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Die komplexe Architektur aus 100 Milliarden Nervenzellen macht das Gehirn zur höchst- entwickelten organischen Struktur überhaupt – aber auch an- fällig für Defekte DIE LEIDEN AM SITZ DER SEELE In seiner harten Schale ist das Gehirn gut geschützt, besser als jedes andere Körperteil. Und doch können zahllose psychische Störungen seine Funktion beeinträchtigen. Dann geraten die neuro- nalen Netzwerke aus dem Takt, erschüttern depressive Schübe, Psychosen oder Phobien den Menschen. Doch manche solcher Störungen helfen uns sogar, besser in der Welt zurechtzukommen BIOLOGIE Die komplexe Architektur aus 100 Milliarden Nervenzellen macht das Gehirn zur höchst- entwickelten organischen Struktur überhaupt – aber auch an- fällig für Defekte DIE LEIDEN AM SITZ DER SEELE In seiner harten Schale ist das Gehirn gut geschützt, besser als jedes andere Körperteil. Und doch können zahllose psychische Störungen seine Funktion beeinträchtigen. Dann geraten die neuro- nalen Netzwerke aus dem Takt, erschüttern depressive Schübe, Psychosen oder Phobien den Menschen. Doch manche solcher Störungen helfen uns sogar, besser in der Welt zurechtzukommen BIOLOGIE 2011 GEO WISSEN 93
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Die komplexe Architektur aus 100 Milliarden Nervenzellen macht das Gehirn zur höchst- entwickelten organischen Struktur überhaupt – aber auch an- fällig für Defekte

die Leiden am Sitz der SeeLeIn seiner harten Schale ist das Gehirn gut geschützt, besser als jedes andere Körperteil. Und doch können zahllose psychische Störungen seine Funktion beeinträchtigen. Dann geraten die neuro-nalen Netzwerke aus dem Takt, erschüttern depressive Schübe, Psychosen oder Phobien den Menschen. Doch manche solcher Störungen helfen uns sogar, besser in der Welt zurechtzukommen

Biologie

Die komplexe Architektur aus 100 Milliarden Nervenzellen macht das Gehirn zur höchst- entwickelten organischen Struktur überhaupt – aber auch an- fällig für Defekte

die Leiden am Sitz der SeeLeIn seiner harten Schale ist das Gehirn gut geschützt, besser als jedes andere Körperteil. Und doch können zahllose psychische Störungen seine Funktion beeinträchtigen. Dann geraten die neuro-nalen Netzwerke aus dem Takt, erschüttern depressive Schübe, Psychosen oder Phobien den Menschen. Doch manche solcher Störungen helfen uns sogar, besser in der Welt zurechtzukommen

Biologie

2011 GEO WISSEN 932011 GEO WISSEN 93

der Seele. Und sie nutzen dazu moderne, in jüngster Vergangenheit entwickelte methoden:

•  Sie leiten mit Elektroden Ströme von der Kopfhaut ab (elektroenzephalogra-phie);

•  sie untersuchen den Stoffwechsel des Denkorgans  und  die  Erbanlagen  von  Nervenzellen  (biochemische  Analysever-fahren);

•  sie  schauen  mit  „bildgebenden  Ver-fahren“ in das lebendige Hirn hinein, etwa mit Röntgenstrahlen (Computertomogra-phie), starken magnetfeldern (magnetre-sonanztomographie) oder empfindlichen Detektoren  für  radioaktive  Substanzen (Positronen-emissions-tomographie).

die erkenntnisse der Forscher führen auf verschlungene Pfade zwischen Psycho-logie und Physiologie, zwischen Genetik, Biochemie und neurowissenschaft.

zwar sind die Wissenschaftler noch weit davon entfernt, das Zusammenspiel der 100 Milliarden Nervenzellen (Neuro-nen) in unserem Kopf vollständig zu be-greifen. doch Schritt für Schritt ebnen sie

den Weg, um seelische Leiden zu lindern oder gar zu heilen. Und sie sind mehr denn je überzeugt davon, dass letztendlich jede psychische Erkrankung vor allem auf Veränderungen im Gehirn beruht.

Eigentlich ist dieses Organ gut ge-schützt,  vielleicht besser als  jedes andere  in unserem Körper: Wie eine Perle unter einer Muschelschale liegt es verborgen un-ter Haaren, Kopfhaut, Schädelknochen – und drei weiteren Häuten. 

Die  äußere  „derbe  Hirnhaut“  (Dura mater)  ist mit dem Knochen verbunden. Darunter  folgen  die „mittlere  Hirnhaut“ (arachnoidea mater encephali) und die „innere Hirnhaut“ (Pia mater encephali). 

der Hohlraum zwischen den beiden inneren Häuten  ist mit einer klaren und farblosen Flüssigkeit gefüllt. dieses „Nervenwasser“  schützt das Geflecht der  Neurone  wie  ein  Kissen  vor  Reibung, Druck und Stößen. 

Und  doch  ist  das  Gehirn  ein  äußerst verletzliches,  ja  labiles  Organ.  Selbst  Ex-perten überschauen kaum die zahl der bekannten erkrankungen, die Vielfalt ih-rer erscheinungsformen: die internatio-nale statistische Klassifikation der Krank-heiten der Weltgesundheitsorganisation unterscheidet weit mehr als 200 Gruppen möglicher  Diagnosen  für  Schädigungen von Psyche, Gehirn und Nervensystem. 

Bei  vielen  dieser  Leiden  wissen  For-scher inzwischen recht genau, was ge-schieht: entzündet sich etwa eine Hirn-haut, so haben sich wahrscheinlich Bakterien oder Viren eingenistet. Stirbt Hirngewebe bei einem infarkt ab, so ist das  Organ  nicht  mehr  ausreichend  mit Blut  versorgt.  Schwindet  beim  Morbus  Alzheimer  das  Erinnerungsvermögen,  so stören  Eiweißklumpen  die  Funktion  der Nervenbahnen.  Breitet  sich  eine  unwill-kürliche  Unruhe  im  Körper  aus,  wie  bei Chorea Huntington, sterben Nervenzellen ab, welche die motorik kontrollieren.

auch Vitaminmangel, Vergiftungen und tumore, Fehlfunktionen der Hor-mondrüsen oder starke erschütterungen können die Leistungen des Gehirns dauer-haft  verändern  –  beispielsweise  Konzen­tration  und  Merkfähigkeit  vermindern, Orientierung und Wahrnehmung schwä-chen,  Gefühle  dämpfen  oder  verstärken, mitunter gar Halluzinationen wecken.

Längst  ist deutlich geworden, dass die Verbindung zwischen Psyche und Körper keine Einbahnstraße ist. Lange hatten For-scher,  Ärzte  und  Therapeuten  vor  allem im Blick, wie sich denken und Fühlen auf das körperliche Befinden auswirken (Psy-chosomatik). Sie beobachteten etwa, dass angst zu Herzbeschwerden führen kann. Seit einigen Jahren nun interessieren sich Spezialisten  zunehmend  dafür,  wie  kör-perliche Beschwerden umgekehrt die Seele aus dem Gleichgewicht bringen (Somato-psychologie).

Nach  Schätzungen  der  Weltgesund-heitsorganisation leidet weltweit mehr als jeder dritte erwachsene mindestens ein-mal in seinem Leben an einer – wie auch immer gearteten – Abweichung vom ge-wöhnlichen Verhalten und Erleben. 

Wissenschaftler  des  European  College of  Neuropsychopharmacology  und  des 

Wenn die Seele leidet, sitzt das Übel im Kopf. Davon  waren  Ärzte  bereits vor Jahrhunder-ten überzeugt. denn so

wie eine trübung des auges die Sehkraft schwächt oder eine Entzündung des Ma-gens die Verdauung hemmt, so zerrüttet eine Erkrankung des Gehirns die Gedan-ken und Gefühle, glaubten die Mediziner. 

Für sie war das drei Pfund schwere Ge-bilde im Inneren des Schädels der Sitz der Seele. Jener Ort, an dem sich geistige und körperliche  Welt  auf  magische  Weise  miteinander  verbinden.  Das  Organ,  in dem  verschiedene  Zustände  der  Materie jene Lebenskraft hervorbringen, die Men-schen  im Altertum als „Psyche“ bezeich­neten – gerade so, wie sich die Töne ein-zelner  Instrumente  in  einem  Orchester zum Klang einer Symphonie verbinden. 

Und so versuchten Ärzte lange Zeit mit-unter höchst martialisch, auf das Gehirn einzuwirken  –  und  krankhafte  Raserei oder Schwermut aus der Seele zu treiben.

die Heilkundigen schnallten Patienten mit Wutanfällen auf waagerecht hängende Bretter und ließen sie wie ein Karussell im Kreis drehen. Sie schütteten ihnen Wasser über das Haupt und stürzten sie kopfüber in kalte Bäder; sie ließen sie an den Schlä-fen zur ader, setzten ihnen blutsaugende Egel in die Nase oder versengten die Kopf-haut mit glühenden eisen.

Doch  niemand  verstand  zu  jener  Zeit genau, was im Gehirn geschah, wenn Pa­tienten sich wunderlich benahmen: wenn sie  sich verängstigt vor der Welt  zurück­zogen,  in  tiefer  Trauer  versanken,  ihren eigenen  Namen  vergaßen  oder  im  Deli­rium  tobten  und  schrien.  Den  Schädel  eines  Verstorbenen  aufzusägen  und  sein Gehirn in Scheiben zu schneiden war ein früher, aber wenig ergiebiger Versuch, den Leiden auf die Spur zu kommen.

Erst heute gelingt Forschern allmählich der Brückenschlag zwischen der Biologie des menschen und den schweren Qualen

Von Bertram Weiss (text) und

tim Wehrmann (illustrationen)

Jede psychische erkrankung beruht auf

Veränderungen im  Gehirn

European Brain Council, zweier Dachor-ganisationen  europäischer  Hirnforscher, fanden zudem erst kürzlich heraus: 38 Prozent der  Bürger der  Europäischen Union sind jährlich von einem seelischen Leiden betroffen. das sind rund 165 mil-lionen menschen.

Zu den häufigsten psychischen Leiden der EU­Bürger zählen übersteigerte Ängs-te. Psychiater und Therapeuten diagnos­ tizieren bei rund 14 Prozent ihrer Patien-ten eine krankhafte Furcht, zumeist eine Phobie (von altgriech. phóbos, Furcht).

mit Hirnscannern konnten Forscher erkennen: Bei Patienten mit Angststörun­gen  reagieren  zwei  nussgroße Areale  tief im  Inneren  des  Gehirns  sensibler  auf  äußere  Reize  als  bei  Gesunden.  Diese Mandelkerne  (auch  Amygdala,  von  alt-griech. amygdalon, mandel; siehe Seite 96) bilden gleichsam eine „Angstzentrale“ im Kopf.

manchmal kann sich die angst tief in das  Nervengeflecht  des  Langzeitgedächt-

drohlichen  Empfindungen  und  körper­ lichen reaktionen aus der erlebten Situa-tion zurück. aber nicht immer ist diese dem Betroffenen überhaupt bewusst.

An  viele  Erinnerungen  gelangt  man  nur per Zufall, wenn ein äußerer Reiz sie wachruft: etwa der Schrei eines Kindes, das Quietschen von Autoreifen, das Dröh-nen eines Flugzeugs. die wachsende erre-gung, Herzklopfen, Zittern, Schweiß sind dann real – doch der Grund dafür ist im Unbewussten verborgen.

Mildere  Formen  dieses  Phänomens nennen  Experten  akute  Belastungsstö-rung, extreme Ausprägungen bezeichnen sie  als  Posttraumatische  Belastungsstö-rung (PtBS).

Dabei  nimmt  im  Gehirn  kein  spezi­ fischer  Zellverbund  Schaden.  Denn  die peinigenden informationen sind derart umfangreich, dass sie in Nervenzellen und Verbindungen unterschiedlicher Hirn-bereiche  in der gesamten Großhirnrinde aufbewahrt werden. Bei Kindern, die infolge sexueller Misshandlungen, Gewalt 

nisses einbrennen, so tief, dass Betroffene über Jahre in andauerndem Schrecken leben. ein einziges furchterregendes oder gar lebensbedrohliches ereignis kann da-für  den Anstoß  geben,  etwa  eine  Geisel-nahme, eine Vergewaltigung, ein Verkehrs-unfall oder ein Feuergefecht im Krieg.

Inmitten der Gefahr ist das Gehirn der-art alarmiert, dass es mehr informationen speichert als üblich, so eine unter For-schern gängige Auffassung. Entsprechend 

sind auch die erinnerungen an jenes ereignis detailreicher als an harmlosere Begebenheiten.  Es  sind  intensive  Blitz-licht-eindrücke, sogenannte Flashbacks.

Und jedes mal, wenn sie sich in das Bewusstsein drängen, kehren auch die be-

manche Hirnregion ist bei misshandelten

Kindern deutlich verkleinert

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oder isolation an PtBS litten, stellten Ärz-te der Universität Amsterdam jedoch fest, dass speziell der Hippocampus (von lat./griech. hippocampos, Seepferdchen) deut-lich geschrumpft war – eine Gehirnregion, die gleichsam als Pförtner steuert, welche Erlebnisse dauerhaft ins Gedächtnis wan-dern und welche schnell gelöscht werden. 

doch nicht bei jedem bringt ein trau-ma  das  Gehirn  derart  aus  dem  Gleich­gewicht. Ob das Denkorgan für eine Belas-tungsstörung anfällig ist, hängt auch vom jeweiligen erbgut ab: So erinnern sich menschen, die eine bestimmte Variante des Gens ADRA­2B in sich tragen, sehr ge-nau an emotionale Erlebnisse – und sind somit besonders empfänglich für PTBS.

allerdings entscheidet nicht das erbgut allein – auch äußere Umstände sowie das eigene Handeln haben auf die trauma-Verträglichkeit einen großen Einfluss: et-wa der Konsum von Drogen oder fehlende zuwendung in der Kindheit. So kommt es, dass manche menschen trotz ihres hohen genetischen risikos niemals erkranken, andere dagegen zu Patienten werden, ob-wohl ihre erblast eigentlich geringer ist.

Diese  Erklärung  nennen  die  Forscher „Diathese­Stress­Modell“.  Denn  sie  ver-eint die wesentlichen Ursachen für jede psychische Störung: die Diathese (die in-dividuelle  biologische  Ausstattung)  und den Stress (die individuelle Belastung). 

erst die Wechselwirkung dieser beiden Faktoren entscheidet darüber, ob die Seele Schaden nimmt.

Nicht nur Ängste und Traumata kön-nen  so  machtvoll  werden,  dass  manche menschen dauerhaft darunter leiden und Hilfe benötigen. Manchmal entgleiten uns auch Bedürfnisse oder neigungen und beherrschen  uns  als  Zwangsstörungen,  etwa als Drang, unaufhörlich zu ordnen, zu reinigen oder zu kontrollieren.

Häufig  vervielfachen  sich  auch  Kum-mer  und  Verzagtheit.  Dann  lähmt  uns  andauernde Verzweiflung und verdunkelt die Seele: eine klinische depression ent-steht (siehe Seite 74).

Oder umgekehrt umfasst manche Men-schen  eine  überschäumende,  scheinbar nicht endende euphorie. eigentlich, so könnte  man  denken,  bereitet  eine  sol­ che andauernde Hochstimmung gar kein

1. Großhirn: der evolutionär jüngste Teil des Hirns. In der zwei bis fünf Millimeter starken Groß-hirnrinde werden die meisten kognitiven Prozesse gesteuert.

2. Kleinhirn: wichtig für die Koordination von Muskulatur und Bewegung.

3. Hirnstamm: evolutionär ältester Teil des Gehirns. Regu-liert Herzschlag, Atmung und Verdauung.

4. Präfrontaler Kortex (auf dem Frontallappen, Region der Bewusst-seins entstehung): Emotionsbe-wertung und situationsgerechte Entscheidung.

5. Temporallappen: beherbergt das Sprach- und das nonverbale Gedächtnis, führt Hör- und Seh- informationen zusammen.

6. Inselrinde: bewertet Schmer-zen emotional, ist an der Enstste-hung von Empathie beteiligt.

7. Cingulum (im Gyrus cinguli): dient unter anderem dem Risiko- und Konfliktmanagement. Teil des limbischen Systems, das zustän-dig für Emotionsverarbeitung

und -entstehung sowie die Kontrolle von Triebverhalten ist.

8. Ventrikel: Hohlräume, in denen Hirnflüssigkeit gebildet wird.

9. Striatum: koordiniert Lernvorgänge und motorische Bewegungsimpulse.

10. Thalamus: empfängt Sinnes-eindrücke und leitet sie an die Großhirnrinde weiter.

11. Hypothalamus: wichtig für das Flucht- und Ab-wehrverhalten sowie den Sexualtrieb.

12. Fornix: vermittelt Gedächtnisinhalte vom Kurzeit- ins Langzeit- gedächtnis. Teil des lim- bischen Systems.

13. Amygdala (Mandel-kern): Furcht- und Angst-zentrum, Teil des lim- bischen Systems.

14. Hippocampus: wichtig für zeitliche und räumliche Orientie-rung, generiert Erinnerungen. Teil des limbischen Systems.

Das Gehirn besteht aus einem Verbund zahlloser neuronaler Areale. Beim psychisch gesunden Menschen wirken diese Netzwerke reibungslos zusammen

der Hort des Bewusstseins

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Leid. Tatsächlich aber können Betroffene sich  vom  eigenen  Übermut  qualvoll  ge-trieben fühlen, jegliche Hemmungen ver-lieren, wie süchtig nach Streit suchen, sich in kurzer Zeit ruinieren oder selbst in Ge-fahr bringen. Derart viele Einfälle strömen auf sie ein, dass sie unaufhörlich  tanzen, singen  und  beispielsweise  plappern: „Sie dachten, ich wäre zu Hause in der Speise-kammer, Kuckuck, da ist ein zauberkas-ten,  armer Liebling  Katharina, weißt du, Katharina  die  Große,  der  Feuerrost,  ich bin immer oben auf dem Schornstein.“

Ein solches, typisches Gewirr wirbeln-der assoziationen, das aus einem Lehr-buch  für  Psychopathologie  stammt,  be-zeichnen Experten als „Ideenflucht“.

Manchmal befällt die Patienten gar ein bizarrer Größenwahn: Sie fühlen sich be-rufen, als Papst die katholische Christen-heit  anzuführen,  oder  sind  davon  über-zeugt,  kurz  vor  der  Entdeckung  eines mittels gegen aids zu stehen.

Allein tritt eine solche Manie (von lat. mania,  Raserei)  äußerst  selten  auf.  Zu-meist wechseln manische und depressive Phasen  einander  ab.  Die  extremen Schwankungen zwischen Freude und Schwermut  kennzeichnen  eine „Bipolare Störung“, die statistisch gesehen höchstens vier Prozent aller Menschen erfasst. 

noch wissen Forscher nicht genau, was im Gehirn falsch läuft, wenn die Gefühle bipolarer Patienten außer Kontrolle gera-ten. Bislang weisen Untersuchungen auf unterschiedliche Ursachen hin.

Einerseits könnte ein Überschuss che-mischer Botenstoffe wie noradrenalin oder  Serotonin  –  die  als  körpereigene Drogen Glücksgefühle regulieren – mani-sche Episoden auslösen. So wie ein Mangel dieser Substanzen zu einer depression beitragen kann.

andererseits erkennen Forscher auf Hirnscans: Bestimmte regionen des denk organs sind bei Bipolaren anders geformt  als  bei  Gesunden,  etwa  der  Hypothalamus.  Dieser  Zellverbund  im Zwischenhirn  beeinflusst  maßgeblich, welche Hormone im Körper ausgeschüttet werden; jene chemischen Botenstoffe also,

die emotionen und Verhalten unmittelbar steuern können.

Die Hirnmasse ist bei Bipolaren häufig insgesamt  geringer.  Zwar  ist  ihr  Organ  so  groß  wie  bei  Gesunden,  doch  die  Ventrikel, die hohlen Hirnkammern, sind voluminöser. 

Gerade  diese  Beobachtung  stellt  For-scher jedoch vor ein Problem: Denn eine 

außergewöhnliche  Größe  von  Hirnkam-mern gilt auch als merkmal für jene Gruppe  besonders  schwerer  psychischer Störungen, für die der Schweizer Psychia-ter eugen Bleuler im Jahr 1911 aus den altgriechischen Worten schizein (spalten) und phren (Bewusstsein) den namen „Schizophrenie“ erdachte. 

Diese Verwirrung der Gedanken und Gefühle  ist  vermutlich  der  Inbegriff  des Wahnsinns, der Geisteskrankheit, des Irr-sinns.  Denn  Schizophrene  verlieren  die Fähigkeit,  Wichtiges  von  Unwichtigem, reales und irreales zu trennen. ihr Be-wusstsein erscheint gleichsam zersplittert.

Sie  vermögen  nicht  mehr  zu  unter-scheiden zwischen eigenen Gedanken und Stimmen ihrer mitmenschen; in ihrem Kopf entstehen Laute und Bilder, die scheinbar echt und doch für niemand anderen wahrnehmbar sind.

mitunter steigern sie sich in einen Wahn, der keinen argumenten mehr zugänglich ist: Das Gehirn gaukelt ihnen  etwa vor,  sie existierten nicht mehr oder würden  von  böswilligen  Menschen  ver-folgt, sie seien für einen terroranschlag verantwortlich  oder  würden  von  göttli-chen Wesen begleitet.

Gewöhnlich  ergreift  eine  solche  Psy-chose  den  Geist  in  Schüben,  die  meist nach einigen Wochen wieder abklingen. zwischen diesen episoden erleben die Patienten die Welt oft als völlig normal; sie wirken  häufig  sogar  außergewöhnlich feinsinnig und intelligent, mitunter gar brillant.

Zwar  können  Schizophrene  durchaus ein langes und glückliches Leben führen.

doch nur wenige andere erkrankungen erschüttern das dasein so lange wie diese. denn in der regel zeigt sich das Leiden bereits zwischen dem 18. und dem 30. Le-bensjahr – und zwar bei rund einem Pro-zent aller Menschen weltweit, unabhängig von Herkunft und Kultur.

auf der Suche nach den organischen Ursachen für dieses Leiden sind Forscher auf auffällige Unterschiede zu Gesunden gestoßen:  Die  Masse  des  Gehirns  ist  bei Schizophrenen geringer, da wie bei Bipo-laren die Hirnkammern vergrößert  sind. Häufig  kleiner  ausgeformt  ist  auch  der thalamus, gleichsam das tor, das Sinnes-eindrücke passieren, wenn sie uns bewusst werden.

mit Sensoren, die die elektrischen Sig-nale  der  Nervenzellen  an  der  Kopfhaut  ableiten, konnten Wissenschaftler über-dies zeigen: In den Stirnpartien der Groß-hirnrinde  von  Schizophrenie­Patienten tauschen  Nervenzellen  elektrische  und chemische Signale chaotischer und weni-ger  häufig  aus  als  üblich.  Die  Aufmerk-samkeit und das Gedächtnis funktionieren deshalb nicht mehr optimal; Bilder der äußeren  Welt  und  des  inneren  Erlebens sind so instabil, dass sie sich kaum über längere Zeit erhalten.

Auch chemisch gerät das Gehirn dann aus der Balance: im mesolimbischen System, das maßgeblich an der Entstehung und  Kontrolle  von  emo tionalem Verhal­ ten beteiligt ist, schütten Zellen zu große mengen dopamin aus. dieser Botenstoff trägt Signale zwischen Nervenzellen wei-ter.  Im  mesocorticalen  System  dagegen,  in  dem  etwa  die  Motivation  zu  einer Handlung entsteht, bilden sich davon zu geringe mengen.

all diese erkenntnisse zeigen: Wenn psychotische Fantastereien den Geist ver-wirren, ist das Gehirn nicht etwa an einer bestimmten Stelle erkrankt. Vielmehr scheint  das  ganze  ungemein  komplexe System der Nervenzellen außer Kontrolle zu  geraten,  dass  Gefüge  von  äußeren  Sinneseindrücken  und  inneren  Zustän-den,  von  Bewusstsein,  Erinnerung  und Urteilskraft verliert seine Ordnung. 

Viele  Forscher  gehen  davon  aus,  dass Menschen  eine  Anfälligkeit  für  Schizo-phrenien  bereits  von  ihren  Eltern  erben. 

Bei Schizophrenen scheint das

Bewusstsein gleichsam zu zersplittern

einen Beleg dafür bieten etwa Untersu-chungen  von  Geschwistern:  Leidet  ein eineiiger Zwilling an schizophrenen Psy-chosen, so besteht für seinen genetisch identischen Bruder ein etwa 50-prozen-tiges risiko, ebenso zu erkranken. Bei zweieiigen, also genetisch nicht ganz gleichen zwillingen sinkt die Wahr-scheinlichkeit dagegen auf 17 Prozent.

Weshalb aber gibt es überhaupt solche  schädlichen  Erbinformationen, die mitbestimmen, wie groß die Gefahr einer Erkrankung ist? Denn gemäß den Gesetzen  der  Evolution  dürften  sie  ei-gentlich nicht dauerhaft bestehen: nach den Erkenntnissen, die Charles Darwin vor  rund  150  Jahren  gewonnen  hat, müssten die riskanten anlagen im Laufe der Menschheitsgeschichte verloren ge-gangen sein, da die natur ja stets jene Individuen  begünstigt,  die  mit  dem  Leben am besten zurechtkommen.

Doch psychische Störungen wie Pho-bien und depressionen, manien und Schizophrenie sind wohl schon so alt wie die Menschheit selbst. Archäologen fanden jahrtausendealte Schädel, die un-sere Vorfahren mit Werkzeugen aus Feu-erstein aufgebohrt hatten – vermutlich, um böse Geister entweichen zu lassen.

Wieso aber bestehen manche geneti-schen  Grundlagen  psychischer  Störun-

gen bis heute? einige Forscher meinen, die  Leiden  brächten  auch  Vorteile  mit sich, sofern sie nicht allzu stark ausge-prägt sind. Ein depressiver Blick auf die Welt hilft zum Beispiel dabei, Lügen zu entlarven, Risiken richtig einzuschätzen, die  Umwelt  genauer  wahrzunehmen  – und bessere entscheidungen zu treffen.

Dies wies vor Kurzem die Studie eines internationalen Forscherteams um die Psychologin Bettina von Helversen von der Universität Basel nach: Die Wissen-schaftler ließen 27 Gesunde und 27 De-pressive in einem Computerspiel virtuel-les  Geld  verdienen.  Dafür  mussten  die teilnehmer passende Bewerber für einen

Job oder eine Wohnung auswählen. Das Ergebnis:  Die  depressiven  Probanden nahmen sich zwar deutlich mehr zeit, doch insgesamt sammelten sie mehr Spielgeld als die gesunden, denn sie ent-schieden sich für die besseren Anwärter.

Vielleicht aber,  so vermuten manche Forscher, haben sich genetische Grund-lagen psychischer Störungen auch erhal-ten, weil sie sich gar nicht immer gegen den Menschen kehren: Manchmal könn-ten  gerade  die  sonst  schädlichen  Erb­informationen etwas Gutes bewirken.

Beispielsweise erhöht eine bestimmte Variante des Gens 5­HT2A das Risiko, in eine depression zu fallen. zugleich aber trägt diese Gen­Version unter besonders günstigen  Umständen  dazu  bei,  dass menschen einfühlsamer sind und sich im Umgang mit anderen leichter tun.

auch die erbanlagen, die manche in das wahnhafte Chaos schizophrener Ge-danken stürzen, können sich bei anderen als  Vorteil  erweisen  –  und  die  kreative Schaffenskraft  fördern.  Darauf  deutet  die erkenntnis hin, dass nahe Verwandte von  Schizophrenen  häufig  über  eine überdurchschnittliche  Schöpfungsgabe verfügen.  So  litten  zum  Beispiel  Nach-kommen  des  Physikers Albert  Einstein, des Philosophen Bertrand russell und des Schriftstellers James Joyce unter der krankhaften Geistesverwirrung.

Ein  Experiment  an  der  Vanderbilt University im US­Bundesstaat Tennessee untermauert  diesen  Schluss:  Psycholo-gen baten Probanden, neue Funktionen für  Haushaltsgegenstände  zu  erfinden. An dem Test nahmen Gesunde, Schizo-phrene und Patienten mit einer „schizo-typischen Störung“ teil, gewissermaßen einer milden Form der Schizophrenie.

diese Patienten waren deutlich krea-tiver als die anderen Probanden. Und der einsatz eines Hirnscanners offenbarte: Bei  schizotypischen  Störungen  fördert eine  erhöhte  Aktivität  in  der  rechten  Gehirnhälfte  die  Inspiration. Ab  einem  bestimmten Grad, so schlussfolgerten die Forscher,  schlägt  diese  nützliche  Gabe aber in zerstörerische Schizophrenie um.

Manchmal  erweist  sich  ein  gefährli-ches  Erbe  also  als  zweischneidig: Wäh-

eine leichte depression kann dabei helfen,

bessere entscheidungen zu treffen

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angst, Stress Sucht

rend es dem einen als ressource dient, bringt es für den anderen ein defizit mit sich – während es den einen beflügelt, bereitet es dem anderen Seelenqualen.

Gerade diese besondere eigenschaft des Wechselspiels von Gemüt und Gehirn, diese ungreifbaren Nuancen von Nutzen und Schaden, machen deutlich: die Grenze zwischen „hilfreich“ und „zerstö-rerisch“, zwischen „gesund“ und „krank“ ist nicht präzise zu definieren.

nicht jeder, der merkwürdig wirkt, ist erkrankt. nicht jeder, der sich skurril verhält,  leidet  auch  darunter.  Und  nicht jeder, den andere grotesk finden, ist im medizinischen Sinne geistesgestört. 

Die Eigenschaften psychischer Störun-gen  „liegen  auf  einem  Kontinuum  mit normalen menschlichen erfahrungen“, so der  britische  Psychiater  und  Philosoph Neel Burton. „Daher ist es nicht möglich, den Punkt zu bestimmen, an dem sie pathologisch werden.“

Und  deshalb  lässt  sich  nicht  objektiv beurteilen, ob jemand behandelt werden muss  oder  nicht  –  denn  die  Definitio ­ nen  von  psychischen  Störungen  hängen immer  auch  von  den  jeweils  geltenden  Werten und Normen ab. Der französische Philosoph michel Foucault postulierte 1961  gar,  eine  psychiatrische  Diagnose diene allein dazu, gesellschaftlich uner-wünschtes Verhalten zu unterdrücken.

Um so eine Haltung möglichst auszu-schließen, gilt für eine Behandlung heute 

allein als entscheidend, ob ein mensch leidet oder sich selbst verletzt.

Oder ob er andere in Gefahr bringt – so wie  jene  Gewalttäter,  bei  denen  die  Dia­gnose „Psychopathie“ lautet. Gewöhnlich fühlen sich diese menschen alles andere als krank: Sie meinen, gesund zu sein, frei, stark.  Nach  außen  hin  wirken  sie  wenig auffällig, häufig gar charmant. Sie hören weder Stimmen, noch plagt sie unbedingt eine bedrohliche angst; da ist nichts, woran ein Therapeut anknüpfen könnte. 

Und doch ist etwas in ihrer Seele an-ders. etwas, das sie zu abscheulichen taten treibt, ihnen jedes mitleid für ihre Opfer nimmt, sie augenscheinlich gefühl-los und sadistisch werden lässt. 

Womöglich,  so  spekulieren  Forscher, versagt  dabei  das  paralimbische  System: ein  Verbund  mehrerer  Areale  im  Groß-hirn, in dem informationen aus der Außenwelt mit Emotionen verknüpft wer-den. Aber vielleicht  steckt dahinter  auch eine  besondere  genetische  Anlage?  Oder 

eine  seltene Konstellation von Erfahrun-gen  in  der  Kindheit,  welche  sich  im  Ge-flecht der Nervenzellen verfängt? 

eine genaue antwort kennen Forscher bislang nicht. denn wie immer, wenn sich die  Gelehrten  auf  die  Suche  nach  dem Wechselspiel  von  Gehirn  und  Seele  machen,  eröffnet  sich  ihnen  ein  endlos wirkendes Labyrinth von Fragen.

Manche Pfade in diesem irrgarten ha-ben Wissenschaftler inzwischen ein wenig

Wo im Kopf das Übel sitzt

Schizophrenie depression

Mithilfe der Magnetresonanztomographie hat man bei Schizophrenen eine Verkleinerung (blau) von Hirnregionen im präfron­talen­kortex­(4), im limbischen­system­(7, 12, 13, 14),­am striatum­(9) und am thalamus­(10) festgestellt; die ventrikel­(8) sind oft vergrößert. Im vor­deren­und hinteren­cingulum­(7) kommt es zu Störungen der Spracherzeugung. Auch die Funk-tion des fornix­(12) ist beeinträchtigt, bei männ- lichen Patienten sind einige Bereiche verkleinert.

Betrachten Depressive Fotos mit traurigen Gesichtern, so zeigen Hirnscans eine deutlich verminderte Aktivierung im präfrontalen­­kortex­(4) und im hippocampus­(14). In der inselrinde­(6) zeigt sich – je nach Hemisphäre – eine unterschiedliche Reaktion: in der rechten Hirnhälfte eine Abschwächung der Aktivität, in der linken eine Steigerung. Auch im vorderen­­cingulum­(7) und im striatum­(9) kommt es zu veränderten Aktivierungsmustern.

Durch Angst ausgelöster Stress führt dazu, dass die Nebennierenrinden größere Mengen Kortisol aus-schütten. Dieses Hormon bindet an Rezeptoren etwa im hippocampus­(14) sowie im präfron­talen­kortex­(4) an: In einigen Bereichen dieser Areale kommt es dann zu Schrumpfungen (blau). In der amygdala­(13) steigt durch Stress die Aktivität und die Zahl der Nervenverbindungen, was langfristig zu einer Über aktivierung führen kann. Im hinteren­cingulum­(7) kann die Worterkennung gestört sein.

Bei Abhängigen nimmt häufig die Durchblutung in Bereichen des präfrontalen­kortex­(4), der amygdala­(13), des hippocampus­(14) und des striatum­(9) ab – das beeinträchtigt die Ent-scheidungsfindung. Außerdem kommt es zu einer Abschwächung der Aktivität im präfrontalen­­kortex­(4),­was die Einschätzung von Handlungs-folgen mindern kann. Bei Alkoholikern ist die Neuronendichte in der inselrinde­(6), im hippo­campus­(14) und im thalamus­(10) verringert.

Für einige psychische Leiden haben Wissenschaftler mit modernen technischen Hilfsmitteln eine Reihe von Hirnregionen lokalisiert, in denen es zu messbaren Veränderungen kommen kann

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Einzelfällen  –  etwa  die  Auswirkungen des Asperger­Syndroms mildern, einer leichteren Form von Autismus. 

dies gelang zum Beispiel bei John elder robison, einem Patienten des Beth  Israel  Deaconess  Medical  Center in Boston. nachdem Ärzte mehrfach Magnetfelder  auf  den  Scheitel  von  Robisons  Großhirnrinde  gerichtet  hatten, konnte der Kranke sich wieder in menschen einfühlen, entwickelte Empathie:  „Es  war,  als  hätte  ich  ein Fenster in die Seelen der menschen um mich herum aufgestoßen“, sagt er. „Es  war  eine  der  intensivsten  emotio­nalen erfahrungen überhaupt.“

Bei schweren depressionen kann eine elektrokrampftherapie helfen; dafür legen Spezialisten für einige dut-zend Sekunden elektrischen Strom am Kopf des narkotisierten Patienten an.

Oder sie behandeln den Betroffenen mittels  einer  Vagusnervstimulation,  indem sie Elektroden, die um den Nerv geschlungen werden, unter die Haut am Hals implantieren.

Und manchmal setzen Chirurgen so-gar eine Art „Hirnschrittmacher“ durch ein winziges Loch  im Schädelknochen direkt ins denkorgan ein, wo er Strom-impulse ins Nervengewebe abgibt. 

All diese Methoden kommen aber nur zum Einsatz, wenn herkömmliche Therapien versagen. 

Und doch: Vermutlich werden in ferner zukunft menschen den Kopf darüber schütteln, auf welche Weise sich mediziner heutzutage mühen, seelische Qualen zu lindern – so wie wir uns heute wundern, wie Heilkundige in früheren Jahrhunderten vorgingen. 

denn in einigen Jahrzehnten werden die  Menschen  höchstwahrscheinlich noch  besser  verstehen,  wie  dieses  äu-ßerst fragile Organ hinter der Stirn uns denken und fühlen lässt. Wie es Freude und trauer, mut und angst, zorn und Zuneigung hervorbringt.

Kurz: Wie es das erschafft, was wir „Seele“ nennen.

erleuchtet, andere hat noch nie jemand beschritten.  Wenn  sie  sich  vortasten, dienen ihnen bildgebende Verfahren, biochemische  Analysen  und  elektro-physiologische Untersuchungen gleich-sam als Kompass und Karte.

Diese exakten Instrumente scheinen in der Seelenheilkunde heute fast wich-tiger  zu  sein  als  in  anderen  Domänen der Medizin. Denn während Ärzte der meisten  Disziplinen  sich  längst  auf standardisierte Labortests und objektive Messungen von Blutdruck, Körpertem-peratur oder Herzschlag stützen, dia-gnostizieren Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten  im  Prinzip  noch  wie  vor  100  Jahren:  Für  sie  zählt  der  persönliche Eindruck, das aufmerksame Zuhören, die genaue Beobachtung. 

Doch künftig könnten die Methoden der Wissenschaftler auch außerhalb von Forschungseinrichtungen bei der dia-gnose  zum  Einsatz  kommen  –  und  so die Arbeit in den Kliniken und Praxen der Zukunft revolutionieren.

Schon heute nutzen Ärzte beispiels-weise Hirnscanner, um sicherzugehen, dass Wahnvorstellungen auf einer psy-chischen Störung beruhen – und nicht auf einer inneren Blutung, einer zellwu-cherung oder einer Hirnentzündung.

Bei  der  „Neurofeedback“­Heilme-thode  können  die  Apparate  manche  Patienten auch unmittelbar bei der therapie unterstützen, etwa nach ei-

nem Schlag-anfall: dabei versuchen  die Betroffenen be-wusst, die Funktion be-stimmter Hirn-areale selbst zu regulieren, wäh­ rend ihr Kopf durchleuchtet wird. Gewisser-

maßen in Echtzeit können sie so beob-achten, was in ihrem eigenen denk- organ geschieht. allein der anblick der Aufnahmen verstärkt offenbar den Ein-fluss, den die Patienten nur kraft ihres Willens auf das Gehirn nehmen.

Darüber  hinaus  setzen  Psychiater und  Psychologen  die  modernen  Ver­fahren  bereits  in  Studien  ein,  die  vor und nach einer Behandlung deren er-folge messen. So können sie überprüfen,  ob sich nicht nur das Verhalten oder Empfinden  eines  Patienten  verändert, sondern auch das Gehirn.

Beispielsweise trainierten Ärzte am Universitätsklinikum  Aachen  eine Gruppe  von  Schizophrenie­Patienten darin, die Emotionen ihres Gegenübers wahrzunehmen;  normalerweise  fällt 

ihnen  das  extrem  schwer.  Auf  den Hirnscans aber, die nach dem training angefertigt wurden, war eine deutliche Veränderung zu erkennen. Die Aktivität in jenen regionen, die für das erkennen von Gefühlen zuständig sind, hatte sich denen von Gesunden angenähert. 

Ähnliches  gilt  bei  Alkoholabhängi-gen: Sechs Wochen nach einem entzug sowie einer Psychotherapie glichen die Hirnscans der Betroffenen weitgehend denen von Nichttrinkern. 

Für die Patienten war das eine große erleichterung: zeigte es ihnen doch, dass  sie  an  einer  Gehirnkrankheit  lei-den, die potenziell jeden treffen kann – dass also nicht allein mangelnde Wil-lenskraft Ursache der alkoholsucht war.

Diese Beobachtungen könnten Spe-zialisten künftig dabei unterstützen, eine Behandlung mit Psychopharmaka oder  Psychotherapien  noch  besser  auf die  individuellen  Bedürfnisse  des  Ein-zelnen zuzuschneiden. Oder  in beson-deren  Fällen  auch  gezielt  technische Hilfsmittel einzusetzen.

Denn  auch  heute  noch  versuchen Ärzte,  unmittelbar  physisch  auf  das  Gehirn einzuwirken. Sie experimentie-ren  etwa  mit  der  „Transkraniellen  magnetstimulation“.

Dabei stärken oder hemmen sie mit starken magnetfeldern, die bis zu fünf Zentimeter tief unter die Schädeldecke dringen, die Aktivität bestimmter Hirn­areale. Damit lassen sich – zumindest in 

mit magnetfeldern lässt sich 

die empathie wecken

mehr­zum­thema:

Neel Burton, Der Sinn des Wahnsinns – Psychische Störungen verstehen, Spektrum 2011: verständliche Darstellung der wichtigsten psychiatrischen Erkrankungen.

Manfred Lütz, irre! Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen, Goldmann 2011: Hinter dem etwas reißerischen Titel verbirgt sich ein anschaulicher Überblick über die moderne Psychiatrie.

Bertram Weiß, 28, fiel bei der umfangreichen Recher-che immer wieder auf, wie wenig eindeutig ist, was wir als „normal“ gewohnt sind – und wie farbig und lie-benswürdig mitunter ist, was uns als „irr“ erscheint. Tim Wehrmann, 37, arbeitet als Illustrator in Hamburg.

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