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Prolog: Über denUmgang mit PädagogischerPsychologie · 2 Prolog:ÜberdenUmgang mit Pädagogischer...

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Prolog: Über den Umgang mit Pädagogischer Psychologie 1 Prolog: Über den Umgang mit Pädagogischer Psychologie Menschen nehmen ihre Umwelt aus verschiedenen Perspektiven wahr. Schule und Unterricht kann man beispielsweise (bildungs-)politisch, soziologisch, normativ pädagogisch, schulpädagogisch, didaktisch oder eben pädagogisch- psychologisch betrachten. Jede dieser Sichtweisen ist legitim, und jede hat ihren spezifischen Wert – aber nicht jede Perspektive ist für jeden unmittelbar glei- chermaßen überzeugend. Dieses Buch nimmt einen dezidiert psychologischen Standpunkt ein und handelt von dessen Nutzen im pädagogischen Alltag. Das Theorie-Praxis-Problem. Es ist nicht zu bestreiten: Weitaus die meisten Menschen kommen in ihrem Leben ohne wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychologie ganz gut zurecht. Ebenso gibt es viele Lehrerinnen und Lehrer, die ohne Kenntnisse der Pädagogischen Psychologie guten Unterricht halten. Jeder Mensch verfügt über Erfahrungswissen über sich selbst, seine Mitmenschen und soziale Beziehungen. Jede Lehrerin und jeder Lehrer hat Überzeugungen entwi- ckelt, wie Schüler „zu nehmen“ sind. Schüler und Schülerinnen wiederum wis- sen sehr wohl, wie man Lehrer ärgern oder „rumkriegen“ kann. Allesamt verfü- gen sie über ein umfangreiches psychologisches Alltagswissen, und von jeher kennt unsere Sprache eine Vielzahl von Lebensregeln und Weisheiten – auch für Erziehung und Unterricht. Wer nach einem Argument für Vorschulerziehung sucht, findet: „Was Hän- schen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ – Wer dagegen die Bedeutung des lebenslangen Lernens hervorheben möchte, kann kontern mit: „Man wird so alt wie eine Kuh und lernt immer noch was dazu.“ – Wer strenge Erziehung und strengen Unterricht bevorzugt, findet die Begründung: „Die beste Zucht sind gute Worte und harte Strafen.“ – Aber dem kann man entgegenhalten: „Wer sich mit Worten nicht ziehen lässt, dem helfen auch keine Schläge.“ – Die Wichtig- keit von Motivation wird belegt durch: „Lust und Liebe zu einem Ding machen die schwerste Arbeit gering.“ – Aber eigentlich braucht es keine Anstrengung, denn: „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“ Dieses Alltagsverständnis macht es der Pädagogischen Psychologie schwer, ihren Nutzen für die Praxis deutlich zu machen. Wenn jeder bereits über psy- chologisches Alltagswissen verfügt, warum sollte er sich dann noch mit Pädago- gischer Psychologie als Wissenschaft beschäftigen? Obwohl alltagspsychologische und wissenschaftliche psychologische Aussagen auf den ersten Blick oft gleich erscheinen, unterscheiden sie sich häufig auf den zweiten Blick deutlich voneinander. Da für den Einzelnen eigenes Erleben und
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Prolog: Über den Umgang mit Pädagogischer Psychologie 1

Prolog: Über den Umgangmit Pädagogischer Psychologie

Menschen nehmen ihre Umwelt aus verschiedenen Perspektiven wahr. Schuleund Unterricht kann man beispielsweise (bildungs-)politisch, soziologisch,normativ pädagogisch, schulpädagogisch, didaktisch oder eben pädagogisch-psychologisch betrachten. Jede dieser Sichtweisen ist legitim, und jede hat ihrenspezifischen Wert – aber nicht jede Perspektive ist für jeden unmittelbar glei-chermaßen überzeugend. Dieses Buch nimmt einen dezidiert psychologischenStandpunkt ein und handelt von dessen Nutzen im pädagogischen Alltag.Das Theorie-Praxis-Problem. Es ist nicht zu bestreiten: Weitaus die meistenMenschen kommen in ihrem Leben ohne wissenschaftliche Erkenntnisse derPsychologie ganz gut zurecht. Ebenso gibt es viele Lehrerinnen und Lehrer, dieohne Kenntnisse der Pädagogischen Psychologie guten Unterricht halten. JederMensch verfügt über Erfahrungswissen über sich selbst, seine Mitmenschen undsoziale Beziehungen. Jede Lehrerin und jeder Lehrer hat Überzeugungen entwi-ckelt, wie Schüler „zu nehmen“ sind. Schüler und Schülerinnen wiederum wis-sen sehr wohl, wie man Lehrer ärgern oder „rumkriegen“ kann. Allesamt verfü-gen sie über ein umfangreiches psychologisches Alltagswissen, und von jeherkennt unsere Sprache eine Vielzahl von Lebensregeln und Weisheiten – auch fürErziehung und Unterricht.

Wer nach einem Argument für Vorschulerziehung sucht, findet: „Was Hän-schen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ – Wer dagegen die Bedeutung deslebenslangen Lernens hervorheben möchte, kann kontern mit: „Man wird so altwie eine Kuh und lernt immer noch was dazu.“ – Wer strenge Erziehung undstrengen Unterricht bevorzugt, findet die Begründung: „Die beste Zucht sindgute Worte und harte Strafen.“ – Aber dem kann man entgegenhalten: „Wer sichmit Worten nicht ziehen lässt, dem helfen auch keine Schläge.“ – Die Wichtig-keit von Motivation wird belegt durch: „Lust und Liebe zu einem Ding machendie schwerste Arbeit gering.“ – Aber eigentlich braucht es keine Anstrengung,denn: „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“

Dieses Alltagsverständnis macht es der Pädagogischen Psychologie schwer,ihren Nutzen für die Praxis deutlich zu machen. Wenn jeder bereits über psy-chologisches Alltagswissen verfügt, warum sollte er sich dann noch mit Pädago-gischer Psychologie als Wissenschaft beschäftigen?

Obwohl alltagspsychologische und wissenschaftliche psychologische Aussagenauf den ersten Blick oft gleich erscheinen, unterscheiden sie sich häufig auf denzweiten Blick deutlich voneinander. Da für den Einzelnen eigenes Erleben und

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eigene Erfahrungen am überzeugendsten sind, liegt in solchen Fällen die Versu-chung nahe, die Aussagen der Pädagogischen Psychologie für realitätsfremd,praxisfern und irrelevant zu erklären.Der Weg zur Pädagogischen Psychologie. Das entscheidende Argument gegeneine einseitige Festlegung auf das psychologische Alltagswissen liegt in seinermangelnden Generalisierbarkeit. Einzelne Personen haben praktisch nie dieMöglichkeit, die Angemessenheit ihrer Annahmen zu überprüfen. So kann bei-spielsweise eine Lehrerin einige Jugendliche kennen, die geringes Leseverständnisund hohen Medienkonsum aufweisen. Von daher mag sie die Überzeugunggewinnen, dass hoher Medienkonsum geringes Leseverständnis zur Folge habe,und für die ihr bekannten Jugendlichen kann sie Recht haben. Aber gilt diesimmer? Gibt es Ausnahmen, und welche sind dies? Könnte es nicht gerade um-gekehrt sein, dass Jugendliche einen hohen Medienkonsum haben, weil ihreLesekompetenz so gering ist? Die Beantwortung solcher Fragen liegt außerhalbder Möglichkeiten individueller Erfahrung, aber prinzipiell innerhalb derer derPädagogischen Psychologie. Dies führt dazu, dass die Theorien und Befunde derWissenschaft begründeter und weitreichender sind als das vergleichbare Alltags-verständnis. Wer sich mit Pädagogischer Psychologie beschäftigt, wird auf Vielestreffen, was ihm auf den ersten Blick bekannt vorkommt. Auf den zweiten Blickwird er aber feststellen, dass die Sachverhalte doch etwas anders sind. Er wirdalso ihm Bekanntes umstrukturieren müssen und gewinnt dadurch mehr Si-cherheit und kann seine Ansichten besser begründen.

Pädagogische Psychologie ist eine → empirische Wissenschaft. Sie entwickeltTheorien und systematisiert mit deren Hilfe empirische Befunde, die wiederumdie (Weiter-)Entwicklung von Theorien vorantreiben, um empirische Sachver-halte und letztlich die pädagogische Praxis noch besser beschreiben, erklärenund beeinflussen zu können. Dies erfordert einerseits Fachbegriffe und anderer-seits spezifische Methoden zur Erhebung und Auswertung relevanter Daten. Wersich mit Pädagogischer Psychologie beschäftigt, wird bemerken, dass alltags-sprachlich bekannte Begriffe im wissenschaftlichen Kontext als Fachbegriffespezifischer und präziser definiert sind. Diesen Unterschied außer Acht zu las-sen, kann in die Irre führen. Ein Glossar mit psychologischen und methodischenFachbegriffen (im Text durch einen Pfeil → gekennzeichnet) am Ende des Bu-ches soll helfen, Missverständnisse zu vermeiden. Der Gewinn aus der Beschäfti-gung mit der Pädagogischen Psychologie liegt dann im präziseren Verständnisalltagspraktischen Handelns.Integration von Theorie und Praxis. Theorien allein ermöglichen noch keinpraktisches Handeln, und das Ableiten konkreter „Rezepte“ muss angesichts derVielfältigkeit und Individualität schulischer Realität scheitern. WissenschaftlicheKenntnisse können jedoch den Einzelnen befähigen, seine Praxis aus verschiede-

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nen Perspektiven wahrzunehmen und zu analysieren, um so eine höhere Hand-lungskompetenz zu erreichen. Wer nur eine Perspektive kennt, wird allzu oftsein Ziel verfehlen; wer hingegen eine Situation aus mehreren Blickwinkeln be-trachten kann, wird im konkreten Unterricht häufiger die Chance haben, flexibelund angemessen zu handeln.

Der Psychologe Heinz Heckhausen hat einmal geschrieben: „Praxis ohneTheorie macht auf die Dauer dumm“ und „Theorie ohne Praxis auf die Dauerblind“ (1974, S. 577). Wer weder dumm noch blind werden möchte, sollte dahertheoretische Kenntnisse und praktisches Handeln in seinen Vorstellungen integ-rieren.

Dieses Lehrbuch versucht, zur Integration von psychologischen Sichtweisenund pädagogischer Praxis beizutragen. Es ist nicht fachsystematisch gegliedert,sondern bildet ein einfaches Instruktionsmodell ab. Die Themen folgen einemZyklus, der bei der Diskussion genereller Voraussetzungen von Unterricht be-ginnt und mit der Beurteilung der erreichten Lernfortschritte endet.

Voraussetzungendes Unterrichts(Kapitel 1 und 2)

Individuelle Bedingungenschulischen Lernens(Kapitel 3 bis 5)

Beurteilen(Kapitel 12 bis 14)

Fördern, Unterrichten,Erziehen und Beraten(Kapitel 8 bis 11)

Schüler inSchwierigkeiten(Kapitel 6 und 7)

Unter den allgemeinen Voraussetzungen des Unterrichts werden einerseits dieBedeutung und Problematik von Zielsetzungen diskutiert, andererseits wird dieFrage gestellt, in welchem Ausmaß menschliche Entwicklung beeinflusst werdenkann. Jeglicher Unterricht hat wesentliche individuelle Bedingungen schulischenLernens auf Seiten der Schüler zu berücksichtigen. Behandelt werden die Merk-male → Intelligenz und Vorwissen, Motivation und Emotion. Der Blick aufSchüler in Schwierigkeiten spitzt die Frage nach individuellen Voraussetzungenauf Seiten der Schüler noch einmal zu. Analysiert werden Lese-Rechtschreib-und Rechenschwierigkeiten, Lernbehinderung sowie aggressives Verhalten undAufmerksamkeitsstörungen. Sind die individuellen Voraussetzungen der Schü-

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ler bekannt, werden strukturierte → Interventionen möglich. Sie werden im TeilFördern, Unterrichten, Erziehen und Beraten beschrieben. Dabei geht es aus-drücklich nicht um Unterrichtsmethodik oder Didaktik im engeren Sinne,sondern um erlernbare pädagogisch-psychologische Kompetenzen zur profes-sionellen Bewältigung schulischer Realität. Die Grundlagen zur Durchführungkonkreter Förderprogramme, unterschiedliche Formen der Klassenführung,Möglichkeiten des Umgangs mit Gewalt und Basiskompetenzen des Beratenswerden vorgestellt. Mit dem letzten Teil Beurteilen schließt sich der Kreis.Unterricht als kontrollierte Praxis muss sich fragen (lassen), ob er in die richtigeRichtung weist und inwieweit die gesteckten Ziele erreicht worden sind. Dieserfordert eine hohe diagnostische Kompetenz bei den Lehrern sowie die Verfüg-barkeit von Methoden pädagogisch-psychologischer Diagnostik und → Evalua-tion.

Die einleitenden Abschnitte Ein Blick ins Klassenzimmer zu Beginn eines jedenKapitels und die abschließenden Zusammenfassungen am Ende bilden eineKlammer, die zur Integration von theoretischen Erörterungen und praktischenErfahrungen beitragen soll.

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4.1 Ein Blick ins Klassenzimmer

„Vier-Ecken-Rechnen“In einer Grundschulklasse kündigt die Lehrerin „Vier-Ecken-Rechnen“ an. Eini-ge Kinder rennen begeistert in die Ecken des Raumes, während andere eher be-drückt dorthin gehen. Die Schüler stellen sich in den Ecken des Klassenzimmersauf. Die Lehrerin stellt Kopfrechenaufgaben. Wer diese als Erster richtig beant-wortet, darf sich auf seinen Platz setzen. Nach und nach leeren sich die Ecken –aber immer bleibt jemand übrig; es sind meistens dieselben Kinder.

Studentinnen im Lehramt Grundschule berichten, sie hätten im Praktikum(endlich) mit dem „Vier-Ecken-Spiel“ eine hervorragende Methode kennengelernt, mit der man Kopfrechnen oder Vokabeln üben könne, ohne dass esden Kindern langweilig werde. Aber ist das „Spiel“ eine gute Methode, Schülerzu motivieren?

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4.2 Was heißt „Motivation“? 49

4.2 Was heißt „Motivation“?

Jeder kann es an sich selbst und anderen beobachten: Nicht immer bereitet esFreude oder Genugtuung, etwas tun zu müssen. Bereits das Alltagswissen sagt,dass man entsprechend motiviert sein muss. Lehrer stehen häufig vor der Frage,wie sie die Schüler in der Klasse so motivieren können, dass sie das lernen, wasvon ihnen gefordert wird.

Diese Absicht oder Bereitschaft kann bei einzelnen Schülern sehr unterschiedlichbegründet sein: Albert lernt vielleicht, weil er Angst vor Strafe hat, Brigitte, weilihr neue Ballettschuhe versprochen wurden, Christian, weil er überzeugt ist, dassgerade dieser Lernstoff ihm besonders liegt, Doris, weil sie als Beste bewundertwerden möchte oder Ernst, weil ihm das Thema gefällt.

Kein Schüler, keine Schülerin ist unmotiviert! – Die Frage ist allerdings: Wozusind sie motiviert und worin liegt ihre Lernmotivation begründet?

Definition

Motivation (Motiviertheit) umfasst all diejenigen Prozesse, die zielgerichteteVerhaltensweisen in konkreten Situationen auslösen und aufrechterhalten.Motivationl bestimmt, was als Befriedigung erlebt wird,l richtet dementsprechend das Verhalten auf bestimmte Ziele aus,l steigert die Anstrengung,l verbessert kognitive Prozesse undl steigert die Leistung (vgl. Ormrod, 2006, S. 366).Lernmotivation (Lernmotiviertheit) bezeichnet die Form der Motivation,welche die Absicht oder die Bereitschaft einer Person beschreibt, sich in einerkonkreten Situation mit einem Gegenstand lernend auseinander zu setzen(Wild et al., 2001, S. 218).

In diesem Kapitel wird das Problem des Motivierens im Unterricht unter derPerspektive unterschiedlicher Theorien betrachtet. Motivationsformen, wel-che die grundlegenden Bedürfnisse der Schüler nach Kompetenz, Autonomieund sozialer Zugehörigkeit ansprechen, erweisen sich als die erfolgverspre-chendsten.

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4.3 Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung:ein humanistisches Ideal

Ziel allen menschlichen Lebens ist Selbstverwirklichung. Dies ist die zentraleAnnahme der Humanistischen Psychologie, zu deren Wegbereitern AbrahamMaslow (1908–1970) gehörte.

Aus der Beschäftigung mit den Biographien herausragender Persönlichkeitenwie etwa Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi oder Benedikt Spinoza glaubteMaslow eine Hierarchie von Bedürfnissen erkennen zu können, die er Mitte desletzten Jahrhunderts vorstellte (s. Abb. 4.1).

Maslows Bedürfnispyramide

Erhaltungs- oder Mangelmotive. Auf den unteren Ebenen der Hierarchie befin-den sich die sogenannten Erhaltungsmotive, die wiederkehrend auftreten undumso stärker werden, je weniger sie befriedigt werden. Die Befriedigung derphysiologischen Bedürfnisse (nach Sauerstoff, Wasser und Nahrung) ist dabeiunmittelbar lebensnotwendig. Menschen möchten sich aber auch sicher und ge-schützt fühlen, deshalb streben sie danach, Risiken zu mindern, die sie in ihrer Exis-tenz beeinträchtigen könnten. Menschen möchten auch von ihren Mitmen-

schen akzeptiert und wert-geschätzt werden, sie möch-ten sich zugehörig fühlen.Diese grundlegenden Be-dürfnisse werden als Erhal-tungs- oder Mangelmotivebenannt, weil ein entspre-chender Mangel zu erhöh-ten Anstrengungen führt,die Bedürfnisse zu befrie-digen.Seins- oder Werdensmo-tive. Gerade umgekehrt istes bei den Seins- oderWerdensmotiven im obe-ren Teil der Hierarchie: denBedürfnissen nach Wissen,Verstehen, Ästhetik undschließlich dem Bedürfnisnach Selbstverwirklichung.

Abbildung 4.1. Bedürfnispyramide von AbrahamMaslow (nach Maslow, 2002). Maslow unterschiedin seiner Bedürfnispyramide sieben Bedürfnis-gruppen, die hierarchisch aufeinander auf-bauen. Zunächst müssen die unteren Bedürfnissebefriedigt werden, dann erst wendet sich ein Menschden höher liegenden Bedürfnissen zu.

Selbstverwirklichung

Ästhetische Bedürfnisse

Bedürfnis nach Verstehen

Bedürfnis nach Wissen

Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe

Sicherheitsbedürfnisse

Physiologische Bedürfnisse

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4.4 Leistungsmotivation und Ursachenerklärung 51

Sie werden umso stärker, je mehr sie befriedigt werden. Wer beispielsweise seinBedürfnis nach Ästhetik mit klassischer Musik stillt, wird sich nicht nur miteiner Musik-CD zufrieden geben, sondern eine Sammlung anlegen und mög-lichst oft ein Konzert besuchen wollen.Folgerungen für den Unterricht. Schüler, die in einer Atmosphäre materiellerNot aufwachsen oder die in einem vernachlässigenden Milieu leben, das ihnenWertschätzung und Zugehörigkeit vorenthält, werden nicht ohne weiteres in derLage sein, Schule und Unterricht als förderliche Bereicherung ihres Lebenswahrzunehmen. Gewalt, kriminelle Handlungen oder Drogenmissbrauch inSchulen sozialer Brennpunkte zeigen, dass die Betroffenen andere Mittel undWege suchen und finden, um ihre Mangelbedürfnisse zu befriedigen.

Erst wenn die Mangelbedürfnisse so weit wie möglich befriedigt sind, kannman erwarten, dass Schüler nach dem Wissen und Verständnis streben, das dieCurricula der Schule fordern. Lehrer, die diese Sichtweise akzeptieren, werdendaher auch Verantwortung dafür übernehmen, dass die einzelnen Schüler sichzumindest in ihren Klassen als zugehörig, akzeptiert und wertgeschätzt fühlen.Kritik. Aus der Sicht der → empirischen Psychologie ist das methodische Vorge-hen fragwürdig, mit dem Maslow die Hierarchie der Bedürfnisse erstellte. AlsTheorie widersetzt sie sich zudem einer zufriedenstellenden empirischen Prü-fung. Pädagogisch betrachtet ist es außerdem diskussionswürdig, inwieweit essinnvoll ist, sich an Leitbildern wie Albert Schweitzer oder Mahatma Gandhi zuorientieren, denen der Einzelne zwar nacheifern kann, die er aber mit hoherWahrscheinlichkeit niemals erreichen wird. Versteht man die Bedürfnispyrami-de jedoch als Ausdruck eines bestimmten Menschenbildes, dann kann sie dieGrundlage einer pädagogischen Ethik bilden, die auf Respekt gegenüber denSchülern beruht.

4.4 Leistungsmotivation und Ursachenerklärung

Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg. Diese Definition verweist auf dasklassische Konzept der Leistungsmotivation, bei dem die beiden Komponen-ten „Hoffnung auf Erfolg“ und „Furcht vor Misserfolg“ unterschieden werden

Definition

Leistungsmotivation bezeichnet die Absicht, etwas zu leisten, Erfolge zu erzie-len und Misserfolge zu vermeiden, wobei zur Bewertung des Erfolges bzw.Misserfolges ein individuell verbindlicher Bewertungsmaßstab herangezogenwird (vgl. Wild et al., 2001, S. 18).

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(Atkinson, 1957; Heckhausen, 1963). Die grundlegende Annahme dieser Theoriebesagt, dass Personen motiviert sind zu handeln, wenn sie erwarten, dassl entweder ihre Bemühungen zu einem von ihnen erwünschten Erfolg führen,l oder ihre Bemühungen dazu führen, einen unerwünschten Misserfolg zu

vermeiden.Wenn eine Lehrerin zu einem Schüler sagt: „Wenn du dich etwas mehr an-strengst, wirst du mit der Versetzung sicher keine Schwierigkeiten haben“, appel-liert sie an seine Hoffnung auf Erfolg. Sagt sie: „Wenn du dich nicht mehr an-strengst, wirst du sitzen bleiben“, dann aktiviert sie seine Furcht vor Misserfolg.In beiden Fällen erwartet sie, dass der Schüler sich zukünftig mehr anstrengenwird.Negative Folgen. Appelliert man an die Furcht vor Misserfolg, ist diese Erwar-tung trügerisch: Der Schüler wird zwar motiviert sein, den unangenehmen Miss-erfolg zu vermeiden, er muss dazu aber nicht unbedingt den Weg der verstärktenschulischen Anstrengung wählen. Es gibt viele Möglichkeiten, einem drohendenMisserfolg zu entgehen, und viele von ihnen sind, zumindest kurzfristig, ange-nehmer und attraktiver, als sich mehr anzustrengen. Ein Schüler könnte sichbeispielsweise sagen, dass die Versetzung ihm sowieso nicht wichtig sei, dass erohnehin lieber von der Schule abgehen möchte, er wisse da gerade einen superJob, dann könnte er sich auch endlich einen eigenen Computer kaufen …

Auch wenn man die Androhung von Misserfolg für pädagogisch legitimhält, sollte man sich als Lehrer darüber im Klaren sein, dass man eine eher un-zulängliche und zugleich risikoreiche Motivierungsmethode anwendet, mitder man leicht das Gegenteil von dem erreicht, was man eigentlich erreichenmöchte.Motivation und Schulerfolg. Entgegen der Alltagsvermutung belegten → Meta-analysen (Plath, 2006) nur einen eher geringen generellen Zusammenhang zwi-schen Leistungsmotivation und Schulerfolg (Fraser et al., 1987). Dies heißt nicht,dass Leistungsmotivation keine Rolle spielte, vielmehr scheinen Leistungsmoti-vation und Erfolg komplexer miteinander zusammenzuhängen, als zunächstangenommen. Eine Quelle dieser Komplexität liegt darin, dass Menschen übersich und ihre Umwelt nachdenken. Dabei nimmt im alltäglichen Leben die Fragenach dem Warum einen breiten Raum ein: Warum kam es zu diesem Unfall,warum hat mein Verein am Sonntag verloren, warum grüßt die Nachbarin nichtmehr, und eben auch: Warum habe ich in Englisch wieder eine Fünf bekommen?

Wenn Personen bei einer Herausforderung Erfolg oder Misserfolg hatten,versuchen sie in der Regel herauszufinden, woran es lag. Sie suchen nach Erklä-rungen und Ursachen: Lag es daran, dass ich Glück hatte, oder hatte ich Erfolg,weil ich das Geforderte gut kann? Bin ich gescheitert, weil die Aufgabe nichtlösbar war? War ich überfordert oder hatte ich einfach keine Lust?

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4.4 Leistungsmotivation und Ursachenerklärung 53

Dimensionen der Kausalattribution. Eine relativ einfache Einteilung verschiede-ner Möglichkeiten der Ursachenzuschreibung geht auf Heider (1958) zurück:Ursachen des Erfolgs oder Misserfolgs können als innerhalb (internal) oder alsaußerhalb (external) der eigenen Person liegend angenommen werden. Außer-dem können sie zeitlich überdauernd (stabil) oder zeitlich veränderlich (varia-bel) sein. Weiner (1976) hat als dritte Dimension die Kontrollierbarkeit hinzuge-fügt. Sie bezieht sich auf das Ausmaß, mit dem die vermutete Ursache durch diePerson beeinflussbar ist oder nicht. Für die Diskussion an dieser Stelle reichenjedoch die beiden Dimensionen Internalität/Externalität und Stabilität/Variabi-lität aus. Sie führen zu vier Attributionsrichtungen, die in der Tabelle 4.1 sche-matisch zusammengefasst sind.

In der Regel neigen Menschen zu selbstwertdienlichen → Attributionen(Aronson et al., 2004; Snyder et al., 1976): Erfolge werden der eigenen Personzugeschrieben, Misserfolge den äußeren Umständen. Was dann auch passiert,man kann sich als kompetente Person wahrnehmen.

Lehrer und Schüler unterliegen diesen Tendenzen ebenso. Man kann diesbei Gesprächen im Kollegium oder mit Schülern auch im schulischen Alltagbeobachten. Lehrer werden sich für „gute“ Lehrer halten, wenn ihr Unterrichterfolgreich verläuft, und die „schlechte“ Klasse oder andere äußere Umständedafür verantwortlich machen, wenn er misslingt (Beckmann, 1973). Schülerwerden gute Klausur- und Prüfungsergebnisse sich selbst gutschreiben; beischlechten Arbeitsergebnissen werden sie vielleicht sagen, es lag am unfairenLehrer oder daran, dass sie gerade mal Pech hatten.

Attributionsunterschiede bei SchülernTrotz dieser generellen Tendenz gibt es für den Schulerfolg folgenschwere indi-viduelle Unterschiede in der Art und Weise, wie Erfolge und Misserfolge vonSchülern attribuiert werden.Leistungsstarke, erfolgszuversichtliche Schüler. Sie begründen ihre Erfolge inder Regel internal stabil mit ihrer Fähigkeit („Ich kann das halt gut“, „Ich bineben sprachbegabt“). Misserfolge werden entweder internal variabel („Da warich gerade mal nicht gut drauf“) oder external variabel („So’n Pech kann jedermal haben“) erklärt. Die Schüler folgen der generellen selbstwertdienlichen

Definition

Die Antworten auf Fragen nach den Gründen für Erfolg oder Misserfolg füh-ren zu vermuteten Ursachen, die mehr oder weniger zutreffend sein können.Dieser Prozess der Ursachenvermutung oder Ursachenzuschreibung wirdKausalattribution genannt.

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Tabelle 4.1. Vier mögliche Attributionsrichtungen (nach Heider, 1958)

Ort der Ursache

Innerhalb derPerson

Außerhalb derPerson

Zeitlich stabil (1)Internal – stabil

(3)External – stabilStabilität

der Ursache Zeitlich variabel (2)Internal – variabel

(4)External – variabel

Einige Beispiele verdeutlichen die Möglichkeiten, wie Schüler ihre Erfolge undMisserfolge attribuieren können.

Bei Erfolg Bei Misserfolg

(1) Internal – stabil

Ich bin einfach gut.So was konnte ich schon immer.

Dazu bin ich einfach zu blöd.Da fehlt mir halt die Begabung.

(2) Internal – variabel

Ich hab’ auch viel dafür getan.

Ich war in Topform.

Ich war schlecht drauf. KeinWunder nach der Party.Ich war schwer erkältet.

(3) External – stabil

Wir haben auch eine tolle Lehrerin.Die Aufgaben waren genau richtig.

Die Lehrerin kann auch nichtsrichtig erklären.Die Aufgaben waren viel zu schwer.

(4) External – variabel

Glück gehabt.Gott sei Dank saß ich neben demKlassenbesten. Da konnte ichabschreiben.

So’n Pech.Wegen des Baulärms konnte ichnicht richtig arbeiten.

Attribution. Erfolge bestätigen sie in ihrem Selbstbild als kompetente Person;Misserfolge werden so interpretiert, dass ihr Selbstbild nicht beeinträchtigt wird.Die nächsten Herausforderungen werden sie wieder zuversichtlich angehen(„Schließlich kann man nicht immer Pech haben“).

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4.5 Das Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten 55

Leistungsschwache, misserfolgsängstliche Schüler. Sie → attribuieren demge-genüber geradezu spiegelbildlich: Sie erklären sich ihre Misserfolge internal stabil(„Ich kann so was nicht“, „Mit Zahlen habe ich es noch nie gehabt“) und dieErfolge external variabel („Das war Glück“) oder external stabil mit der (zu ge-ringen) Schwierigkeit der Aufgabe („Das war einfach zu leicht“). Misserfolgebestätigen sie in ihrem Selbstbild als unfähige Person; Erfolge werden nicht alsErfolge akzeptiert („Wenn sogar ich Blödmann das geschafft habe, dann war dasauch nichts“) und wenden das Selbstbild nicht ins Positive. Bei den nächstenHerausforderungen werden sie wieder den Misserfolg erwarten („Noch mal wer-de ich nicht Glück haben“, „So leicht wird es nicht noch einmal sein“).Erlernte Hilflosigkeit. Hält ein Schüler sich für unfähig und Erfolg für Glückssa-che, gibt es für ihn auch keinen Grund, sich auf die nächsten Herausforderungenvorzubereiten. Es entsteht ein Kreislauf von Vermeidung und Misserfolgen, derschließlich dazu führen kann, dass die geforderten Leistungen vom Schüler tat-sächlich nicht mehr erbracht werden können. Dann ist der Zustand erreicht, derals erlernte Hilflosigkeit (Seligman, 1992) bezeichnet wird. Die zunehmendeDistanz mancher Mädchen in der Sekundarstufe zum Fach Mathematik kannu.a. mit diesem Attributionsmuster erklärt werden (Beermann et al., 1992). Fürdie Motiviertheit im Unterricht ist offensichtlich das Bild bedeutsam, das Schü-ler von sich selbst und ihren eigenen Fähigkeiten haben.

4.5 Das Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten

Es ist also sinnvoll, das Selbstkonzept als vielfältig differenziert und organisiertanzusehen. Eine solche Betrachtungsweise liegt dem Selbstkonzept-Modell vonShavelson et al. (1976) zugrunde (s. Abb. 4.2).Allgemeines Selbstkonzept. Die Autoren gehen davon aus, dass eine Person inkonkreten Situationen eine Vielzahl von Informationen über sich erhält. EinSchüler kann beispielsweise aufgrund seiner Erfahrungen im täglichen Mathe-matikunterricht und aufgrund von Rückmeldungen durch die Lehrerin zudem Schluss kommen „Ich bin gut in Mathematik“ und ein dementsprechendes

Definition

Selbstkonzepte sind → kognitive Repräsentationen der eigenen Person(Filipp, 1980, S. 107). Sie umfassen das, was eine Person über sich selbst weißund denkt. Dieses Denken kann sich auf intellektuelle, soziale oder körper-liche Fähigkeiten, auf die eigenen Emotionen, auf das Aussehen usw. bezie-hen.

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4 Motivation56

Muttersprache

Geschichte

Mathematik

Naturwissen-schaften

Beziehungenzu Peers

Beziehungenzu wichtigenPersonen

BestimmteGefühle

KörperlicheFähigkeiten

KöperlicheErscheinung

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4.5 Das Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten 57

Selbstkonzept ausbilden. Macht er in den anderen Fächern vergleichbare Er-fahrungen, fügen sich diese spezifischen Fähigkeitsselbstkonzepte der einzel-nen Fächer zu einem allgemeinen Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten zusam-men.

In ähnlicher Weise kann sich aufgrund der Reaktionen der sozialen Umweltein Selbstkonzept „Ich sehe attraktiv aus“ entwickeln. Die Annahmen über dieeigene körperliche Erscheinung und über eigene körperliche Fähigkeiten bildendas Körperselbstkonzept. Die Zusammenfassung aller einzelnen (Teil-)Selbst-konzepte macht nach diesem Modell das allgemeine Selbstkonzept eines Men-schen aus (z.B. „Ich bin eine kompetente Person“). Auf diese Weise ergibt sicheine Hierarchie, die von sehr spezifischen (Teil-)Selbstkonzepten zum allgemei-nen Selbstkonzept aufsteigt.Selbstkonzept und Schulerfolg. Bereits eine relativ oberflächliche Betrachtunglässt erkennen, dass das Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten als „die Gesamt-heit der Gedanken über die eigenen Fähigkeiten in schulischen Leistungssitua-tionen“ (Schöne et al., 2003, S. 4) und schulischer Erfolg miteinander in Bezie-hung stehen. Dies belegen auch die Ergebnisse einer Untersuchung in zehntenGymnasialklassen: Mädchen, deren allgemeines Fähigkeitsselbstkonzept positivausgeprägt war, erhielten rückblickend seit der fünften Klasse in Mathematikdurchschnittlich eine um eine Stufe bessere Note im Versetzungszeugnis alsMädchen, deren Selbstkonzept negativ ausgeprägt war (Langfeldt, 1983).Was wirkt worauf? Eine → Metaanalyse von Hansford und Hattie (1982) bestä-tigt zwar den Zusammenhang von Selbstkonzept und Leistung. Doch eine solcheBetrachtungsweise erklärt noch nicht, wie dieser Zusammenhang zustandekommt: Beeinflusst das Selbstkonzept die Leistung, oder ist es vielmehr umge-kehrt? Diese Frage lässt sich grundsätzlich nur in → Längsschnittuntersuchun-gen beantworten, in denen im Laufe der Schulzeit in regelmäßigen Abständensowohl die Leistungen als auch das Selbstkonzept der Schüler erhoben werden.In der Grundschule konnte auf diese Weise ein wechselseitiger Einfluss gefundenwerden, wobei der Einfluss der Schulnoten auf das Selbstkonzept schulischerFähigkeiten stärker war als umgekehrt (Helmke, 1998). Dennoch bleibt ein Ein-fluss des Selbstkonzeptes auf die Leistung auch bis in die höheren Klassenstufennachweisbar (Fend & Stöckli, 1997).

Dies lässt sich gut an den Ergebnissen einer Arbeit von Marsh (1990) veran-schaulichen (s. Abb. 4.3). Aus einer umfangreichen nationalen, für australischeHighschools repräsentativen Längsschnittstudie wurden die Daten von mehr als1.400 Schülern analysiert. Als Indikator für die generelle schulische Leistungsfä-higkeit wurde ein kombiniertes Maß aus Tests zur Erfassung der → Intelligenz,des Wortschatzes, der Mathematik und der Lesekompetenz erhoben. Die Leis-tung selbst wurde durch die Durchschnittsnoten aus der zehnten, elften und

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Durchschnittl.Mathenote

SchulischeFähigkeit

Durchschnittl.Mathenote

Selbstkonzept

10. Klasse 11. Klasse 12. Klasse 1 Jahrspäter

.57 .57

.20.22.42 .17

.46

.67

.38

Durchschnittl.Mathenote

Selbstkonzept Selbstkonzept.60

Abbildung 4.3. Das Zusammenwirken von schulischer Leistung und schulischem Selbstkon-zept (vereinfacht nach Marsh, 1990, S. 650). Die Pfeile veranschaulichen die Wirkungsrich-tung. Die Zahlen sind → Pfadkoeffizienten, welche das relative Gewicht des Einflusses ange-ben. Das Selbstkonzept nach Schulabschluss hängt nicht von den Noten im letzten Schuljahrab. Deshalb fehlt in der Abbildung der entsprechende Pfeil.

zwölften Klasse erfasst. Das Fähigkeitsselbstkonzept wurde in der zehnten undelften Klasse und ein Jahr nach Schulabschluss erfragt.Wirkungskette. Die Ergebnisse in Abbildung 4.3 belegen eine Wirkungskette, inder die Schulnoten das aktuelle, zeitgleiche Selbstkonzept beeinflussen und die-ses sich auf die zukünftigen Noten auswirkt. Ein solcher Ablauf steht im Ein-klang mit den Erwartungen aus der → Attributionstheorie. Bemerkenswert ist,dass das Selbstkonzept nach Schulabschluss nicht mehr von den Noten im letz-ten Schuljahr abhängt (deshalb fehlt in Abb. 4.3 ein entsprechender Pfeil), son-dern vom Selbstkonzept, wie es während der Schullaufbahn erworben wurde.Man kann darin die Fortsetzung einer Entwicklung sehen, die sich schon vorherangedeutet hatte: Der Einfluss der Noten auf das Selbstkonzept hatte bereits vonder zehnten zur elften Klasse hin abgenommen.

Das Selbstkonzept wird zunehmend änderungsresistenter. Will manmöglichst positive Selbstkonzepte bei den Schülern für die Zeit nach dem

Schulabschluss erreichen, wird es also darauf ankommen, möglichst frühzeitigdie Entwicklung positiver Selbstkonzepte bei den Schülern zu fördern und dieEntwicklung negativer zu verhindern.

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Entwicklung des SelbstkonzeptsBereits Vorschulkinder verfügen über Vorstellungen von ihren → kognitivenFähigkeiten; allerdings neigen sie dazu, diese stark zu überschätzen. Besondersdeutlich ist die Überschätzung noch im ersten Grundschuljahr: 80 Prozent derErstklässler schätzen ihre eigenen Leistungen als „am besten“ oder wenigstens als„gut“ ein (60 Prozent bzw. 20 Prozent). Erst im Laufe der nächsten Jahre nimmtdie Selbstüberschätzung ab (Helmke, 1998).

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4.5 Das Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten 59

Rückmeldung und Vergleich. Das Selbstkonzept wird durch Erfahrungen inkonkreten Situationen erworben. Im Unterricht sind es im Wesentlichen dieRückmeldungen und der soziale Vergleich mit den Mitschülern, die den indivi-duellen Ausprägungsgrad des Selbstkonzepts eines Kindes beeinflussen. Fragtman Schüler der zweiten Grundschulklassen, woher sie wüssten, wie gut sie inder Schule seien, antworten sie beispielsweisel in Bezug auf erlebte Rückmeldungen: „In Kunst bin ich die Beste, das sagt

auch meine Lehrerin“, „Ich bin sehr gut, dann hab’ ich null Fehler. Frau B.sagt, das ist sehr gut“, „Die Lehrerin hat meine Arbeit der Klasse gezeigt“,„Frau B. sagt, ich sei ‘Weltmeisterin’ im Lesen“;

l in Bezug auf soziale Vergleiche: „Weil ich der Schnellste bin und das dannrichtig habe“, „Ich weiß, wie ich lese, weil ich sehe, wie die anderen lesen“,„Andere können besser schreiben als ich“, „Ich kann’s nicht so gut, aber dochso gut wie meine Freundin“.

Bezugsgruppeneffekt. Soweit das Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten durchden sozialen Vergleich bestimmt wird, hängt seine Ausprägung von der jeweili-gen Bezugsgruppe ab, mit der ein Schüler sich vergleicht. Innerhalb einer Grup-pe besonders leistungsstarker Mitschüler kann sich ein Einzelner als wenig, in-nerhalb einer schwächeren Gruppe dagegen als sehr fähig wahrnehmen. DasSelbstkonzept unterliegt einem → Bezugsgruppeneffekt. Dieser macht verständ-lich, warum die Selbstüberschätzung mit zunehmender Beschulungszeit imDurchschnitt sinkt. Innerhalb jeder Schulklasse liegen notwendigerweise etwagleich viele Schüler mit ihren Leistungen unter wie über dem Klassendurch-schnitt. Etwa die Hälfte von ihnen wird daher bemerken müssen, dass sie imunteren Teil des Leistungsspektrums liegen (wie gut sie auch sein mögen) undihr Selbstkonzept diesen Erfahrungen anpassen.

Mit dem Bezugsgruppeneffekt lässt sich auch erklären, warum sich nach demÜbergang in die Sekundarstufe das Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten imDurchschnitt bei den Gymnasiasten verschlechtert und bei den Hauptschülernverbessert (Valtin & Wagner, 2004): Viele Gymnasiasten müssen erfahren, dasssie – im Gegensatz zur Grundschulzeit – in ihren Klassen zu den eher Schwäche-ren gehören. Bei den Hauptschülern ist es umgekehrt: Ehemals eher schwacheGrundschüler erleben, dass sie erfolgreiche Hauptschüler geworden sind. DerBezugsgruppeneffekt ist vermutlich auch dafür verantwortlich, dass lernbehin-derte Sonderschüler, die in Regelschulen integriert unterrichtet werden, zwarbessere Schulleistungen aufweisen als solche in Sonderschulen, ihr schulischesSelbstkonzept jedoch niedriger ist (Haeberlin, 1991). Um auf ein populäresSprichwort zu kommen: Es macht doch etwas aus, ob man sich als Einäugigermit Blinden oder mit Sehenden vergleicht.

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Folgerungen. Lehrer oder Eltern verstärken den Einfluss des → Bezugsgruppen-effektes auf das Selbstkonzept, wenn sie in ihren verbalen Rückmeldungen selbstsoziale Vergleiche verwenden oder den mancherorts üblichen Notenspiegel un-ter Klassenarbeiten ausfüllen.

Lehrer können ihre Schüler in der Entwicklung eines angemessenen, posi-tiven Selbstkonzeptes unterstützen, wenn sie in den Rückmeldungen die

Leistungen nicht nur im sozialen Vergleich, sondern verstärkt im Vergleich zubisher erreichten Ergebnissen interpretieren (Köller, 2005; Rheinberg, 2002;Rheinberg & Krug, 1999). Der Hinweis auf den individuellen Leistungsstandund Fortschritt hilft Schülern, in ihrer Selbsteinschätzung autonomer zuwerden.

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Schüler mit einem positiven schulischem Fähigkeitskonzept → attribuieren ihreErfolge auf ihre Fähigkeiten. Sie sind tendenziell erfolgreicher als Schüler miteinem negativen Selbstkonzept, weil sie sich unbefangener und schneller schwie-rigen Aufgaben zuwenden, in schwierigen Situationen hinderliche Selbstzweifelleichter überwinden und sich weniger leicht entmutigen lassen.

4.6 Intrinsische und extrinsische Motivation

Die Leseratte, die ein Buch nach dem anderen verschlingt, der Bastler, der zuHause im Keller die Experimente des Physikunterrichts nachbaut oder der Schü-ler, der freiwillig stundenlang das Violinspielen übt, sie alle werden mit hoherWahrscheinlichkeit intrinsisch motiviert sein.

Intrinsische Motivation kann sich auf Tätigkeiten oder auf Gegenstände be-ziehen. Das viel lesende Mädchen liest vielleicht gerne, weil ihm das Lesen, dieTätigkeit, Spaß macht, wobei es ihm ziemlich gleichgültig ist, was es liest. Eskann sich aber auch am Gegenstand orientieren und nur ganz bestimmte Textelesen.

Definition

Mit intrinsischer (Lern-)Motivation wird der Wunsch oder die Absicht be-zeichnet, eine bestimmte (Lern-)Handlung um ihrer selbst willen auszufüh-ren, etwa weil sie Spaß macht, Interessen stillt oder eine persönliche Befriedi-gung verspricht.

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4.6 Intrinsische und extrinsische Motivation 61

Konsequenzen. Schüler, die durch externe Kontrolle in Form von Belohnungund Bestrafung motiviert werden, haben für sich zwei Handlungsmöglichkeiten:Sie können sich fügen oder aufbegehren und die Leistung verweigern. Das Auf-begehren kann von ihren Lehrern als Trotzreaktion interpretiert werden, der sienicht selten mit noch stärkerer Kontrolle begegnen. Ein Weg in die Eskalation istsomit vorgezeichnet: Je stärker Schüler der externen Kontrolle unterworfen wer-den, desto geringer werden ihr Interesse und ihre Anstrengungsbereitschaft. Sieneigen dann auch dazu, den weniger erfolgreichen Mitschülern deren Versagenpersönlich zuzuschreiben, sich über sie lustig zu machen, Schadenfreude zu zei-gen sowie Hilfe und Unterstützung zu verweigern. Eine solche Motivationsformkann nicht wünschenswert sein. Sie wird auch von vielen Lehrern abgelehnt –und dennoch praktiziert.Realistische Erwartungen. Leistungsbereitschaft und Ausdauer intrinsisch mo-tivierter Schüler dagegen verführen manchmal Lehrer zu romantischen Vor-stellungen: Wie leicht und erfolgreich müsste das Unterrichten sein, wenndie Schüler intrinsisch motiviert wären? Wie mühselig ist dagegen das Unterrich-ten, wenn man sie mit Lob und Tadel, mit der Androhung von Klausuren oderdurch unterhaltsamen Unterricht „wie ein Showmaster“ extrinsisch motivierenmuss …

Jedoch: Niemand kann für alle möglichen Gegenstände oder Tätigkeiten in-trinsisch motiviert sein. Menschen verbringen viel Zeit mit extrinsisch motivier-ten Handlungen, und nur bei ganz wenigen ist das Leben vorwiegend durchintrinsische Motivation bestimmt. Intrinsisch motivierte Handlungen sind zu-dem häufig gleichzeitig auch extrinsisch motiviert. Mischformen der (Lern-)Motiviertheit finden sich sowohl bei Schülern der Grundschule als auch derSekundarstufe (Buff, 2001). Und selbst die engagierteste Lehrerin erwartetschließlich ihr regelmäßiges Gehalt.

Lehrer, die in ihrer Unterrichtspraxis nur die Kategorien der intrinsischenund extrinsischen Motivation wahrnehmen, begeben sich selbst in ein Dilemma:Die eine Motivation ist nicht zufriedenstellend zu erreichen, die andere führt zuunerwünschten Effekten.

Definition

Mit extrinsischer (Lern-)Motivation wird der Wunsch oder die Absicht be-zeichnet, eine bestimmte (Lern-)Handlung durchzuführen, um ein lohnendesZiel zu erreichen (etwa einen guten Notendurchschnitt im Abitur oder dasLob der Eltern) oder eine negative Folge zu vermeiden (etwa das Sitzenbleibenoder eine Strafe).

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Taxonomie menschlicher MotivationEinen Weg aus diesem Dilemma weist die → Taxonomie menschlicher Motiva-tion von Ryan und Deci (2000): Die Autoren postulieren, dass die Dichotomienicht in intrinsischer und extrinsischer Motivation besteht, sondern in Motiva-tionslosigkeit (englisch: amotivation) einerseits und intrinsischer Motivationandererseits. Zwischen beiden Extremen findet sich die extrinsische Motivation,bei der sie vier Stufen annehmen, die sich im Grad ihrer Internalisierung unter-scheiden: von der externalen Steuerung, über Introjektion und Identifikation zurIntegration.Externale Steuerung. Das ist die Motivationsform, die bisher als extrinsischeMotivation beschrieben wurde. Die Steuerung des Verhaltens geschieht aus-schließlich von außen durch Belohnung und Bestrafung, wobei die Personenwillfährig oder aufbegehrend reagieren können.Introjektion. Bei der Introjektion wird das Verhalten durch Ich-Beteiligunggesteuert. Von außen gesetzte Ziele und Anforderungen, Gebote und Verbotewerden übernommen, um Angst und Schuldgefühle zu vermeiden und Stolzund Anerkennung zu erreichen. Da solche Gefühle durch die soziale Um-welt vermittelt werden, besteht bei dieser Motivationsform ein hohes Maßan sozialer Abhängigkeit. Schüler, die auf diese Weise motiviert werden, sindeher anstrengungsbereit. Gleichzeitig steigt jedoch auch die Angst vor den Versa-gen.Identifikation. Bei dieser Motivationsform wird das Verhalten reguliert, indemsich die Personen mit extern vorgegebenen Zielen identifizieren, sie als sinnvollund erstrebenswert akzeptieren. Sie gehen eine Selbstverpflichtung ein, die Zielezu erfüllen. Schüler in der gymnasialen Oberstufe können sich beispielsweise inMathematik besonders anstrengen, nicht weil es ihnen Befriedigung verschafft,sondern weil sie es akzeptiert haben, dass dies für ein bestimmtes angestrebtesStudium notwendig ist. Schüler, die sich mit den Zielen und Anforderungen derSchule identifizieren, sind gut in der Lage, auf diese einzugehen, und sind ehermit der Schule zufrieden.Integration. Integration entsteht, wenn die Verhaltensregulation durch Identifi-kation vollständig in das Selbst der Person integriert wird, wenn die von außenherangetragenen Ziele und Anforderungen als persönliche Ziele übernommenund konfliktfrei in das eigene Ziel- und Wertesystem eingeordnet werden. Vonder Wirkung her ist diese Motivationsform der intrinsischen Motivation sehrähnlich. Letztlich besteht der Unterschied nur noch darin, dass die Ziele undAnforderungen ursprünglich von außen kamen.

Von Stufe zu Stufe nimmt der Grad der Internalisierung der Ziele und derGrad der Autonomie über Entscheidungen zu. Abbildung 4.4 veranschaulichtdas Konzept von Ryan und Deci.

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4.6 Intrinsische und extrinsische Motivation 63

Vier Stufen extrinsischer MotivationMotivations-losigkeit(amotivation)

IntrinsischeMotivation

Internalisierung der Ziele und Autonomie der Entscheidungen:gering hoch

Inte-gration

Identi-fikation

ExternaleKontrolle

Intro-jektion

Abbildung 4.4. Taxonomie der Motivation (nach Ryan & Deci, 2000) mit den Motivations-formen: Motivationslosigkeit, extrinsische und intrinsische Motivation. Extrinsische Motiva-tion kann schrittweise bis hin zur Integration verinnerlicht werden. Gleichzeitig nimmt dieEntscheidungsfreiheit von Personen zu.

Mit der Annahme der zunehmenden Internalisierung von Verhaltenzielenbildet die beschriebene Motivationstheorie eine Parallele zur → Taxonomie derLehrziele im → affektiven Bereich von Krathwohl et al. (1975), die bei der eherperipheren Bereitschaft zur Aufmerksamkeit beginnt und beim Bestimmtseindes Verhaltens durch ein internales Wertesystem endet.Folgerungen. Lehrer werden nahezu immer ihre Schüler im und für den Unter-richt motivieren müssen. Dabei wird es häufig der Fall sein, dass dies nur übereine externale Steuerung gelingt. Die pädagogische Herausforderung für dieLehrenden heißt also, ihre Schüler von der external kontrollierten Motivationzur Integration zu führen. Die vorgestellte Taxonomie menschlicher Motivationerlaubt jedoch die begründete Hoffnung, dass dies im Unterricht gelingen kann.Ryan und Deci nehmen dafür drei basale Bedürfnisse des Menschen an:(1) Kompetenz,(2) Autonomie und(3) soziale Zugehörigkeit.Das Streben nach Kompetenz und Autonomie führt zur Bereitschaft, etwas zuleisten, das Streben nach sozialer Zugehörigkeit fördert die Identifikation mitvon außen (z.B. durch Schule und Elternhaus) vorgegebenen Zielen.

Unterricht wird umso motivierender sein, je mehr er den Schülerndas Gefühl von Kompetenz, Autonomie und Zugehörigkeit vermittelt.

Dies gelingt, wenn die Unterrichtsanforderungen den Fähigkeiten der Schülerangepasst sind, wenn den Schülern in angemessenem Rahmen Wahlmöglich-keiten eröffnet werden, wie sie einzelne Anforderungen erfüllen möchten undwenn sie Kooperation und gegenseitige Wertschätzung erfahren.

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4.7 Lernen, um etwas zu können, oder, um zu siegen?

Lern- oder Leistungszielorientierung. Fragt man danach, an welchen Zielen sichein Lernender orientiert, ergibt sich in der Betrachtung von Lernmotivation und-motiviertheit ein etwas anderer Akzent. Wird gelernt, um die eigene Kompetenzzu erhöhen oder, um Anerkennung zu erhalten? Anders formuliert: Lernt einSchüler, um gut zu sein oder, um zu den Guten zu gehören? Die beiden damitbeschriebenen Orientierungen werden als Lernzielorientierung bzw. als Leis-tungszielorientierung (vgl. Schiefele & Köller, 2006) bezeichnet. Auf den erstenBlick handelt es sich um eine eher geringfügige Akzentverschiebung. In der Pra-xis kann diese Unterscheidung jedoch bedeutsam werden.Folgen der Zielorientierung. Schüler, die sich an Lernzielen orientieren, sindeher davon überzeugt, dass schulische Erfolge durch Anstrengung, Interesse undKooperation erreichbar sind, während diejenigen, die sich an Leistungszielenorientieren, an die positiven Wirkungen von Wettbewerb und Konkurrenz glau-ben. Lernzielorientierte Schüler sind tendenziell besser in der Lage, mit Ver-sagenssituationen angemessen umzugehen als diejenigen, die sich an Leistungs-zielen orientieren. Die prinzipielle Überlegenheit von Kooperation gegenüberKonkurrenz beim schulischen Lernen kann dabei als → empirisch gesichert gel-ten (Johnson et al., 2000).

Obwohl über die Zielorientierungen in deutschen Schulen kaum Untersu-chungen vorliegen, kann man davon ausgehen, dass zumindest in der Sekundar-stufe die Schüler mit eindeutiger Lernzielorientierung eine Minderheit bilden.Die Mehrheit orientiert sich mehr oder weniger deutlich an Leistungszielen(Köller, 1998). Dem entspricht, dass im traditionell geführten Unterricht häufigWettbewerbssituationen entstehen oder absichtlich vom Lehrer herbeigeführtwerden. In solchen Situationen kämpfen Schüler um ihre Position in der Leis-tungshierarchie – und nicht um den Lerngegenstand. Vermutlich kennt jederLehrer Schüler, die sich im Unterricht in den Vordergrund spielen, aufdringlichsind und die, je nach Temperament, enttäuscht, verärgert oder störend reagie-ren, wenn sie einmal nicht drankommen. Sie müssen „vorne dran“ sein – unddas nahezu unabhängig davon, um welchen Unterrichtsinhalt es sich handelt.Ein Unterricht, der mehr auf Kooperation als auf Konkurrenz setzt, kann sol-chen Verhaltensweisen entgegenwirken.

4.8 Motivationstheorien als Reflexionshilfe

Die verschiedenen Motivationstheorien können als Reflexionshilfe eingesetztwerden, um alltägliche Motivierungsstrategien im Unterricht zu analysieren undderen Folgen abschätzen zu können. Wie stellt sich beispielsweise das „Vier-

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4.8 Motivationstheorien als Reflexionshilfe 65

Ecken-Rechnen“ aus dem Blick ins Klassenzimmer aus der Perspektive der darge-stellten Theorien dar?Zielorientierung. Spiele im Format der individuellen Konkurrenz fördern inerster Linie die Leistungszielorientierung. Das primäre Ziel ist es eben nicht, eineerwünschte Fertigkeit (z.B. das Kopfrechnen) zu erwerben, sondern möglichstunter den Ersten zu sein, die wieder an ihrem Platz sitzen. Bereits das zweiteKind kann sich als Versager fühlen, selbst dann, wenn es hervorragend kopf-rechnen kann. Insgesamt wird sich eine Minderheit der Klasse als erfolgreichwahrnehmen und eine Mehrheit als wenig erfolgreich oder als versagend – unddies unabhängig vom Erreichen der Lernziele im Kopfrechnen.Intrinsische und extrinsische Motivation. Das Verhalten der Klasse wird exter-nal gesteuert. Die schnellsten Kinder erhalten soziale Anerkennung als Lohn,die langsameren Schüler werden durch öffentliche Bloßstellung bestraft. Nichtselten lässt sich bei diesem Spiel als ein Effekt der externalen Kontrolle auchbeobachten, dass die erfolgreicheren Kinder sich über die weniger erfolgrei-chen lustig machen. Eine Motivierung in Richtung der Integration der Unter-richtsziele in die persönlichen Ziele der Schüler wird mit diesem Spiel nichterreicht.Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten. Bei den schwächeren Schülern wird einnegatives Selbstkonzept schulischer Fähigkeiten gefördert, weil sie nur selten eineChance auf Erfolg haben. Selbst eine Senkung der Aufgabenschwierigkeit kannihnen keinen Erfolg verschaffen, weil die besseren Schüler dann noch schnellersein werden. Bei den besseren Schülern besteht die Gefahr, dass sie ein wenigrealitätsangemessenes Selbstkonzept entwickeln. Sie sind ja nur deswegen erfolg-reich, weil die anderen weniger fähig sind.Kausalattribution. Die Schüler werden den Ausgang des Spieles tendenziell aufeigene hohe oder geringe Fähigkeiten → attribuieren. Die Schwächeren werdenmöglicherweise resignieren, weil sie kaum Erfolgschancen sehen. Selbst wenn sieihre Leistung verbesserten und die geforderte Fertigkeit (z.B. das Kopfrechnen)gut beherrschten, sicherte ihnen dies noch lange nicht den Erfolg, denn die Bes-seren könnten immer noch schneller sein.Hoffnung auf Erfolg – Furcht vor Misserfolg. Da nur wenige Schüler Erfolg ha-ben können, werden die Kinder eher Furcht vor Misserfolg entwickeln. Beson-ders schüchterne oder sozial empfindsame Kinder werden darunter leiden. Man-che werden vielleicht gar nichts mehr sagen und nur noch hoffen, das Spiel mögevorübergehen. Begünstigt werden psychisch robuste Schüler.Humanistisches Ideal. Lehrerinnen, die das humanistische Ideal im Sinne vonMaslow (vgl. Kap. 4.3, Bedürfnis nach Selbstverwirklichung) als Leitlinie ihrespädagogischen Handelns akzeptieren, werden an solchen didaktischen Spielenwenig Positives finden können, weil einem beträchtlichen Teil der Schülerschaft

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die Möglichkeit vorenthalten bleibt, sich anerkannt, wertgeschätzt und zugehö-rig zu fühlen.Fazit. „Vier-Ecken-Rechnen“ ist eine Methode, die in der Praxis erfolgreichwirkt. „Irgendwie“ werden die Schüler motiviert. Doch aus welcher Perspektiveman diese Praxis auch betrachtet, stets wird durch diese Methode allenfalls die„zweitbeste“ Form der Motiviertheit angesprochen.

Auch wenn es im Unterricht Situationen gibt, in denen die zweitbeste Pro-blemlösung die einzig verwirklichbare ist, zeigt die theoretische Reflexion, dassprinzipiell erfolgreichere Methoden möglich sein müssten: Solche, die auf diegrundlegenden Bedürfnisse der Schüler eingehen, die ihre Hoffnung auf Erfolgstärken, die die → Attribution auf eigene Anstrengung fördern, die zu einempositiven Selbstkonzept eigener Fähigkeiten führen und die zur Integration derLernziele in ihre persönlichen Ziele beitragen können.

4.9 Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird die Bedeutung der Motivation für das schulische Lernenherausgearbeitet. Motivation wird dabei unter verschiedenen Blickwinkeln be-trachtet, unter dem der:l humanistischen Psychologie,l Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg,l subjektiven Ursachenerklärung (Kausalattribution),l Selbstkonzepte eigener Fähigkeiten,l intrinsischen und extrinsischen Motivation,l Lernziel- und Leistungszielorientierung.Im letzten Abschnitt werden die Konzepte auf ein praktisches Beispiel schuli-schen Motivierens bezogen. Dieser Blick zurück ins Klassenzimmer ist in Plädoyerdafür, im Unterricht verstärkt Motivationsformen zu wählen, welche die grund-legenden Bedürfnisse der Schüler nach Kompetenz, Autonomie und sozialerZugehörigkeit stärken.


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