Date post: | 14-Mar-2016 |
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Kebehsenuf Z 9
In Prag Z 27
Urlauber Z 53
Schlaf mich weg Z 77
Kleines Tonstück mit Fernando und
Heinrich in Griechenland Z 87
Dialog in einem Zug nach Warschau Z 101
Nachwort Z 115
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Adam Kardamom war tot. Die Todesanzeige wurde auf einer
ganzen Zeitungsseite ausgebreitet. Aller Öffentlichkeit zum Trotz: Er
verabschiedete sich von den offenbarten Göttern seiner Profession.
Sie befand sich im Wohnzimmer. Zusammen mit ihren Eltern. Die
Wandregale waren gefüllt mit den Sachbüchern des Vaters: Astronomie,
Sammelhefte für Gartenbau, VHS-Kassetten. Im mütterlichen Regal-
abschnitt: Rilke, Morgenstern, Mann.
Adam Kardamom war tot. Von nun an keine Männer mehr, denn
seit exakt zwei Stunden und dreißig, nein, einunddreißig Minuten war
er unter der Erde. Der Mann, der Bruder. Kebehsenuf. Oder: das, was von
ihm übrig war. Stoff, Gas, Nichts.
Die Mutter war immer noch vulkanisch. Innen brodelte es, außen
war sie Basalt. Der Vater hatte gerötete Augen, starrte durchs Fenster
auf die Petunien im Garten. Er war unter der Erde. Der Mann, der Sohn.
Kebehsenuf. Oder: der Mann an sich.
Am Kaffeetisch reichte ihr die Mutter ein weiteres, ungewolltes Stück
Blechkuchen. Mit Streusel. Ihr Vater bekam auch eins auf den Teller
geworfen. Ihr Vater. Ganz Mann, war auch seine Zeit abgelaufen. Dann
der Blick hinüber zur Mutter. Ihre Mutter, die bald schon in Vergessen-
heit geraten sollte. Sie war so wenig Frau und schlief nachts mit dem
Gesicht nach unten. Zuletzt sie selbst. Wer ist sie denn? Ein Kind, wie
er eins war. Nur eben anders. Und jetzt, jetzt musste sie Geschicklich-
keit entwickeln für den Umgang mit einem Leben, das sie nur aus den
Geschichten kannte, die ihr Bruder im weltmännischem Gestus, wie
es seine Art war, jedes Jahr an Weihnachten der Familie präsentierte.
Sie und ihr Bruder. Zwei Existenzen wurden nebeneinander gestellt —
ohne Berührung.
Adam Kardamom war tot. Mit seinem Tod kamen andere zum Zuge.
Die Frau. Lili, sie war diese Frau.
Die Mutter sah sie an. Mit Augen wie Wasserbetten. Ihr Blick ver-
unsicherte sie. Zu häufi g machte Lili äußere Vorkommnisse für ihre
Unsicherheit verantwortlich. Sie gab dieser Unsicherheit den Namen:
12 Z Kebehsenuf
Lust. Weibliche Lust, vor der man Angst bekommen konnte. Sie äußerte
sich in einem unbestimmten Verlangen nach — ja, nach was eigentlich?
Hingabe, Wärme, Sex? Ihre Lust war nicht mehr ganz. Und der Tod
ihres Bruders schien damit zu tun zu haben.
Jetzt stiegen wieder diese Erinnerungen aus einer porösen Kindheit
in ihr auf. Ein Beziehungsfetzen: Sie und ihr Bruder. Frühe Berührungen,
die schon bald Berührungslosigkeit werden sollten. Adams Kinder-
zimmer. Ihre Schritte über den warmen Teppich und die zärtlichen
Stoffwülste zwischen ihren Zehen. Adams Lächeln beim Erblicken
der Schwester im Flur. Die Eltern ein Stockwerk tiefer, sicher von den
Kindern getrennt.
Nach Kaffee und Kuchen zu Ehren der Toten, stieg sie die Treppe
hinauf. Die Eltern ließ sie im Wohnzimmer zurück. Das Haus war groß,
sie konnte sich darin verstecken. Der Vater legte Wert auf Raum und
Fläche, auf bleibende Werte, auf geerbte Illusion. Am Türrahmen die
Kerbe. Ein bleibender Wert aus der Kindheit. Guter Erinnerungsanlass:
Sie sieht Adam, wie er mit seinem Taschenmesser den Rahmen bear-
beitet. Aus Wut, weil er zu Hause bleiben musste während die Eltern
zum Skifahren fuhren. Sie hatte immer noch Adams Wutgesicht vor
Augen. Die Züge eines rachsüchtigen Kanopengottes.
Sie trat ins Kinderzimmer. Nichts hier sah mehr nach Kindheit
aus. Heute war der Vater auch in dieses Zimmer gezogen. Hatte sich in
ihrer Kindheit breitgemacht. Vor dem Fenster ein Computermonster.
An den Wänden keine Bilder, keine Fotos, nur ein großes Poster vom
Mond. Darauf alle Gräben, Gebirge, Dome, Krater. Mösting, Grimaldi,
Alphonsus…
Sie stand in der Mittelachsenaura des mondgrauen Zimmers und
erinnerte eine lose Bodenfl iese. Sie zögerte zuerst, da sie annahm, die
Fliese sei längst vom Vater bemerkt worden. Doch dem war nicht so.
Sie war auch heute noch lose. Ehrfürchtig ging sie vor, denn Jahre
lagen zwischen Heute und der Beisetzung der Inhalte. Sie fühlte
sich wie Howard Carter kurz vor der Begegnung mit Tut-ench-Amun;
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ehrfürchtig also hob sie mit Hilfe eines Briefkantenmessers die Fliese
an. Sie gab nach und offenbarte das Geheimnis.
Adam Kardamom war tot. Schöner Mann, sagten alle. Kebehsenuf.
Schon als Kind war er schön gewesen. Oder: als Kind, das Mann werden
sollte, dann nochmal anders: Der Mann, der Kind blieb, weil er dazu
berufen war, das Neue immerzu aus sich selbst heraus zu schaffen.
Das Neue. Er war ein Narr, der Leib gewordene Sohn des Himmels und
einer Pilzkoralle.
Jetzt blätterte sie in wachspapiernen Seitensammlungen und ihr
wurde bewusst: Adams Schädel-Hirn-Trauma war existenzbegründet.
Seit seiner Geburt war er abseitig, daneben, verrückt. So nennt man
das wohl. Sie fand Tagebücher und Briefe. Vorsichtig zog sie einen der
beigefarbenen Briefumschläge aus der Sammlung heraus. Das war
kein Zeugnis aus der Kindheit. Adams Bücher und Briefe wurden regel-
mäßig und akribisch ergänzt, wie die Sammelhefte des Vaters. All die
Jahre über zu Weihnachten ein Teil seines Lebens hier versteckt, Brief
um Brief aufgeschichtet. Der erste Umschlag: ihre Adresse, Gedenk-
briefmarke, nie abgeschickt. Sie musste das Kuvert nicht aufreißen, es
stand geradezu ordinär offen.
Liebe Lili,
über unser Wiedersehen letztes Wochenende habe ich mich sehr gefreut.
Man stelle sich das vor, so lange haben wir uns nicht gesehen! Mein Aufent-
halt in Prag war ja ein eher spontanes Vorhaben. Unser Zusammentreffen dort
stand im wahrsten Sinne des Wortes unter einem silbernen Stern. Wer hätte
gedacht, dass Du das selbe Restaurant aufsuchen wirst wie ich?
Deine überstürzte Abreise stimmte mich traurig. Viel hätten wir uns noch
zu erzählen gehabt — nach der langen Zeit. Nun bin ich selbst wieder zu Hause
angekommen. Wie geht es den Eltern? Wie viele Weihnachtsfeste habe ich
ausgesetzt?
Du warst überrascht nach dem kurzen Blick auf mein Leben seit ich vor
über zehn Jahren nach Berlin gegangen war. Deine Frage brachte mich zum
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»Die Sprache durchbrechen, um das Leben zu ergreifen.«
antonin artaud
I.
Der Kellner im s chwarzen Gesellschaftsanzug beugte
sich weit nach vorne, stützte sich mit der rechten Hand an der
Rückenlehne eines Stuhls ab und bellte ins Séparée: »Es ist niemand
hier!«
»Nie war irgendjemand hier«, gab sie zurück und betrat das Séparée.
Man hatte sich immer erzählt, dass es eine Sprache geben würde,
die es ermögliche, in diesem Etablissement einander zu verstehen.
Und noch mehr: Dass es eine Sprache geben würde für diese Stadt. —
Doch das ist nicht so! Das Verstehen ist wie der Gang Eugen Lehmanns:
behäbig, langsam, unbeholfen.
Sie war vor zwei Monaten hergekommen. Keiner sprach ihr Mut
zu, keiner hatte Bemerkenswertes beizutragen. Alle betonten nur,
wie überaus aufregend ihr Vorhaben sei. Sie klammerten sich an einen
Mythos ohne Lebensmöglichkeit.
Und wie einst Rilke das Schnapsglas wachsen sah, so sah man nun
sie, Adrina, auf doppelte Größe heranwachsen. Der Kellner stöhnte.
»Meine Liebe«, holte er süffi sant aus, »warum blasen Sie sich so
auf?«
Mit solcher Provokation hatte sich Pavel gegenüber Frauen immer
durchzusetzen gewusst. Den Rücken gebeugt, zwei pulsierende blaue
Adern in der Wade — er sprach mit einer Fremden, Freunde waren
längst vergrault.
Alle lachten sie! Adrina schüttelte den Kopf, blieb verständnisvoll.
Auch Pavel lachte, zugleich dachte er aber daran, wie traurig sie doch
war — so ganz ohne Verstehen. Wenn es ums Verstehen ging, musste
Adrina an Herrn Lehmann, an Eugen Lehmann, denken. Er verstand.
30 Z In Prag
»Wir fi nden diese Sprache. Es wird gehen: das Verstehen«, beharrte sie.
Kopfschütteln bei den anderen.
»Sie bleiben nicht beim Wesentlichen. Zurück zum Ereignis, bitte!«,
setzte Adrina nach.
Das Ereignis war im Lachen untergegangen. Sie wuchs und wuchs,
sie wurde eine große Frau. Wollte noch diese Stadt mit ihren Signa-
turen prägen, harmonisch schwingen. Nichts weiter. Doch in dieser
Stadt, die alle literarisch nannten, fand sie bisher nur Sternenreifen,
vorgezeigt von jungfräulichen Händen auf sepiafarbenen Werbe-
plakaten. Wo war die Sprache?
Von Vorne.
Nach dem Studium zweier guter Bücher — sie geizte nicht mit
Unterstreichungen —, war Adrina in der Lage, ihr philosophisches
Bewusstsein auszubilden. Das ist eine Eigenart, die man literarischen
Figuren heute nicht unbedingt mehr zuschreiben würde. Noch so
angenehme Kunstgriffe führen bei ständiger Wiederholung zu Wund-
heit. Und eben wund gescheuert im Denken studierte sie eine Stadt,
die alle literarisch nannten. Wieder wurden Köpfe geschüttelt. Wieder
wurde gelacht. Das Gelächter fl og durch die Luft, verstopfte die
Kanäle. Blasse Schemen — alles war nur heiße Luft. Keine Sprache,
kein Verstehen, bloß Mythos ohne Lebensmöglichkeit.
Pavel, der nicht in der Lage war, zu wachsen, kam zu ihrem Tisch,
rückte das Schildchen aus Plastik — Werbung für ein Gulaschsonder-
angebot — zurecht und forderte sie heraus: »Sie wiederholen sich«,
und wieder, »meine Liebe, es langweilt mich.«
Er nahm sie nicht ernst, er konnte sie nicht ernst nehmen. Was
hätte es ihr auch genutzt, ernstgenommen zu werden. Sie lachte
längst über sich selbst.
»Prag ist nicht mehr ganz. Nicht mehr Herz und Atem, nur eine
Perle aus Glas. Das wissen Sie«, schleuderte sie dem Kellner entgegen.
Damit fühlte sich Pavel provoziert. Die anderen, die es gehört
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hatten, auch. Der Kellner lachte doch bloß über eine Studentin, eine
verkrachte Intellektuelle, über eine alleinstehende Frau. Und sie, sie
griff nach seiner verwinkelten Kohlestiftwelt, nach seiner Mutter.
Mit spitzen Handgriffen zückte Adrina das Zigarettenpapier und
füllte den Bogen mit Lust. Genüsslich inhalierte sie den Rauch, und
ihren Sieg. Eine siedende Schwade Eifer stieg auf.
»Wie reden Sie daher?«, Pavels Süffi sanz verschwand mit einem
Mal, »Was wollen Sie uns, den Menschen dieser Stadt, erzählen?«
»Ich spreche verzwickt, gewiss, aber Sie sehen bloß Trugwerke. Ich
gehe doch Kompromisse ein, verbinde wenigstens die Themen, die
die Menschen bewegen, mit dem Atem, der durch diese Straßen weht.
Ich zeige keine sentimentalen Sternenreifen.«
»Woher wollen Sie wissen, was uns bewegt?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann es nur ahnen. Das ist mein Kompromiss.
Aber ich scheue nicht, es zu tun. Es ist Zeit! Die Stadt ist reif. Die Jugend
ist vorbei.«
Sie rauchte die Lust und ruhte sich im Denken aus. Pavel war
überfordert. Er ging wieder gebeugt, war doch Kellner. Adrina trium-
phierte. Doch dann wandte man sich von ihr ab.
Elf Uhr, die Touristen kommen.
II.
Oft irrte sie durch die Straßen, ließ sich von einer Farbspindel aus
Kirchtürmen und Baukränen einsaugen. Dieses Drehen, mehr ein
Zerren, war ihr ein wichtiger Eindruck.
Eine Sache gab es noch zu tun in Prag: Irgendwer musste ihr die
Astronomische Uhr am alten Rathaus erklären. Dazu war bisher nie-
mand imstande gewesen. Die Menschen gehen täglich vier, fünf Mal
an der Uhr vorbei, aber sie wissen nicht, was da vor sich geht zu jeder
vollen Stunde. Zu Hundertschaften stehen sie davor und klatschen,
wenn der Sensenmann mit dem Kopf wackelt, aber keiner scheint zu
begreifen, was die Uhr genau anzeigt. Vielleicht irrte sie sich aber
auch, und jeder wusste, wie das Ding funktioniert, es erklärte ihr nur
keiner.
Die Uhr war ihr zum Symbol geworden: ihrer Suche. Solange sie
nichts über die Bedeutungen der Zeiger und Ziffern dieser Uhr wusste,
würde ihr auch die ersehnte Sprache verborgen bleiben. Dachte sie.
Eine Gruppe Italiener johlte. Spitze Schreie und nervöse Wehen
umgaben den Menschenkloß. Ein langsamer Mann strauchelte, doch
alle Augen waren nach oben gerichtet. Er fi el auf die Knie. Kirschrot
wurden seine Hosen. Er stand schnell auf, es war ihm peinlich.
Adrina eilte herbei, schob an irgendeiner runden Stelle ihre Hand
unter und half dem langsamen Mann auf.
»Dankeschön.«
»Die glotzen nur. Blöde Touristen!«, wetterte Adrina, »Es würde
sich gehören, zu helfen«, sagte sie bestimmt.
»Lassen Sie.«
Unausgesprochen teilten sie ihren Weg in Richtung Moldau. Bald
schon sahen sie Brücken.
»Und Sie? Was tun Sie? Sie sind nicht wie diese Italiener«, brach der
langsame Mann das Schweigen.
Ihr war stets wichtig gewesen, nicht für eine Touristin gehalten
zu werden. Aber wahrscheinlich war das nur eine ihrer Selbst-
täuschungen.
»Ich lebe hier. Ich habe die Gassen der Gegend zu schätzen gelernt«,
antwortete sie.
»Durch die Gassen muss man morgens spazieren, dann sieht man
Prag atmen«, sagte ihr Begleiter.
Adrina war überrascht. Nicht mehr Herz und Atem.
»Das ist mir bereits aufgefallen. Dennoch fühle ich mich nicht
angekommen«, gestand sie.
32 Z In Prag
33
»Ich kann leider nicht beurteilen, wie es ist, woanders zu leben. Ich
habe Prag nie verlassen. Bin hier geboren und werde hier sterben.«
»Ich meine, ich wohne hier zwar, aber ich lebe hier nicht«.
»Sie sind in Prag, allein das zählt«. Der langsame Mann lächelte.
»Wohnen Sie in diesem Stadtteil?«, fragte Adrina.
»Ja, schon sehr lange.«
»Weshalb sprechen Sie so gut Deutsch?«
Abrupt blieb er stehen, nahm seine Mütze ab und hob an: »Ich
möchte mich Ihnen vorstellen: Eugen Lehmann.«
Irgendetwas an diesem langsamen Mann vermochte in Adrina ein
Gefühl der Traurigkeit so wachzurufen, dass sie es in den eigenen
Organen spüren konnte.
»Ich bin Adrina«, sagte sie schnell und kalt. Dann bemerkte sie
ihre brüske Art und lächelte. Sie ließ los, wuchs, hielt an, und dann —
wurde ihr warm.
Am Wasser trennten sie sich für diesen Tag. Von jetzt an änderte
sich Adrinas Weg. Der langsame Mann hatte sie gelotst, brachte sein
Ziel mit ihrem in Abgleich, danach konnte sie eigene Wege einschlagen.
Eugen Lehmann zeigte ihr mit wenigen behäbigen Sätzen, dass es gar
nicht so sehr darauf ankommt, irgendwo angekommen zu sein, wenn
man sich seiner selbst gewiss ist. Er hatte das gelernt. Lange Zeit war
auch er ein Wesen zwischen Wort und Bewegung unfertig hin- und
hergerissen. Nach mehr als hundert Jahren wurde er aber frei. End-
lich der Name, der ihn vollständig machte und ihn von seiner Bürde,
den Bedrängten helfen zu müssen, befreite. Anderen helfen tut er bis
heute. Es ist ihm aber keine Last mehr. Sprache war sein Metier. Ein
Wort verantwortlich für seine Präsenz. Das ärgerte Adrina.
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Ich habe einen Entschluss gefasst. Ab heute werde ich jede
Nacht eine Stunde länger schlafen als in der Nacht zuvor.
Ich schlafe in der Regel sieben Stunden pro Nacht. Jeden Abend gehe
ich gegen vierundzwanzig Uhr ins Bett und stehe morgens um sieben
auf. In der kommenden Nacht sollen es acht Stunden sein, die ich
schlafen werde. Ich werde meinen Wecker auf acht Uhr morgens stellen,
übermorgen dann auf neun, am darauf folgenden Tag auf zehn. Und
so immerfort.
Ich bin mir sicher, dass ich mich an das viele Schlafen gewöhnen
kann. Immerhin, das muss ich bedenken, werde ich nach so viel Schlaf
ziemlich ausgeschlafen sein. Gegen vorzeitiges Wachwerden wird
mich das allmähliche Schlafenüben wappnen. Bald werde ich immer
weniger Tag haben und irgendwann nur noch Nacht.
Z
Zweiter Tag. Mein Experiment funktioniert. Ich habe acht Stunden
Schlaf hinter mir. Ich fühle mich ausgeruht, frisch. Als heute Morgen
um acht der Wecker schellte, stellte ich fest, dass es draußen bereits
viel heller war als um sieben. Menschen waren unterwegs. Ich hörte
Gerumpel über mir und unter mir. Geschirr durch die Rohre und
Absatzschuhe im Treppenhaus.
Z
Ich träumte. Ich träume sonst nie. Ich träumte von einem Haus, in
das sie einzogen: Alte, Junge, Kinder, Widermenschen. Viel Lärm. Viel
Gepäck. Motorengeräusche im Hof. Sie kommen mit Lkw und laden
Möbel, Kisten und Klaviere aus. Als sie ihre neuen Wohnungen bezie-
hen wollen, müssen sie feststellen, dass dort bereits andere wohnen.
Um neun schellte der Wecker und ich begann den dritten Tag meines
Experiments. Ich fühle mich etwas verrenkt. Mein Rücken tut weh.
Z
Vierter Tag. Warum nenne ich das ein Experiment?
Ich schlief heute bis neun Uhr dreißig. Wachte eine halbe Stunde
vor dem Weckerläuten auf. Das ist so nicht geplant! Ich will hoffen,
dass mir mein Schlafenüben unvorhergesehene Abweichungen von
meinem Plan in Zukunft ersparen wird. Ich träumte wieder. Irgendwas
mit Insekten, diesmal kann ich mich nicht erinnern. Im Rücken immer
noch die Schmerzen. Ich komme mir vor wie eine Gliederpuppe unter
Beschuss: Kanonensalven aus Decken, Kissen und zu langem Liegen
auf zu weichen Matratzen.
Z
Fünfter Tag. Es ist kein Experiment. Es ist ein Entschluss. Elf Stunden
Schlaf. Einwandfreier Schlaf. Keine Träume, kein früheres Wachwerden,
keine Unterbrechungen, keine Abweichungen. Auch die Geräusche im
Treppenhaus haben mich nicht gestört. Ich schlief elf Stunden am
Stück. So schläft man nur im Nährwasser, wenn man noch nicht gebo-
ren wurde. Ich starre mit offenem Mund an die weiße Decke. Ein Bild
fl ackert auf. Von diesem Uterus aus kann ich meine Gedanken sehen:
als rauchende Schnüre.
In der Wohnung nebenan sind neue Mieter eingezogen. Zwei Männer
um die vierzig. Haben sich heute Abend vorgestellt, während ich unten
die Post holte. Sie schafften Möbel und Kisten nach oben. Oliver und Klaus.
Z
Sechster Tag. Zwölf Stunden Schlaf. Ich werde träge vom vielen
Schlafen. Mein Rücken hat kapituliert. Ich bewältige meinen kürzer
werdenden Tag. Abends liege ich auf dem Bett, schaue fern. Das hilft
mir beim Einschlafen.
80 Z Schlaf mich weg
81
Vorhin habe ich mich eine Stunde lang im Spiegel betrachtet. Meine
Augen sind rot wie reifer Klatschmohn. An den Rändern sind sie ange-
schwollen, meine Wimpern verklebt. Murmeln in den Venen. Summen
im Ohr.
Z
Ich trank eine Flasche Tempranillo. Vor den dreizehn Stunden
Schlaf: Rausch. Wohin führt mich das? Ich träumte wieder. Abermals
das Haus. Abermals die Menschen. Es ziehen noch mehr ein. Dieser
Widersinn. Mit heißen Schwüren auf den Lippen lungern sie im Treppen-
haus, sind darauf bedacht, die orangefarbene Feuerlanze zu erhaschen,
die nach unten schießt, wenn sich eine Wohnungstür in den oberen
Stockwerken öffnet. Ich höre Flügelschlagen, dann wache ich auf.
Z
Geteilter Schlaf. Ich wurde mittendrin wach. Kann nicht genau
sagen, ob es vollendete vierzehn Stunden waren. Ich zitterte, als ich
da lag, in meinem Bett. Nackt und wach. In der Wand hörte ich ihr
Kichern. Glucksen im Unterleib. Das machte mich nervös, ließ mich
schließlich auffahren und trennte mich vom Bild an der Decke, von
den Rauchschnüren. Jetzt sind sie in meinem Kopf.
Z
Mein Wecker ist ein Traditionswecker, den ich zu Hause und auf
Reisen in einer Schatulle aufbewahre. Direkt neben dem Revolver.
Nachts starrt sein Ziffernblatt in die Dunkelheit.
Z