zwangsarbeit-politik bestand auch in Hamburgzu keinem Zeitpunkt des Krieges.Littmann weist dies u. a. am Bei-spiel von Blohm & Voss nach. AufBestreben der Werften und derGauwirtschaftskammer wurde der„Ostarbeiter“-Einsatz ab 1942 imHamburger Hafen gewissermaßenim Feldversuch erprobt, in demsowjetische Zwangsarbeiter im„Schuppen 43“ abgeschottet vonder Außenwelt arbeiten mussten;Arbeits- und Lebensbedingungenwaren schon hier ebenso katastro-phal wie bald überall sonst auch,Flucht- und Krankenzahlen stiegenrasch in die Höhe (S. 339-345).

Auch am Einsatz von KZ-Häft-lingen aus Neuengamme, zu Kriegs-ende das letzte noch abschöpfbareArbeitskräftereservoir, waren ver-schiedene Werften ab Herbst 1944beteiligt, wiederum ohne dass dieseihre durchaus vorhandenen Hand-lungsspielräume zur Verbesserungder Arbeits- und Lebensbedingun-

gen der Häftlinge nutzten (S. 594-605). Zu diesem Zeitpunkt began-nen Hamburger Unternehmer al-lerdings – wie auch der GauleiterKaufmann selbst – ihr Verhaltenangesichts der absehbaren militäri-schen Niederlage bereits auf dieNachkriegszeit hin auszurichten,um die Umstellung auf eine Frie-densproduktion vorzubereiten undkünftige Schuldzuweisungen abzu-wälzen. Der Versuch, dazu alle ca.75.000 Zwangsarbeiter im Frühjahr1945 aus der Stadt abzutransportie-ren, scheiterte jedoch am Mangel anLogistik und Bewachungspersonal.

Um die Entscheidungsprozesseund das letztlich planlose, bloß situ-ativ reagierende Handeln von Ver-waltung und Wirtschaft aufzeigenzu können, dessen Folgen dieZwangsarbeiter zu tragen hatten,hat die Autorin eine chronologischeDarstellung gewählt. Es gab „vonAnfang an kein auf Arbeitskrafter-haltung ausgerichtetes Konzept“,bedenkenlos wurden in der erstenKriegshälfte „Menschen einfach ge-gen andere aus dem scheinbar un-begrenzten Reservoir an Arbeits-kräften ausgetauscht“ (S. 126). Erstkurz vor Schluss musste man sichfaktisch das Scheitern der bisheri-gen, bloß auf Repression und Aus-nutzung von Arbeitskraft orientier-ten Handlungsweise eingestehen;ohne Reserven an Arbeitskräftenerwies sich die Auslieferung vonZwangsarbeitern an die Gestapo„sogar betriebswirtschaftlich alskontraproduktiv“ (S. 587); Versu-

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kinder und Säuglinge – von sowje-tischen Zwangsarbeitenden zumOpfer, die in Hamburger „Auslän-derkinder-Pflegestätten“ – mindes-tens zwei sind sicher belegt – vorsich hinvegetierten. Etwa 130 vonihnen starben im AK Langenhornschon kurz nach ihrer Einlieferungan völliger Entkräftung (S. 492).

Ein dritter Abschnitt themati-siert die Frage nach der Alltagsrea-lität von Zwangsarbeit im Zusam-menhang mit polizeilicher undgerichtlicher Kontrolle und Unter-drückung. Littmann arbeitet hier-bei eine ökonomische „Substruk-tur“ (S. 529) der Ausländer heraus,die sich um bestimmte Kneipen undRestaurants in St. Pauli und ande-ren Stadtteilen zentrierte und diestark in den schwarzen Markt ein-bezogen war. Solcher zunehmenderKontrollverlust über die ausländi-schen Arbeitskräfte ist für vieleGroßstädte im Reich bekannt, inHamburg war er zusätzlich bedingtdurch die starken Bombenzerstö-rungen seit Mitte 1943.

Die Verfasserin zeigt, dass ausdieser Situation heraus die Radikali-sierung des Gestapo-Terrors gegen-über den Zwangsarbeitern in Ham-burg bereits im Sommer 1943 ein-setzte, nicht erst wie sonst im Reichim Spätsommer 1944 (S. 553). Tat-sächlich kam es – ähnlich wie fürSchleswig-Holstein belegt – u. a. ab1944 zur Bildung von Widerstands-gruppen von Zwangsarbeitern; einim Oktober 1944 an mehreren Stel-len in Hamburg gleichzeitig auf-

flackernder Aufstandsversuch, des-sen tatsächliche Dimensionen, Hin-tergründe und überörtlichen Be-züge vielleicht noch näher auszu-leuchten wären, wurde allerdingsbinnen weniger Stunden niederge-schlagen (S. 560).

Im Interesse der Leserfreund-lichkeit des Buches wäre gelegent-lich eine gewisse Straffung oderzumindest eine kapitelweise bzw.abschließende Zusammenfassungder Inhalte zu wünschen gewesen;bei der Fülle von Details, den im-mer wiederkehrenden Reibereiender beteiligten Institutionen umimmer gleiche Diskussionspunkteund der überwiegend der Chrono-logie folgenden Erzählform ist derÜberblick nicht immer leicht zubehalten. Gleichwohl bleibt fest-zuhalten, dass mit der Arbeit vonLittmann nun eine umfassende Dar-stellung zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Hamburg vorliegt,die das Thema von nahezu allendenkbaren Blickwinkeln aus be-trachtet und darüber hinaus zahlrei-che Anknüpfungspunkte für künf-tige Forschungen – auch über dasThema Zwangsarbeit hinaus – bietet.

Aus der Arbeit von Littmann istschließlich noch ein besondereszeitgeschichtlich-museumspädagogi-sches Nebenprodukt entstanden,eine CD-ROM mit einer kartografi-schen Darstellung aller nachweisba-ren Zwangsarbeiterlager im Ham-burger Stadtgebiet. Zugrunde liegtihr eine Datenbank, die FriederikeLittmann ursprünglich für die

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Breiten Raum nimmt die Unter-suchung der ärztlich-medizinischenVersorgungssituation ein, wobeisich die Verfasserin auch hier u. a.auf die polnischen und „Ostarbei-ter“ konzentriert. Die Berichte vonÜberlebenden über ihre Angst,krank zu werden und einem danndrohenden ungewissen Schicksalausgeliefert zu sein, unterlegt Litt-mann mit einer Analyse erhaltenerAufnahmelisten aus dem Allgemei-nen Krankenhaus (AK) Langen-horn, dem für Hamburg (und of-fenbar auch für das Umland) einezentrale Bedeutung für die stationä-re „Behandlung“ von ausländischenZwangsarbeitern zukam.

Die zumeist aus Polen und derSowjetunion stammenden Patientenwiesen typische Krankheitsbilderauf, die durch Mangelversorgung,körperliche Überlastung und dieunhygienischen Zustände in denLagern hervorgerufen werden; imWesentlichen werden damit die inder Studie des IZRG von 2001 vor-gestellten Ergebnisse bestätigt.Krankenakten selbst fehlen zwar,aber anhand der Listendaten wirdfür die sowjetischen und polnischenPatienten deutlich, dass viele erst infortgeschrittenem Krankheitssta-dium eingeliefert wurden; auch immedizinischen Bereich wurden sieso Opfer der rassistisch ausdifferen-zierten Behandlung der Zwangs-arbeiternationalitäten und des NS-Primats der „Einsatzfähigkeit“.

Von den knapp 8.000 Menschenaus Polen und der Sowjetunion,

deren Patientendaten Littmann detaillierter ausgewertet hat, ver-starben im AK Langenhorn 426Menschen. (Ingesamt wurden rund5.500 Ausländer während des Krie-ges auf den Hamburger Friedhöfenbestattet, einschließlich der zahlrei-chen Bombenopfer unter ihnen, S. 402). Ein Großteil der Patientenwurde zwar rasch wieder entlassen,ein wirklicher Heilungseffekt aberist nach Littmann zu bezweifeln.Die Rückschlüsse, die sie aus denAufnahmelisten zieht, sind für Le-ser ohne medizinhistorisches Hin-tergrundwissen nicht leicht nach-vollziehbar, zumal Vergleichsdatenfür „Westarbeiter“ oder deutschePatienten fehlen.

Die unmenschliche Behandlungerkrankter Zwangsarbeiter wird je-doch darin deutlich, dass ein Teilder besonders schwerkranken Pa-tienten (fast ausschließlich Sowjet-bürger und Polen, zumeist TBC-Patienten oder solche mit neuro-lo- gischen/psychiatrischen Erkran-kungen, zusammen etwa 100 bis130 Menschen, S. 470f., 499f.) ausdem AK Langenhorn in verschiede-ne „Heil-“ bzw. „Pflegeanstalten“zu-meist im norddeutschen Umlandabgeschoben wurden, die als Ster-belager oder Orte von „Euthana-sie“-Verbrechen belegt sind und woman sie – wie im Falle Schülldorfsbei Osterrönfeld nachweisbar (S.475) – ihrem Schicksal überließ, ih-ren Tod also bewusst in Kauf nahm.

Der gleichen Selektionslogik fie-len auch viele Kinder – u. a. Klein-

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durchaus verdienstvolle Arbeit, gibtdas Werk doch einen Überblickund Einstieg in die GeschichteLübecks in der NS-Zeit.

Im Einzelnen wird kurz die Vor-geschichte des „Dritten Reiches“ inLübeck und die Rolle der LübeckerArbeiterbewegung gestreift, danachbehanden die Autoren den Wider-stand und die Verfolgung der Ar-beiterbewegung ausführlich. Wei-ter werden die Bücherverbrennung,die Auseinandersetzung über „ent-artete Kunst“, Widerstand aus denchristlichen Kirchen, die Verfol-gung von Juden, Zeugen Jehovasund Sinti und Roma, die Geschich-te der Zwangsarbeit während desZweiten Weltkrieges und die Bom-bardierung der drei Häftlingsschiffe„Cap Arcona“, „Thielbeck“ und„Athen“ in der Neustädter Buchtdargestellt. Rolf Schwarz undHarald Jenner befassen sich in kur-zen Aufsätzen mit den Themen„Euthanasie“ und „NorwegischeGefangene im Zuchthaus Lauer-hof“.

Zum Schluss werden kurze Bio-grafien über Julius Leber und dieFamilie Bringmann angefügt. Bishernoch nicht veröffentlicht sind dreiBiografien bzw. Erinnerungen vonRichard Praefke, Waltraud Gilde-nast und von Jürgen Busak überHermann Reimann.

Richard Praefke war als Kom-munist zwölf Jahre im Zuchthausund im Konzentrationslager Sach-senhausen inhaftiert (S. 89-90).Waltraud Gildenast erinnert sich

an ihren Vater Hannes Mesnikoff (S. 91-93), der 1933 die Fahne des„Deutschen Schiffahrtsbundes Lü-beck“ versteckte und über die Zeitder nationalsozialistischen Herr-schaft rettete. In einem Auszug auseiner Trauerrede vom 30. August1996 (S. 94-96) erinnert JürgenBusak an Hermann Reimann unddessen Aktivitäten in der Arbeiter-jugend der 20er Jahre, seine Wider-standstätigkeit während des „Drit-ten Reiches“ und seine Rolle bei derErforschung von Widerstand undVerfolgung in der Nachkriegszeit.

Den Abschluss des Buches bil-den zwei Opferlisten. Die Autoren

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Nachweisbeschaffung für ehemali-ge Zwangsarbeiter entwickelt hat.Grafisch zurückhaltend und zu-gleich sehr ansprechend gestaltet,bietet sich dem Nutzer eine Stadt-karte des heutigen Hamburgs (vgl.S. 132), in der sämtliche lokalisier-baren Lager, unterteilt in die ver-schiedenen Lagerkategorien (Fir-menlager, Gemeinschaftslager, Kgf-Lager/-Kommandos, KZ Neuen-gamme und Au-ßenlager, AEL), mitentsprechenden Farbsymbolen ein-getragen sind.

Beim Anklicken des jeweiligenLagersymbols erhält der Nutzer diewichtigsten Daten zum Lager (heuti-ger/ehemaliger Straßenname, Haus-nummer, Belegung und Nationali-täten der Zwangsarbeiter, Betriebe,Quellennachweis). Eine Zoomfunk-tion erleichtert die Kartenlektüreu.a. in den Ballungsbereichen. Über

eine Suchwortfunktion können auchgezielt Lager- oder Betriebsnamengesucht und die jeweils zugehörigenBetriebe oder Lager ermittelt wer-den – auch solche, für die der Stand-ort unbekannt ist und die daher aufder Karte nicht erscheinen.

Die Hilfe-Funktion und das bei-gelegte bebilderte Booklet lieferndazu nicht nur quellenkritischeHinweise, sondern auch eine kurzehistorische Einführung in das The-ma sowie weiterführende Literatur-tips und Internetlinks. Insgesamtalso eine rundum gelungene Visua-lisierung zum Thema!

Die CD-ROM ist bei der Lan-deszentrale für politische Bildung(http://fhh.hamburg.de/stadt/Aktuell/weitere-einrichtungen/landeszentrale-fuer-politische-bildung/kontakt/laden/start.html) kostenlos zu beziehen.

Jan Klußmann

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Erster Einstieg – mit Schwächen

Marianne und Günther Wilke, Lübeckunterm Hakenkreuz. Wegweiser zuStätten des Widerstandes und der Ver-folgung in Lübeck 1933–1945. Hg. vonder Vereinigung der Verfolgten desNaziregimes (VVN)/Bund der Antifa-schisten. Selbstverlag 2006. 124 S.

In den letzten 20 Jahren ist dieGeschichte von Widerstand undVerfolgung in Lübeck während des„Dritten Reiches“ intensiv erforschtworden. Bücher und Aufsätze be-schäftigen sich vor allem mit derVerfolgung der jüdischen Bürger,aber auch Veröffentlichungen überThemen wie politische Verfolgungund Widerstand, Zwangsarbeit,Verfolgung von Sinti und Roma undErmordung von Menschen mit geis-tiger und körperlicher Behinderung

sind in größerer Zahl erschienen.Das hier vorgestellte, von der

VVN Schleswig-Holstein herausge-geben Buch ist in seinem Untertitel„Wegweiser zu Stätten des wieder-standes und der Verfolgung“ etwasirreführend. Zwar werden Fotosvon allen in Lübeck vorhandenenGedenktafeln und -stätten abgebil-det, aber im Grunde genommenhandelt es sich um eine Zusammen-fassung der bisher vorgelegten For-schungsergebnisse. Das ist eine

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nicht „wegen seiner Beteiligung anden Auseinandersetzungen beimÜberfall von SA-Leuten auf JuliusLeber am 31. Juli 1932“ (S. 40) zumTode verurteilt. Der Überfall aufJulius Leber fand am späten Abenddes 31. Januar 1933 statt. Am Vor-abend der Reichstagswahl am 31.Juli 1932 war die politische Stim-mung in der Stadt sehr aufgeheizt.Karl Kaehding und Johannes Fick,ebenfalls Sozialdemokrat undReichsbannermann, waren an die-sem Abend in verschiedenen Ver-sammlungslokalen des Reichsban-ners und besuchten danach nocheine weitere Kneipe in der Hunde-straße. Hier gerieten sie in eine Aus-einandersetzung mit dem SA-MannWilli Meinen, der gerade seinenGeburtstag feierte. Nach dem Ver-lassen der Kneipe setzen sich dieHandgreiflichkeiten auf der Straßefort; Meinen wurde erstochen.

Kaehding und Fick wurden am30. Juni 1933, ein Jahr nach der Tat,verhaftet und in einem von den Nationalsozialisten inszeniertenSchauprozess wegen Mordes zumTode verurteilt. Karl Kaehdingerhängte sich einige Stunden nachder Urteilsverkündung, JohannesFick wurde am 8. März 1934 imHof des Burgklosters mit dem Fall-beil hingerichtet.2

So gut wie gar nichts stimmte andem Absatz über Edmund Fülscher

auf S. 38 – außer dem Namen unddem Grund für seine Verurteilung(Widerstandstätigkeit für die Revo-lutionäre Arbeiterjugend). EdmundFülscher stammt aus Lübeck, nichtaus Bad Schwartau. Er war nicht –wie hier dargestellt – über ein Jahrin den Prügelzellen der Gestapo imKeller des Zeughauses inhaftiert,sondern in Untersuchungshaft imMarstallgefängnis am Burgtor.Nach seiner Verurteilung durch denVolksgerichtshof im Dezember1936 zu 15 Jahren Zuchthaus wurdeer nicht in ein KZ überstellt, son-dern saß seine Haftstrafe im Zucht-haus Bremen-Oslebshausen ab, seitdem Frühjahr 1944 in einer Außen-stelle des Zuchthauses Waldheim inder Nähe von Leipzig. Von dortgelang ihm Anfang April 1945 dieFlucht. Diese Informationen hättendie Autoren sich aus der Literatur3

besorgen können, aber auch ausdem Industriemuseum Geschichts-werkstatt Herrenwyk. Dieses über-nahm 1993 das Archiv des „Ar-beitskreises Geschichte der Lübe-cker Arbeiterbewegung“, in demsich u.a. umfangreiche Zeitzeugen-interviews mit Edmund Fülscherbefinden (vgl. auch S. 92ff).

Auch die Liste der Schoa-Opferenthält vermeidbare Fehler: EstherBähr, geborene Daicz, wurde vonHamburg nach Minsk und nichtnach Riga dportiert. Siegfried Fisch,

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haben mit Unterstützung von FrauProf. Antjekathrin Grassmann, ehe-malige Leiterin des Archivs derHansestadt Lübeck, und der Lü-becker Meldestelle eine Totenlisteder jüdischen Opfer der Shoa zu-sammengestellt. Eine solche Listeist allerdings auch schon vor mehre-ren Jahren durch Erich Koch, denehemaligen Mitarbeiter des Insti-tuts für schleswig-holsteinischeZeit- und Regionalgeschichte inSchleswig, erstellt worden. EinExemplar dieser Liste wurde imNovember 2001 bei der Eröffnungder Gedenkstätte Bikernieki in Rigadurch den damaligen LübeckerStadtpräsidenten Peter Oertling ineiner Metallkartusche in den dortaufgestellten Granitstein gelegt. Diezweite Liste mit den Opfern derpolitischen Verfolgung ist eine ver-kürzte Wiedergabe der Aufstellung,die der „Arbeitskreis Geschichteder Lübecker Arbeiterbewegung“bereits 1986 veröffentlicht hat.1

Leider hat sich eine ganze Reiheteils ernster Fehler in das Buch ein-geschlichen, die bei einem gründ-lichen Lektorat sicher zu verhin-dern gewesen wären. August Klüsswurde nicht im Juni 1933, sondernim Juni 1934 verurteilt (S. 27); dieErich-Mühsam-Gesellschaft hat ih-ren Sitz seit 1993 und nicht seit ih-rer Gründung 1989 im LübeckerBuddenbrookhaus (S. 44); die Fir-

ma DWM befand sich in der Wes-loer und nicht in der Wasloer Stra-ße (S. 71); der Direktor des Katha-rineums und Schwiegervater vonJulius Leber hieß nicht Georg Ro-sendahl, sondern Rosenthal (S. 80).

Weit ärgerlich sind allerdingsinhaltliche Fehler, die bei einersorgfältigeren Recherche nicht ge-macht worden wären. In der Presse-mitteilung, die zur Buchvorstellungam 10. November 2006 im DGB-Haus Lübeck erschien, teilten dieAutoren mit, dass sie drei Jahre langfür das Buch in Lübeck recher-chiert hätten. Allerdings haben siekeinen Kontakt gehabt zu denMuseen Kulturforum Burgklosterund Industriemuseum Geschichts-werkstatt Herrenwyk, die sich beideals städtische Einrichtungen seitvielen Jahren mit diesen Themenbefassen. Auch andere Forscherkönnen sich an eine Verbindungmit den Autoren nicht erinnern.

Und so lässt sich die Reihe derFehler fortsetzen: Benjamin Grusz-ka wurde nicht, wie auf Seite 62 zulesen ist, im Warschauer Ghettogeboren, sondern Mitte der 20erJahre. Er war Überlebender desGhettos. Sonst wäre er sicher 1947noch nicht in der Lage gewesen,den „Exodusflüchtlingen“ in Lü-beck zu helfen.

Der Sozialdemokrat und Reichs-bannermann Karl Kaehding wurde

1541. Werner Petrowsky/Arbeitskreis „Geschichte der Lübecker Arbeiterbewegung“; Lübeck –eine andere Geschichte. Einblicke in Widerstand und Verfolgung in Lübeck 1933–1945.Sowie: Alternativer Stadtführer zu den Stätten der Lübecker Arbeiterbewegung, des Wider-standes und der nationalsozialistischen Verfolgung. Hg. vom Zentrum Jugendamt der Hanse-stadt Lübeck. Lübeck 1986, S. 175- 184.

2. Elke Imberger, Widerstand ,von unten‘. Widerstand und Dissens aus den Reihen der Arbei-terbewegung und der Zeugen Jehovas in Lübeck und Schleswig-Holstein 1933–1945. Neu-münster 1991. S. 87.3. vgl. Petrowski und Imberger.

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Der Band Geschichte Nordfries-lands von 1918 bis in die Gegenwartschafft nahtlos Anschluss an dieEreignisse, die Nordfriesland be-wegten. Die Volksabstimmung proDeutschland oder Dänemark unddie Zeit der Weimarer Republik bil-den die Kulisse für sehr wechselhaf-te Verhältnisse. Steensen schildertwiederum kenntnis- und fakten-reich die Hintergründe, die letztlichzum Scheitern der Demokratie füh-ren. Der Boden für die Nationalso-zialisten ist längst bereitet: Antise-mítismus, völkisches Denken sowieBlut-und-Boden-Ideologie gehörtenbei den überwiegend rechtsorien-tierten Parteien zum Programm.

Die Not der Bauern, Weltwirt-schaftskrise und Arbeitslosigkeittrugen dazu bei, dass die National-sozialisten ab 1932 überragendeWahlergebnisse erzielten. Die My-thologisierung und Heroisierungder ‚rassereinen‘ Friesen taten dabeiein Übriges. Zeitungsberichte überVerhaftungen, zahlreiche Fotos wieüber SA-Aufmärsche und Schul-feste unter dem Hakenkreuz in denDörfern und Gemeinden markierenebenso wie Todesanzeigen aus denJahren 1939 bis 1945 diesen dunk-len Zeitabschnitt.

Die Einrichtung von Konzentra-tionslagern in Schwesing und Lade-lund bezeichnet der Autor als„grausamsten Abschnitt der Ge-schichte Nordfrieslands“. Den Mutzum Widerstand brachten wieandernorts nur Wenige auf. ‚Notund Neubeginn‘ verdrängen die

braune Vergangenheit in den Köp-fen der Menschen. Steensen weistdarauf hin, dass ehemalige NS-Grö-

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Nathalie Heimann, Kurt Kendzio-rek und dessen beide Töchter über-lebten Riga. Berta Lexandrowitzwurde nicht nach Riga, sondern vonNeuendorf im Sande aus ins War-schauer Ghetto deportiert. Auf derListe fehlen die nach Riga depor-tierte Dora Lexandrowitz und ihrBruder, der in Litauen Opfer derSchoa wurde.4 Diese Ungenauigkei-ten in einer Totenliste sind beson-ders schmerzlich, da bei der Wür-digung von Opfern stets größteSorgfalt walten sollte – was auch dieberücksichtigung aktueller Litera-

tur und ggf. Gespräche mit anderenForschern nötig macht.

Das vorgestellte Buch ist einerster Einstieg und Überblick in dieGeschichte von Widerstand undVerfolgung in Lübeck während des„Dritten Reiches“. Die genannteninhaltlichen Fehler mahnen aller-dings zu sehr kritischer Lektüreund vorsichtigem Umgang – zitier-fähig ist der Band über weiteStrecken daher leider nicht. Auchdie unpräzise Literaturliste ist viel-fach keine wirkliche Hilfe.

Wolfgang Muth

1564. Diese Hinweise gab freundlicherweise Heidemarie Kugler-Weiemann, vgl. u.a. HeidemarieKugler-Weiemann/Hella Peperkorn (Hg.), „Hoffentlich klappt alles zum Guten...“ Die Briefeder jüdischen Schwestern Bertha und Dora Lexandrowitz (1939–1941). Neumünster 2000.

Norfriesische Geschichte auf neuestem Stand

Seit kurzem sind zwei Bücher ausdem Verlag des Nordfriisk Institu-uts, die vor rund zehn Jahren erst-mals erschienen sind, wieder aufdem Markt. Als Neuauflagen sindsie vom Autor Thomas Steensen,dem Direktor des Instituts, umfas-send aktualisiert worden. Dabeiwurde auch die Bebilderung derBände überarbeitet.

Das Buch Im Zeichen einer neu-en Zeit schildert die Veränderungenin der ländlichen Region ab 1800.Der Leser erfährt auf anschaulicheWeise, wie sich durch politischeEntwicklungen und industrielleRevolution Lebens- und Arbeitsbe-dingungen rapide wandeln. Steen-

sen schafft den Spagat, mit histo-rischen Hintergrundinformationenund unzähligen Details und Fakteneine spannende Erzählstruktur auf-zubauen, die das ländliche Lebensowie die Entwicklung Nordfries-lands anschaulich werden lassen.Ausführlich geht der Autor auchauf die Entwicklung der politischenParteien und Verbände sowie dieGeschichte der ‚friesischen Bewe-gung‘ ein.

Bekannte Nordfriesen wie EmilNolde oder Ferdinand Tönnies finden Erwähnung, Noldes früheBegeisterung für den Nationalsozia-lismus wird dabei nicht unterschla-gen.

Thomas Steensen, Im Zeichen einerneuen Zeit. Nordfriesland 1800—1918.Bredstedt: Nordfriisk Instituut 2006. –Ders., Geschichte Nordfrieslands von1918 bis zur Gegenwart. Bredstedt:Nordfriisk Instituut 2007. Je 224 S.

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Denn der Fall ist pikant: DerBremer Bürgermeister war mit einerDelegation zum Kunstkauf nachAmsterdam gereist, und dort hatteman ihm ein gefälschtes Bild unter-gejubelt. Da ist Lüder gerade derrichtige, um unauffällig zu recher-chieren.

Irgendwie klingt dieser Plot be-kannt – und tatsächlich, Artingerverwendet den realen KunsteinkaufHeinrich Böhmckers aus demHerbst 1940 als inhaltliches Ele-ment für sein literarisches Kon-strukt. Allerdings blendet er schnellvon Bremen nach Amsterdam über,fokussiert nicht Böhmcker bzw.natürlich dessen literarisches alterego Hartbeck oder den in den Nie-derlanden einflussreichen CousinHartbecks, sondern baut ein Szena-rio aus weitgehend erdachten Figu-ren auf, mit denen er seine histo-risch orientiertes Fiktion freier ent-wickeln kann.

Über drei Monate – vom No-vember 1940 bis zum Februar 1941– entfaltet sich die Handlung. UndArtinger nutzt alle klassischen Ele-mente, um Spannung zu erzeugen:Auftakt ist der Fund zweier grau-sam zugerichteter Leichen in einerTransportschute – der eine Tote istvermutlich der Amsterdamer Kunst-händler Pieter van Zwanenburg.Dessen Witwe, eine geheimnisvolle,bildschöne Blondine, begegnet Lü-der kurz darauf in Bremen. Erst alsauch sie ihn bittet, mit ihr in dieNiederlande zu kommen, um denvermeintlichen Tod ihres Mannes

aufzuklären, nimmt der Ex-Polizistden offiziellen Auftrag an.

Szenenwechsel: Angekommenin Amsterdam, bezieht Lüder Quar-tier im Haus der Zwanenburgs. DieSituation ist unheimlich, dunkleGestalten lauern auf der Straße,Gestapo-gleich, und der holländi-sche Kommissar Kees Elias von derAmsterdamer Polizei bleibt betontauf Distanz – schließlich halten dieDeutschen das Königreich der Nie-derlande besetzt.

In Amsterdam gerät Lüder im-mer tiefer in eine komplexe Szene-rie: Von Caren van Zwanenburgerfährt er immer mehr über die Rolle ihres verschwundenen Man-nes – sie glaubt nicht wirklich, dassder politisch aktive, weltgewandte

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ßen wie Landrat August Fröbe baldwieder in Amt und Würden kamen.Ein Fall der die gesamte Republikin den 50er Jahren erschütterte: DerSS-Gruppenführer und HöhererSS- und Polizeiführer Wartheland,Heinz Reinefarth, Hauptbeteiligteran der Niederschlagung des War-schauer Aufstands, wurde Land-tagsabgeordneter und langjährigerBürgermeister Westerlands.

Der Strukturwandel in den 50erund 60er Jahren, Debatten und

Küstenschutz, Nationalpark undFriesentum sind die folgenden The-men des Bandes. Weitere aktuelleThemen wie Kreisreform, Umwelt-und Klimaschutz bearbeitet Steen-sen mit der ihm eigenen Gründlich-keit.

Fazit: Beide Bände – es handeltsich um Teil 4 und 5 der GeschichteNordfrieslands – sind ausgespro-chen informativ und lesenswert –auch für Nichtfriesen.

Arndt Prenzel

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NS-Geschichte als fiktives Konstrukt Kai Artinger, Die Sphinx von Amster-dam. Kriminalroman aus Bremen undAmsterdam. Oldenburg: Schardt Verlag2007. 304 S.Einer der Ersten war wohl Philip

Kerr: In March Violets (1989) undThe Pale Criminal (1990) schicktder britische Autor seinen DetektivBernie Gunther durch das Berlinder NS-Zeit bis an jene Orte, an de-nen Geschichte geschrieben wurde.Wie selbstverständlich verkehrtGunther in der Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße oderbeim SD in der Wilhemstraße 102,trifft Arthur Nebe, Reinhard Heyd-rich, Heinrich Himmler.

Kerrs Kunstgriff – Krimis in derNS-Zeit anzusiedeln – wurde schnellbeispielgebend. 1995 legte GregIles mit Black Cross einen Thrillervor, in dem zwei Agenten sich in einKZ einschmuggeln, um die Fabri-kation von Giftgas zu verhindern –eine Verbindung von Historie undFiktion in bislang kaum erreichterliterarischer Qualität.

Virginia Doyle lässt in Dieschwarze Schlange (2006) den Poli-zisten Heinrich Hansen zu Kriegs-zeiten in Hamburgs Rotlichtmilieuermitteln, und aktuell schickt Vol-ker Kutscher in Der nasse Fisch(2007) Gereon Rath ins Rennen –der erste Fall der Trilogie spielt amVorabend der NS-Zeit in Berlin.

Und nun Kai Artinger. Eigent-lich war sein Kommissar Lüder –bekannt aus Tod in Worpswede(2003) und Novembermorde (2005)– ja bereits in den Ruhestand gegan-gen. Ein tiefes Unbehagen gegen-über der Politisierung des Polizei-apparats seit der Machtübernahmeund gesundheitliche Gründe ver-anlassten ihn, bei der Bremer Kripoden Abschied zu nehmen. Doch istLüder ein so guter Kriminalist, dasser im Herbst 1940 auf höchstenBefehl hin reaktiviert wird.

Page 13: Rezensionen in der ISHZ 49 / 2007 · 2020. 8. 8. · Ärgerlich ist auch ein Lapsus in Fußnote 44 („der Hamburger Gau-leiter Lohse aus Altona“, S. 230) oder das Fehlen einer

derung im Zusammenhang mit denpolitischen Demonstrationen, inder der Autor Hartbecks Sohn indie Konfrontation zwischen Polizeiund Arbeitern geraten lässt.

Geschichtliche Ereignisse kon-stituieren nur wenige Teile desHandlungsgerüstes, stecken abertrotzdem Koordinaten ab, die mitfiktionalen Elementen ausgebautwerden. Die sind zwar werkimma-nent schlüssig, könnten aber auchunabhängig von der konkreten his-torischen Projektionsfläche funktio-nieren. Artinger verzichtet auf dieFreiheit, mittels Fiktionalisierungdie Geschichte beliebig als Baukas-ten zu benutzen und – der Hinweisauf Greg Iles’ Black Cross sei er-laubt – abenteuerliche Handlungs-stränge zu konstruieren. Sein Romanleidet darunter aber keineswegs:Die Fantasie des Autors ist lebhaftgenug, innerhalb des gestecktenRahmens eine spannende und logi-sche Handlung schlüssig sowohl zuentwerfen als auch zu erzählen.

Heinrich Böhmcker und seinCousin Dr. Hans Böhmcker werdendaher nicht zu literarischen Figurenmit neuem Eigenleben. Durch Na-mensverfremdung distanziert, be-

dient sich Artinger hier zweier Vor-bilder, deren Position und Hand-lungen auch ohne die fantasievolleAusschmückung dem Roman Kon-tur und inhaltliche Dimension ge-ben – unter weitgehendem Verzichtauf die Personen an sich.

Artinger führt das Handlungs-und Personengeflecht zu einemspannenden und überraschendenSchluss. Lüder kehrt nach Erledi-gung seines Auftrags nach Bremenzurück, und zum seinem niederlän-dischen Kommissar Elias ist fast soetwas wie Freundschaft entstanden.

Den weiteren Werdegang seinergeschichtlich verbürgten Protagoni-sten trägt Artinger in eine zweitei-ligen Epilog nach: Dr. Hartbeckmuss Amsterdam verlassen undkehrt nach Lübeck zurück, wo manbald seine Amtsführung kritisiertund ein Verfahren gegen ihn eröff-net – dem entzieht er sich durchSelbstmord. Und seinen dickleibi-gen Cousin Emil Hartbeck ereiltsein Schicksal in Form einer töd-lichen Herzattacke, als er im Juli1944 im Zug von Berlin nach Bre-men heimfährt – auch hierin bleibtArtinger der geschichtlichen Wirk-lichkeit verpflichtet. Kay Dohnke

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Kunstexperte tot ist, denn schließ-lich hat sie ihn noch nach seinemoffiziellen Verschwinden nachts aufder Straße gesehen. Lüders be-kommt eine erste Ahnung davon,dass van Zwanenburg sich gegendie Besatzungsmacht engagiert.

Gemeinsam mit Caren van Zwa-nenburg sucht er in dessen Hausnach Hinweisen für die Gründe sei-nes Verschwindens. Dass das Hausbeschattet wird, erhöht die Span-nung und deutet noch einmal ver-stärkt auf politische Hintergründe –die niederländischen Kunstgeschäftlaufen besonders gut, und die Tat-sache, dass die Bremer Delegationeinem Fälscher aufgesessen ist, legteinmal mehr die Vermutung nahe,dass gezielt versucht wird, auf kri-minelle Weise mit Kopien wertvol-ler Kunstwerke Geld zu machen. Indiesem Konstrukt spielen die Zwa-nenburgs eine mehrdeutige Rolle.

Artinger zieht den Kreis der auf-tretenden Personen weiter, und der Leser macht auf diese Weise Be-kanntschaft mit einer Gruppe vonvirtuosen Kunstfälschern, derenHandeln eindeutig politisch moti-viert ist – in den besetzten Nieder-landen laufen sie zunehmend Risi-ko, dass ihr Tun aufgedeckt wird.Artinger zeichnet diese Personen –Menschen, die bewusst am Randeder Gesellschaft leben und operie-ren – mit großer Anteilnahme, undgenerell lässt sein Roman keinenZweifel, wem in dieser besonderenpolitisch-historischen Situation dieSympathie des Autors gehört.

Auch das Handwerk des Krimi-Schreibens beherrscht Artinger:Zwielichtige Personen, Bespitze-lung und Einbrüche, geknackteTresore und Verfolgungsjagden, dieunausweichliche Romanze zwischenLüders und Caren van Zwanenburgschließlich der gewaltsame Tod ei-niger Widerständler inklusive einerexplodierenden Fälscherwerkstattsowie Szenen des Aufstandes brei-ter Massen in Amsterdam sicherndem Roman Spannung – da fällt eskaum ins Gewicht, wenn der eineoder andere Dialog manchmal einwenig trocken wirkt.

Geschickt und mit wenigen Pin-selstrichen bringt Artinger die nie-derländische Zeitgeschichte ein.Das Auftreten und Verhalten derdeutschen Ordnungskräfte machendie Unterdrückungssituation deut-lich; die Handlung reflektiert zu-dem den kumulierenden Protestder Amsterdamer Arbeiterschaft.

Artinger geht mit den historischverbürgten Elementen und Perso-nen ungewohnt behutsam um. Allediesbezüglichen Szenen – es sindnur wenige – sind faktisch doku-mentiert, und er hütet sich davor,die realen Akteure der Geschichteneu zu interpretieren oder in freierfundenen Szenen handeln zu las-sen. Daher reduziert er seine histo-risch identifizierbaren Handlungs-teile auf das, was durch Dokumentebe-legbar ist. Generell bleiben Pas-sagen rar, die sich auf tatsächlicheEreignisse zurückführen lassen –am lebendigsten ist dabei die Schil-

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Literatur:Philip Kerr, March Violets. London: Viking 1989 (dt: Feuer in Berlin, Rowohlt 1995). The PaleCriminal. London: Viking 1990 (dt.: Im Sog der dunklen Mächte, Rowohlt 1995)Greg Iles, Black Cross. Signet 1995 (dt.: Schwarzer Tod, Lübbe 2000).Virginia Doyle, Die rote Katze. München: Heyne 2004. Der gestreifte Affe. München: Heyne2005. Die schwarze Schlange. München: Heyne 2006.Volker Kutscher, Der nasse Fisch. Kiepenheuer & Witsch 2007.Kai Artinger, Tod in Worpswede. VDG-Verlag 2003. Novembermorde. Aschenbeck 2005.


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