Date post: | 06-Jun-2015 |
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A U F D E R S E I D E N S T R A S S E N A C H H O N G K O N G
Eindrücke einer 5 1/2 monatigen Reise mit Bus, Bahn,
Sammeltaxi und Schiff. Von der Türkei in den Iran und
weiter über Pakistan nach China.
2 . T E I L : P A K I S T A N - C H I N A
4 2 Der Weg ist das Ziel ...
I N D U S T A L
31. 8. - 12. 9. Rawalpindi – Kashgar Entlang des Karakorum-Highways über den Khunjerab Paß nach China
Um 23.00 Uhr besteige ich den Nachtbus nach Gilgit.
Die Fahrt führt kurvenreich dem Indus entlang. Je
weiter wir flußaufwärts kommen, desto kahler wird die
Landschaft. Nach neunzehnstündiger Fahrt erreiche
ich gleichzeitig mit einem Sandsturm Gilgit.
Nach zwei Ruhetagen setze ich gemeinsam mit Klaus,
einem Berliner, zum Sprung nach China an. Kashgar,
die nächste größere Stadt, ist zwar nur rund 700 km
entfernt, doch man muß dabei das Karakorum-
Gebirge überqueren, dessen höchster Gipfel, der K2,
8.611 m hoch ist. So ist mit einer Reisezeit von min-
destens drei Tagen zu rechnen.
Am ersten Tag kommen wir trotz Erdrutschen bis
Sust, dem pakistanischen Grenzort. Dort akklimatisie-
ren wir uns noch einen Tag, bevor wir den 4.730 m
hohen Khunjerab-Paß in Angriff nehmen.
Die Fahrt ist eigentlich nicht so spektakulär, wie ich es
mir erwartet habe. Irgendwie fehlt mir das Höhener-
lebnis. Die Straße ist gut ausgebaut und asphaltiert. Ei-
4 3 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
K A R A K O R U M H I G H W A Y
nem Faltblatt entnehme ich, daß beim Bau des „8.
Weltwunders“ 23 Millionen Kubikmeter Erde bewegt
wurden, wobei rund 15.000 Mann 8.000 Tonnen
Sprengstoff und 80.000 Tonnen Zement verarbeiteten.
Mit anderen Worten: Stand irgendwo ein Berg im
Weg, wurde er einfach weggeblasen.
So ist der Karakorum-Highway auch das ganze Jahr
über befahrbar. Beim Bau standen weniger touristische
als militärische Aspekte im Vordergrund. Haben doch
die beiden Staaten China und Pakistan die Sowjetuni-
on als gemeinsames Feindbild, das eint.
Es sind dann auch weniger grandiose Tiefblicke wie
am Lowari-Paß sondern hochalpine Vegetation und
Gletscher die faszinieren. Auf der Paßhöhe schieben
einsam ein Pakistani und ein Chinese Wache.
Der pakistanische Soldat trägt eine gutsitzende, bri-
tisch angehauchte Uniform, der chinesische die typi-
sche „Schlapper-Dreß“, die wohl für den Durch-
schnittschinesen angepaßt wurde und folglich keinem
wirklich paßt. In der klassenlosen Gesellschaft der
Volksrepublik gab es damals auch noch keine militäri-
schen Rangabzeichen, doch trotzdem konnte man an
der Uniform Unterschiede erkennen: Saß sie aus-
nahmsweise wie angegossen, so war Vorsicht die Mut-
ter der Porzellankiste. Man hatte es mit einem ganz
hohen Tier zu tun.
Von der Staatsgrenze dauert es dann noch rund eine
Stunde bis Pirali, dem chinesischen Grenzort. Bei der
Abfertigung lernen wir eine neue Variante des „Wie
melke ich die Touristenkuh“-Spiels kennen: Zu unse-
rer Erheiterung sollen wir für die Einreiseformulare
4 4 Der Weg ist das Ziel ...
Geld bezahlen. Das habe ich bisher noch an keiner Grenze erlebt. Folg-
lich zahlen wir auch nicht. Nachdem ein Großteil seinen Obolus entrich-
tet hatte, bekommen auch wir die Formulare - kostenlos versteht sich.
Die eineinhalbtägige Busfahrt nach Kashgar ist ziemlich nervenaufrei-
bend. Machte mir bisher die halsbrecherische Fahrweise zu schaffen, so
ist es in China gerade umgekehrt. Kaum läßt sich auch ein noch so mini-
males Gefälle erkennen, gibt der Fahrer den Gang raus, und wir rollen im
Leerlauf dahin. Kein Wunder, daß wir bei so einer Fahrweise kaum 30
km/h Durchschnittsgeschwindigkeit erreichen.
Am zweiten Tag halten wir am Karakul See zum Mittagessen. Der See
liegt malerisch zwischen zwei Siebentausendern, die sich im klaren Wasser
spiegeln. Nachdem wir uns die Beine vertreten hatten, gehen wir mit
knurrenden Mägen zum Restaurant.
Die Tische sind fertig gedeckt, aus den Töpfen duftet es verführerisch.
Eigentlich könnte es losgehen. Doch weit gefehlt! Zuerst müssen wir
noch auf eine Tour-Group warten, die mit Private-Guide, Private-
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4 5 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
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Landcruiser und First-Class-Service durch die Lande rollt. So sitzen wir vor lee-
ren Tellern und schauen ihnen interessiert beim Essen zu. Erst nachdem sie ihr
Mahl beendet hatten, dürfen auch wir an die Kochtöpfe und uns den Bauch
vollschlagen. - Man konnte ja im Vorhinein nicht wissen, wie groß der Appetit
der Auserwählten sein wird.
Kashgar ist für mich ziemlich enttäuschend. In allen Reiseführern wird der ori-
entalische Flair dieser Stadt beschworen, für mich ist es aber schlicht und ein-
fach eine chinesische Stadt mit breiten, sauberen Straßen und vielen Radfahrern
in blauem Mao-Anzug.
Einzig am Sonntagsmarkt ist ein bißchen orientalische Atmosphäre zu bemer-
ken. Trotzdem kein Vergleich zu einem pakistanischen Bazar. Nach Pakistan
wirkt der Markt ziemlich farblos und öd, irgendwie kommunistisch. Wahr-
scheinlich komme ich aber nur aus der falschen Richtung: Würde ich von
„China“ kommen, sähe ich das wahrscheinlich ganz anders.
4 6 Der Weg ist das Ziel ...
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Eigentlich bin ich aber noch gar nicht so richtig in China: Unter China stelle
ich mir Han-Chinesen vor, die 93% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Nicht
aber Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Tadschiken oder andere Angehörige der
fünfundfünfzig nationalen Minderheiten.
In Xinjiang, so heißt die Provinz hier im Nordwesten von China, waren 1955
nur 10% der Bevölkerung Han-Chinesen. Mit dem Bau von Eisenbahnlinien
und zunehmender Industrialisierung wurden aber immer mehr Han-Chinesen
aus dem übervölkerten Osten des Landes in den „leeren“ Westen umgesiedelt,
sodaß ihr Anteil auf 40% gestiegen ist. Trotzdem stellen auch heute noch die
mit den Türken verwandten Uiguren die größte Bevölkerungsgruppe.
Beim Einkaufen verwende ich immer türkische Zahlen und die Uiguren verste-
hen mich dabei prächtig. Also kein Wunder, daß es ziemlich lange dauert, bis
ich etwas Einkaufs-Chinesisch erlerne, wenn ich mich so mit den Einheimi-
schen besser verstehe.
4 7 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
Ein Kaufhaus ist die erste „Sehenswürdigkeit“, die ich
in Kashgar besichtige. Es ist ein ziemlich auffälliger
aber geschmack-loser Bau, der sich als Orientierungs-
punkt hervorragend eignet. Das Warenangebot ist
nicht besonders reichhaltig, vor allem in den oberen
Stockwerken wird es immer leerer.
Ziemlich lästig ist auch, daß in China die Marken von
Stadt zu Stadt vollkommen wechseln. Hat man an ei-
nem Ort zum Beispiel Kekse entdeckt, die schmecken,
so kann man mit nahezu 100%iger Sicherheit anneh-
men, daß es sie in der nächsten Stadt schon nicht
mehr gibt.
So gehört es dann auch zur Reiseroutine, nach An-
kunft in einer neuen Stadt „Shopping“ zu gehen und
zu erkunden, ob auch hier ein bereits bekanntes Pro-
dukt erhältlich ist. Sollte das nicht der Fall sein, muß
man sich erneut durchkosten. Am Anfang hatte ich
auch Probleme mit den Verkäuferinnen. Ist es bei uns
in Geschäften mit Bedienung eher üblich, daß man
vom Verkaufspersonal angesprochen wird, so würde
man in China bis zum jüngsten Tag warten. Da muß
man sich schon deutlich bemerkbar machen und sich
nötigenfalls eine Verkäuferin „suchen“, damit man zu
seinen Sachen kommt.
Von solchen „Strapazen“ kann man sich in Kashgar
im „Oasis-Cafe“ bei „apple pie“ oder „apricots-nut-
bread“ und. einer Tasse Kaffee entspannen. Man sitzt
in Korbstühlen unter einer verglasten Veranda, im
Hintergrund spielt dezent westliche Musik. Am Abend
speist man dann ungeheuer dekadent Kebab mit
Pommes Frites und Gemüse, zur Abrundung eine Fla-
4 8 Der Weg ist das Ziel ...
sche Rotwein und als Dessert Fruchtjoghurt. - Ab und zu braucht man etwas
Luxus, damit später die Niederungen des chinesischen Alltags wieder leichter
zu ertragen sind.
Am Abend des 12. Septembers herrscht restlose Verwirrung in der Traveller-
Kolonie des Seman-Hotels, der alten russischen Botschaft in Kashgar. Irgend-
wer hat das Gerücht aufgebracht, daß morgen die Sommerzeit zu Ende gehe.
Eine Gegenprüfung mit dem Reiseführer, der wahnsinnig kompliziert vom ers-
ten Sonntag der zweiten zehn Tage des Septembers spricht, ergibt, daß da et-
was Wahres dran sein könnte. Da den meisten ja nicht so klar ist, ob denn jetzt
die Uhren vor oder zurückgestellt werden müssen, werden die gewagtesten
geographischen Hypothesen aufgestellt und wieder verworfen. Einer fängt so-
gar irgend etwas von „Xinjiang-Time“ zu faseln an, die ohnehin zwei Stunden
gegenüber der landesweit gültigen Beijing-Zeit zurück sei - und wir haben na-
türlich für morgen 8.00 Uhr einen Bus nach Turfan gebucht.
A B A K H H O J A M A U S O L E U M
4 9 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
13. 9. - 1. 10. Kashgar – Lanzhou Durch die Wüste Taklamakan zum Gelben Fluß; von den nationalen Minderheiten ins Herzland der Han-
Chinesen
Pünktlich um 8.00 Uhr Beijing-Winterzeit sind wir am
Busbahnhof. Unser Gepäck wird auf dem Dach des
Busses verstaut und dann warten wir. Stunde um Stun-
de. Leute steigen ein, steigen wieder aus, wieder ein,
werden hinausgeworfen, kommen wieder, werden er-
neut hinausgeworfen, weigern sich, versuchen die
Schaffner zu überreden, geben ihnen etwas Geld, er-
neuter Hinauswurf, ...
Gegen zwölf wird es der Busbesatzung zu bunt - der
höchste Polizist des Busbahnhofs wird die Lage per-
sönlich regeln. Er kontrolliert die Reisedokumente und
setzt ungefähr die Hälfte der Passagiere wieder an die
frische Luft. Die warten bis der Polizist verschwunden
ist und entern erneut das Gefährt, bis ein Schaffner
den Eingang blockiert.
Nach vier Stunden Wartezeit fahren wir endlich ab.
Wir kommen aber nicht weit: Zwei Ecken nach dem
Busbahnhof halten wir erneut, um den Rest der Passa-
5 0 Der Weg ist das Ziel ...
Y A R K A N D
giere, die zuvor hinausgeworfen wurden, wieder an
Bord zu nehmen. Nun kann es endlich losgehen.
1.500 km in dreieinhalb Tagen - das müßte eigentlich
zu schaffen sein. Gefahren wird nur während des Ta-
ges, die Nächte verbringen wir in Hotels.
Die Reise führt durch die Wüste Taklamakan. Rechts
vom schmalen Teerband erheben sich „Mondhügel“,
felsig und kaum bewachsen, linkerhand eine bis zum
Horizont reichende Felsebene. Unterbrochen wird
diese Einöde nur von einer Handvoll Oasen, die über
kunstvolle Bewässerungssysteme mit kostbarem Naß
versorgt werden.
Kurz hinter Aksu, am Morgen des zweiten Tages, ha-
ben wir einen Unfall. Völlig unvermutet schert plötz-
lich ein Fahrzeug aus einer stehenden Kolonne von
Militär-LKWs aus. Unser Fahrer kann den Bus im
letzten Moment noch etwas verreißen. Trotzdem er-
wischt uns der „Dong Hong“ (Der Osten ist rot) an
der rechten Seite und beschädigt die Verkleidung und
den Hinterreifen.
Fünf Stunden dauert es, bis die Polizei eintrifft und die
Schadensverhandlungen beginnen können. Es wird ein
Tribunal bestehend aus Soldaten, Polizisten und Bus-
passagieren gebildet. Die beiden Fahrer werden ver-
hört, Zeugen befragt und dann wird ein Urteil gefällt:
Es ist typisch chinesisch, nämlich ein Kompromiß.
Die beschädigte Seitenbeplankung des Busses geht zu
Lasten der Busbesatzung, der kaputte Reifen wird vom
Militär ausgetauscht. Am frühen Nachmittag kann die
Fahrt dann wieder fortgesetzt werden.
5 1 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
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Gegen Abend des dritten Tages erreichen wir das Be-
cken von Turfan. Von rund 1.500 m windet sich die
Straße bis unter den Meeresspiegel: Mit -154 m ist die
Turfan-Senke das zweittiefste Depressionsgebiet der
Erde. Im Sommer werden hier Temperaturen von bis
zu +48 Grad im Schatten gemessen, im Winter kann
das Thermometer auf -28 Grad fallen. Jetzt, Mitte Sep-
tember, läßt es sich aber ganz gut aushalten, vor allem
unter den schattigen „Traubendächern“ des Turfan
Binguans.
Weniger erfreulich ist dagegen die Dame an der Re-
zeption: Sie ist extrem „amtlich“ und schikaniert uns,
wo es ihr nur möglich ist. Das führt dazu, daß sie in
Genuß unseres Erziehungsprogramms kommt. Ob-
wohl wir innerlich kochen, lassen wir uns nichts an-
merken; nur nicht das „Gesicht“ verlieren. Lautstark
Protestieren bringt in China wenig. Die traditionelle
Auffassung ist, daß nur Kleinkinder nicht Herr ihrer
Gefühle sind. Wer schreit und tobt gesteht seine
Schwäche offen ein und verdient daher nicht die ge-
ringste Beachtung.
Am nächsten Tag erscheine ich an der Rezeption:
„Guten Tag, ich möchte für eine weitere Nacht bezah-
len.“ - „Wieviel Personen?“ - „Wieso? Ich alleine, eine
Person für eine Nacht.“ - „Und der Freund?“ - „Keine
Ahnung, tut mir leid.“ Fünf Minuten später zahlt
Klaus. Wieder Heraussuchen der Zimmernummer,
eintragen und Quittung schreiben. - Sie wird auf uns
aufmerksam.
Am nächsten Tag das gleiche Spiel. - Sie wird freundli-
cher. Das muß belohnt werden: Am dritten Tag tau-
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B E Z E L I K H Ö H L E N
chen wir schon zu zweit auf und zahlen gemeinsam. -
Sie hat verstanden. Als wir am vierten Tag gemeinsam
für ganze zwei Nächte bezahlen, lächelt sie das erste
Mal.
Gemeinsam mit einer Gruppe Hongkong-Chinesen
chartern wir einen Minibus, der uns zu den Sehens-
würdigkeiten der Umgebung bringt. Sie sind ziemlich
enttäuschend: Die besten Stücke wurden vor dem Ers-
ten Weltkrieg von Europäern und Japanern außer Lan-
de geschafft und fielen dort teilweise den Bomben des
Zweiten Weltkriegs zum Opfer. Der in China verblie-
bene Rest wurde großteils während der Kulturrevoluti-
on zerstört. Heute wird mühsam versucht, die letzten
Relikte zu renovieren. Wirklich Beeindruckendes ist
aber kaum darunter.
Erheiternder ist da schon eine Traubenplantage, die
wohl auch zum offiziellen Besuchsprogramm zählt.
Die Traubenstöcke sind viel zu eng gesetzt, und man
läßt sie ohne Pflege wuchern. Die qualitativ minder-
wertigen Produkte werden dann zu horrenden Preisen
an Besucher verkauft.
Als Abschluß der Rundfahrt will uns der chinesische
Fahrer noch in eine Moschee von Turfan zerren - mit-
ten zur Gebetszeit! Auch wenn nur eine Handvoll
Gläubige ihre Gebete verrichten, so wollen wir doch
nicht stören.
Auf der Fahrt von Turfan nach Dunhuang schließe ich
das erste Mal mit der chinesischen Eisenbahn Be-
kanntschaft. Mit einer halben Stunde Verspätung
kommt der „Fast Train 144“ in Daheyan an. Wir müs-
5 3 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
sen uns alle in einer langen Reihe aufstellen, dann wir
das Gitter zum Bahnsteig geöffnet.
Der Zug kommt aus dem 140 km westlich gelegenen
Urumqi und ist bereits zu 180 % voll. Wir bleiben
gleich bei der Türe stecken. Die Sitzbänke und der
Gang sind voll belegt, Expeditionen mit Gepäck sind
daher auf keinen Fall möglich. Der einzige Platz, wo
man sich noch auf den Boden sitzen kann, ist vor dem
Klo. - Schöne Aussichten für die nächsten fünfzehn
Stunden.
Nach zwei Stunden wechseln wir in den leereren
Hardsleeper-Gang über. Das dürften wir zwar mit un-
seren Hardseat-Tickets nicht, aber egal, endlich wieder
einmal die Beine ausstrecken können. Gegen Abend
hat sich das Buffet-Wägelchen bis zu uns durchge-
kämpft und wir erstehen für € 0,40 eine Reisbox, un-
ser Abendessen. Als wir mit dem Essen fertig sind und
gerade ein „Verdauungsbierchen“ trinken, kommt die
Hardsleeper-Schaffnerin und vertreibt uns von dem
gemütlichen Platz. So bleibt uns nichts anderes übrig,
als wieder vor die Toilette zu ziehen. An Schlafen ist
natürlich nicht zu denken.
Um 6.30 Uhr in der Früh kommt wieder Bewegung in
die Reisenden. In langen Schlangen quetschen sie sich
an uns vorbei zum Hardsleeper, wo es normalerweise
heißes Wasser für den Morgentee gibt. Nur heute ist
die Tür noch verschlossen, sodaß die ganze Meute uns
beim Zurückgehen erneut auf die Füße trampelt.
Als der Menschenstrom nicht abreißt, denken wir zu-
erst, daß es an einem Informationsdefizit liege und er-
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J I A Y U G U A N
klären jedem, daß es heute noch kein heißes Wasser gebe. Doch wir haben un-
sere Rechnung ohne die Chinesen gemacht: Auch wenn der Vordermann ver-
geblich an der Tür rüttelt und zurückkehrt, muß jeder noch einmal selbst daran
rütteln, bevor auch er es glaubt. Manche „Spezialisten“ stellen sich gleich zwei-
, dreimal hinten an, um wieder persönlich an der verschlossenen Tür zu ziehen.
Beim zweihundertsten Paar Füße, das uns auf die Zehen tritt, werden unsere
Spekulationen über dieses Verhalten immer bösartiger. Bevor wir den letzten
Rest unserer Beherrschung verlieren, kommt Gott sei Dank der Zielbahnhof.
Die Mogao-Grotten in der Nähe von Dunhuang sind wirklich sehr sehenswert.
Seit 353 n. Chr. haben buddhistische Mönche an die fünfhundert Höhlen aus
dem Gestein gekratzt und mit Malereien verziert. Weniger erfreulich ist dage-
gen, daß die Gemälde nur unzureichend geschützt sind und durch Frischluft,
Licht und viele Besucher langsam aber sicher zerfallen.
Ein Franzose bemerkt, daß uns zwar die größten, höchsten und ältesten Höh-
len gezeigt werden, aber an Grotten, die in seinem Guide Bleue als interessan-
5 5 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
ter oder qualitativ höherwertiger beschrieben werden,
vorbeigegangen wird. Als er die Führerin darauf an-
spricht, will sie uns für € 15,50 zusätzlich auch andere
Höhlen zeigen. Da wir aber nicht wollen, daß nur die-
jenigen interessante Grotten sehen, die auch bereit
sind, dafür entsprechend zu zahlen, lehnen wir ab.
In Jiayuguan, dem nächsten Stop auf unserer Reise, se-
hen wir, wie China den Aufbau des Tourismus fördert:
In der Nähe der Stadt befindet sich das westliche En-
de der rund 10.000 km langen Großen Mauer. Dieses
gigantische, angeblich auch noch vom Mond sichtbare
Bauwerk, schützte das Reich der Mitte vor Angriffen
aus dem Norden.
Heute ist die Große Mauer fixer Bestandteil des chine-
sischen Tourismus-Marketings. So wird in Jiayuguan
ein aus der Ming-Dynastie stammendes Fort renoviert
und kräftig erweitert. In ein paar Jahren wird dort eine
sehr statthafte Befestigungsanlage zu bewundern sein.
Am Markt von Jiayuguan entdecken wir Wurst, eine
absolute Rarität in Asien. Klar, daß wir sofort zuschla-
gen. So veranstalten wir im Hotelzimmer eine original
chinesisch-bayerische Brotzeit. Die Wurst ist sehr fett,
das Brot wohl ungesäuert, jedenfalls hat es einen abso-
lut neutralen Geschmack, und auch das Bier schmeckt
etwas anders - aber was hat das für eine Bedeutung
nach Monaten des Verzichts?
3.45 Uhr - Piep, piep, piep! Der Wecker läutet. Aufste-
hen! Alles ist noch dunkel. Eigentlich ist es ein Wahn-
sinn, in China längere Strecken mit dem Bus zu fah-
ren, wenn es auch eine Eisenbahnlinie gibt. Doch nach
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N A C H T M A R K T
unseren Erfahrungen mit dem Zug zwischen Turfan und Dunhuang nehmen
wir für die knapp 800 km bis Lanzhou den Bus. Mit einer Fahrtzeit von sieb-
zehn Stunden ist er ungewöhnlicherweise sogar schneller als der Zug, außer-
dem kauft man mit dem Busticket auch einen reservierten Sitzplatz - in Asien
ein unschätzbarer Vorteil.
Lanzhou ist eine riesige Industriestadt mit über zwei Millionen Einwohner, die
sich 35 km entlang des Gelben Flusses erstreckt. Touristische Sehenswürdig-
keiten gibt es wenige, dafür aber gastronomische - und was für welche!
Es ist schon 19.00 Uhr, fast hätten wir die in Nordchina relativ strikten Es-
senszeiten verpaßt. Schnell springen wir in einen Bus Richtung Bahnhof, jeder
sucht eine Straßenseite nach Restaurants ab. Schließlich finden wir eine Gast-
stätte, die uns zusagt.
Mit dem Sprachführer, der um diverse Schmankerl bereichert wurde, versu-
chen wir zu bestellen. Da uns die zusätzlichen Eintragungen im Buch als
5 7 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
M A I J I S H A N
Gourmets und Gourmands entlarven, bietet uns die
Serviererin Ente an. Nach verschiedenen Gerichten
zum Aufwärmen kommt als Höhepunkt die Ente.
Von der Beize ist ihr Fleisch ganz dunkelrot gewor-
den, dazu eine traumhafte Sauce - es schmeckt einfach
himmlisch. Auch wenn das Essen mit € 5,15 für chi-
nesische Begriffe sündhaft teuer war, ist es jeden Gro-
schen wert.
Ein Eßerlebnis ganz anderer Art haben wir in Tians-
hui, einem kleinen Ort zwischen Lanzhou und Xian.
Da die Kellnerin anscheinend nicht lesen kann, deuten
wir auf vier Gerichte am Nachbartisch und bestellen
sie. Darauf kommt die Serviererin nochmals an unse-
ren Tisch, um uns darauf hinzuweisen, daß das Essen
rund € 4,50 kosten wird und erkundigt sich nochmals,
ob wir es wirklich bestellen wollen. Jetzt sind wir neu-
gierig geworden und sagen selbstverständlich „shi“, ja.
Nach kurzer Zeit bekommen wir vier sehr exotische
Gerichte, von denen wir nur eines sicher identifizieren
können: Shrimps ist klar, bei dem zweiten dürfte es
sich um irgendeine Schlange handeln, das dritte und
vierte sind aber völlig unbekannt, obwohl sie nicht
schlecht schmecken. Auch ein englischsprachiger Chi-
nese, der uns lächelnd guten Appetit wünscht, fragt,
ob es uns denn schmecke. Doch auch er will uns nicht
sagen, um was es sich handelt.
5 8 Der Weg ist das Ziel ...
X I A N
2. 10. - 18. 10. Lanzhou - Beijing Vorbei an den Tonarmeen von Xian zur Hauptstadt des Reichs der Mitte
In Xian, der alten Kaiserstadt der Han-Dynastie, zwei-
feln wir fast schon an unserem Verstand. Entweder
sind wir bereits vollkommen träge und abgestumpft,
oder unsere Zimmergenossen totale Hektiker.
Ein Amerikaner, der ebenfalls seit vier Wochen in Chi-
na ist, erzählt uns ganz gestreßt über die Transport-
probleme in diesem Land. Hardsleeper (Liegewagen)
seien praktisch unmöglich zu bekommen, sodaß er nur
mehr in teuren Softsleepern (Schlafwagen) unterwegs
sei, oder gar das Flugzeug nehme. Trotzdem sei es oft
unmöglich, bei der staatlichen Touristen-Organisation
CITS passende Tickets zu bekommen.
Auch ein Schweizer verrät uns, daß er nur ruhig schla-
fen könne, wenn bereits der Weitertransport aus einer
Stadt geregelt sei. Das führt dazu, daß er mit Fieber
und Grippe die einundzwanzigstündige Hardseat-
Bahnfahrt nach Beijing antritt.
Wir dagegen sind in bester Stimmung. Transportprob-
leme gibt es natürlich, doch alles ist mit etwas Know-
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B A N P O
how lösbar. So gehen wir beispielsweise nie zu CITS, weil die staatliche Touris-
tenorganisation nicht auf Einzelreisende eingestellt ist und trotz teurer Gebüh-
ren keine brauchbaren Problemlösungen anbietet.
Fahrkarten kaufen wir immer direkt am Bahnhof, wobei wir meistens ein Kärt-
chen mit Zielort, Datum, Abfahrtszeit, Zugnummer und Wagenklasse vorberei-
ten. So können wir uns immer verständlich machen und selbst bei den Auslän-
derschaltern, wo die Beamten eigentlich Englisch sprechen sollten, geht es
schneller und problemloser.
Daß oft keine Hardsleeper erhältlich sind, stellt auch kein unüberwindbar es
Hindernis dar. Mit einem reservierten Sitzplatz sind Strecken bis zu zwanzig
Stunden auch im Hardseat zu überwinden, wenn man nachher einen Tag Zeit
hat, sich wieder zu erholen. Sind die Strecken wesentlich länger, muß man eben
gegebenenfalls auf ein Hardsleeper-Ticket warten oder man zerlegt die gesamte
Strecke in Teiletappen. So fährt man jeden Tag zehn Stunden, übernachtet in
einem Hotel und steigt am nächsten Tag wieder aus-geschlafen in den Zug ein.
6 0 Der Weg ist das Ziel ...
- Alles kein Problem, wenn man genügend Zeit hat, Wer aber glaubt, in Re-
kordzeit durch China hasten zu müssen, ist besser beraten, sich einer organi-
sierten Reisegruppe anzuschließen.
Das Zugticket Xian - Beijing lassen wir uns von einem Einheimischen kaufen.
Er verlangt für ein Chinesen-Ticket zwar den doppelten Preis, aber es ist noch
immer um die Hälfte billiger als ein Touristen-Ticket.
Ausländern wird nämlich für Fahrkarten ein Zuschlag von 75 % berechnet und
sie müssen mit FEC, „Foreign Exchange Certificates“, bezahlen. So versuchen
wir, nach Möglichkeit diesem Aufpreis zu entgehen und besorgen uns die Ti-
ckets am Schwarzmarkt oder zeigen beim Kauf den internationalen Studenten-
ausweis vor. Die ISIC-Karte ist zwar in der Volksrepublik China gar nicht gül-
tig, hat aber trotzdem auf der Rückseite eine chinesische Übersetzung. So kön-
nen wir, wie ausländische Studenten in China, die aber einen eigenen Ausweis
haben, in 50 % der Fälle mit Volksgeld, Renminbi, bezahlen. Wenn das nicht
klappt, nehmen wir das auch nicht weiter tragisch, denn die Preise sind für un-
6 1 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
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sere Verhältnisse noch immer sehr niedrig.
Trotzdem empfinden die meisten China-Reisenden diesen Touristenaufschlag
als ungerecht. Ein Großteil würde ihn sofort akzeptieren, wenn ein Gegenwert
dafür geboten würde: Gäbe es zum Beispiel eine genügend große „Tourist-
Quota“ an Hardsleeper-Plätzen, wären viele gerne bereit, dafür auch mehr zu
bezahlen.
In Beijing steigen wir im Qiao-Yuan-Hotel ab. Es ist eines der wenigen Hotels
in der Hauptstadt, wo auch Ausländer zu einigermaßen zivilen Preisen über-
nachten dürfen. Wir haben das Pech, daß heute Nachmittag wieder eine Trans-
sib-Ladung Langnasen angekommen sind, sodaß wir um 22.00 Uhr die aus-
sichtsreichen Plätze 78 und 79 auf der Warteliste einnehmen.
„Servus, dich kenne ich ja von wo.“ - Ja richtig, das ist ja Sigi, der Vorarlberger,
den ich in Istanbul getroffen habe. Das gibt es ja nicht! Jetzt hat jeder von uns
Asien von West nach Ost durchquert und nach drei Monaten treffen wir uns
6 2 Der Weg ist das Ziel ...
K A I S E R P A L A S T
wieder auf der anderen Seite des Kontinents. Das muß natürlich ausgiebig ge-
feiert werden.
So gegen Mitternacht sprechen wir nochmals bei der Rezeption vor: Zimmer
gibt es natürlich keine, dafür sollen wir € 1,30 bezahlen, damit wir auf dem
Fußboden schlafen dürfen. Da spielen wir aber nicht mit und beschlagnahmen
die Sofa in der Eingangshalle.
Am nächsten Tag zählen wir dafür zu den ersten, die ein Zimmer bekommen.
Um uns zu ärgern bekommen wir kein Bett im Schlafsaal, sondern müssen ein
teureres Doppelzimmer nehmen. Als wir das Zimmer beziehen, stellt sich her-
aus, daß es sich um ein Dreibettzimmer handelt. So suchen wir uns noch einen
„Untermieter“, sodaß wir für € 0,80 pro Person mehr statt in einem Vierzig-
Betten-Saal in einem Dreibettzimmer wohnen.
Beijing ist für mich auch Postplatz. Möglichkeit, Briefe abzuholen und sich
über die Ereignisse daheim zu informieren. Da ich in anderen Landesteilen be-
6 3 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
obachtet habe, wie Leute stundenlang auf ein Telefongespräch ins Ausland war-
teten und dann doch nicht durchkamen, nütze ich die Möglichkeit, problemlos
nach Hause zu telefonieren.
Etwas verblüfft bin ich aber, als mich die freundliche Postbeamtin bittet, umge-
rechnet € 25,80 Kaution zu hinterlegen. „Glauben Sie denn, daß ich das Tele-
fon mitgehen lasse?“ Ich krame in allen Taschen nach Geld, aber mehr als €
19,20 wollen es nicht werden. Es scheint aber zu genügen, denn innerhalb einer
Minute ist die Verbindung hergestellt.
Ein Kapitel für sich sind unsere Versuche, in Beijing Peking-Ente zu essen. Be-
reits am zweiten Tag probieren wir es in einem Restaurant westlich der Wang-
fujing Dajie. Doch leider ist es voll. Am nächsten Tag sind wir schon früher
dort, doch man will uns von der billigen Chinesen-Etage ins teure Ausländer-
Stockwerk drängen. Am fünften Tag probieren wir es erneut - wieder ein Fehl-
schlag. Beim vierten Anlauf klappt es dann. Nach einer Woche wissen wir auch,
wie man die Ente ißt: Man wickelt etwas Lauch und ein Stück Ente in eine
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„ P E K I N G E N T E “
Omelette und taucht sie, je nach Geschmack, in eine Sauce. So bekommt man
auch das fetteste Stück problemlos hinunter.
Natürlich hätten wir für € 4,70 auch eine vom Hotel organisierte Tour zur
Großen Mauer machen können. Aber Geiz und Abenteuerlust führen dazu,
daß wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Badaling fahren. Bis Changping
geht es problemlos, doch dann spießt es sich. Wir sind wieder einmal viel zu
spät aufgebrochen und verpassen somit den letzten Anschlußbus nach Bada-
ling.
Doch zusammen mit einer „Hongkongi“, zwei Amerikanern und einem Neu-
seeländer versuchen wir, per Anhalter weiterzukommen. Zu unserer Überra-
schung stopt ein Bus, der von drei „Dollar-Touristen“ gechartert wurde. Auf
einer autobahnähnlichen Straße, die, wie uns der Dolmetscher versichert, extra
für die Königin von England gebaut wurde, als sie die Mauer besuchte, geht es
flott Richtung Badaling.
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Dort steigen zuerst der Dolmetscher und die drei amerikanischen Touristen
aus, dann wollen wir das Fahrzeug verlassen. Jetzt versperrt aber der Fahrer die
Tür. Der Grund: Jeder von uns soll für die Fahrt € 1,05 bezahlen. Da das aber
nicht ausgemacht war, wollen wir auch nicht zahlen. Außerdem, wenn über-
haupt, dann zahlen wir nicht an den Chauffeur sondern an die drei Touristen,
die ja den gesamten Bus gemietet haben.
Der Fahrer bleibt aber hart. So steigen die Ersten durchs Fenster aus. Dabei
kommt es zu einem Handgemenge. Ein Riesenstreit entspinnt sich zwischen
dem Chauffeur und Dick, einem Amerikaner, der Mandarin spricht. - Wir erre-
gen auf dem Parkplatz bereits Aufsehen. Immer mehr Schaulustige sammeln
sich, bald kommt der erste Polizist. Wir erzählen ihm was los ist, worauf er den
Chef des Büros für öffentliche Sicherheit in Badaling holt.
Dieser hört sich die gegensätzlichen Standpunkte nochmals an und verhaftet
kurzerhand den chinesischsprechenden Amerikaner. Wir anderen dürften in der
Zwischenzeit die Große Mauer besichtigen. So nicht! Einen aus der Gruppe
6 6 Der Weg ist das Ziel ...
G R O S S E M A U E R
herausholen und weichklopfen - aber nicht mit uns. Wir erklären dem verdudz-
ten Polizeichef, daß wir alle mitkommen. So werden wir gemeinsam in Haft
genommen.
Nach einer Stunde kommt der Fahrer mit dem Dolmetscher. Wir bekräftigen
erneut unseren Standpunkt und verlangen, daß auch einer der Touristen
kommt. Langes Hin und Her, wobei die Chinesen sich darauf versteifen, daß
das zusätzliche Geld nach chinesischem Recht dem Fahrer gehöre.
Schließlich bieten sie uns einen Kompromiß an: Jeder von uns braucht nur €
0,40 bezahlen, was wir letztendlich zähneknirschend auch annehmen. Zum
Abschluß gibt es für die Hongkong-Chinesin noch eine lange Schelte, daß sie
sich mit uns Westlern einlasse. So kommen wir erst gegen Abend zur Besichti-
gung der Großen Mauer, was den Vorteil hat, daß kaum noch Touristen hier
sind.
6 7 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
C H I N A R A I L W A Y T I M E T A B L E
Nach zwei Stunden im luxuriösen Ausländer-
Wartesaal des Beijinger Hauptbahnhofs, besteigen wir
den Zug nach Qingdao. Im Zug herrscht eine ent-
spannte Stimmung: Ferienlaune. Hier gerät sogar un-
ser „Weltbild“ etwas ins Wanken: Kein Chinese, der
auf den Boden spuckt oder rotzt - alles außer-
ordentlich „zivilisiert“, fast schon wieder langweilig.
Kurz vor der Ankunft werden wir via Lautsprecher
nochmals über die Schönheiten von Qingdao aufge-
klärt, beim zweiten Durchgang sogar in Englisch. Die
Stadt war bis zum Ersten Weltkrieg eine deutsche Ko-
lonie. 1898 erzwang Deutschland für „Kiautschou“ ei-
nen Pachtvertrag über 99 Jahre. Willkommener Anlaß
dafür war die Ermordung zweier deutscher Missionare
in der umliegenden Provinz Shandong.
Die chinesische Regierung verzichtete ohne Gegenleis-
tung auf die Hoheitsrechte über die „Grüne Insel“,
brauchte aber nach Ablauf der Pacht auch keinen Er-
satz für die deutschen Aufwendungen zu leisten. Ei-
senbahnen wurden gebaut, Bergwerke, ein großer Ha-
2. 10. - 27. 10. Beijing – Shanghai Über Qingdao, der ehemals deutschen Kolonie, nach Shanghai, dem wirtschaftlichen Zentrum von China
6 8 Der Weg ist das Ziel ...
Q I N G D A O
fen mit einer Werft, Krankenhäuser, Volksschulen und sogar eine Hochschule.
1914 wurde das Gastspiel durch den Einmarsch japanischer Truppen abrupt
beendet.
Fast 75 Jahre später sind wir natürlich gespannt, was noch geblieben ist. Heute
ist Qingdao eine moderne Industriestadt mit eineinhalb Millionen Einwohner.
Wenn man aber, was nicht schwer fällt, die Vorstädte vergißt und nur das
Zentrum sieht, ist es tatsächlich noch so etwas wie ein „Klein-Deutschland“ an
den Küsten der Ostchinesischen See.
Im Gegensatz zu vielen modernen chinesischen Städten, die vollkommen eben
und im Rasterprinzip erbaut wurden, erstreckt sich Qingdao über mehrere Hü-
gel, die Straßen sind geschwungen, eine fast wohltuende Anarchie. Mehrstöcki-
ge Gebäude mit roten Ziegeldächern und kleinen Vorgärten, Häuser mit Fach-
werk und Säulenaufbauten. Selbst bei den neuen Bauten versucht man mit
wechselndem Erfolg diesen „Kolonialstil“ zu imitieren.
6 9 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
Q I N G D A O - S H A N G A I
Geblieben ist auch deutsche Brau- und Winzerkunst. Aus Qingdao kommen die
wohl gelungensten geistigen Erzeugnisse von ganz China. Gutes „Tsingtao-
Beer“, abgefüllt in Alu-Dosen, gibt es im ganzen Land zu kaufen. In Qingdao
bekommt man es sogar in der üblichen, billigen 0,64-l-Flasche.
„Tsingtao Riesling“, so steht es auf der Flasche, ist nicht so leicht zu finden.
Kein Wunder, ist er doch der beste Wein von China und mit € 1,85 für chinesi-
sche Begriffe sauteuer. Außerdem ist die Flasche für Chinesen wohl auch gar
nicht so einfach zu öffnen: Statt mit dem üblichen Schraubverschluß ist sie, wie
alle für Langnasen trinkbaren Weine, mit einem Korken verschlossen - und
beim chinesischen Schweizer Messer fehlt der Korkenzieher.
Nach drei Tagen verlassen wir die alte deutsche Hafenstadt Richtung Shanghai
- natürlich stilgerecht mit einem Schiff. Sechsundzwanzig Stunden kreuzen wir
in einem 5.000-Tonner durch das Ostchinesische Meer. Unser Dritte-Klasse-
Ticket bringt uns in eine Vierbett-Innenkabine. Nicht die schlechteste Art zu
reisen: Man kann in der Koje liegen, lesen, einen Schiffsrundgang machen, sich
7 0 Der Weg ist das Ziel ...
S H A N G H A I - O S A K A
die Fuße vertreten oder das Meer beobachten.
Für unser Wohlergehen ist „Attendant No. 45“, eine junge, freundliche Chine-
sin, zuständig. Wir werden zum Essen abgeholt, dürfen wie die Passagiere der
höheren Klassen vor dem allgemeinen „rush“ speisen und können uns mit al-
len Wünschen an sie wenden. Keine Frage, daß die Beurteilung, die wir in ein
kleines Büchlein eintragen dürfen, sehr positiv ausfällt.
Eineinhalb Stunden fahren wir die Mündung des Yangtsekiangs, des längsten
Stromes Asiens, flußaufwärts Richtung Shanghai. Das Wasser ist ziemlich dre-
ckig. Kein Wunder, lassen doch fast zwölf Millionen Einwohner Shanghais
und unzählige Industrien ihren Dreck ungeklärt in den Fluß.
€ 5,15 kostet das Bett inklusive Frühstück im Pujiang-Hotel, dem früheren As-
tor. Damit ist es mein teuerstes Zimmer in ganz China. Als wir am nächsten
Morgen beim obligaten Frühstück sitzen, muß ein Einheimischer € 1,50 für ei-
ne Tasse Kaffee, ein Spiegelei und zwei Scheiben Toast mit Marmelade bezah-
H A F E N V O N S H A N G H A I
7 1 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
P U J I A N G H O T E L
len. Leider steigt uns der Angestellte an der Rezeption nicht darauf ein, für eine
Übernachtung ohne Frühstück nur € 3,65 zu verlangen.
Mit fast zwölf Millionen Einwohnern zählt Shanghai zu den größten Städten
der Erde und wer einmal am Sonntag das Gedränge in der Nanjing Donglu er-
lebt hat, wird dem ohne Zögern zustimmen. In den Kaufhäusern der „Golden
Mile“ Chinas Wirtschaft gibt es eine Auswahl chinesischer Produkte, wie sie
nicht einmal in Beijing oder Guangzhou erhältlich ist. Eine gute chinesische
Daunenjacke kostet hier zum Beispiel rund € 15,40.
Sogar chinesisches „Nutella“, das ich sonst nirgendwo gesehen habe, kann man
in den Lebensmitteltempeln der Nanjing Donglu kaufen. Als alter Schokolade-
creme-Freak habe ich natürlich sofort zugeschlagen. Vielleicht hätte die Creme
besser doch von der Ölmühle Nr. l als von der „Oilmill No. 4“ hergestellt wer-
den sollen, denn es bleibt ein leicht öliger Nachgeschmack. Trotzdem schmeckt
sie ganz gut im Vergleich zu dem, was sonst alles in China als Schokolade ver-
kauft wird.
M A R K E N W A R E
7 2 Der Weg ist das Ziel ...
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B U N D
30 % der Industrieproduktion Chinas wird in Shanghai hergestellt. Da die
Stadt gleichzeitig auch Chinas wichtigster Hafen ist, ist sie so etwas wie die
heimliche Hauptstadt der Volksrepublik. Beijing wirkte auf mich etwas grau
und verwaschen, bereits seit Jahrhunderten eine Besamtenhochburg. Shanghai
dagegen ist weltoffener, ohne aber dabei die chinesische Identität zu verkaufen
wie Guangzhou, das eine Kopie von Hongkong zu werden versucht, ohne
Chance, das Original jemals zu erreichen.
Im Frendship Store (Freundschaftsladen), wo man für Touristengeld (FEC)
westliche Produkte oder chinesische Produkte in Export-Qualität oder auch
nur Produkte, die in normalen Läden Mangelware bzw. überhaupt nicht erhält-
lich sind, kaufen kann, erhalten wir eine Lektion, wie die chinesische Wirt-
schaft die offizielle eins zu eins Parität von FEC und Renminbi (RMB, Volks-
geld) einschätzt.
Da Klaus neue Turnschuhe braucht, interessiert er sich für Nike-Sportschuhe,
die der amerikanische Hersteller in China produzieren läßt. „96 Yuan“ meint
7 3 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
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die Verkäuferin, als er sie probiert. Da auf dem Preisschild irgend etwas von
Yuan Renminbi steht, will Klaus auch mit Renminbi bezahlen. „No, FEC“ kor-
rigiert die Verkäuferin. „Da steht aber etwas von Renminbi“, wirft Klaus ein.
Sie lächelt: „36 FEC und 60 RMB“ – umgerechnet € 17,- für einen Rindsleder-
Sportstiefel.
Später in Guangzhou sehen wir den gleichen Schuh im Friendship-Store für
FEC 64,–, was ungefähr dem Gleichen entspricht. So rechnet also auch die chi-
nesische Wirtschaft den FEC mit zwei Yuan RMB, ungefähr der Kurs, den man
auch auf der Straße beim illegalen Schwarztausch erhält.
7 4 Der Weg ist das Ziel ...
R E I S E R O U T E
Route: Salzburg - Istanbul - Kappadokien - Nemrut Dag - Van See - Dogubayazit - Teheran - Quetta - Rawalpindi - Chitral - Gilgit - Kashgar - Turfan - Dun-huang - Jiayuguan - Lanzhou - Tianshui - Xian - Peking - Qingdao - Shanghai - Suzhou - Hangzhou - Kanton - Hongkong - Macao - Yangshuo - Hainan
Der Weg ist das Ziel ...
Mit dem Rucksack durch Europa, Asien und Afrika.
Was soll ich mir anschauen?
Auf diese Frage eine allgemein verbindli-che Antwort zu geben ist natürlich unmög-lich. Jeder hat da seine persönlichen Vor-lieben. Am besten Ihr kauft einen guten Reiseführer, zeichnet die interessanten Or-te auf einer Karte ein, verbindet die Orte und, voilà!, Eure persönliche Reiseroute ist fertig. Wenn Ihr auch noch notiert, wie lan-ge Ihr jeweils bleiben möchtet, bekommt Ihr ein Gefühl, ob die Planung realistisch ist. Ich bin bei meinen Reisen immer so vorge-gangen. Und obwohl ich mir meine Pla-nung unterwegs kaum mehr angeschaut habe, an den meisten Orten kürzer oder länger wie gedacht geblieben bin, oft auch Plätze besucht habe, von denen ich erst unterwegs erfahren habe, hat die Pla-nung in groben Zügen erstaunlich gut ge-passt. Das ist auch der Sinn einer solchen Planung und nicht ein Korsett, an das man sich sklavisch genau halten soll.
Europa – Istanbul
Ich habe für diese Strecke zwei Wochen eingerechnet. Von Budapest nach Ora-dea, Sighisoara und Sibiu in Rumänien. Dann weiter über Veliko Tarnovo und Plov-div in Bulgarien nach Istanbul. Türkei
Die Minimalvariante für zwei Wochen wäre Istanbul, Kappadokien, Kars und Dogu-bayazit. Türkei-Neuliegen wurde ich auf je-den Fall einen Abstecher an die Küste des Mittelmeers empfehlen, dann hinauf nach Kappadokien und auf oben be-schriebener Route weiter in den Osten. Das müsste in rund fünf Wochen zu schaf-fen sein. Iran
Die iranischen Behörden sind nach wie vor etwas mühsam, wenn es um die Visaertei-lung geht. Wahrscheinlich wird man nur ein Transitvisum bekommen. Die im folgen-den beschriebene Route ist ein Minimal-programm für zwei Wochen Iran: Tabris, Te-heran, Isfahan, Shiraz, Bam und weiter zur Grenze bei Zahedan.
Pakistan
Während der Iran noch vergleichsweise „zivilisiert“ und westlich war, kommt jetzt der große Sprung ins Chaos des indischen Subkontinents. Wenn der Zug von Quetta durchs Gebirge ins Industal hinunterrollt, wird es schlagartig immer schwüler und heißer. In Sukkur überquert man dann die große Brücke über den Indus und bei je-dem Überlandreisenden stellt sich das Ge-fühl ein, es geschafft zu haben: Indien ist erreicht!
Die Reiseroute von der iranischen Grenze bis Lahore ist ziemlich klar, weiter nördlich gibt es aber größere Variationen: Man könnte zuerst über Peshawar nach Chitral fahren, von dort über den Shandur Pass nach Gilgit und am Karakorum Highway weiter nach China. Oder man fährt direkt entlang des Indus nach Gilgit. Möglicher-weise, falls die Spannungen zwischen In-dien und Pakistan es erlauben, am Anfang über das Kaghan Tal und den Babusar Pass direkt nach Chilas im Indus-Tal. China
Eine definitive Reiseroute durch das riesige Land anzugeben, ist ein ziemlich hoff-
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7 5 Auf der Seidenstraße nach Hongkong
nungsloses Unterfangen. Die Standardrou-te führt entlang der Seidenstraße nach Pe-king und dann auf der für Erstbesucher „empfohlenen“ Strecke über den Osten in den Süden des Landes: Kashgar – Urumqi - Turfan – Dunhuang – Lanzhou - Xiahe – Xi-an – Beijing/Peking – Qingdao - Shanghai – Suzhou – Hangzhou – Guilin – Guangzhou/Kanton – Hongkong. Das ist zudem die lo-gischste Route ohne viel Zickzack, die sich auch gut in drei Monaten schaffen lässt. Nachteil ist jedoch, dass sie ab Lanzhou praktisch nur durch Städte führt, die zu-dem ziemlich teuer sind.
Wenn ich dagegen die zehn Orte, die Rough Guide als „Best of China“ bezeich-net, aneinander reihe, kommt eine völlig andere Route heraus: Kashgar – Lhasa – Xian – Beijing/Peking – Shanghai - Lijiang – Dali - Xishuangbanna – Guilin – Hongkong. Nach insgesamt acht Monaten in China würde ich sagen, dass diese Orte, nicht unbedingt die Auswahl der Sehenswürdig-keiten, auch ganz gut mit meinen Favori-ten übereinstimmt. Lässt sich das aber praktisch auch verwirklichen?
Kashgar – Lhasa wäre eine Traumroute entlang des Himalayas, doch leider ist die
Straße nach Westtibet für Einzelreisende gesperrt. Die kürzeste Alternative ist Kash-gar – Dunhuang – Golmud – Lhasa. Mit der neuen Eisenbahn sind die rund 2.000 km von Kashgar nach Dunhuang relativ flott zurückgelegt. Von Dunhuang geht es dann per Bus durch die Halbwüste nach Golmud und von dort weiter über 5.000 m hohe Pässe nach Lhasa. Die völlig über-teuerte Busfahrt ist zugleich auch die poli-tisch stabilste Route nach Tibet.
Nach einer kleinen Rundreise durch das Dach der Welt kehrt man entweder per Bus wieder nach Golmud zurück oder man fliegt nach Chengdu oder Xian. Wer den Landweg nimmt, kann über Xining nach Xiahe zum schön gelegenen Labrang Klo-ster fahren. Abenteuerlustige schlagen sich von dort über die Seen des Naturreser-vats Jiuzhaigou Richtung Süden nach Chengdu durch. Die Standardroute führt dagegen über Lanzhou nach Xian.
Xian – Beijing – Shanghai ist ohnehin pro-blemlos, wobei ich auch noch zusätzlich Suzhou und Hangzhou besuchen würde. Todesmutige können dann eine rund drei-tägige Marathonzugsfahrt nach Kunming machen, der Rest wird den Flieger in die
Hauptstadt Yunnans nehmen. Von Kunming macht man eine kleine
Rundreise durch das nördliche Yunnan nach Lijiang und Dali, von wo es Richtung Süden nach Jinghong, der Hauptstadt von Xishuangbanna geht. Von dort kann man sich entweder direkt mit Bussen entlang der laotischen Grenze Richtung Liuzhou und Yangshuo durchschlagen. Oder man fährt wieder nach Kunming hinauf und ver-sucht, einen Zug nach Liuzhou oder Guilin zu bekommen.
Von Yangshuo nimmt man dann die letz-te Etappe nach Hongkong in Angriff, wo-bei ich auch in Guangzhou und Macao stoppen würde. Insgesamt wird man für diese Strecke rund vier Monate brauchen, womit man zumindestens einmal das Vi-sum verlängern lassen muss. Wer damit Probleme hat, kann auch auf dem Weg von Hangzhou nach Kunming in Hong-kong vorbeischauen und dort ein neues Visum beantragen. Mehr Informationen zu Dauer und Klima gibt es im ersten Teil. Den kompletten Rei-seführer Seidenstraße findet Ihr unter www.geocities.com/gerald_fimberger.