+ All Categories
Home > Documents > Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Date post: 12-Aug-2015
Category:
Upload: katherine-captive
View: 42 times
Download: 0 times
Share this document with a friend
36
Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 1 Sehr geehrter Herr Wagner, sehr geehrte Herren und Damen, der Landesverband der Psychiatrie- Erfahrenen in Rheinland-Pfalz hat für diese Broschüre den Titel „Zurück ins Leben gewählt, um damit die Hoffnung oder besser die Erwartung der Betroffenen, zurück ins Leben zu finden , zu unterstützen. Sehr lebendig beschreibt Patricia E. Deegan, wie schwierig es ist, selbst aktiv zu werden und Barrieren abzubauen. Sie beschreibt diesen Prozess als Reise Richtung Gesundung, die bei jeder Person anders, die immer einmalig ist. Als Gesundheitsministerin sehe ich es als meine Aufgabe, all diejenigen, die sich auf den Weg gemacht haben, zu unterstützen. Die Stärkung zur Selbstbefähigung möchte ich insbesondere durch die Begleitung von Erfahrenen und Angehörigen erreichen. Die Kostenträger sollen sich den individuellen Bedarfen öffnen und dafür Sorge tragen, dass den berechtigten Interessen von Menschen mit Unterstützungsbedarf Rechnung getragen wird. Dabei sollten sie zusammenarbeiten und ihre Energie nicht in Zuständigkeitsdiskussionen verschwenden. Durch eine individuelle Teilhabeplanung und das Persönliche Budget sehe ich uns in Rheinland-Pfalz auf dem richtigen Weg. Insbesondere denjenigen Menschen, die noch in sozialen Bezügen leben, soll ermöglicht werden, diese zu stabilisieren und zu sichern. Allen anderen, die sich außerhalb des gesellschaftlichen Systems sehen, muss der Weg zurück geebnet werden. Ich möchte Sie alle ermutigen, sich von der „Recovery-Bewegung“ erfüllen zu lassen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Lassen Sie sich von der spannenden Erzählung von Parricia E. Deegan in Besitz nehmen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude.
Transcript
Page 1: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 1

Sehr geehrter Herr Wagner,sehr geehrte Herren und Damen,

der Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen in Rheinland-Pfalz hat fürdiese Broschüre den Titel „Zurück insLeben gewählt, um damit die Hoffnungoder besser die Erwartung derBetroffenen, zurück ins Leben zufinden , zu unterstützen. Sehr lebendigbeschreibt Patricia E. Deegan, wieschwierig es ist, selbst aktiv zu werdenund Barrieren abzubauen. Siebeschreibt diesen Prozess als ReiseRichtung Gesundung, die bei jederPerson anders, die immer einmalig ist.

„“

Als Gesundheitsministerin sehe ich es als meine Aufgabe, alldiejenigen, die sich auf den Weg gemacht haben, zu unterstützen.Die Stärkung zur Selbstbefähigung möchte ich insbesondere durchdie Begleitung von Erfahrenen und Angehörigen erreichen. DieKostenträger sollen sich den individuellen Bedarfen öffnen unddafür Sorge tragen, dass den berechtigten Interessen vonMenschen mit Unterstützungsbedarf Rechnung getragen wird.Dabei sollten sie zusammenarbeiten und ihre Energie nicht inZuständigkeitsdiskussionen verschwenden.

Durch eine individuelle Teilhabeplanung und das PersönlicheBudget sehe ich uns in Rheinland-Pfalz auf dem richtigen Weg.Insbesondere denjenigen Menschen, die noch in sozialen Bezügenleben, soll ermöglicht werden, diese zu stabilisieren und zu sichern.Allen anderen, die sich außerhalb des gesellschaftlichen Systemssehen, muss der Weg zurück geebnet werden. Ich möchte Sie alleermutigen, sich von der „Recovery-Bewegung“ erfüllen zu lassenund ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Lassen Sie sich vonder spannenden Erzählung von Parricia E. Deegan in Besitznehmen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Freude.

Page 2: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.2

Auch möchte ich Ihnen danken, dass Sie das Thema „Recovery“ inIhrer Fachtagung „Der Weg aus dem Heim – aber wie?“ aufgreifen.Für diese Veranstaltung wünsche ich Ihnen viel Erfolg und darfIhnen und dem Landesverband meine weitere Unterstützungzusichern.

Malu DreyerMinisterin für Arbeit, Soziales,Gesundheit, Familie und Frauendes Landes Rheinland-Pfalz

Page 3: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 3

Sehr geehrter Herr Wagner,liebe Mitglieder des Landesverbandes

der Psychiatrie-Erfahrenen,meine sehr

verehrten Damen und Herren,

Es ist mir eine besondere Freude, dieSchirmherrschaft für Ihre FachtagungDer Weg aus dem Heim - aber wie? zu

übernehmen. Wie wichtig dieses Themaist, zeigen Sie unter anderem dadurch,dass Sie innerhalb von zwei Jahren dieHeimsituation erneut zum Thema für IhreFachtagung machen. Vor zwei Jahrenhaben Sie unter dem Motto Wohnen und

Betreuen - heute und morgen in Hachenburg darüber diskutiert,welche Wohnkonzepte denkbar sind. Mit Ihrer diesjährigenVeranstaltung greifen Sie konkret das Konzept Recovery auf undstellen es vor.

„ “

„“

„ “

Die hierzu erstellte Broschüre mit dem Bericht von Patricia E.Deegan zeigt verständlich und eindrucksvoll, welche Energie undEigenmotivation möglich aber auch benötigt wird, um „zurück insLeben“ zu kommen.

Da mir die Veränderung der Wohnsituation von Menschen mitpsychischer Erkrankung ein besonderes Anliegen ist, freue ich mich,dass der Verein zur Unterstützung der gemeindenahen Psychiatriein Rheinland-Pfalz, dessen Kuratoriumsvorsitzende ich bin, dieVeranstaltung und die Broschüre auch finanziell unterstützen kann.Ich hoffe, dass viele Menschen durch die Beiträge zum Aufbruchermutigt werden und wünsche Ihnen eine spannende Veranstaltungund anregende Diskussionen.

Mit herzlichen Grüßen bleibe ich Ihnen verbunden.

Roswitha BeckKuratoriumsvorsitzende des Vereins zur Unterstützung derGemeindenahen Psychiatrie in Rheinland-Pfalz

Page 4: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.4

Gesundung und dieVerschwörung im Geiste der Hoffnung

Patricia E. Deegan Ph. D. 1996

Der sechsten Jahreskonferenz der Dienste für psychiatrische Gesundheitvon Australien und NeuseelandBrisbane, Australien

Patricia E. Deegan, Ph. D.

Monika Zaugg-Laube und Christine Lanz-Laube

präsentiert an:

vorgetragen von:

aus dem Amerikanischen übersetzt von:

Der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.bedankt sich für die Übersetzung und Überlassung des Vortragesbei

undFrau Zaugg-Laube

Frau Lanz-Laube

Page 5: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Ich bedanke mich für die Gelegenheit, dass ich heute zu Ihnensprechen darf. Es ist ein spezielles Vergnügen, hier zu sein, indiesem schönen Land. Ich finde das Thema unserer Konferenzsehr wichtig. Es spiegelt in vielerlei Hinsicht die Hauptaussageall meiner Schriften. Dieses Thema lautet, „Es steckt eine Personda drin“. In mancher Hinsicht ist es der einfache Part, zu erfahren,dass eine Person da drin steckt. Sich daran zu erinnern, immer aufdie Person dort drin zu hören und sie zu achten ist schwieriger.

Zu Beginn möchte ich Ihnen ein bisschen vom Landesteilerzählen, in dem ich wohne. Ich lebe im Nordosten der USA, dasNeu England heisst. Dort wo ich lebe, haben wir vier sehrausgeprägte Jahreszeiten. Vom bitterkalten, schneereichenWinter, über den schlammigen Frühling mit seinen sichentfaltenden Farben, zu den kochend heissen Sommertagen, biszum sich spektakulär entfaltenden Herbst, in dem alle Blätter sichin leuchtendes Gelb, Orange und Rot verwandeln, dann zu Bodenfallen und die Bäume kahl und eintönig zurück lassen. Für michliegt immer eine Lektion im Kreis der wiederkehrendenJahreszeiten. Ich werde immer daran erinnert, dass Wachstum ineinem Kontext stattfindet und dass, wenn etwas, das wächst, zumVorschein kommen soll, sich die Umgebung verändern muss, umsich diesem Wachstum anzupassen.

Im Frühling, nach einem langen eisigen Winter, schrieb ichFolgendes:

Es ist Frühlingszeit und Hoffnung ist überall. Es ist Frühlingszeitund es scheint als ob alles Leben vibrierend ins Dasein erwacht,immer noch nass, neu und zerbrechlich, aber entschlossen,Wurzeln zu schlagen und zu wachsen.

Ich denke an eineApfelrose (

), die ichletzten Sommer am Strand, bei meinem Haus, heranwachsen sah.

rosa rugosa, eine widerstandsfähigewilde Rose, die als Pionierpflanze auch auf sandigen Dünenwächst und häufig vorkommt an der Atlantikküste von Maine,einem der New England Staaten, der am Meer liegt

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 5

Page 6: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Es ist ein zerbrechliches und eindrückliches Lebewesen, dieseMeeresblume. Ich sehe sie gerne. In der Morgendämmerungbewegt sie sich langsam nach oben und dreht sich gegen denMorgenstern. Diese Apfelrose ist ein Lichtsucher. Sie neigt sichzum Licht. Es ist ein Lichtsucher, dessen Wurzeln weit in dieDunkelheit der Erde hinabreichen. In der Tat, es war in derDunkelheit, in der dieses neue Leben begann.

Vor langer Zeit im Januar und Februar, als die eisigen Winde querüber jene Dünen peitschten und die Tage kurz waren und dasLicht keine Wärme gab, auch damals schon wartete das neueLeben tief unter dem Boden. Niemand konnte es sehen, niemandwar da, der es bezeugen konnte, und dennoch wartete diesesVersprechen einer Seeblume. Sie wartete in jener eisigenDunkelheit darauf, dass der Sand zu tauen begann. Sie wartete,bis der Regen kam und die Erde auflockerte. Und dann, ganz,ganz langsam, begann sie sich zu bewegen. Ein Körnchen Sandnach dem anderen auf die Seite schiebend, begann sie zuwachsen. Zuerst wuchs sie nicht gleich zum Licht hin. Nein.Zuerst strebte sie nach unten, tastete sich blind durch denrieselnden Sand, reckte und streckte sich und versuchte einensicheren Platz zu erreichen. Einen Platz zum Verwurzeln. GutenBoden um sich daran festzuhalten und davon ernährt zu werden.Eine geeignete Bodenheimat, die sie selbst bei heftigem Regenund tobenden Winden am Leben erhalten würde. Und dann,nachdem sie sich auf diese Weise verwurzelt hatte, begann dieApfelrose ihre Reise zum Licht. Diese Meeresblume stiess durchdie Dunkelheit und kam zum Vorschein, winzig und schön undbeharrlich und mutig. Auf zarten und bebenden Zweigleinerwachte diese kleine Rose zu einem neuen Leben...

Diese Apfelrose lehrt uns viel über Hoffnung. Sie lehrt uns, dassHoffnung aus der Dunkelheit kommt. Sie lehrt uns, dassHoffnung in nährender Umgebung, die es zulässt sich zuverwurzeln und sicher zu werden, gedeihen kann. Und ich binheute hierher gekommen, um die Hoffnung, durch dieseApfelrose symbolisiert, zu feiern.

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.6

Page 7: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Ich glaube, dass es der Geist der Hoffnung ist, der uns heute hierzusammengebracht hat. Wir kommen aus fernen Teilen der Welt:aus Australien, Neuseeland, USA, Kanada, Schweden, Irland,C h i n a u n d v i e l e n a n d e r e n L ä n d e r n . Wi r s i n dDienstleistungsangestellte, Verwalter, Politiker undFamilienangehörige, Benutzer dieser Dienste und Fachkräfte ausdem Psychiatriebereich. Vor fünfzehn Jahren hätte man uns nieim selben Raum zusammen gebracht! In der Tat, vor zehn Jahrenhätte kaum Einer mit dem Anderen gesprochen! Aber hier sindwir zusammen – Sozialarbeiter neben Familienangehörigenneben Politikern neben Case Managern, welche nebenAkademikern und diese neben Dienstleistungsbenützernsitzen...was geht hier vor? Werden die alten Regeln gebrochen?Wird die alte Ordnung in ihren Grundfesten ein wenigerschüttert? IST HIER EINE VERSCHWÖRUNG IM GANG?

Ich liebe das Wort Verschwörung. Es kommt vom Lateinischen„conspirare“, was bedeutet, gemeinsam Geist zu atmen. Was istder Geist, den wir heute hier gemeinsam atmen?

Es ist der Geist der Hoffnung. Individuell und kollektiv haben wires abgelehnt, den Bildern der Verzweiflung, die so oft mitpsychischen Krankheiten in Verbindung gebracht werden, zuerliegen. Wir sind eine Verschwörung der Hoffnung undstemmen uns gegen die Flut der Unterdrückung, welche seitJahrhunderten das Erbe derjenigen von uns ist, die als psychischkrank bezeichnet werden. Wir lehnen es ab, Menschen auf ihreKrankheiten zu reduzieren. Wir erkennen, dass in jedem von unseine Person steckt und dass wir als Personen an einemgemeinsamen Menschsein teilhaben mit jenen, bei denen einepsychiatrische Krankheit diagnostiziert worden ist. Wir sind hier,um zu bezeugen, dass Menschen mit einer psychiatrischenDiagnose nicht Dinge sind, Objekte über die hinweg gehandeltwerden darf, keine Tiere oder Untermenschen. Wir teilen dieGewissheit, dass Leute mit einer psychiatrischen Diagnose inerster Linie und vor allem Menschen sind. Unser Leben istkostbar und von unschätzbarem Wert. Im weiteren Verlaufe

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 7

Page 8: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

dieser Konferenz werden wir lernen, dass jene unter uns mitpsychiatrischen Beeinträchtigungen Experten darin werdenkönnen, sich selber zu behandeln. Wir können die Kontrolle überunser Leben zurückgewinnen, die Verantwortung selberübernehmen für unsere individuelle Reise zur Gesundung. Undso wie dieApfelrose uns lehrt, begreifen wir schliesslich, dass dieUmgebung der Leute sich ändern muss, wenn wir zur Fülle derPerson heranwachsen sollen, die wie ein kleines Samenkorndarauf wartet, sich in jedem von uns zu entwickeln.

Wenn wir einen Samen in eine Wüste pflanzen und er nichtwächst, fragen wir dann: „Was ist falsch mit dem Samen?“ Nein.Die wahre Verschwörung besteht darin, in der Umgebung desSamens zu schauen und zu fragen: „Was muss in dieserUmgebung ändern, so dass der Same keimen kann?“ Die wahreVerschwörung an der wir hier heute Teil haben hört auf zu sagen,was Psychiatrie-Überlebenden fehlt und beginnt zu fragen: „Wieschaffen wir hoffnungsvolle, menschenwürdige Umgebung undBeziehungen, in welchen Leute wachsen können?“

Bevor ich weiter über Hoffnung und Menschlichkeit rede,möchte ich ihnen aber Anteil geben daran, was es bedeutet, wennbei uns in jungen Jahren eine psychiatrische Krankheitdiagnostiziert wird und wir alle Hoffnung verlieren. Ich willIhnen über den dunklen Winter aus Schmerz, Qual und Apathieberichten, wenn wir die Hoffnung aufgegeben haben und nurnoch herumsitzen, Zigaretten rauchen und Kaffee trinken.

Für diejenigen unter uns, bei denen eine psychiatrische Krankheitdiagnostiziert worden ist und die in dem manchmal trostlosenÖdland von psychiatrischen Programmen und Institutionengelebt haben, ist Hoffnung nicht nur eine nett klingendeBeschönigung. Es ist eine Frage von Leben und Tod. Wir wissendas, weil wir wie die Apfelrose einen sehr kalten Winter erlebthaben, in dem alle Hoffnung aus uns hinausgequetscht schien. Esbegann für die Meisten von uns in den besten Jahren unsererJugend. Zuerst konnten wir es nicht benennen. Es kam wie ein

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.8

Page 9: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Dieb in der Nacht und raubte uns unsere Jugend, unsere Träume,unsere Sehnsüchte und unsere Zukunft. Es kam wie einschrecklicher Alptraum über uns, von dem wir nicht aufwachenkonnten.

Und dann, in der Zeit als wir die Nähe derer, die uns liebten amnötigsten hatten, wurden wir weg, an einen entfernten Ortgebracht. Im Alter von 14 oder 17 oder 22 Jahren wurde unsgesagt, dass wir eine Krankheit hätten, von der es keine Heilunggäbe. Wir wurden aufgefordert, Medikamente zu schlucken, diebewirkten, dass wir zitterten und dass unsere Ausspracheundeutlich wurde, die unserem jungen Körper die Energieraubten und uns steif wie Zombies herumgehen liessen. Es wurdeuns gesagt, wenn wir diese Medikamente für den Rest unseresLebens einnehmen würden, könnten wir vielleicht einen kleinenAnflug von Leben beibehalten. Sie sagten uns immer wieder,diese Medikamente seien gut für uns, und doch spürten wir, wiedie hohe Neuroleptika Dosis uns in leere Gefässe verwandelte.Wir fühlten uns wie willenlose Seelen oder wandelnde Tote, alsdie taube Gleichgültigkeit und die durch die Medikamenteausgelöste Apathie uns ergriff. In so hohen Dosierungenschwächten die Neuroleptika radikal unser Menschsein undunser Ich-Bewusstsein.

Als diese ersten Winterwinde uns heimsuchten, zogen wir dieDecken enger um unsere Körper, aber wir schliefen nicht.Während dieser ersten Nächte im Spital lagen wir wach.Verstehen Sie, in der Nacht scheinen die Lichter der Häuser derGemeinde durch die Fenster der psychiatrischen Institution. DasLeben ging dort weiter, während unseres zerfiel. Diese Lichterschienen sehr, sehr weit weg. Die Zulus haben ein Wort fürunseren Begriff „weit weg“. In Zulu heisst „weit weg“, „Dort, wojemand schreit: „Oh Mutter, ich habe mich verirrt/bin verloren(gegangen)“. Und genau so weit weg fühlte es sich an in derpsychiatrischen Klinik. Der Weg zurück nach Hause warnicht klar. Und als wir da in der Dunkelheit lagen, hatten wirAngst und konnten uns den Weg fort von diesem

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 9

Page 10: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

schrecklichen Ort nicht einmal vorstellen. Und wenn unsniemand sah, weinten wir in all dieser Einsamkeit.

Aber als der Morgen kam, wurden wir wütend. Wir wütetengegen die düsteren Prophezeiungen, die über unser Lebenausgesprochen wurden. Die irren sich! Die irren sich! Wir sindnicht verrückt. Wir sind nicht wie die Anderen hier, die schon zulange in dieser Klinik sind. Wir sind anders. Wir werden nachHause zurückkehren und alles wird sein wie vorher. Es ist nur einschlimmer Traum. Ein momentaner Rückschlag.

Mit der Zeit verliessen wir die Klinik. Wir standen mit unseremGepäck in der Hand auf der Treppe. Wir hatten solchen Mut –unser jugendlicher Optimismus wehte wie Siegesfahnen aufeinem festlichen Umzug nach Hause. Wir würden es schaffen.Wir würden nie mehr in die Klinik zurückkehren.

Manche schafften es tatsächlich. Aber die Meisten von unskamen nach Hause und fanden nichts mehr gleich wie vorher.Unsere Freunde hatten Angst vor uns oder sie blieben sonderbarabwesend. Sie verhielten sich übertrieben vorsichtig, wenn sie inunserer Nähe waren. Unsere Familie war verzweifelt undzermarterte sich vor Schuldgefühlen. Sie hatten nicht geschlafenund ihre Augen waren immer noch geschwollen von dengeweinten Tränen. Und wir, wir waren erschöpft. Aber wirwollten es versuchen. Und ich schwöre, mit allem Mut, den wiraufbringen konnten, versuchten wir zur Arbeit und zur Schulezurück zu kehren, wir versuchten die Scherben zu kitten und wirbeteten um Kraft und Ausdauer, um durchzuhalten. Aber esschien, dass Gott ein taubes Ohr für unsere Gebete hatte. Derschreckliche Stress kam zurück und unser Leben war wiedereinmal mehr zerschlagen.

Und jetzt vertiefte sich unser Winter zu einer Mark und Beindurchdringenden Kälte. Etwas in uns begann zu sterben. Ganztief in uns begann etwas zu zerbrechen. Langsam begannen dieBotschaften von Hoffnungslosigkeit und Stigma sich in uns

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.10

Page 11: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

festzusetzen, von denen die Orte wo wir behandelt wurden sodurchdrungen sind. Langsam begannen wir zu glauben, was überuns gesagt wurde. Anscheinend versuchte das System unserenGeist zu brechen und war fester entschlossen zu gewinnen, sogarunseren Gehorsam zu erzwingen, als uns zuzuhören und aufunsere Bedürfnisse einzugehen.

Plötzlich machten wir diese entmenschlichende Verwandlungvon einer Person in eine Krankheit durch: „ Schizophren“, „Multi“, „Bipolar“. Unser Menschsein und unser Ich-Bewusstseinverkümmerte weiter, als wir von Professionellen trainiertwurden, zu sagen „Ich bin schizophren“ „Ich bin bipolar“, „Ichbin multi“. Und jedes Mal, wenn wir diese entmenschlichendeLitanei wiederholten, wurde unsere Wahrnehmung, eine Personzu sein, schwächer, da die Krankheit“ sich bedrohlichabzeichnete als ein allmächtiges „Es“, ein ganz anderes Wesen,ein „An-Sich“, über das wir machtlos seien, wie uns beigebrachtwurde.

Fachleute sagten uns, wir machten Fortschritte, weil wir gelernthätten, unser ureigenstes Selbst mit unserer Krankheitgleichzusetzen. Sie sagten es sei Fortschritt, weil wir gelernthatten zu sagen „Ich bin schizophren“. Aber wir erlebten keinenFortschritt darin. Für uns stand die Zeit still. Das Selbst, das wirgewesen waren, schien immer weiter weg zu entschwinden, wieein Traum der jemand anderem gehört. Die Zukunft schien kaltund leer und versprach nichts als mehr Leiden. Und dieGegenwart wurde zu einer endlosen Folge von Momenten, diedurch die nächste Zigarette und wieder die nächste,gekennzeichnet war. So vieles von dem, woran wir litten, wurdeübersehen. Der Sinnzusammenhang unseres Lebens wurdegrösstenteils nicht beachtet. Die Fachleute, die mit uns arbeiteten,hatten eine Wissenschaft von physikalischen Objekten studiert,nicht die Wissenschaft vom Menschen. Sie verstanden nicht, wasder Neurologe Oliver Sacks (1970) so klar artikuliert: „Um dasmenschliche Subjekt ins Zentrum zurück zustellen – dasleidende, gekränkte, kämpfende, menschliche Subjekt – müssen

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 11

Page 12: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

wir die Krankengeschichte vertiefen und ausbauen zu einerErzählung oder einer Geschichte; nur so bekommen wir sowohlein ‚wer’ wie ein ‚was’, eine reale Person, einen Patienten, inBeziehung zur Krankheit – in Beziehung zum Physischen...dasStudium der Krankheit und die Identität können nichtvoneinander getrennt werden...(Geschichten) bringen uns auf diewahre Schnittstelle von Mechanismus und Leben, zum Bezugvon physiologischen Prozessen zur Biografie“. Aber niemandfragte nach unseren Geschichten. Stattdessen dachten sie, unsereBiografien als Schizophrene seien schon vor fast einemJahrhundert von Kraeplin und Bleuler niedergeschriebenworden.

Viel von dem was wir durchmachten waren dennoch einfachmenschliche Erfahrungen – Erfahrungen wie Verlust, Kummer,Schock, Angst und Verlassenheit. Nach und nach verliessen unsunsere Freunde, Verwandten und vielleicht sogar die eigeneFamilie. Nach und nach zogen Fachpersonen weg aus unseremLeben und es wurde zu schwierig, jemandem zu vertrauen. Nachund nach wurden unsere Träume und Hoffnungen zerschlagen.Anscheinend verloren wir alles. Wir fühlten uns verlassen inunserem immer tiefer werdenden Winter.

Die Wochen, Monate oder Jahre begannen an uns vorüber zuziehen. Unser Älter Werden war nicht mehr gekennzeichnetdurch die Meilensteine der Erfolge eines Jahres, sondern eherdurch den stumpfen Schmerz der aufeinander folgendenFehlschläge. Wir versuchten es und scheiterten und versuchten esund scheiterten, bis es zu sehr schmerzte, es weiter zu versuchen.Wenn wir jetzt die Klinik verliessen, war es keine Frage mehr, obwir zurückkommen würden, sondern einfach wann wirzurückgingen. Als letzten verzweifelten Versuch, uns zuschützen, gaben wir auf. Wir gaben den Versuch auf, gesund zuwerden. Aufgeben war eine Lösung für uns. Es betäubte denSchmerz. Wir waren bereit, enorm viele Facetten von uns zuopfern, um zu sagen „Ist mir egal“. Unsere Persönlichkeitverkümmerte weiter durch diese Anpassungsstrategie der

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.12

Page 13: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Gleichgültigkeit. Und so sassen wir in Sesseln und rauchten undtranken Kaffee und rauchten noch mehr...Es war ein hoher Preisfür das Überleben. Wir gaben einfach auf. Und der Winter zog einbei uns wie eine lange kalte Seelenqual.

Ich bin sicher, dass hier viele von uns heute Menschen mitpsychischer Beeinträchtigung kennen, die im Winter vonSchmerz und Apathie verloren sind, den ich eben beschriebenhabe. Es ist eine Zeit von echter Verzweiflung und Dunkelheit.Genau wie bei der Apfelrose im Januar und Februar ist es eineZeit, in der nichts zu wachsen scheint ausser der Dunkelheitselbst. Es ist eine Zeit des Aufgebens. Aufgeben ist eine Lösung.Aufgeben betäubt den Schmerz, weil wir nicht mehr fragen„warum und wie komme ich weiter?“ Sogar die einfachsteAufgabe ist Überforderung in dieser Zeit. Man lernt hilflos zusein, weil dies sicherer ist, als komplett hoffnungslos zu sein.

Der Winter der Seelenqual und der Ich-Bewusstseins-Verkümmerung, den ich beschrieben habe, ist nicht nur für die,die dies erleben eine Hölle, sondern auch für die, die uns liebenund für uns sorgen: Freunde, Verwandte und sogar Fachleute. Ichhabe beschrieben, wie es sich auf der Innenseite anfühlt, wennman es selber erlebt. Aber Freunde, Verwandte und Fachleutesehen die Qual und Gleichgültigkeit von aussen.

Von aussen sieht es so aus, dass die Person einfach nichts mehrversucht. Sehr häufig sind Leute, die in Klubhäusern und anderenRehabilitationsprogrammen auftauchen, teilweise oder total indieser verzweifelten Qual versunken.An guten Tagen können wiruns am Ort des Programms zeigen, aber das ist dann auch alles.Wir sitzen auf der Couch, rauchen und trinken Kaffee. Häufigmachen wir uns gar nicht die Mühe, überhaupt am Ort zuerscheinen. Von aussen mag es aussehen, als seien wir unterlebendig Toten. Wir erscheinen apathisch, lustlos und leblos. AlsFachleute, Freunde und Verwandte mögen wir denken, dass dieseLeute „voller Ausflüchte“ sind. Sie scheinen sich nicht mehr zubemühen, sie erscheinen konsequent inkonsequent, und es

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 13

Page 14: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

scheint, dass sie ausschliesslich zur Apathie motiviert sind. Hinund wieder scheinen diese Leute in Wunschfantasien zu flüchten,wie sie auf magische Weise ihrem Leben eine Wende gebenwürden. Aber in unserer Optik sind das nur Fantasien, einemomentane Flucht aus der chronischen Langeweile. Wenn dieFantasie wie ein verbrauchter Ballon zusammenfällt, hat sichnichts verändert, weil keine wirkliche Handlung stattgefundenhat.Apathie kehrt zurück und der Kreislauf des Leidens setzt sichfort.

Personal, Familie und Freunde haben sehr starke Reaktionen aufdie Person, die im Winter von Qual und Apathie verloren ist. Vonaussen kann es schwierig sein, wirklich zu glauben, dass da einePerson ist. Mit einer Person konfrontiert zu sei, die an rein garnichts Interesse zeigt, kann uns dazu veranlassen, die Frage zustellen, die Oliver Sacks aufgeworfen hatte: „Denken Sie, dassWilliam (er) eine Seele hat? Oder ist ihm das Mark ausgesaugt, ister ausgehöhlt, ist er durch die Krankheit entseelt worden?“ Ichstelle diese Frage jetzt, heute, jedem von Ihnen. Kann die innerePerson zur Krankheit werden? Kann Schizophrenie den Kerneiner Person soweit entfernen oder sie derart aushöhlen, dassnichts mehr ausser der Krankheit zurück bleibt? Jeder von uns istaufgefordert, diese Frage für sich selbst zu beantworten. DasRisiko bei der Beantwortung dieser Frage ist sehr hoch. Unsereeigene Person, unser eigenes Menschsein stehen bei derBeantwortung dieser Frage auf dem Spiel. Lassen Sie mich daserklären:

Im Aufenthaltsraum sitzend, in Zigarettenrauch buchstäblicheingenebelt, wird die tiefe Apathie und Gleichgültigkeit, auf diewir bei einer anderen Person stossen, unsere eigeneMenschlichkeit, unser eigenes Einfühlungsvermögen in Fragestellen. Vielleicht zweifeln wir daran, ob da wirklich eine Personist. Bei einer solchen Begegnung würde Martin Buber uns lehren,dass die Ich – Du Beziehung in Frage gestellt ist. Wenn wiruns auf eine Person beziehen, als wäre sie eine Krankheit, danngehen wir eine Ich – Es Beziehung ein. Die Ich – Es

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.14

Page 15: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Beziehung schwächt unsere eigene Menschlichkeit. Natürlich istdie grosse Arbeit, die sich uns stellt, die Unantastbarkeit derPerson im Du aufrecht zu erhalten, auch dann, wenn sich diePerson selber aufgegeben hat. Dies vertieft unsere eigeneMenschlichkeit oder um Martin Buber umzuformulieren – Ichwerde Ich, indem ich Du sage.

Wie auch immer, wenn wir mit einer Person, die in Apathie undQual versunken ist, konfrontiert sind, gibt es noch eine ganzeAnzahl weiterer Reaktionen, die verbreiteter sind als einen Wegzu finden zum Aufbau einer Ich – Du Beziehung . Eine häufigeReaktion bezeichne ich als die des „fieberhaften Retters“. Wirhaben uns alle bei unserer Arbeit einmal so gefühlt. Die Reaktiondes fieberhaften Retters geht so: Je lustloser und apathischer einePerson wird, desto fieberhafter werden wir aktiv. Je mehr sie sichzurückziehen, desto mehr drängen wir uns auf. Je willenloser siewerden, desto willensstärker werden wir. Je mehr sie aufgeben,umso stärker bemühen wir uns. Je verzweifelter sie werden, destomehr verfallen wir in oberflächlichen Optimismus. Je mehrBehandlungspläne sie abbrechen, desto mehr Pläne machen wirfür sie. Unnötig zu sagen, dass wir selber bald in einem burn outund Erschöpfung landen. Dann beginnt unsere Wut.

Unsere Wut beginnt, wenn unsere besten und schönstenErwartungen von der in Qual und Apathie verlorenen Persongründlich durchkreuzt wurden. Wir fühlen uns verbraucht undvöllig nutzlos. Wir sind verärgert. Unsere Identität als Helfer wirdwahrlich durch die Menschen, die im Winter von Schmerz undGleichgültigkeit verloren sind, auf die Probe gestellt. Zu diesemZeitpunkt ist es für die meisten von uns nicht ungewöhnlich,anzufangen, der Person mit der psychiatrischen Beeinträchtigungdie Schuld zuzuschreiben. Wir sagen Dinge wie: „Die sind faul.Sie sind hoffnungslos. Sie sind nicht krank, sie manipulierenbloss. Sie sind chronisch. Sie müssen die natürlichenKonsequenzen ihrer Handlungen ertragen. Die lieben es, so zuleben. Die sind nicht geisteskrank, die sind böse. Das Problemliegt nicht an der Hilfe, die wir anbieten, das Problem ist, dass

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 15

Page 16: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

man ihnen nicht helfen kann. Die wollen keine Hilfe. Man solltesie aus diesem Programm werfen, damit sie auf den Bodenkommen.

Dann werden sie endlich aufwachen und die gute Hilfe, die wirihnen angeboten hatten akzeptieren.

Während dieser Periode der Wut und Beschimpfung geschiehtetwas sehr Interessantes. Wir beginnen uns so zu verhalten wiedie Person, die wir so eifrig versuchten zu retten. Oft gibt dasPersonal an diesem Punkt einfach auf. Wir gehen in unsere eigeneVerzweiflung und unseren seelischen Schmerz. Unser eigenesMenschsein beginnt zu verkümmern. Wir geben auch auf. Wirhören auf uns zu bemühen. Es schmerzt zu sehr, weiterhin derPerson helfen zu wollen, die anscheinend unsere Hilfe gar nichtwill. Es schmerzt zu sehr, weiterhin zu versuchen zu helfen undzu scheitern. Es schmerzt zu sehr, sich um sie zu kümmern, wennsie nicht mal dem Anschein nach für sich selber sorgen können.An diesem Punkt fallen wir selber in unseren Winter seelischerQual, und eine Kälte setzt sich in unserem Herzen fest.

Wir können nicht besser in Verzweiflung leben als Menschen mitpsychiatrischen Beeinträchtigungen. Wir können es nichtertragen, deshalb geben wir auch auf. Manche von uns geben auf,indem wir einfach die Arbeitsstelle künden. Wir realisieren, dassHightech-Computer tun, was man ihnen sagt und dazu ist dieBezahlung noch besser. Andere von uns entscheiden sich dafür,die Arbeit nicht aufzugeben, aber wir werden gefühllos undhartherzig. Wir packen unseren Job an wie der Mann im DunkinDonuts Werbespot: „Es ist Zeit, die Donuts zu machen, es ist Zeit,die Donuts zu machen“ (Donuts sind ringförmige amerikanischeHefeteigkrapfen. Im Werbespot aus den Achtzigerjahren wirdFred der Donut-Bäcker geweckt um vier Uhr morgens und er undsein Kollege machen sich verschlafen wie Zombies auf den Wegin die Bäckerei und sagen dazu: „It’s time to make the donuts, it’stime to make the donuts.“ Der Mensch hinter dieserWerbespo t f igur war oder i s t o f f enbar e in rea l

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.16

Page 17: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

existierender autistischer Mann, der sein ganzes Leben in derpsychiatrischen Klinik Walbrook in Cincinnati, Ohio gelebt hatund der übrigens auch das Vorbild für die Hauptfigur des Films„The Rainman“ von Dustin Hoffmann ist laut folgender Internet-Site: http://www.insidejoke.tv/200210/donutguy.asp. „It’s time tomake the donuts sei einer seiner Standardsätze gewesen, die erden ganzen Tag immer wieder sagte. Für viele Amerikaner ist derDunkin Donuts Werbespot eine Kindererinnerung, Fred derBäcker ein Symbol für harte, ehrliche Arbeit.). Wieder anderevon uns werden chronische Zyniker. Wir gehen zur Arbeit, wietote Holzstücke, die auf dem Meer treiben, schauen zu wieVerwaltungsbeamte kommen und gehen wie das Wetter; findeninsgeheim Vergnügen daran zu beobachten, wie eine weiterepsychiatrische Initiative bachab geht und tun nichts, damit sichetwas am System in eine konstruktivere Richtung verändert. Diessind alles Formen, aufzugeben.Auf verschiedeneArt leben wir sounsere eigene Verzweiflung aus.

H i n z u k o m m t , d a s s v o l l s t ä n d i g e P r o g r a m m e ,Dienstleistungssysteme und Behandlungsmodelle ebenfalls indieser Verzweiflung und Qual verfangen sein können. DieseSysteme fangen an, sich gleich zu verhalten wie eine Person mitpsychiatrischer Beeinträchtigung, die die Hoffnung aufgegebenhat. Ein System, das die Hoffnung aufgegeben hat, verbringtmehr Zeit damit, Programmteilnehmer auszuschliessen als sieeinzuladen. Eintrittsbedingungen werden starr und unbeweglich.Wenn man zwischen den Zeilen der Eintrittskriterien solcherProgramme liest, findet man als Kernaussage: Wenn SieProbleme haben, dann kommen Sie doch wieder, wenn diesegelöst s ind und wir werden Ihnen gern helfen.Dienstleistungssysteme, welche die Hoffnung aufgegebenhaben, versuchen, mit der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeitdadurch fertig zu werden, dass sie sich genau von den Menschendistanzieren und isolieren, die sie eigentlich betreuen sollten.Hören Sie nur auf die Sprache, die wir gebrauchen: In solchenpsychiatrischen Systemen haben wir „Gatekeeper“ oder„Schaltstellen“, derenAufgabe es ist, Dienstleistungsbenützer zu

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 17

Page 18: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

„sieben“ (screen) und zu „verlegen“ (divert). In der Tatgebrauchen wir die Sprache des Krieges in unserer Arbeit. Z.B.reden wir davon, „Frontpersonal“ ins „Feld“ zu schicken, um„Behandlungsstrategien“ für die „Zielbevölkerungen“ zuentwickeln.

Gibt es eine Alternative? Müssen wir auf den Schmerz und dieApathie von Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigungmit unserem eigenen Schmerz und unserer Apathie antworten?Ich denke, es gibt eine Alternative. Die Alternative zuVerzweiflung ist Hoffnung. Die Alternative zu Apathie istAchtsamkeit. Eine hoffnungsvolle, achtsame Umgebung zuschaffen, die Wachstum und Erholung hegt, pflegt und fördert, istdieAlternative.

Erinnern Sie sich an die Apfelrose? Während des kalten Wintersals die ganze Welt gefroren war und es kein Zeichen des Frühlingsgab, wartete dieser Same bloss in der Dunkelheit. Er wartete nur.Er wartete auf das Auftauen des Bodens. Er wartete auf diekommende Regenzeit. Als die Erde splittrig war vor lauter Eis,konnte diese Apfelrose nicht beginnen zu wachsen. DieUmgebung um die Apfelrose herum musste sich verändern bevorsich neues Leben entwickeln und zu neuem Sein erwachenkonnte.

Menschen mit einer psychiatrischen Beeinträchtigung warten,genau wie diese Seerose gewartet hat. Wir warten bis unsereUmgebung sich verändert, so dass die Person in uns sichentwickeln und wachsen kann.

Diejenigen unter uns, die aufgegeben haben, sollen wir nicht als„hoffnungslose Fälle“ im Stich lassen. Die Wahrheit ist, dass jedeeinzelne Person, bei der eine psychiatrische Krankheitdiagnostiziert worden ist, irgendwann diese Zeit des Schmerzesund der Apathie durchmacht, auch wenn es nur für eine kurzeWeile ist. Erinnern Sie sich daran, Aufgeben ist eine Lösung.Aufgeben ist eine Überlebensmöglichkeit in einer trostlosen,

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.18

Page 19: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

erdrückenden Umgebung, in der es an Nahrung undUnterstützung fehlt. Die Aufgabe, mit der wir konfrontiert sind,besteht darin, uns vom blossen Überleben in Richtung gesundwerden zu bewegen. Um dies zu bewerkstelligen, muss dieUmgebung, in der wir unsere Zeit verbringen, sich ändern. Ichgebrauche das Wort Umgebung, um nicht nur die Physische,sondern auch die zwischenmenschliche Umgebung, die wirBeziehung nennen, mit einzuschliessen.

Aus dieser Perspektive können wir als Menschen verstandenwerden, die warten, statt als unmotivierte, apathische oderhoffnungslose Fälle. Wir wissen es nie sicher, aber vielleicht, nurvielleicht, gibt es ein neues Leben in einer Person, das nur daraufwartet, Wurzeln schlagen zu können, wenn ein sicherernahrhafter Boden angeboten wird. Das ist die Alternative zurVerzweiflung. Das ist die hoffnungsvolle Haltung. Marie Balterhat diese Hoffnung so ausgedrückt, als sie gefragt wurde,„Glauben Sie, dass es jedem besser gehen kann?“ Sie antwortete:„Es ist nicht an uns zu entscheiden, ob es kann oder nicht. Es gehtdarum, allen einfach die Chance zu geben, dass es besser gehenkann und sie dann in ihrem eigenen Tempo Schritte tun zu lassen.Und wir müssen positiv sein – ihre Sehnsucht nach einembesseren Leben unterstützen, und nicht immer auf ihrerLeistungsfähigkeit als Mass ihres Erfolgs bestehen.“.

Daher ist es nicht unsereAufgabe ein Urteil darüber zu fällen, wersich von einer psychiatrischen Krankheit und den Auswirkungenvon Armut, Stigma, Entmenschlichung, Erniedrigung undangelernter Hilflosigkeit, die den Geist brechen, erholen wirdund wer nicht. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, uns an einerVerschwörung im Geiste der Hoffnung zu beteiligen. Es istunsere Aufgabe, eine Gemeinschaft der Hoffnung zu bilden,welche Menschen mit psychischer Beeinträchtigung umgibt. Esist unsere Aufgabe, Rehabilitationsumgebungen zu schaffen, dievoller Gelegenheiten zur Verbesserung der eigenen Situationstecken. Es ist unsere Aufgabe, das Personal in ihren speziellen

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 19

Page 20: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Berufungen zur Hoffnung zu fördern. Es ist unsere Aufgabe,Menschen mit einer psychiatrischen Beeinträchtigung zu fragen,was sie wollen und brauchen, um zu wachsen und sie dann mitgutem Boden zu versorgen, in dem ein neues Leben sicherverwurzeln und wachsen kann. Und zuletzt ist es unsereAufgabe,geduldig zu warten, dabeizusitzen und mit Staunen zubeobachten und mit Ehrfurcht die Entfaltung des Lebens eineranderen Person mitzuerleben.

Das klingt gut aber wie tun wir es? Ich habe einige sehr konkreteVorschläge wie man eine Verschwörung im Geiste der Hoffnungbeginnen und Hoffnungsgemeinschaften um Menschen, die dieHoffnung verloren haben, bilden kann.

Zuerst müssen wir uns dafür engagieren, die Umgebung zuändern, worin diese Menschen wachsen sollen. Wir müssenerkennen, dass echte Veränderung ziemlich unbequem sein kannund manchmal befürchte ich, dass wir uns mit oberflächlichenVeränderungen zufrieden geben. Ich ärgere mich über neuegriffige Wörter wie klientenorientiert, Empowerment,Klubhausmodelle, und Partnerschaft. Es scheint mir, dass wir unsüber die Jahrzehnte immer wieder alle möglichen modischenWörter und Namen haben einfallen lassen, mit denen wireinander bezeichnen. Z.B. waren es in den fünfziger Jahren dieÄrzte und die Patienten. In den sechziger Jahren die Fachleuteund die Klienten. In den siebziger Jahren waren es dieLeistungserbringer und die Konsumenten. In den Achzigernwaren es das Personal und die Mitglieder. Jetzt in den Neunzigernhaben wir die „Teilhaber“ und Managed Care Gruppen.

Ja, die Namen, die wir einander geben, haben sich zweifellosverändert. Aber ich würde behaupten, dass die fundamentaleBeziehung zwischen jenen, die mit einer psychiatrischenDiagnose etikettiert sind und jenen, die es nicht sind, imWesentlichen unverändert geblieben ist. Es gibt einen weisen,alten Mönch, der in der Nova Nada Gemeinschaft in Kemtville,draussen in Nova Scotia lebt. Sein Name ist Bruder William

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.20

Page 21: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

MacNamara. Wenn wir über unsere Versuche, Veränderungen zuerwirken reden, sagt er: „Es ist, als ob wir die Stühle auf demDeck der Titanic umstellen würden, aber eigentlich ist alles, waswir durch diese Anstrengung erreichen, eine bessere Sichtwährend des Untergangs.“ Das ist die grosse Gefahr, wenn nurdie neusten Programmkonzepte und politisch korrekte Spracheverwendet werden. Wenn wir nicht aufpassen, wird das alleseinzig darauf hinauslaufen, dass wir Stühle auf einem sinkendenSchiff umstellen. Jemand muss sagen , „Halt! Wartet! Vergesstdie gut klingenden Bezeichnungen. In diesem Boot hat es eingrosses gähnendes Loch, das wir das psychiatrischeGesundheitssystem nennen und wir gehen alle damit unter!“

Wissen Sie, ich würde behaupten, bis die grundlegendeBeziehung zwischen psychiatrisch abgestempelten Menschenund den anderen sich ändert, bis das radikale Machtgefällezwischen uns nicht wenigstens angeglichen wird, bis unsereBeziehungen von echter Gegenseitigkeit geprägt sind, bis wiraufhören, barbarische Praktiken wie Zwang und Isolation zugebrauchen und auch noch zu versuchen, die Menschen davon zuüberzeugen, dass solche Torturen für ihr eigenes Wohl sei, und biswir den gemeinsamen Boden unserer Menschlichkeit erkennenund die den Geist brechenden Auswirkungen vonEntmenschlichung in psychiatrischen Heilsystemen stoppen,wird das gähnende Loch weiterhin unsere besten Bemühungenuntergehen lassen.

Die Umgebung zwischenmenschlicher Beziehungen vonpsychiatrischen Gesundheitsprogrammen und die Gemeinschaftmüssen sich verändern, wenn Menschen sich weg vom blossenÜberleben auf die Reise in Richtung Gesundung begeben sollen.Wir müssen aufhören, „Macht“ auszuüben „über“ die Leute mitdenen wir arbeiten. Damit fördern wir nur unnötigeAbhängigkeitund erlernte Hilflosigkeit. Stattdessen müssen wir uns Leuten wieDr. Jean Baker Miller und anderen Wissenschaftern der StoneCenter at Wellesley Universität anschliessen. Wenn wir ihremVorbild folgen, müssen wir beginnen, in Begriffen zu

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 21

Page 22: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

denken wie Zusammenarbeit auf „gleicher Augenhöhe“ oder„gemeinsam und gleich berechtigt“, besser als „Bestimmenüber“ und „Kontrolle haben über“ die Menschen mit denen wirarbeiten. Auf diese Weise werden traditionell entstandeneMachtbeziehungen, welche für Menschen mit psychiatrischerBeeinträchtigung historisch und bis heute so unterdrückendgewesen sind, sich ändern. Dies bedeutet besonders, dass wiraufhören müssen die Phrase, „Ich weiss und bestimme, was fürden Klienten am besten ist“ zu gebrauchen. Stattdessen müssenwir die Leute fragen, was sie für ihr eigenes Leben wollen, ihnendie nötigen Fähigkeiten dazu beibringen und sie unterstützen indem, was sie erreichen möchten.

Wir müssen uns dazu verpflichten, umgebungsbedingte Barrierenwegzuschaffen, welche die Bemühungen der Menschen um Besserungabblocken und in einem Modus blosser Überlebensversuche gefangen halten.Z.B. schlage ich vor, folgende Fragen zu überprüfen:

1. Sind die Leute, mit denen wir arbeitenübermedikamentiert? Sehr häufig sind Apathie,fehlende Motivation und Gleichgültigkeit, die wirbeobachten, Folge von Neuroleptika. Informieren wirdie Konsumenten/Überlebenden über diese Wirkungder Medikamente und helfen wir ihnen, tatsächlichMedikamentenwechsel oder Dosisreduktionend u r c h z u s e t z e n ? D i e m u l t i n a t i o n a l ePharmazieindustrie macht buchstäblich ein Vermögendurch den Verkauf solcher Medikamente. Es ist nichtunsere Priorität, deren vierteljährliche Gewinnmargenzu maximieren. Unsere Priorität ist es, Menschen inihrem Genesungsprozess zu unterstützen. Es ist nichtmöglich, an unserem eigenen Genesungsprozess teilzu nehmen, wenn wir uns in einem Zustandmedikamentös erzeugten Parkinsonismus, Apathieund Gleichgültigkeit befinden.

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.22

Page 23: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

2. Sind Konsumenten/Überlebende sowohl in derambulanten Grundversorgung als auch inSpitalprogrammen in die Auswertung derArbeitsleistung des Personals mit einbezogen? Werweiss denn besser, wie wirkungsvoll eine Fachpersonarbeitet, als jene, welche deren Dienstleistungbeanspruchen? Und bringen wir darüber hinaus denKonsumenten/Überlebenden die nötigen Fähigkeitenbei und unterstützen sie darin, solche Auswertungendurchführen zu können?

3. Bekommen Programmteilnehmerinnen undKlinikinsassen eine Schulung von Gleichgestellten„Peers“ darin, wie sie teilnehmen und wirkungsvollvon einem Behandlungsteam bekommen können, wassie brauchen/wollen? Dürfen wir bei der Besprechungder Behandlungsplanung bis zum Schluss dabei seinund verpflichtet sich der Mitarbeiterstab leichtverständliches Deutsch zu sprechen, so dass wir dieBesprechung verstehen können? Gibt esPeerassistenten oder Patientenvertreter, die bereits ind, mit uns an eine Besprechung zurBehandlungsplanung mitzukommen? Gibt esGelegenheiten, sich vor der Teamsitzung zu treffen,um herauszufinden was wir in der Sitzung erreichenwollen und wie wir unsere Ideen vorbringen? Hat manZeit, um im Rollenspiel das Aussprechen der eigenenMeinung zu üben und sich im Vorfeld der Sitzung zurB e h a n d l u n g s p l a n u n g m i t F r a g e nauseinanderzusetzen?

4. Hat es separate Toiletten und Essräume für Personalund Programmteilnehmer? Wenn dies der Fall ist,sollte das aufgehoben werden. Dies nennt manSegregation oder Rassentrennung und schafftZweitklassbürger.

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 23

Page 24: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

5. Wer darf die Telefone benutzen? Wer trifft welcheEntscheidungen? Wer hat die wirkliche Macht indiesem Programm? Information ist Macht, undZugang zu Information zu haben bedeutetSelbstbestimmung. Was sind die Hindernissedagegen, im Programm Informationen zu bekommen?

6. Verstehen wir, dass Menschen mit psychischerBeeint rächt igung wertvol les Wissen undFachkenntnis als Resultat ihrer Erfahrung haben?Fördern wir diese wichtigen menschlichenRessourcen? Sind von Betroffenen geleitete Selbst-hilfegruppen vorhanden? Suchen wir aktiv nachMöglichkeiten, Menschen mit psychiatrischer Be-einträchtigung einzustellen und bieten wir ihnen nachBedarf Unterstützung und Anpassungen an?

7. Haben wir Umgebungen geschaffen, in welchen es fürFachpersonal möglich ist, Menschen mit Herz zusein? Bieten wir Supervision für Aufsichtspersonalan? Vielleicht könnten wir eine menschenwürdigereArbeitsumgebung schaffen, wenn wir die Arbeit mitMenschen als Reise sehen würden, auf welcher wirund die Menschen, denen wir helfen, einandergegenseitig weiterbringen. Vielleicht könnten wirunseren MitarbeiterInnen anbieten, was Jean Vanieraccompaniment (Begleitung) nennt. Begleitungbedeutet das Angebot, mit dem Personal mitzugehenauf deren manchmal schmerzvollen und manchmalfreudvollen Reise des Herzens, die wir die „direkteBetreuungsbeziehung“ nennen. Direkte Betreuung.Ah! Das ist die wahre Veränderung.

8. Arbeiten wir in einem System, welches Passivität,Gehorsam und Fügsamkeit oder Kooperationbelohnt? Wird Fügsamkeit als wünschenswertes

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.24

Page 25: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Ergebnis gesehen? Wie eine Freundin, dieKonsumentin/Überlebende ist, mir sagte: „Sag diesenCasemanagern, dass sie völlig falsch liegen. Sagihnen, sie sollen aufhören zu behaupten, Fügsamkeitsei der Weg zur Unabhängigkeit“. Und Fügsamkeit istwirklich nicht der Weg zur Unabhängigkeit. Selbstbestimmen zu lernen ist eine Folge, die schliessen lässtauf Umgebungen, die Gelegenheiten bieten zuGesundung und Empowerment/Selbstbefähigung.

9. Haben wir das Konzept der „Würde des Risikos“ unddes „Rechts auf Misserfolg“ erfasst? „Chronischnormale Menschen“, oder Menschen, die nichtpsychiatrisch etikettiert wurden, dürfen ihr Leben langständig dumme, uneinsichtige Entscheidungentreffen. Mein Lieblingsbeispiel ist Elizabeth Taylor,die sich gerade zum achten Mal hat scheiden lassen.Wir könnten sagen, „Es fehlt ihr an Einsicht! Sie lerntnie aus früheren Erfahrungen!“ Wenn sie sich zurHochzeit Nr. 9 aufmacht, wird jedoch keineSpezialeinheit von PflegerInnen „in ihrem eigenenInteresse“ mit Proloxin Spritzen über sie herfallen.Aber stellen Sie sich nur einmal vor, eine Person mitpsychiatrischer Beeinträchtigung würde ihremBehandlungsteam erklären, sie werde zum neuntenMal heiraten! Manchmal lernen Menschen aus ihrenFehlern und manchmal nicht. Wir müssen sorgfältigunterscheiden zwischen einer Person, die eine (ausunserer Sicht) dumme oder unsinnige Wahl trifft undeiner Person, die wirklich in Gefahr ist.

10. G i b t e s i n n e r h a l b d e s p s y c h i a t r i s c h e nGesundheitssystems Möglichkeiten für dieMenschen, ihr Leben wirklich zu verbessern? Gibt ese i n e A u s w a h l v o n e r s c h w i n g l i c h e n ,durchschnittlichen Wohnsituationen, aus welchensich Menschen einen Ort zum Leben aussuchen

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 25

Page 26: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

können? Ist Arbeit verfügbar? Eine Person, die geradekürzlich zur Arbeit zurückkehrte nach vielen JahrenKlinikaufenthalt, sagte zu mir, „Was reden die alleüber Empowerment? Ich kann dir die Definition vonEmpowerment sagen: „Es ist ein anständigerGehaltsscheck am Ende der Woche.“

Das sind nur einige Vorschläge, wie Umgebungen geschaffen werden könnenin denen Wachstum möglich ist.

Und während wir diese hoffnungsvollen Umgebungen schaffen,müssen wir erkennen, dass Menschen mit psychiatrischerBeeinträchtigung nicht in gleicher Weise wie Autos „geflicktwerden“, „wiederhergestellt werden“ können. Wir sind keinepassiven Objekte, für welche Fachpersonen zuständig sind, diese„wieder herzustellen“. Viele von uns finden die Assoziation zumWort Wiederherstellung sei unterdrückend. Wir sind keineObjekte, auf die eingewirkt werden soll. Eher sind wirhandlungsfähige, vollständige, menschliche Subjekte undkönnen durch unser Handeln unsere Situation verändern.

Wir sind keine Objekte, die man flicken kann. Ein solchesVerständnis raubt uns unseren eigenen Sinn für Autonomie undSelbstbestimmung. Es schiebt die Verantwortung an die falscheStelle. Es verewigt den Mythos, wir seien nicht verantwortlich fürunser Leben, unsere Beschlüsse und Entscheidungen, undkönnten das auch gar nicht sein.

Die Wahrheit ist, dass niemand die Macht hat, das Leben einesAnderen wieder herzustellen. Dies ist klar erkennbar an derTatsache, dass wir Menschen mit einer Behinderung die bestenund fortschrittlichsten Wiederherstellungstechnologien und -programme zur Verfügung stellen und ihnen vielleicht trotzdemnicht helfen können. Wie es heisst, „Man kann ein Pferd zumWasser führen, aber nicht zum Trinken zwingen“. Es brauchtmehr als gerade gute Dienstleistungsangebote. Dieses „etwasmehr“ ist das, was ich als Gesundung bezeichne.

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.26

Page 27: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Das Konzept der Gesundung unterscheidet sich von dem desWieder Hergestellt-Werdens insofern, als es unterstreicht, dassMenschen für ihr eigenes Leben verantwortlich sind, und dasswir Stellung nehmen können zu unserer Behinderung undunserem Leiden. Wir brauchen keine passiven Opfer zu sein. Wirmüssen nicht „leidend“ sein. Wir können beginnen,verantwortungsbewusst selber auf unseren Heilungsprozesseinzuwirken. Das ist der Grund, weshalb es so gefährlich ist, einePerson auf ihr Kranksein zu reduzieren. Wenn wir daraufbestehen, dass eine Person zu sagen lernt, „ich bin schizophren“,dann beharren wir im Grunde darauf, dass die Person ihrMenschsein mit Krankheit gleich setzen soll. Durch eine solcheentmenschlichende Reduktion übernimmt die Krankheit „dieHauptbedeutung“ in punkto Identität. Und so ist dann, wenn einePerson lernt zu glauben „ich bin schizophren“, wenn ihreIdentität gleichbedeutend ist mit Krankheit, niemand mehr dadrin, die enorme Arbeit des Gesundwerdens in Angriff zunehmen. Deshalb müssen wir den Menschen immer helfen, diePerson voran zu stellen und zu sagen, ich bin eine Person mit derDiagnose Schizophrenie; ich bin eine Person bei der einepsychische Krankheit diagnostiziert wurde. Die Person vorangestellt erinnert uns immer daran, dass wir zuerst und vor allemMenschen sind, die Stellung beziehen können zu dem, was unsquält.

Die Reise zur Gesundung ist bei jeder Person einmalig. In der Tatmuss jeder von uns für sich selbst herausfinden, was seinGesundwerden fördert und was nicht. Einige von uns finden, dasszeitweise oder ständige Behandlung ein wichtiger Teil unseresGenesungsprozesses sei. Andere hingegen finden, dass sie keineweiteren psychiatrischen Dienste mehr benötigen und verlassendas System für immer.

Für einige unter uns, die früher in ihrem Leben Drogen oderAlkohol genommen oder missbraucht haben, oder inAlkoholikerfamilien aufgewachsen sind, oder sexuellenKindsmissbrauch, seelischen und/oder körperlichen Missbrauch

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 27

Page 28: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

überlebt haben, mag die Teilnahme an verschiedenen Selbsthilfe-und Zwölfschritte Programmen eine vitale Rolle für ihrenGenesungsprozess spielen.

Viele von uns finden, dass soziale und beruflicheRehabilitationsprogramme uns einmalige Gelegenheiten bietenund wir nutzen diesen Diens t a ls Tei l unseresGesundungsprozesses. Die meisten von uns finden, dass es sehrwichtig für unsere Genesung ist, Freundschaften aufzubauen, dieauf Liebe und gegenseitigem Respekt basieren. Natürlich istdauerhaftes, bezahlbares und voll integriertes WohnenGrundlage für den Gesundungsprozess. Viele von uns finden dassdie Teilnahme an einer spirituellen Gemeinschaft unserer Wahluns die Kraft und Hoffnung gibt, hart an unseremGesundungsprozess weiter zu arbeiten.

Schliesslich finden es viele von uns wichtig, in Selbsthilfe-Netzwerken von Psychiatrieerfahrenen und in Interessengruppenmitzuwirken, dazu beizutragen, das psychiatrische System zuändern, Alternativen zu den traditionellen Diensten aufzubauen,die Regierung auf unsere Bedürfnisse aufmerksam zu machen,um unsere vollen bürgerlichen Rechte zu kämpfen undgemeinsam für soziale Gerechtigkeit einzustehen. Tatsächlichgebrauche ich den Begriff Gesundung nicht nur um auf denGesundungsprozess von psychiatrischer Krankheit zu verweisen,sondern auch auf die Gesundung von den Auswirkungen vonArmut, Zweitklassbürgerschaft, verinnerlichtem Stigma,Missbrauch und fortwährender Traumatisierung durch einige„helfende Fachleute“, und die den Lebensmut brechendenWirkungen des psychiatrischen Gesundheitssystems. In der Tatkönnen Selbsthilfe und soziale Aktionen nicht willkürlichvoneinander getrennt werden. In einigen Punkten beinhaltetSelbsthilfe, dass wir uns zur Gruppe zusammenschliessen, umgegen die Ungerechtigkeiten, die uns abwerten und uns in derPosition von Zweitklassbürgern halten, zu kämpfen.

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.28

Page 29: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Gesundung und die Verschwörung im Geiste der Hoffnung Ph. D. Patricia E. Deegan

Gesundung verweist nicht auf ein Endprodukt oder Resultat. Esmeint nicht, dass man „kuriert“ ist und auch nicht, dass einereinfach stabilisiert oder in der Gemeinschaft gepflegt wird.Gesundung beinhaltet oft eine Verwandlung seiner selbst, wobeiman sowohl die eigenen Grenzen akzeptiert als auch eine neueWelt von Möglichkeiten entdeckt. Das ist das Paradoxe derGesundung, dass wir, indem wir akzeptieren, was wir nichtkönnen oder nicht sind, entdecken, wer wir sein können und waswir tun können. So ist Gesundung ein Prozess. Es ist einLebensweg. Eine Einstellung und eine Art, die täglichenHerausforderungen anzugehen. Es ist kein ganz linearer Prozess.Wie bei der Apfelrose hat Gesundung seine Zeiten, seine Zeit,nach unten in die Dunkelheit zu wachsen, um neue Wurzeln zuschaffen und dann die Zeit des Aufbrechens ins Sonnenlicht.Aber vor allem ist Gesundung ein langsamer, bedächtigerProzess, der mit dem Stossen durch ein kleines Sandkorn nachdem anderen erfolgt.

Wie uns die Apfelrose lehrt, ist die Wachstums-Arbeit langsamund schwierig, aber das Resultat ist erstaunlich und wunderbar.Wir haben eine sehr schwierigeArbeit gewählt. Manchmal denkeich, wir sind etwas sonderbare Käuze, dass wir eine solcheArbeitausgewählt haben. Ich meine, Computer verlangen nicht von uns,dass wir wachsen sollen, und die Bezahlung ist gewiss besser.Aber wir bleiben bei unserer Arbeit und sind ihr treu. Warum?Weil wir Teil einer Verschwörung im Geiste der Hoffnung sindund wir im Gesicht jeder Person mit einer psychiatrischenBeeinträchtigung ein Leben sehen, das nur auf guten Bodenwartet, in welchem es wachsen kann. Wir setzen uns dafür ein,diesen guten Boden zu schaffen. Und so feiere ich euch. Ich feiereden starken, unglaublich hartnäckigen Geist von Menschen mitpsychiatrischer Beeinträchtigung. Ich feiere die Person in jedemvon uns. Ich feiere die Hoffnung. Ich feiere unsereVerschwörung. Und ich denke wir verdienen alle eine RundeApplaus.

Vielen Dank!

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 29

Page 30: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

150 Heimbewohner besuchten die9. Fachtagung

des LVPE Rheinland-Pfalz

Die 9. Fachtagung des Landes-v e r b a n d e s P s y c h i a t r i e -Erfahrener (LVPE) Rheinland-Pfalz e.V. fand im Westerwald,dem schönen Hachenburg, statt.Zu dem Thema "Wohnen undBetreuen – heute und morgen"haben sich 150 Menschen ausdem Heimbereich und derHeimaufs ich t e ingefunden .Heimleiter, Mitarbeiter aus den Heimen und Heimbewohner nahmen bis zu 3Stunden einfache Fahrt in Kauf. Glauben Sie nicht, dass die Heimbewohnernur still anwesend waren! Nach jedem Beitrag hatte die Moderatorin FrauGerhardt von der Kiss Mainz Mühe den Zeitrahmen einzuhalten und amSchluss der Veranstaltung konnten viele Fragen zum Persönlichen Budget,Forensik, Zukunft der Heime, Werkstatt für behinderte Menschen und derenEinkommen usw. aus Zeitgründen nicht mehr gestellt und beantwortetwerden.

Warum hatte der LVPE Rheinland-Pfalz e.V. dieses Thema gewählt?Dazu gibt es mehrere Gründe:

1) Der LVPE Rheinland-Pfalz e.V. ist in den letzten Jahren gehäuft umMithilfe bei detaillierten Missstände aus dem Heimbereich gebetenworden.

2) Der LVPE Rheinland-Pfalz e.V. sieht sich bei der kontrovers geführtenDiskussion der Zukunft der Heime und dem Aufbau psychosozialer undpsychiatrischer Hilfsangebote als gleichberechtigter Partner.

3) Der LVPE Rheinland-Pfalz e.V. wollte Politik, Heimbetreiber undHeimbewohner erstmals an einen Tisch bringen um mit Ihnen über dieZukunft der Heime anlässlich einer Tagung zu diskutieren - und das istvoll gelungen.

So wurde auch die Tagung organisiert.

9. Fachtagung: 2005 - HachenburgWohnen und Betreuen - heute und morgen

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.30

Stadthalle in Hachenburg

Page 31: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

9. Fachtagung: 2005 - HachenburgWohnen und Betreuen - heute und morgen

Nach den Grußworten sprach Herr Speicher alsHeimbetreiber über die Vision „Kann man imHeim auch wohnen?“. Mit detailliertenBeispielen aus seinem langen Leben alsHeimbetreiber schilderte er Berichte wie dieHeimbewohner die Betreuung durch das Heimablehnten, jedoch im Heim – mit einemnormalen Mietvertrag – wohnen wollten.

Herr Laupichler – Mitglied des geschäftsführendenVorstandes des Bundesverband PsychiatrieErfahrener (BPE) – kennt das Innenleben nicht nurder Studentenwohnheime sondern auch derpsychiatrischen Wohnheime. Er wohntzwischenzeitlich in einer eigenen Sozialwohnung.Nach seiner Kritik an den herkömmlichen Heimen:Trotz hohem Einsatz von Geld, Idealismus einigerMitarbeiter und die Krankeneinsicht und der

Leidensdruck der Bewohner sowie der Zeit zur Veränderung ist keineEntwicklung in der persönlichen Situation der Heimbewohner erfolgt auchder hohe Medikamentenbedarf ist wie die Abstumpfung gegenüber denMitarbeitern noch immer vorhanden. Nach dieser Kritik erfolgte seineVision für ein sozialpsychiatrisches Wohnen. Mit dem seit 1998 modellhaftin Rheinland-Pfalz eingeführten Persönlichen Budget sieht Herr Laupichlereinen Weg in kleine Wohngemeinschaften in der Gemeinde oder Vorortevon Städten mit guten Busanbindungen, mit zusammenpassendenBewohnern in der Wohngemeinschaft, der individuellen Gestaltung vonTageszeit und Wohnraum sowie der individuellen Ansprache undGeborgenheit der Heimbewohner. Auf negative Erfahrungen der Auflösungder Heime wies er durch die Beispiele in den USA unter Ronald Reagenund den 70er Jahren des letzten Jahrhundert in Italien hin.

Die psychiatrischen und heilpädagogischen Heime Andernachpräsentierten ihren kulturellen Beitrag nach der Mittagspause unter demThema: Was bedeutet es in einem Heim zu Leben; welche Perspektiveergeben sich und unter welchen Bedingungen stellt sich Zufriedenheit beiden Menschen die betreut werden ein? Während 15 Minuten erstmaliger

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 31

Herr Speicher

Herr Laupichler

Page 32: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

9. Fachtagung: 2005 - HachenburgWohnen und Betreuen - heute und morgen

Bühnenerfahrung präsentierten die 14 Heimbewohner und Therapeuten mitgrößtem Engagement ihre Freude für die Abwechslung im Alltagslebenund dem Glück dabei zu sein. Ihre über 6 Monate einstudierteChoreografie stellten sie mit viel Emotionalität und individuellemAusdruck dar.

Herr Weinmann hatte die schwere Aufgabe nach demMittagessen und einem Spaziergang in der schönenAltstadt Hachenburgs - bei schönstem Wetter – dietagungsunerfahrene Zuhörer wieder auf das Thema zukonzentrieren. Er schaffte das mit seiner lebhaften,persönlichen Lebensgeschichte und den optisch gutpräsentierten Fotos aus seiner ambulant betreutenWohngemeinschaft. Nach Klinikaufenthalt,gesetzlicher und sozialer Betreuung lebt er schon seit

Jahren – mittlerweile nur noch mit normalen Mietvertrag – in einersozialpsychiatrischen Wohngemeinschaft. Seine Stabilisierung in derWohngemeinschaft führte ihn in den ersten Arbeitsmarkt mitHalbtagsbeschäftigung zurück, wo er seit Jahren ohne Krankheitsausfallarbeitet.

Herr Ministerialrat (MinR) Bernhard Scholten vertratMinisterin Malu Dreyer. Herr Scholten bestätigte denhohen Sanierungsbedarf der großen, in den 80erJahren gebauten Heime. Er konnte die Kritik derHeimbewohner, dass keine eigene Toilette, keineeigene Dusche oder Bad oder auch Waschbeckenvorhanden ist, nicht widerlegen. Er wies auf die 10Jahre Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz hin, wodie durchschnittliche Heimgröße um ca. 40% - auf

66 Plätze pro Heim - reduziert wurde. Nach seiner Meinung ist einequalitative und quantitative Veränderung im Sinne der Bewohner nur durcheinen Trialog von Heimbetreiber, Heimbewohnern und Politik zuerreichen. Die unerwartete große Anzahl der Heimbewohner an dieserTagung hat ihn sehr gefreut. Seine Freude an den Forderungen undVisionen der Referenten drückte er durch die Bitte einer Dokumentationder Fachtagung aus, die er im Sozial-Ministerium bearbeiten möchte.

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.32

Herr Weinmann

Herr Scholten

Page 33: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

10. Fachtagung 2006 - Ludwigshafen: Wege der Genesung! Wieder in die Gesellschaft

10te Fachtagung war ein riesiger Erfolg!

Die Organisatoren der 10-ten Fachtagung des LVPE Rheinland-Pfalz e.V.hatten sich die Aufgabe gestellt zu beleuchten.

30 Psychiatrie- Erfahrene und30 Professionelle hörten schon mit größterSpannung der wissenschaftlichenBetrachtung der Genesung von chronischpsychisch krank diagnostizierten Menschendurch Uni. Prof. Dr. Michaela Amering ausWien zu. Die weite Anreise von FrauAmering nach Ludwigshafen hatte sichgelohnt. Alle Psychiatrie-Erfahrenen warenso beeindruckt von ihren Ausführungen, dassdie Psychiatrie-Erfahrenen nach der Tagung,

auf der zum Teil vierstündigen Heimreise, nur über die internationalenBeispiele von Frau Amering diskutierten.

Der erste Arbeitstag in der Werkstatt fürbehinderte Menschen (WfBM), dasSelbsthilfetreffen in Trier am Dienstag unddie Vollversammlung in der WfBM amMittwoch hatten nur ein Thema:

. Frau Michaela Amering hatteerreicht, dass die Schirmherrin, die Frau desMinisterpräsidenten aus Rheinland-Pfalz und

Bundesvorsitzender der SPD, Roswitha Beck, vor Beendigung der Tagungnoch eine Projektfinanzierung zur „

zusagte.

Pat Deegan – nach fast zwei Jahrzehnten Leben mit Schizophrenie, heuteweltweit erfolgreiche Forscherin und eine der ersten Repräsentanten vonRecovery – definiert Recovery als „eine Entwicklung aus denBeschränkungen der PatientInnenrolle hin zu einem selbstbestimmtenLeben“. Im Wörterbuch finden sich folgende Übersetzungen für Recovery:Erholung, Besserung, Genesung, Gesundung, Bergung, Rettung,Rückgewinnung, Wiedergewinnung, Wiederfinden.

Genesungsbeispiele

Recovery-Konzepte

Aktivierung der Psychiatrie-Erfahrenen im Sinne von Recovery“

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 33

Frau Roswitha Beck

Univ. Prof. Dr. Michaela Amering

Page 34: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Die Ausführungen der Beispiele von Frau Amering, Recovery alsindividuellen, subjektiver Prozess zu sehen fanden auch die Zustimmungder Psychiatrie- Erfahrenen Referenten Dr. Norbert Südland und KallePehe. Beide Referenten zeigten anhand ihrer Biographie auf wie wichtigfür ihre Genesung, die Hoffnung nicht zu verlieren, war. Beide Referentennannten ihre Ressourcen, die zur positiven Entwicklung führten, in dem sienicht an die Unheilbarkeit psychischer Erkrankungen glaubten. Für KallePehe war ein Vortrag von Dorothea Buck – Ehrenvorsitzende desBundesverbandes Psychiatrie Erfahrene – die Initialzündung. Dr. NorbertSüdland glaubte an seine Fähigkeit das Physikstudium erfolgreich ab zuschließen. Mit dieser Hoffnung entwickelten beide das Selbstwertgefühl inUnabhängigkeit von der Diagnose. Es entstand Selbstachtung, die dasSelbstwertgefühl bewahrt und damit übergaben sie sich nicht derPatientenrolle.

Das nicht in erster Linie psychiatrietätigeMitarbeiter an der Gesundung beteiligt warenwurde von den zwei Referenten an Beispielenbestätigt. Das soziale Umfeld Partnerin,Kinder, Geschwister, Schule und kooperativerPsychiater trug bei Kalle Pehe wesentlich zurGesundung bei. Die sinnvollewissenschaftliche Beschäftigung mit derPhysik sowie pragmatischenAufgabenstellungen physikalischer Probleme

und das Elternhaus führten den Musterschüler Dr. Norbert Südland zurGesundung.

Der Landesverband der Psychiatrie Erfahrenen Rheinland-Pfalz e.V. hatmit diesem zukunftsweisendem Thema „Wege der Genesung! Wieder indie Gesellschaft“ bei den anwesenden professionellen undpsychiatrieerfahrenen Menschen eine positive Haltung hervorgerufen - eineAbwendung von der traditionellen krankheitsorientierten Behandlung zuintegrativen, multidimensionalen Konzepten (Salutogenese). Bei denpsychiatrieerfahrenen Menschen wurde ein Gefühl von Verstehbarkeit,Handbarkeit/Bewältigung und die Energie zur Überwindung schwierigerSituationen entdeckt – die Anwesenden verstanden diesen Tag als denWandel ihrer Sichtweise.

10. Fachtagung: 2006 - LudwigshafenWege der Genesung! Wieder in die Gesellschaft

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.34

Dr. Norbert Südland

Page 35: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Information

Der Landesverband

Der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. (LVPE) istein eingetragener Verein psychisch kranker oder krank gewesener Menschen,der 1996 nach Inkrafttreten des Gesetzes für psychisch kranke Personen(PsychKG) von bereits bestehenden Selbsthilfegruppen aus Mainz, Landauund Trier gegründet wurde. Wir haben zur Zeit ca. 160 Mitglieder und ca. 25Fördermitglieder.

Entsprechend unserer Satzung vertreten wir einerseits die Interessen derBetroffenen des Landes im allgemeinen und stehen andererseits jedemEinzelnen mit Rat und Tat zur Seite, wenn dieser das wünscht.

Im PsychKG §6 heißt es wörtlich: “Ehrenamtliche Hilfen einschließlich derAngehörigenarbeit sowie Projekte der Selbsthilfe sind in die Versorgungpsychisch kranker Personen einzubeziehen. Soweit dies deren Wünschenentspricht, haben diese Hilfen Vorrang vor öffentlichen Hilfen.”

Wir bieten daher allen Betroffenen unsere Hilfe an.

Ein weiteres, wesentliches Ziel unserer Bemühungen ist der Abbau derStigmatisierung psychisch kranker Menschen in der heutigen Gesellschaftunserer Zeit.

Deswegen soll der Öffentlichkeitsarbeit ein breiter Raum zugestandenwerden. Da die Medien nur sporadisch positiv über psychische Erkrankungenund ihre Begleiterscheinungen berichten, wollen wir Aufklärung undInformation in Schulen, an der Universität und in der Öffentlichkeit “vonunten” betreiben. In Verbindung mit den Angehörigen und dem Ministeriumfür Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen in Rheinland-Pfalzbesuchen wir Schulen.

Sie können auch mit uns, siehe Impressum, in Kontakt treten, um weitereInformationen über den Landesverband zu erhalten oder um einen Termin zuvereinbaren.

Wir wollen was ändern» «

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V. 35

Page 36: Psychiatrie zurück ins leben.pdf

Information

Unser Engagement

Unsere Interessenvertretung

Unsere Finanzierung

Unsere Jahreszeitschrift

Wir versuchen neue Selbsthilfegruppen ins Leben zu rufen, auch leisten wirfinanzielle und logistische Hilfe bei derenAufbau und Betreuung.

Wir initiieren sogenannte Psychose-Seminare, um einen Gedanken- undErfahrungsaustausch zwischen Betroffenen, Angehörigen undProfessionellen zu ermöglichen.

Wir sind vertreten in Gremien, wie dem Landespsychiatriebeirat , seinemStändigen Ausschuß , dem Verein zur Unterstützung gemeindenaher

Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V. , dem Landesbeirat zur Teilhabebehinderter Menschen Rheinland-Pfalz und dem Deutscher ParitätischerWohlfahrtsverband (DPWV) sowie in weiteren mit der Psychiatrie befaßtenOrganisationen.

Wir bemühen uns um Kontakte zu Politikern, um dort unsere Wünsche undForderungen zu formulieren und so eine Lobby zu finden, die uns bei derEinforderung und Durchsetzung der uns zugestandenen Rechte beistehen undhelfen, diese auch in die Tat umzusetzen.

Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und FrauenRheinland-Pfalz (MASGFF) stellt uns den Hauptteil der Mittel zurVerfügung.Ergänzt werden diese mit der Förderung durch die Krankenkassen, durchSpenden sowie den Mitgliedsbeiträgen.

Jedes Mitglied erhält kostenlos unser Journal “Leuchtfeuer”, das alljährlichvon uns herausgegeben wird und auf ca. 140 Seiten zusammenfaßt, was dieGremien- und Vorstandsarbeit betrifft, Erfahrungsberichte von Betroffenenwiedergibt und was sonst noch im regionalen und überregionalen Bereichenzu berichten ist.Alljährlich wird aus gegebenen Anlaß ein Schwerpunktthema gewählt dasbesonderer Beachtung findet.

„ “„ “ „

“ „“ „

Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.36


Recommended