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Prävention im Gesundheitswesen - Hochschule Koblenz · Prävention im Gesundheitswesen 197 2...

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Prävention im Gesundheitswesen Systematik, Ziele, Handlungsfelder und die Position der Sozialen Arbeit Peter Franzkowiak 1 Was heißt, worauf zielt Prävention? In der Biomedizin und den Gesundheitswissenschaften versteht man unter Prä- vention die Gesamtheit aller Maßnahmen, die eine gesundheitliche Schädigung gezielt verhindern, weniger wahrscheinlich machen oder ihren Eintritt verzögern. Präventive Eingriffe sollen das Risiko des Neuauftretens von Krankheiten, von Behinderungen oder eines vorzeitigen Todes senken, und sie sollen dazu beitra- gen, Selbständigkeit im fortschreitenden Alter möglichst lang zu erhalten. An- satzpunkt und Bezug ist eine medizinisch oder psychiatrisch definierte, intersub- jektiv diagnostizierbare Gesundheitsstörung bzw. deren operationalisierbare Vorläufer. Laaser und Hurrelmann sprechen dezidiert von „Krankheitspräventi- on“ (1998: 395ff.). Auch das Grundlagenwerk „Public Health“ definiert Präven- tion als zielgerichtete Vermeidung von Krankheiten (Walter/Schwartz 2003: 189ff.). Lebens- und Gesundheitsrisiken sind niemals sämtlich vermeidbar. Präven- tive Interventionen beruhen auf Vorannahmen und Selektionsentscheidungen: Art und Ausmaß der Risiken und Krankheiten, bei denen eingegriffen wird oder werden soll, zeigen an, welche sozialen Interessen, kulturellen Deutungen und professionellen Machtpositionen im aktuellen Gesundheitsdiskurs vorherrschen. Jede Risikobewertung, jede Risikokommunikation legt unterschiedliche Grund- überlegungen (und Machtverhältnisse bzw. -konflikte) zu Gesundheit und Krankheit offen. Wie die ihnen angeklammerten Kategorien von Risiko, Körper und Lebensweise sind Gesundheit und Prävention historisch wandelbar (Erben et al. 1986; Homfeldt 1999; Stöckel/Walter 2002). Ihre jeweilige kulturelle Gestalt gibt Auskunft über die herrschenden Körperpolitiken und die darin eingekapsel- ten ethischen und pragmatischen Deutungen und Wertungen. Sozialwissenschaftliche und systemische Autoren stellen besonders auf die strukturelle Paradoxie ab, die Prävention eigen ist: etwas nicht Bestehendes ver- hindern zu wollen, damit in einer „paradoxen Zuvorkommenheit“ (Fuchs 2007) zu operieren (vgl. auch Freund/Lindner 2001; Hafen 2005). Präventive Eingriffe
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Prävention im Gesundheitswesen Systematik, Ziele, Handlungsfelder und die Positionder Sozialen Arbeit

Peter Franzkowiak

1 Was heißt, worauf zielt Prävention?

In der Biomedizin und den Gesundheitswissenschaften versteht man unter Prä-vention die Gesamtheit aller Maßnahmen, die eine gesundheitliche Schädigung gezielt verhindern, weniger wahrscheinlich machen oder ihren Eintritt verzögern. Präventive Eingriffe sollen das Risiko des Neuauftretens von Krankheiten, von Behinderungen oder eines vorzeitigen Todes senken, und sie sollen dazu beitra-gen, Selbständigkeit im fortschreitenden Alter möglichst lang zu erhalten. An-satzpunkt und Bezug ist eine medizinisch oder psychiatrisch definierte, intersub-jektiv diagnostizierbare Gesundheitsstörung bzw. deren operationalisierbare Vorläufer. Laaser und Hurrelmann sprechen dezidiert von „Krankheitspräventi-on“ (1998: 395ff.). Auch das Grundlagenwerk „Public Health“ definiert Präven-tion als zielgerichtete Vermeidung von Krankheiten (Walter/Schwartz 2003: 189ff.).

Lebens- und Gesundheitsrisiken sind niemals sämtlich vermeidbar. Präven-tive Interventionen beruhen auf Vorannahmen und Selektionsentscheidungen: Art und Ausmaß der Risiken und Krankheiten, bei denen eingegriffen wird oder werden soll, zeigen an, welche sozialen Interessen, kulturellen Deutungen und professionellen Machtpositionen im aktuellen Gesundheitsdiskurs vorherrschen. Jede Risikobewertung, jede Risikokommunikation legt unterschiedliche Grund-überlegungen (und Machtverhältnisse bzw. -konflikte) zu Gesundheit und Krankheit offen. Wie die ihnen angeklammerten Kategorien von Risiko, Körper und Lebensweise sind Gesundheit und Prävention historisch wandelbar (Erben et al. 1986; Homfeldt 1999; Stöckel/Walter 2002). Ihre jeweilige kulturelle Gestalt gibt Auskunft über die herrschenden Körperpolitiken und die darin eingekapsel-ten ethischen und pragmatischen Deutungen und Wertungen.

Sozialwissenschaftliche und systemische Autoren stellen besonders auf die strukturelle Paradoxie ab, die Prävention eigen ist: etwas nicht Bestehendes ver-hindern zu wollen, damit in einer „paradoxen Zuvorkommenheit“ (Fuchs 2007) zu operieren (vgl. auch Freund/Lindner 2001; Hafen 2005). Präventive Eingriffe

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beruhen auf der Institutionalisierung sozialer Prozesse, aus denen die Handeln-den im System zukünftig (Wohl- oder Fehl-)Verhalten ableiten. Grundlage die-ses Interaktionstypus sind Selektionsentscheidungen über Wünschenswertes, gespeist aus fremd bestimmten, normativen Prämissen. Seit Mitte des 20. Jahr-hunderts gilt für Deutschland und Mitteleuropa, dass Prävention – ideologisch, professionell und organisatorisch – maßgeblich mit Risikoabwehr im gesundheit-lichen Bereich von Gesellschaft und gesellschaftlichen Gruppen verbunden wird (Walter/Stöckel 2002).

Gegenstand und Gegenstandsbereiche des organisierten Handelns im Ge-sundheitswesen werden durch das so genannte gesundheitliche Problempanora-ma abgesteckt. Zwei epidemiologische Großtrends bilden derzeit die Eckpunkte, gleichermaßen für Kuration und Pflege wie für die Prävention:

„Dominanz chronischer, medizinisch nicht heilbarer, aber grundsätzlich vermeidbarer Erkrankungen bei steigender Lebenserwartung, sozial bedingt ungleiche Verteilung der kontinuierlich anfallenden Gesund-heitsgewinne aufgrund ungleicher Verteilung von Gesundheitsbelastungen und Gesundheitsressourcen“ (Rosenbrock/Gerlinger 2004: 57).

Die anfänglich kaum zu erschütternde Dominanz der medizinischen Erklärungs- und Veränderungsmodelle (pathogenetisch-naturwissenschaftliches Präventions-Paradigma) wird mittlerweile bedrängt von einem bio-psycho-sozial-ökolo-gischen (auch: „salutogenetischen“) Erklärungs- und Handlungsmodell der Ge-sundheit, ihrer Erhaltung und Förderung. Dennoch ist weiterhin von einer hege-monialen, in Strukturen einzementierten Deutungsmacht der Biomedizin in der nosologischen (krankheitsbezogenen) Prävention auszugehen.

Rapide biotechnologische Fortschritte rücken seit dem Ausgang der 1990er Jahre die prädiktive Medizin mit der neuartigen Möglichkeit genetischer Dia-gnostik und Selektion in den Vordergrund. Hieran koppeln Labisch (2001) und Paul (2003) das Szenario einer künftigen „Genetisierung“ der Lebens- und Ge-sundheitsgeschichte. Der heutige Fokus auf verhaltens- und verhältnispräventive Früherkennung und Frühbehandlung könnte bald abgelöst werden von einer Welle des detektivischen Lesens im Erbguts, der Suche nach vermeintlich ris-kanten Genotypen und Biomarkern. Es ist vorstellbar, dass die bisher präventi-onsleitende Orientierung auf Verhalten und Lebensweisen (in Lebenslagen) in naher Zukunft verkürzt würde auf klinische Genomik und „individualisierte Medizin“ mit molekularen Therapeutika: eine in Tendenz hermetische Kette von Diagnose, Prognose und Frühbehandlung von genetischen Dispositionen für polygene Krankheiten. Folgen wären eine Verlagerung von Beratung und Früh-erkennung in genetische Detektion und prekäre Voraussage.

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2 Ordnungsversuche, Systematiken und Abgrenzungen

2.1 Das triadische Strukturmodell

Orientierend und handlungsleitend für die gegenwärtige Prävention im Kontext von Biomedizin, Psychiatrie und Gesundheitspolitik ist das triadische Struktur-modell aus primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Ziele und Maßnahmen sind aus dem zeitlichen Ansatz im Krankheitsverlauf abgeleitet: „Prävention bezeichnet alle Interventionshandlungen, die sich auf Risikogruppen mit klar erwartbaren, erkennbaren oder bereits im Ansatz eingetretenen Anzeichen von Störungen und Krankheiten richten. Die Interventionshandlungen lassen sich je nach dem Zeitpunkt des Eingriffs in einer Abfolge von Entwicklungsstufen der Störung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention unterscheiden“ (Laa-ser/Hurrelmann 1998: 395).

Primäre Prävention ist unmittelbare Krankheitsverhütung. Sie soll wirksam werden, so lange noch keine Krankheit aufgetreten ist. Sekundäre Prävention ist Krankheitsfrüherkennung. Krankheiten und Vorläufer sollen erkannt werden, noch bevor Beschwerden oder Krankheitssymptome auftreten. Tertiäre Präventi-on ist Verhütung der Krankheitsverschlechterung. Sie richtet sich an manifest Kranke bzw. dauerhaft Leidende, soll Folgeschäden und Chronifizierungen ver-meiden und Rückfällen vorbeugen.

Diese klassisch gewordene Dreiteilung aus den 1960er bis 1980er Jahren wirkt bis heute strukturell nach und bildet die Grundlage auch für gesundheitspo-litische Entscheidungen (s. die definitorischen Textbausteine im 2005 kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsprozesses gescheiterten Präventionsgesetzes). Die Bestimmungsmerkmale sind angesichts der Weiterentwicklung epidemiologi-scher Erkenntnisse und der Public Health präzisiert und modifiziert worden. Tabelle 1 fasst den aktuellen Stand der Diskussion um die präventive Trias zu-sammen (Sachverständigenrat 2001; Walter/Schwarz 2003).

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Struktur-ebene

Ansatzpunkt Maßnahmen Ziele

Primär-prävention

einsetzend vor Eintritt einer fassbaren biologi-schen Schädigung

alle spezifischen Aktivi-täten zur Vermeidung auslösender oder vor-handener Teilursachen (darunter Risikofakto-ren) von bestimmten Erkrankungen, darunter auch die individuelle Erkennung und Beein-flussung solcher Teilur-sachen

Risikosenkung bis hin zur Risikoeleminierung; Senkung der Inzidenzra-te einer Krankheit bzw. Senkung der Wahr-scheinlichkeit des Krankheitseintritts bei einem Menschen bzw. einer (Teil-)Population

Sekundär-prävention

Entdeckung von biome-dizinisch eindeutigen (u.U. auch klinisch symptomlosen) Früh-stadien einer Erkran-kung und deren erfolg-reiche Frühtherapie

Gesundheitschecks, Vorsorgeuntersuchun-gen, spezifische Früher-kennungsmaßnahmen (von u.a. Risikofakto-ren)

Senkung der Inzidenz von manifesten oder fortgeschrittenen Er-krankungen

Tertiär-prävention

Behandlung manifester Krankheit („Kuration“) und ergänzende Inter-ventionen zur Verhinde-rung bleibender Funkti-onseinbußen

wirksame Behandlung einer symptomatisch gewordenen Erkran-kung

Verschlimmerung der Krankheit und/oder bleibende Funktionsver-luste verhüten oder verzögern; Leistungsfä-higkeit soweit wie möglich wiederherstel-len bzw. erhalten, die Inzidenz bleibender Beeinträchtigungen und Behinderungen absen-ken

Tabelle 1: Stufen und Komponenten des triadischen Präventions-Strukturmodells

In der nosologischen Prävention wird die Bildung trennscharfer Kategorien und einheitlicher Terminologien zunehmend schwieriger. Diese Problematik beruht auf der Komplexität von Krankheitsätiologien und präventiven Wirkmechanis-men. Zugleich wirkt sich hier die Vielfalt von Interventionen, Organisationen, Settings und Systemen im Handlungsfeld aus. Zunehmend feinere Diagnoseme-thoden sowie die Einführung der präventiven Gendiagnostik, verbunden mit einer Ausweitung des Krankheitsbegriffs, befördern die Aufweichung der Gren-zen zwischen Primär- und Sekundärprävention. Neue begriffliche Unschärfen ergeben sich durch die partiell aufgegebene Unterscheidung von Risikofaktor

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und Erkrankung. So sind Hypertonie oder der Diabetes mellitus einerseits einge-führte Prädiktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen und Myokardinfarkt, gelten aber auch als manifeste Ereignisse mit eigenem Krankheitswert und entspre-chender Therapiebedürftigkeit.

2.2 Das Spezifitätsmodell

Wie problematisch die scheinbar eindeutige Zuordnung von Vorläufern und Ursachen zu nachfolgenden Krankheiten ist, ist in der Klinischen Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie bereits länger bekannt. Am zeitlichen Verlauf einer in der Regel nicht kausal, sondern multipel bedingten Krankheit bzw. ei-nem Krankheitssyndrom anzusetzen, führt notwendig zu Überschneidungen und Abgrenzungsschwierigkeiten. Als ergänzende Klassifikation wurde im anglo-amerikanischen Wissenschaftsraum daher eine Kategorisierung präventiver Maßnahmen nach Spezifität und Maß der Gefährdung entwickelt. Diese Klassi-fikation folgt einer Risiko-Nutzen-Perspektive. Deren Bestimmungsgrößen sind: das individuelle Erkrankungsrisiko (gegebene Ausprägung von Risikofaktoren bei den jeweiligen Zielgruppen), die Interventionsrisiken sowie Aufwand und Kosten, welche mit einer Maßnahme verbunden ist, sind. Drei Präventionsformen werden unterschieden: universale, selektive sowie indizierte Prävention (Tab. 2).

Universale Prävention

spricht die Gesamtbe-völkerung bzw. große Teilpopulationen an

soll prinzipiell für jeden nützlich oder notwendig sein, kann in bestimmten Fällen auch ohne Professionelle durchgeführt werden (Impfempfehlungen für Säuglin-ge und Kinder, Verkehrserziehung im Kindergarten, Sexualpädagogik und Drogenaufklärung in der schuli-schen Sekundarstufe, Sicherheitsgurtpflicht für alle TeilnehmerInnen im Straßenverkehr, u.v.a.m.)

Selektive Prävention

interveniert bei umris-senen Zielgruppen mit einem vermuteten, evtl. überdurchschnitt-lichen Risiko (Risiko-träger)

versucht bei ausgewählten Gruppen, empfohlene Vorsorge- oder Früherkennungsmaßnahmen um- und durchzusetzen (Unterstützungsgruppen für Kinder von alkoholabhängigen Eltern, Schüler- und Elterntrai-nings in sozialen Brennpunkten, spezifische Aufklä-rungskampagnen für Mitglieder von Party(drogen)-szenen oder sexuell hochaktive Jugendliche und Er-wachsene, Grippeschutzimpfungen für exponierte Berufsgruppen und ältere Menschen, Mammographie-Screenings bei Frauen mit familiärer Krebsbelastung u.v.a.m.)

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Indizierte Prävention

zielt auf Personen und Gruppen mit gesicher-ten Risikofaktoren bzw. manifesten Störungen oder Devi-anzen

versucht Maßnahmen einzuleiten, die bei spezifischen Hochrisikopersonen vorsorgend, frühbehandelnd oder schadensminimierend/rückfallpräventiv einwirken (Mentorenprogramme für erstauffällige jugendliche Drogenkonsumenten, Elterntrainings für deren Eltern, Kondomgebrauch bei sexuell aktiven HIV-Infizierten, Diätempfehlungen und (Selbsthilfe-)Gruppen zur Reduktion von Hypercholesterinämie, regelmäßige Kontrollen bei Hypertonikern, Screening und Früher-fassung von gesundheitlich auffälligen Menschen zur Einleitung von Behandlungen und Rehabilitations-maßnahmen u.v.a.m.)

Tabelle 2: Typologie von Präventionsschritten nach Spezifität und Maß der Gefährdung (nach: Walter/Schwartz 2003; Franzkowiak 2006)

Das Spezifitätsmodell ist in den angloamerikanischen Theorien und Systemen von Mental Health, Health Care, Health Care Social Work und Clinical Social Work weit verbreitet. In Deutschland war es bis in die 1990er Jahre vorwiegend in der Gemeindepsychiatrie und Suchthilfe vertreten, gewinnt in diesem Jahr-zehnt in der Suchtprävention an Bedeutung (Hanewinkel/Wiborg 2003; Büh-ler/Kröger 2006). Die Typologie ist pathogenetisch grundiert, in ihr dominiert die expertenbestimmte Unterstellung von Risiko und Krankheit. Ziel bleibt die Verringerung von nosologischen Inzidenzen und Prävalenzen. Daher ordnen Walter/Schwartz (2003) das Spezifitätsmodell der klassischen Trias von primä-rer, sekundärer und tertiärer Prävention nach. Es wird als Ausführungsmodell gewertet. Terminologisch wird differenziert nach Bevölkerungsstrategien und Risikogrupppenstrategien: bei letzteren wird gezielt bei Personengruppen mit durchschnittlichem, leicht erhöhtem Risiko oder bei Hochrisikopersonen inter-veniert. Der Übergang zwischen beiden Formen ist fließend.

Das klassische nosologische Strukturmodell (primär – sekundär – tertiär) und das nachrückende Spezifitätsmodell (universell – spezifisch – indiziert) stehen nicht in logischem Widerspruch. Zielgruppenstrategien ergänzen die drei-stufige krankheitsbezogene Perspektive. Eine durchaus nützliche, doch rein pragmatische Erweiterung findet statt, ohne eine prinzipielle Alternative zu for-mulieren. Strategien der Spezifität klären die Bedingungen der Ansprache, Zu-gangswege und Umsetzung von Präventionszielen – wobei die Ziele weiterhin krankheitsbezogen abgeleitet werden.

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2.3 Fokus: Primärprävention

Rosenbrock/Gerlinger (2004) plädieren für eine weiter gehende Fokussierung: für sie ist als Kernbegriff der modernen Prävention und Präventionspolitik allein die Primärprävention tauglich. Deren Zentrum bildet die Risikosenkung, welche sich in der Kombination von Belastungssenkung und Ressourcenstärkung entfal-tet (Abb. 1). Für betriebliche Prävention und Gesundheitsförderung haben Badu-ra/Strodtholz (1998) ein semantisch gleichartiges Begriffspaar vorgeschlagen: „Reduzierung und Vermeidung von Gesundheitsrisiken“ in Verbindung mit „Erschließung von Gesundheitspotentialen“.

Primärprävention

Risikosenkung

Belastungen senken Ressourcen stärken

Krankheitsvermeidung Gesundheitsförderung

Abbildung 1: Komponenten von Primärprävention Quelle: Rosenbrock/Gerlinger 2004: 67

Rosenbrock wendet sich offensiv gegen den gebräuchlichen, im Versorgungssys-tem geradezu zementierten, nosologischen Bezug, die verengende Orientierung auf definierte Krankheiten: „Primärpräventive, d.h. Belastungen senkende und Ressourcen vermehrende Aktivitäten und Strategien lassen sich nur in Ausnah-mefällen eindeutig bestimmten Krankheiten zuordnen. Primärprävention folgt nicht der Nosologie, sondern der Logik der Interventionsbereiche (z.B. Arbeit, Wohnen, Erholung, Ernährung, Bewegung etc.)“ (2004a: 6, Hervorhebung PF). Primärpräventive Maßnahmen wirken auf drei Interventionsebenen: beim Indivi-duum, im Setting bzw. in der Lebenswelt, in der Gesamtbevölkerung bzw. gro-

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ßen Bevölkerungsgruppen. Zugleich können sie einen unterschiedlichen Fokus haben – entweder auf Information, Aufklärung und Beratung zielend oder die Veränderung gesundheitsbelastender bzw. ressourcenhemmender Faktoren des jeweiligen Kontextes anstrebend.

2.4 Prävention und Gesundheitsförderung

Prävention und Gesundheitsförderung werden oft als synonyme Begriffe ge-braucht. In der Praxis ist es sinnvoll, die beiden nicht mehr scharf abtrennbaren Orientierungen bewusst zu kombinieren. So haben Interventions-Modelle in der Arbeitswelt, in denen Gesundheitsförderung mit Elementen der Verhaltens- und Verhältnisprävention kombiniert wurde, beachtliche und zeitstabile Wirkungen gezeigt. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswe-sen gewichtet in seinem Jahresgutachten 2000/2001 die krankheitsorientierte Herangehensweise, d.h. Prävention im engeren Sinn und den ressourcenaufbau-enden Ansatz (Gesundheitsförderung) als einander ergänzend (Sachverständigen-rat 2001).

Nach einer vergleichenden Betrachtung verschiedener Interventionsfelder (Setting-Ansätze, Suchtprävention, Oralprophylaxe etc.) benennen Bauch und Bartsch (2003) als so genannten Königsweg den auf die jeweilige Zielgruppe und das jeweilige Setting zugeschnittenen „spezifischen Mix“ von traditionaler Prävention/Gesundheitserziehung mit gesundheitsförderlichen Maßnahmen. Schon Waller (1995; 2002) gewichtete Gesundheitsförderung und Prävention als zwei komplementäre Strategien zur Verbesserung und Erhaltung der Gesundheit. Sie sind im Ansatz und den Strategien unterscheidbar, ergänzen sich auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel der Verbesserung von Gesundheit und gesundheit-licher Chancengleichheit in einer Bevölkerung. Gesundheitliche Aufklärung, Gesundheitserziehung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsberatung, Gesundheits-training, Patientenschulung, gesundheitsbezogene Selbsthilfe, gesundheitsorien-tierte Gemeinwesenarbeit, Gesundheitsförderung in Settings, Gesundheitspolitik – allesamt sind dies unterschiedliche Methoden und Zugangswege in der Umset-zung beider Hauptstrategien zu einem gemeinsamen Ziel.

Eine fruchtbare Weiterentwicklung stammt von Hurrelmann (2000), der Prävention und Gesundheitsförderung nach der Erzielung von Gesundheitsge-winn bzw. der Vermeidung von Gesundheitsverlust unterscheidet. Gesundheits-förderung dehne den „äußeren Möglichkeitsspielraum“ von Gesundheit aus und erziele Gesundheitsgewinn durch Verbesserung der Bedingungen für Gesund-heit. Krankheitsprävention hingegen dränge Krankheitsrisiken zurück, verenge die „innere Einschränkungszone“ und erziele so Gewinn von Gesundheit und

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gesundheitlichen Potentialen. In die gleiche Richtung argumentiert Rosenbrock, der Gesundheitsförderung als „Korrelat zur Belastungssenkung“ umschreibt.

Eine Gegenposition vertritt Hafen (2005). Er argumentiert aus systemtheo-retischer Sicht (sowie aus der Praxis von Suchtprävention) offensiv für eine Aufhebung der für ihn weder formal noch methodisch sauberen Unterscheidung. Nicht Prävention und/oder Gesundheitsförderung sei die Unterscheidung – kom-plementäre Eckpunkte des professionellen Handelns mit dem Ziel der Gesund-heitserhaltung bzw. Krankheitsvermeidung oder -bewältigung seien vielmehr Prävention und Behandlung. Das Beharren auf Eigenständigkeit, gar Besonder-heit von Gesundheitsförderung spiegele letztlich nur semantische Traditionen der letzten zwei Jahrzehnte oder sei der Anbindung an persönliche Karrieren und strukturelle Organisationsbildungen geschuldet, daher konzeptionell keineswegs zwingend.

3 Präventive Schwerpunkte und Zielbestimmungen

In der biomedizinisch geprägten Logik und Klassifikation von Gesundheit und Gesundheitsstörungen, v.a. im System der krankheitsbezogenen Versorgung, werden Vorsorgeziele aus vorgegebenen Risiko- oder Krankheitsbildern sowie der Position von Klienten/Patienten oder Rehabilitanden im Verlauf von Krank-heit bestimmt. Sie werden in dreifacher Verschränkung abgeleitet:

aus dem nosologischen Bezug zu spezifischen Krankheiten und Krankheits-folgen, hinsichtlich der Sequentialität im Verlauf einer Krankheit oder eines Un-falls, den daraus folgenden Funktionseinschränkungen und Behinderungen und differenziert nach Settings (Orten, Arbeitsfeldern) und Methoden der medi-zinisch bestimmten Prävention, Kuration und Rehabilitation.

3.1 Nosologische Prioritätensetzungen

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen iden-tifiziert in seinem Gutachten 2000/2001 sechs prioritäre Krankheitsgruppen, für die ein erheblicher Verbesserungsbedarf in Versorgung und Versorgungsintegra-tion sowie ein zu wenig ausgeschöpftes Potenzial an Prävention bestünde: ischämische Herzerkrankungen; zerebrovaskuläre Erkrankungen, insbesondere Schlaganfall; chronische, obstruktive Lungenerkrankungen einschließlich Asth-

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ma bei Kindern und Erwachsenen; Krebserkrankungen (Lungenkrebs, Brust-krebs und übergreifende Aspekte der Versorgung Krebskranker); Rückenleiden; depressive Störungen. Diese Krankheitsgruppen verursachen etwa zwei Drittel aller krankheitsbezogenen Ausgaben in Deutschland, incl. Arbeitsfehlzeiten und Krankenhausaufenthalte. Als zusätzliche präventive Prioritäten nennt das Gut-achten: Erhaltung und Stärkung von Kariesprophylaxe, Paradontologie und Zahnerhaltung; Sicherung der Impfprävention und Erhöhung von Durchimp-fungsraten.

Vergleichbare Zielbestimmungen stellen die Spitzenverbände der Gesetzli-chen Krankenversicherung in einem 2003 erstmals vorgelegten, 2006 aktualisier-ten „Leitfaden Prävention“ vor (AGSK 2006). Die GKV-Bedarfsermittlung be-nennt fünf Krankheitsgruppen als epidemiologisch besonders bedeutsam. Allen Bereichen werden präventive Empfehlungen zugeordnet (Tab. 3), wobei die einzusetzenden Methoden den Prüfkriterien der Evidenzbasierung genügen müs-sen.

Krankheitsbilder von besonderer epidemiologischer

Bedeutung

Empfohlene präventive Interventionen

Herz-Kreislauferkrankungen (insbesondere Herzinfarkte, Schlaganfälle und Krankheiten des zerebrovaskulären Systems)

Vermeidung von Rauchen, Übergewicht, Bluthochdruck, Bewegungsmangel, übermäßigem Alkoholkonsum, Disstress (vor allem in Bezug auf Herzinfarkte und Schlag-anfälle)

bösartige Neubildungen Förderung einer ballaststoffreichen, fettarmen Ernährung zur Vermeidung von Colon-Rektumkarzinomen und Nichtrauchen zur Vermeidung von Lungenkarzinomen

Krankheiten der Muskeln, des Skeletts und des Bindegewebes

Vermeidung von Übergewicht, Verhütung von Gelenkver-letzungen, Kräftigung der Muskulatur (vor allem in Bezug auf Arthrosen und Dorsopathien)

Diabetes mellitus, insbesondere Typ II

Vermeidung des metabolischen Syndroms (Kombination aus Adipositas, Hyperlipoproteinämie, Hypertonie und Hyperurikämie, die mit Insulinresistenz, Glukosetoleranz-störung bzw. einem manifesten Diabetes einhergeht) durch Förderung von Bewegung und ausgewogener Ernährung, Zurückdrängung der o.g. Risikofaktoren

Depressionen und Angststörungen

Förderung individueller Kompetenzen der Belastungsver-arbeitung zur Vermeidung von Disstress

Tabelle 3: Epidemiologisch bedeutsame Krankheitsbilder und Schwerpunkte für Prävention aus Sicht der Spitzenverbände der Krankenkassen Quelle: AGSK 2006

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Die nosologischen Systematiken erscheinen erschöpfend, sie sind in sich aber nicht spannungs- oder widerspruchsfrei. Aus Sicht der Sozialepidemiologie wird grundlegende Kritik geübt: eine primär nosologische Bestimmung sei reduktio-nistisch und habe nur eingeschränkte präventive Güte. Ihr müsse gleichgewichtig eine Einschätzung der sozialepidemiologischen, lebenslagen- und lebenslaufbe-zogenen Risikolagen bzw. Gefährdungspotentiale zur Seite treten. Der sozialepi-demiologische Zusammenhang zwischen (benachteiligenden, einschränkenden) sozialen Lagen, Milieus sowie Optionen und (eingeschränkten) Gesundheits-chancen sowie (erhöhten, kumulierenden) Risikokonstellationen ist eindeutig und reicht quer durch verschiedenste Krankheiten und Funktionseinbußen (Mielck 2000; 2004). Auch bei psychischen Störungen und psychiatrischen Er-krankungen stellen sozial ungleich verteilte Ressourcen unverändert ein zentrales Krankheitsrisiko dar (Keupp 2005). Zudem erweisen sich bestimmte Lebenspha-sen als besonders vulnerabel für das Auftreten bestimmter Krankheitsbilder oder -syndrome. Biographisch zeigen sich differenzierende Wirkungen von subjekti-ven Gesundheitskonzepten bzw. soziokulturell vermitteltem Krankheits- oder Hilfesuchverhalten im Kontext allgemeiner Lebensweisen und Bewältigungs-formen.

Nosologische Zielfestlegungen sind und bleiben notwendig im Grundgerüst der klassischen Prävention. Sie müssen jedoch biographisch-entwicklungs-bezogen flankiert sowie sozial-ökologisch grundiert werden. Erst in der Zusam-menschau aller potentiellen Determinanten ist eine valide, hinreichend differen-zierte Ziel- wie Zielgruppenbestimmung möglich.

3.2 Lebenslagenbezogene Zielbestimmungen

Die Sozialepidemiologie hat klare Belege, dass gesundheitliche Ungleichheit, vor allem durch Lebenslagen und Lebensbedingungen, nur zu einem deutlich kleineren Teil durch individuelles Gesundheitsverhalten erklärt werden kann. Zwar lassen Lebensbedingungen durchaus Spielräume für persönliche Entschei-dungen im Gesundheits- oder Risikoverhalten, letztlich prägen und bestimmen sie aber den Rahmen für die Lebensweisen, und darin für individuelles Verhalten mit Gesundheitswirkung. Der in der Prävention seit Jahren herrschende wissen-schaftliche Streit um die angeblich höhere Bedeutung (der Beeinflussung) von Gesundheitsverhalten gegenüber (einer Beeinflussung und Politik zur Verbesse-rung von) Lebenslagen ist Ideologie: „Das Gesundheitsverhalten basiert häufig nicht nur auf freien Entscheidungen, sondern es wird maßgeblich geprägt durch die Lebenslage. Ohne Berücksichtigung dieser komplexen Ursachen des Ge-

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sundheitsverhaltens besteht somit die Gefahr, dass dem ‚Opfer die Schuld zuge-schoben wird’ (blaming the victim)“ (Mielck 2004: 216).

Rosenbrock (2004b) empfiehlt den Gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, sich bei ihrem gesetzlichen Auftrag in der primären Prävention nach § 20 SGB V (und dem evtl. kommenden Präventionsgesetz) auf Interventi-onen für sozial und gesundheitlich besonders benachteiligte Gruppen zu konzent-rieren. Für eine derartige lebenslagenbezogene Zielgruppenbestimmung kommen vorrangig folgende Gruppen in Betracht (Auflistung nach Rosenbrock 2004b; drei zusätzliche Nennungen auf Grund von risikoerhöhenden Lebenslagen):

Personen mit sehr niedrigem Einkommen (z.B. Sozialhilfeempfänger und ihre Familienangehörigen); Personen mit sehr niedrigem sozialen Status (z.B. ungelernte ArbeiterInnen, Mini-JobberInnen); Personen mit sehr niedriger Schulbildung (z.B. Personen ohne qualifizierten Hauptschulabschluss); Personen mit anderen sozialen Benachteiligungen (z.B. Arbeitslose, Allein-erziehende, MigrantInnen mit unsicherem Aufenthaltsstatus und/oder schlechten Deutschkenntnisse; Menschen mit Behinderung; alleinerziehende Eltern (v.a. alleinerziehende Mütter); Suchtkranke und Suchtgefährdete (z.T. in Merkmalsüberschneidung mit anderen Gruppen); Menschen in Armutslagen und Wohnungslosigkeit, insbesondere ältere Arme.

4 Handlungskontexte und struktureller Rahmen von Prävention

Die Kontexte von präventiven Tätigkeiten im strukturell und ideologisch vorran-gig kurativ und rehabilitativ formierten Gesundheitswesen lassen sich nach ihrer Wirkung auf Mikro-, Meso- und Makroebene ordnen:

Prävention bei einzelnen Menschen, spezifischen Adressaten und Zielgrup-pen; Prävention in Settings, Organisationen und Gemeinschaften; Prävention im Sektor von Warenproduktion und –verteilung und Dienstleis-tungen;

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Prävention im Sektor lokaler, regionaler, nationaler und supranationaler Gesundheitspolitik einschließlich anderer, direkt wie indirekt gesundheits-wirksamer Politikfelder.

Es wird im deutschen Gesundheitswesen zwar umfangreich und in vielen Fel-dern Prävention betrieben, dennoch existiert keine durchgängige sozialrechtlich verankerte und Ressourcen bindende, also: genuin präventive Infrastruktur. In nahezu allen Einrichtungen und Kontexten der Kuration und Rehabilitation, in Psychiatrie und Geriatrie, zunehmend auch im organisierten Bildungswesen und in Teilen der Arbeitswelt werden präventive Maßnahmen geplant, durchgeführt, in die organisatorisch-systemischen Abläufe integriert. Strukturell hat Prävention aber nur eine nachrangige Bedeutung und ist mangelhaft verankert. Kaum eine der Kerninstitutionen des Gesundheitssystems ist primär präventiv ausgerichtet – Prävention wird in der Regel ausgelagert in psychosoziale und pädagogische Randgebiete der Gesundheitsversorgung.

Im sequentiellen Versorgungsverlauf existieren keine Vorsorgeeinrichtun-gen, die auch nur annähernd gleichen Rang und Macht hätten wie die bestehen-den kurativen „Versorgungsfestungen“. Kerngeschäfte im Gesundheitswesen sind Kuration und Rehabilitation: die gesundheitliche Vorsorge ist eine mögli-che, ergänzende, auch optimierende Komponente – jedoch (noch) kein eigen-ständiger, eigene Strukturen prägender Aspekt. Ihr nachgeordneter Status spie-gelt sich auch darin, dass Ziele, Maßnahmen, Institutionen und Finanzierung vielfältigen, fragmentierten sozialrechtlichen Vorgaben unterliegen. Ein verein-heitlichendes Präventionsgesetz („4. Säule“) wird seit Jahren geplant und ist zuletzt 2005 gescheitert (siehe auch Homfeldt/Steigleder in diesem Band). Sozi-alrechtlich besteht ein Nebeneinander unterschiedlicher, z.T. widersprüchlicher Begrifflichkeiten in sieben der 12 Sozialgesetzbücher. Im Gesamten muss man weiterhin, mit der Formel von Walter (2003), vom präventiven „Babylon im SGB“ sprechen.

5 Methoden: Mehr-Ebenen-Systematik

Es gibt drei grundlegende Ansätze präventiver Methodik:

medizinische Prävention als Einsatz medizinischer Mittel der Diagnostik und (Früh-)Behandlung, z.B. über Schutzimpfungen; Verhaltensprävention als Veränderung von Verhaltensmustern und/oder Gesamt-Lebensweisen bei Einzelpersonen und Gruppen mit Ziel und Steue-rung von Krankheitsvermeidung;

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Verhältnisprävention als Gesamt struktureller Eingriffe zur Veränderung der ökologischen, sozialen, kulturellen und technisch-materiellen Umwelten („Settings“), der Beeinflussung von sozialen und kulturellen Regeln, Geset-zen und sozialen Systemen und der Intervention in Einrichtungen der ge-sundheitlichen Versorgung.

Fließende Übergänge zur Gesundheitsförderung bestehen in erheblichem Maße bei der Verhältnisprävention (z.B. bei Maßnahmen in Settings wie Betrieben oder der Schule). Aber auch Interventionen, die als Verhaltensprävention ange-legt sind, können über Gesundheitserziehung, Gesundheitsberatung oder Patien-tenschulung hinausgehen, wenn sie eine systemische und kompetenzfördernde Perspektive einnehmen.

Leppin (2004) hat eine vertiefende Mehr-Ebenen-Systematik der gebräuch-lichen Handlungsansätze in der Prävention vorgelegt. Alles methodisch-präventive Handeln zielt nach Leppin darauf ab, individuelles Verhalten zu ver-ändern, die physikalische oder soziale Alltagsumwelt präventiv umzugestalten, präventive gesundheitliche Versorgungsstrukturen (z.B. Vorsorgeuntersuchun-gen, Impfungen) zu initiieren oder ihre Inanspruchnahme zu verbessern. Dabei lassen sich personen- und strukturbezogene Verfahren unterscheiden, die in Wechselwirkung und Komplementarität zueinander stehen. Personen- und grup-penbezogene Praxisansätze umfassen edukative Verfahren (psycho- bzw. sozio-edukative Maßnahmen) und Aktivierungs- und Mobilisierungsprozesse. Struktu-relle und lebensweltbezogene Praxisansätze bestehen aus normativ-regula-torischen Verfahren und ökonomischen Anreiz- und Bestrafungssystemen.

Psychoedukative Verfahren stehen im Kern von Verhaltensprävention. Ihre Hauptziele sind: Aufklärung und Wissensvermittlung, Aufbau von förderlichen und Veränderung riskanter gesundheitlicher Einstellungen und Motivationen, Vermittlung von Handlungskompetenzen zur Erhaltung/Wiederherstellung von Gesundheit, Vermittlung von Bewältigungskompetenzen bei eingeschränkter Gesundheit oder andauernder funktioneller Beeinträchtigung. Das methodische Arsenal umfasst: Informationsgabe und Aufklärung z.B. über Risikofaktoren oder angemessenes Gesundheitsverhalten, individuelle Gesundheits- und Patien-tenberatung (auch Suchtberatung oder Beratung von Menschen in Krisensituati-onen) sowie Gesundheits- und Verhaltenstrainings (Verhaltenseinübung, Selbst-management, Kompetenzförderung, Programme zur Stressbewältigung, Patien-tenschulungen).

Sozioedukative Verfahren dienen dazu, in Gruppen oder Organisationen präventive Prozesse anzustoßen und zu verankern. Exemplarische Strategien sind gesundheitsbezogene Quartiersentwicklung, anwaltschaftliches Handeln im Kon-text von gesundheitsbezogener Gemeinwesenarbeit sowie Aktivierung von „Be-

Prävention im Gesundheitswesen 209

troffenen“ zur Verbesserung präventiver und rehabilitativer Information und Versorgung. Methodische Ansätze umfassen Mobilisierung und Partizipation von Betroffenen, Lobbyarbeit bei Entscheidungsträgern, Bildung professioneller und politischer Netzwerke und Koalitionen. Die Grenze zur Gesundheitsförde-rung, insbesondere zur sozialpolitischen Aktivierung und Mobilisierung, ist flie-ßend. Gleichfalls sind, etwa wenn nachhaltige lokale Strukturen gebildet werden (z.B. Gesundheitsbüros und -treffpunkte, Selbsthilfe-Kontaktstellen u.a.), Aspek-te struktureller Prävention mitberührt.

Bei der strukturellen Prävention stehen nach Leppin eher normativ-regulatorische Maßnahmen im Mittelpunkt (Gesetze, Vorschriften, Ge- und Ver-bote mitsamt Androhung von Sanktionen). Als exemplarische Beispiele lassen sich für die Verhaltensprävention Rauchverbote, Anschnallpflicht und Promille-grenzen im Straßenverkehr anführen. Zur Verhältnisprävention tragen Schad-stoffverordnungen, Vorschriften der Lebensmittelüberwachung, Gesundheits- und Arbeitsschutzgesetzgebung, Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen von loka-len Bau- und Ansiedlungsmaßnahmen oder Regelungen des gesetzlichen Ju-gendschutzes bei. Unter ökonomische Anreiz- und Bestrafungssysteme fallen Preisregulierungen (Verteuerung eines gesundheitsschädlichen Produktes, z.B. bei Tabakwaren und Alkohol), Beitragsermäßigungen bei Inanspruchnahme prä-ventiver Angebote oder Steuersenkungen.

6 Die Position der Sozialen Arbeit in der Prävention

6.1 Soziale Arbeit und Gesundheit

Für die Soziale Arbeit hat die Verbindung mit dem Gesundheitswesen eine lange Tradition. Gesundheitsfürsorge, Armen- und Jugendfürsorge bilden die drei Säulen in der Entstehungsgeschichte der modernen Sozialen Arbeit. Gesundheit war und ist für die Soziale Arbeit immer ein Kernthema (Sting/Zurhorst 2000; Homfeldt/Sting 2006). Nicht nur für die Profession, auch in den modernen An-sätzen zur Formulierung einer Sozialarbeitswissenschaft ist die Verklammerung von sozialen Notlagen und sozialer Benachteiligung mit gesundheitlicher Beein-trächtigung konstitutiv. Der Gesundheitszustand einer Bevölkerung oder um-schriebener Gruppen gilt der Sozialen Arbeit seit je als Indikator und Seismo-graph für zu bearbeitende soziale Problemlagen.

Sozialprofessionelle Tätigkeit im Gesundheitswesen unterliegt einem struk-turellen Konflikt: Die Systeme von Gesundheitsversorgung und sozialer Siche-rung gründen auf und folgen einer die Klienten und ihre Lebenslagen fragmen-tierenden Ordnung. In der Gesundheitsversorgung werden die bio-psycho-soziale

210 Peter Franzkowiak

Einheit von Gesundheit und gesundheitlicher Störung und das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum parzelliert und zur gesellschaftlichen und professionellen Bearbeitung in getrennten Bereichen freigegeben. Damit geht eine hierarchische Verdrängungslogik und professionelle Abwertung einher, für die Ortmann und Schaub (2002: 68) folgende pointierte Zusammenfassung gefunden haben: „Der biologische Zugang (kann als) der gesellschaftlich akzeptierte, der psychologi-sche der in Grenzen gewollte und der soziale als der vernachlässigte angesehen werden“. Jede soziale Gesundheitsarbeit und ihre präventiven Anteile und Stra-tegien sind innerhalb des ständisch-hierarchisch organisierten, biomedizinisch grundierten Gesundheitssystems dieser Logik unterworfen.

Dennoch ist gesundheitsbezogene Soziale Arbeit sinnvoll und wirksam – al-lerdings müssen ihr Wirkungsgrad und das Ausmaß ihrer jeweiligen Eigenstän-digkeit je nach Setting klassifiziert werden. Hierzu haben Homfeldt und Sting (2006: 17) einen hilfreichen Differenzierungsvorschlag vorgelegt (siehe ausführ-lich Homfeldt und Steigleder in diesem Band) (Tab. 4).

Soziale Arbeit im Gesundheitswesen

Tätigkeiten in etablierten Gesundheitsdiensten wie Krankenhaus, Rehabilitation, dem Öffentlichen Gesundheitsdienst und gesund-heitsbezogenen Beratungsstellen

Gesundheitsarbeit im Sozialwesen

Direkte und indirekte gesundheitliche Wirkungen von Sozialer Arbeit in ihren eigenen etablierten Feldern wie Familien- und Jugendhilfe, psychosozialer Versorgung oder Gemeinwesenarbeit

Sozialpädagogische Gesundheitsförderung

Präventive Strategien und Konzepte in Settings wie Schule und Gemeinde, Betrieben und Organisationen, Netzwerkarbeit und Empowerment

Tabelle 4: Systematik der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit Quelle: Homfeldt/Sting 2006

6.2 Soziale Arbeit in der gesundheitsbezogenen Prävention

Prävention sei „der vermutlich am besten etablierte, eigenständigste Bereich gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit“ – mit dieser These beschließen Homfeldt und Sting (2006: 209) ihre Durchsicht der unterschiedlichen Praxisfelder ge-sundheitsbezogener Sozialer Arbeit. Als Belege führen sie drei Aufgabenfelder an: Sucht- und Aidsprävention sowie Gewaltprävention. Für diese Bereiche ist den Autoren uneingeschränkt zuzustimmen. Insbesondere für primärpräventive, universelle und selektive Ansätze in der Suchtprophylaxe konnten Sting und Blum (2003: 92ff.) das Postulat eindrucksvoll belegen – nicht nur konzeptionell,

Prävention im Gesundheitswesen 211

auch mit genuin sozialarbeiterischen Praxisstrategien für die Settings Schule, ambulante und stationäre Jugendhilfe sowie offene Jugendarbeit, betriebliche Suchtprävention sowie Gemeinwesen- und Stadtteilarbeit mit institutioneller Integration und Vernetzung. Ergänzend zu nennen sind die neueren, erfolgrei-chen Handlungsansätze der Früherfassung und Frühintervention bei jugendlichen Risikokonsumenten und erstauffälligen Drogenkonsumenten (Ginko 2003; Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2003) sowie die Einrichtung und Vernet-zung von Sozialen Frühwarnsystemen, zunächst in Nordrhein-Westfalen imple-mentiert als Modellprojekt früher Hilfen für Familien in Risikolagen, mittlerwei-le sich überregional ausweitend (MFJFG NRW 2003; MGFFI NRW 2006a; 2006b).

Für das institutionalisierte Gesundheitswesen und darin die Krankheitsprä-vention gilt der optimistische Befund aber nur mit erheblichen Einschränkungen. In diesem Kernbereich zählt die Soziale Arbeit seit je zu den Assistenzprofessio-nen, ist Weisungsempfänger, bestenfalls angeleiteter „Partner“ (Reinecke 1994; 2003). Die Präventivmedizin instrumentalisiere nicht-medizinische Fachkräfte in erheblichem Maße und verenge deren Tätigkeit vielfach auf „technologische Medicopädagogik“, stellte Hörmann (1997) heraus. Von Ortmann und Schaub (2002) stammt die zugespitzte Formulierung einer Ableistung „jahrzehntelanger Magddienste für die Medizin“. Die Soziale Arbeit hat zwar anfänglich der zu-nächst als Gegenmodell zur Prävention konzipierten Gesundheitsförderung einen eigenen Stempel aufgedrückt (Lebensweltorientierung, Gemeindebezug, Empo-werment und Partizipation) – dies scheint aber nur noch konzeptionshistorisch von Belang zu sein (Böllert 1995; Mühlum et al. 1998; Franzkowiak/Wenzel 1989; 2005).

Die präventiven (Teil-)Leistungen, die von SozialarbeiterInnen und Sozial-pädagogInnen in Einrichtungen und Handlungsfeldern des Gesundheitswesens geleistet werden, unterliegen den Zwängen des hegemonial organisierten und hierarchisch durchstrukturierten Systems der Gesundheitsversorgung. Definiti-onsmacht und Aktivitäten der individualisierten, kurativ orientierten klinischen Medizin bestimmen die Perspektiven auf Gesundheit, Risiko und Krankheit. Sie regulieren Handlungsvorgaben und Systeme der Vorsorge und Versorgung, und sie markieren die Hierarchie der beteiligten Berufsgruppen und der von ihnen abgerufenen Kompetenzen. Wie Hey (2001) herausgearbeitet hat, besteht zwi-schen Biomedizin und Sozialer Arbeit ein strukturell bedingtes prekäres Verhält-nis – begründet in je eigenen, hoch differenten symbolischen Ordnungen sowie „prinzipiell inkompatiblen“ Erklärungsmodellen. Soziale Arbeit wird zum einen im Gesundheitswesen genutzt als (und beschränkt auf ein) soziales Schnittstel-lenmanagement im sequentiellen Krankheits(versorgungs)prozess. Sie ist ande-

212 Peter Franzkowiak

rerseits Zuarbeit in allen psycho- und sozioedukativen Maßnahmen vor, in und nach klinischen Akutbehandlungen und in der Rehabilitation.

Handlungsführende Prävention im engeren Sinne., also mit direkter, unab-hängiger oder zumindest professionell gleichberechtigter Steuerung durch die Soziale Arbeit existiert neben der Sucht- und Aidsarbeit nur in ausgewählten, für das Gesundheitswesen eher randständigen Feldern: in den gemeinwesenorientier-ten, sozialräumlichen und Netzwerk fördernden Ansätzen von interprofessionel-ler Gesundheitsförderung und Gemeindeentwicklung („Gesunde Städte“, „Sozia-le Stadt“). Diese Ansätze zeichnet eine deutliche Distanz zur enggeführten medi-zinischen Prävention aus. Betont wird die Schnittmenge und Methodenkompati-bilität zur frühen, lebensweltorientierten Gesundheitsförderung (Trojan/Legewie 2001, Herriger 2002, Lenz/Stark 2002). Gleichermaßen wichtig, zu Unrecht oft übersehen, sind die nicht-intendierten, indirekten Gesundheitswirkungen allge-meiner Sozialer Arbeit: „Der Bereich der unspezifischen Primärprävention als Leistung der Sozialen Arbeit wird häufig gar nicht als Prävention wahrgenom-men, da diese Arbeit auch in Arbeitsfeldern wie z.B. der Kinder- und Jugendar-beit, der Erwachsenenbildung, der Stadtteilarbeit stattfindet, die scheinbar gar nichts mit Gesundheitsproblemen zu tun haben“ (Brieskorn-Zinke/Köhler-Offierski 1997: 78).

Eigenständig sozialprofessioneller Kern einer in Ansätzen zu formulieren-den „Präventiven Sozialen Gesundheitsarbeit“ ist die lebensweltorientierte Um-setzung dessen, was Rosenbrock als Primärprävention definiert: Interventionen und methodisches Ansetzen nicht entlang der zeitlichen Verläufe von spezifi-schen Krankheiten, nicht angeleitet durch fremdbestimmte Ziele und Kontexte – sondern Aktivierung und Unterstützung von Menschen zur Lebensbewältigung, Belastungssenkung und Ressourcenstärkung in ihren realen Settings und Le-benswelten. Konträr zur allein nosologisch-biographischen Prävention am Indi-viduum werden Lebenswelten als Determinanten von Gesundheits- und Risiko-verhalten, Krankheitshandeln und Krankheitsbewältigung verstanden. Kategorial sind sie damit im Kern von Interventionen und können keinesfalls auf die Positi-on von Mediator- oder gar Störvariablen reduziert werden.

6.3 Eigenständige Handlungsfelder und Ansätze

Rosenbrocks Schlüsselbegriffe (Belastungssenkung und Ressourcenerhöhung) definieren sowohl den Kern von Gesundheitsförderung als auch von lebenswelt-orientierter Sozialer Arbeit. Die Praxis gelungener präventiver Sozialer Gesund-heitsarbeit belegt die Wirksamkeit einer Fokussierung auf sozialräumliche und soziallagenbezogene Sozial- und Gemeinwesenarbeit. So existiert längst eine

Prävention im Gesundheitswesen 213

breite (wenn auch fragmentierte und kaum untereinander kommunizierende oder sich vernetzende) Infrastruktur von Maßnahmen (Tab. 5).

Strukturbildende settingorientierteInterventionen

Infrastrukturen des kommunalen gesundheitlichen Wandels im „Gesunde Städte-Netzwerk“ Verknüpfung von Stadtteilentwicklung und Gesundheits-förderung in sozial benachteiligten Quartieren Quartiersorientierte personale Prävention und strukturelle Gesundheitsförderung durch Gesundheitstreffpunkte Gesundheitsberatung und Suchtprävention im sozialen Brennpunkt durch Gesundheitsberatungsstellen des Öffent-lichen Gesundheitsdienstes Bewegungs- und Gesundheitsförderung im Rahmen des großstädtischen Quartiersmanagements Tertiärprävention im Gemeindepsychiatrischen Verbund durch Allgemeinen Sozialdienst, Sozialpsychiatrische Dienste und Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen

Zielgruppenbezogene settingorientierteMaßnahmen

Sozialräumliche Aktivierung und psychomotorische Bewe-gungsförderung bei benachteiligten Kindern und Jugendli-chenPrävention für Kinder und Jugendliche in sozialen Brenn-punkten mit Schwerpunkt auf Ernährungsverhalten Kultursensible, aufsuchende Gesundheitsberatung und Hilfsangebote für MigrantInnen und ZuwandererInnen Gemeinwesenorientierte präventive Altenarbeit kombiniert mit wohnortnaher Pflegeprävention im Quartier

Tabelle 5: Exemplarische Interventionen der präventiven Sozialen Gesundheitsarbeit, Quelle: Franzkowiak 2006: 83-109

Umsetzungsstrategien dieser Art betonen Befähigung, Vernetzung und gemein-debezogenes Empowerment. Sie sind Muster für eine sozialarbeiterisch hand-lungsleitend geführte Prävention mit Gesundheitsbezug in realen Lebenswelten und Lebensräumen. Homfeldt (2002) betont, dass in benachteiligten Gemeinwe-sen gesundheitsfördernde Soziale Arbeit geradezu gleichzusetzen sei mit Primär-prävention, da sie wirksam gegen risikoerhöhende und krankheitserzeugende Co-Faktoren wie etwa defizitäre Wohnbedingungen vorgeht. Im sozialräumlichen Ansatz werden vorrangig niedrigschwellige, zielgruppenspezifische Maßnahmen entwickelt und eingesetzt.

Sozialräumliches Arbeiten folgt acht Leitstandards, die Lüttringhaus (2001) aus der Praxis der deutschen Gemeinwesenarbeit kondensiert hat: Sozialraumbe-zug, Bedürfnisorientierung, Aktivierung zur Selbstorganisation und Selbsthilfe, Ressourcennutzung, Infrastrukturverbesserung, Förderung von sozialem Klima und Identität, sektorenübergreifendes Handeln, Netzwerkförderung. Die Stan-

214 Peter Franzkowiak

dards verlassen den Risikofaktoren-Kosmos der biomedizinischen Prävention. Zwar kann zu Recht reklamiert werden, dass solche Leitlinien und ihre Ziele nicht direkt krankheitsbezogen, empirisch nicht auf die letzte Nullhypothese „sauber“ operationalisiert und zufallskritisch überprüft werden können. Aus der Perspektive eines systemischen, bio-psycho-sozialen bzw. Belastungs-Ressour-cen-orientierten Gesundheitsverständnisses ändert diese evidenzformale Ein-schränkung nichts daran, dass sie krankheitspräventiv und bewältigungsstärkend wirken.

6.4 Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit – Präventive Gesundheitssozialarbeit

Homfeldt (2004) definiert vor diesem Hintergrund gesundheitsbezogene Soziale Arbeit als eine entwicklungsbezogene Profession und Disziplin, die sich keines-falls in paramedizinischer Assistenz, Reparaturdienstleistung oder Einzelfallar-beit erschöpfe. Ihre primäre, eigenständige Leistung in Prävention und Gesund-heitsförderung sei, sozial-ökologisch zu wirken, im Sinne einer Verbesserung von Lebensräumen aktiv zu werden. Dafür ist die Gemeinwesenarbeit „ein be-deutender Impulsgeber“, sind Kompetenzförderung, Aktivierung und Empo-werment sowie die Stärkung von Partizipation und Teilhabe „grundlegende Eck-punkte“. Empowerment ist die professionelle Strategie des „Anstiftens“ zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebens. Ziele sind die Erweiterung und Erhaltung von Potenzialen der Selbst-stärkung und autonomen Lebensführung sowie gegenseitiger Unterstützung durch: Orientierung an Stärken; Akzeptieren unkonventioneller Lebensentwürfe; Arrangieren von flexiblen Alltagshilfen; biographisches Arbeiten; Unterstützung von Freundschafts- und sozialen Netzwerken (Herriger 2001; 2002; vgl. auch Keupp 2005).

Über einen Zentralbegriff der Sozialpädagogik nähert sich Sting (2000) der Begründung von gesundheitsbezogener Sozialen Arbeit (und darin der Präventi-on). Komplementär zum sozialräumlichen Handeln und Aktivieren akzentuiert Sting Konzept und Praxis einer „gesundheitsbezogenen sozialen Bildung“ – diese jedoch nicht als Sonderfall von schulischer oder Erwachsenen-Bildung, vielmehr „als Bestandteil des umfassenden Prozesses der Bildung der Gesamt-person“ (Homfeldt/Sting 2006: 118). Seine Leitbegriffe speisen sich aus der klassischen Pädagogik Schleiermachers und der Sozialpädagogik Mollenhauers. Als Ziel und Methode sozialer Gesundheitsarbeit gilt Sting die soziale Bildung der körperbezogenen Lebenspraxis.

Die Frage nach gesundheitsförderlichen Lebenspraxen wird in diesem Kon-text offensiv pädagogisch, sozial und historisch reflexiv gestellt – als Kontrast

Prävention im Gesundheitswesen 215

und im Widerstand gegen die Negativausrichtung und Lebensweisenfragmentie-rung der Biomedizin, gegen ihre De-Thematisierung sozialpolitischer Rahmen-bedingungen sowie unter Infragestellen der impliziten Normativitätserwartungen und anderer negativer Verzerrungen innerhalb der klassischen Prävention. Hier greift der diskursive sozialpädagogische Ansatz einer Bildungsarbeit, die von ihrer Ausrichtung Anregung zur Selbstbildung und Bereitstellung von Ent-wicklungs- und Lernchancen ist. Im Gegensatz zur Gesundheits“erziehung“ begreift die Soziale Arbeit Bildung als eine nicht-normative, selbstreflexive Gestaltungsaufgabe für ein komplexes Gesamt von Lebensweise und Lebenspra-xis. Unverzichtbar für pädagogische Anstöße ist die Erkenntnis, „dass die jewei-ligen Lebenspraktiken und Gesellungsformen eine Auseinandersetzung mit der sozialen Position und den daraus resultierenden sozialen Chancen enthalten“ (Homfeldt/Sting 2006: 120). Somit kann das gesundheitsbezogene Handeln der Individuen und ihrer Gesellungen nicht von den persönlichen und gesellungsge-prägten Lebensweisen und Lebenspraxen abgespalten werden.

Im Zentrum jeder Sozialen Arbeit, auch der gesundheitsbezogenen und prä-ventiven, steht Ressourcenarbeit zur Lebensbewältigung (oft in prekären Lebens-lagen). Ihre Zielsetzungen sind nicht verengt nosologisch, vielmehr im besten Sinne generalistisch. Zur verbesserten Problembewältigung und nachhaltigen (Selbst-)Hilfe werden persönliche Stärken und Kompetenzen mobilisiert. In Verbindung damit steht die Erweiterung und Stabilisierung von kollektiven Handlungskompetenzen und sozialen Unterstützungsnetzen. Alle sozialprofessi-onellen Interventionen verfolgen das Oberziel einer Erhöhung gesellschaftlicher Teilhabe- und Bestimmungsmöglichkeiten.

Dabei verpflichtet sich die Soziale Arbeit, anders als Prävention und Ge-sundheitserziehung, nicht auf ein verhaltensreduktionistisches Normalitätsmodell bei Ausschluss anders gelagerter Lebensentwürfe oder Lebensweisenoptionen (Böllert 1995). In der Präventivmedizin und Rehabilitation wirken Sozialarbei-terInnen weiterhin sozio- und psychoedukativ, vermittelnd und vernetzend – wohl auch weiterhin mit eingeschränkter Autonomie und Gestaltungsmacht und einem eher nachgeordnetem Status. In ihren sozialräumlichen Ansätzen, in der quartiers- und gemeinwesenbezogenen Gesundheitsförderung, der aktivierenden Befähigung und gesundheitsbezogenen sozialen Bildung kann die Soziale Arbeit hingegen ihre fachliche Kompetenz erweisen, stärken und ausbauen. Dort und darin liegen ihre genuin präventionsrelevanten Handlungsfelder und Praxisstär-ken.

216 Peter Franzkowiak

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