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Prima und Seconda pratica bei H. Schütz

Date post: 03-Oct-2015
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Prima und Seconda pratica bei H. Schütz
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Institut für Musikwissenschaft der Universität Würzburg Hauptseminar Sommersemester 2005 „Prima“ und „seconda pratica“ im Werk von Heinrich Schütz Prof. Dr. Ulrich Konrad „Musicus poeticus“. Musik und Sprache bei Schütz unter Berücksichtigung von Kompositionen in zweisprachiger Fassung (SWV 84 und 304 sowie 88, 89 und 429) Vorgelegt von Teresa Ott Schiestlstraße 1 97080 Würzburg 1
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  • Institut fr Musikwissenschaft der Universitt Wrzburg

    Hauptseminar Sommersemester 2005

    Prima und seconda pratica im Werk von Heinrich Schtz

    Prof. Dr. Ulrich Konrad

    Musicus poeticus. Musik und Sprache bei Schtz

    unter Bercksichtigung von Kompositionen in zweisprachiger Fassung

    (SWV 84 und 304 sowie 88, 89 und 429)

    Vorgelegt von

    Teresa Ott

    Schiestlstrae 1

    97080 Wrzburg

    1

  • Inhalt Seite 1 Musik und Sprache in der Zeit von Heinrich Schtz 1

    2 Die Sprache im Werk von Heinrich Schtz 2 2.1 Die sprachlichen Verhltnisse seiner Zeit 2

    2.2 Die reformatorischen Ideale 3

    Die textlichen Grundlagen der Beispielstcke SWV 84, 88, 89, 304 und 429 4

    Das Latein bei Heinrich Schtz 4

    Das Deutsche bei Heinrich Schtz 6

    3 Kompositionstechnik und Reformationsgedanke 9 3.1 Textverstndlichkeit durch musikalische Mittel 9

    3.2 SWV 84 und SWV 304 - eine liturgische und eine persnliche Vertonung 10

    3.2.1 Gemeinsamer Aufbau 10

    3.2.2 Sprachliche Besonderheiten 11

    3.2.3 Musikalische Textausdeutung 12

    3.2.3.1 Sukzessive und simultane Kontraste 13

    3.2.3.2 Koloraturen und Tonmalerei 14

    3.2.3.3 Der Psalmist 15

    4 Musicus poeticus und Musica poetica 16 4.1 Begriffsklrung 16

    4.2 Die musikalisch-rhetorische Figurenlehre 16

    4.2.1 Die Rhetorik und ihre Beziehungen zur Musiklehre 17

    4.2.1.1 Die Lehre von der Rhetorik 18

    4.2.1.2 Die Stellung der Musik im Lehrplan latein-protestantischer Schulen 19

    4.2.2 Joachim Burmeisters Musica poetica um 1600 19

    4.2.3 Gioseffo Zarlino und Seth Calvisius 22

    4.3 Heinrich Schtz und seine Musica poetica 23

    Literaturnachweis 26

    Anhang 1 bis 6 ab 27

    2

  • 1 Musik und Sprache in der Zeit von Heinrich Schtz Das Verhltnis von Musik und Sprache unterlag im 16. und 17. Jahrhundert einer

    grundstzlichen Wandlung. Bis zu dieser Zeit diente in Vokalkompositionen der Text

    hauptschlich dazu, strukturell, also dem Satzbau nach, von der Musik erfasst zu werden. Was

    in der einstimmigen liturgischen Musik des gregorianischen Chorals seit langer Zeit schon

    praktiziert wurde, jeder Sprachsilbe einen Ton zuzuordnen, so dass sich der musikalische

    Ablauf und der gesprochene Satz eines Stckes miteinander decken, wurde von Komponisten

    wie Orlando di Lasso oder Giovanni Pierluigi da Palestrina auf die Mehrstimmigkeit

    bertragen.1 Die Sprachverstndlichkeit der so bearbeiteten Texte war in diesen Werken

    zweitrangig. Im polyphonen Satz ist es dem Zuhrer nur schwer mglich, dem gesungenen

    Text einer einzelnen Stimme zu folgen und seinen Bedeutungsgehalt zu verstehen. Der

    sprachliche Inhalt wurde somit der Kunstfertigkeit der musikalischen Komposition

    untergeordnet und die Musik galt als Herrin ber die Sprache2.

    Folgte man der Definition Claudio Monteverdis, so bezeichnet man vorangegangene

    Kompositionsweise als prima pratica, wie er in der Vorrede zu seinem fnften

    Madrigalbuch 1605 den herkmmlichen kontrapunktischen Satz benannte. Er jedoch prgte

    einen neuen Kompositionsstil, die seconda pratica, in der vielmehr die Sprache die

    absolute Herrscherin ber die Musik3 war. Verste gegen die strengen

    Stimmfhrungsregeln der prima pratica, wie beispielsweise der Einsatz von Chromatik und

    die freiere Behandlung von Dissonanzen, berdies sogar die Rckwendung zur

    einstimmigen und daher sprachverstndlichen Monodie, waren gerechtfertigt, sofern sie einer

    ausdrucksvollen Textausdeutung dienten.

    Entsprechend einer Einordnung des Schtz-Schlers Christoph Bernhard in seinem Tractatus

    compositionis augmentatus von 1660 ergeben sich jedoch nicht zwei, sondern drei

    unterschiedliche Kompositionsweisen bezglich der Beziehung von Musik und Sprache.

    Palestrinas prima pratica benannte er als stylus gravis, in dem ein Komponist nicht so

    sehr den Text als die Harmonie in Acht4 nahm. Dem gegenber stellte er Monteverdis

    3

    1 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984 2 Bernhard, Christoph: Die Kompositionslehre Heinrich Schtzens in der Fassung seines Schlers Christoph Bernhard. Hg. von Joseph Mller-Blattau. Kassel u.a., 1963: S.19 3 Ebda. 4 Ebda.

  • stylus theatralis, der wie kein anderer einen guten Effekt in Bewegen der Gemther []

    zu verursachen pfleget5.

    Die dritte Mglichkeit zeitgenssischer Kompositionsweisen bezeichnete Bernhard als stylus

    luxurians communis, dessen Vertreter und Vollender Heinrich Schtz gewesen ist. Sein Stil

    zeichnete sich dadurch aus, dass sich Musik und Sprache als gleichberechtigte Partner

    ergnzten, denn er bestnde zwar mehr aus guter Aria, welche sich aber gleichwohl zum

    Texte [] zum besten reimet []6.

    Im Folgenden wird das Verhltnis von Musik und Sprache bei Heinrich Schtz unter

    Bercksichtigung von Kompositionen in zweisprachiger Fassung erlutert, wobei

    insbesondere SWV 84, Ecce advocatus meus apud te Deum Patrem7, und SWV 304,

    Siehe, mein Frsprecher8, nher betrachtet werden, sowie SWV 88, Oculi omnium in te

    sperant, Domine9 und das Pater noster SWV 8910 beziehungsweise die ersten beiden Teile

    von SWV 429 (Aller Augen warten auf Dich, Herre11 und das Vater unser12).

    2 Die Sprache im Werk von Heinrich Schtz

    2.1 Die sprachlichen Verhltnisse seiner Zeit Zunchst sollten die sprachlichen Gegebenheiten skizziert werden, in denen Heinrich Schtz

    wirkte. Das 16. Jahrhundert brachte viele sprachlichen Umwlzungen mit sich, denn zu

    dessen Beginn gab es noch keine einheitliche und standardisierte deutsche Sprache, war

    allerdings bereits im Begriff, sich auszubilden.13 Das heutige Hochdeutsch hatte hinsichtlich

    Grammatik und Wortschatz seinen Ursprung in der damaligen ostmitteldeutschen

    Schriftsprache, der sogenannten schsischen oder auch Meiner Kanzleisprache. Sie lste sich

    4

    5 Ebda. 6 Bernhard, Christoph: Die Kompositionslehre Heinrich Schtzens in der Fassung seines Schlers Christoph Bernhard. Hg. von Joseph Mller-Blattau. Kassel u.a., 1963: S.19 7 Anhang 1 8 Anhang 2 9 Anhang 3 10 Anhang 5 11 Anhang 4 12 Anhang 6 13 Keller, Rudolf E.: Die deutsche Sprache und ihre historische Entwicklung. Bearbeitet und bertragen aus dem Englischen von Karl-Heinz Mulagk. Hamburg, 1995: S.362

  • in groem Mae von den Mundarten ab und wurde zugleich stark von den benachbarten

    sdwestlichen Schreibsprachen beeinflusst, dem Westmittel-, Zentral- und Oberdeutschen

    (Rheinfrnkisch, Ostfrnkisch und Bairisch).14 Zur Entwicklung einer gemeinsamen

    deutschen Sprache hat Martin Luther einen wesentlichen Anteil beigetragen. Durch den

    Erfolg der Reformation und die breite Rezeption Luthers Bibelbersetzung, die von ihm in

    Meiner Kanzleisprache verfasst worden ist, verbreitete sich die ostmitteldeutsche

    Schreibsprache im 16. und 17. Jahrhundert in ganz Deutschland.15

    2.2 Die reformatorischen Ideale Die groe Wirkung der Lutherbibel fute vor allem auf der Bemhung des bersetzers, eine

    mglichst volksnahe Sprache zu finden, damit die Lehren der heiligen Schrift nicht lnger nur

    den Gebildeten vorbehalten waren. Seine Absicht war es, das Schriftdeutsch mit dem

    gesprochenen Deutsch des einfachen Mannes [zu] verschmelzen16, so schuf er, auf der Basis

    seiner heimischen Schreibsprache, aber unter Einbeziehung unkomplizierter und

    verstndlicher Ausdrcke einen volkstmlichen Sprachstil. Damit bersetzte er nicht einfach,

    sondern dolmetschte17 aus dem Lateinischen beziehungsweise Hebrischen und

    Griechischen in eine fr Jedermann verstehbare Form des Deutschen, was einen langwierigen

    Vorgang bedeutete. Auch ersetzte Luther die Wrter, die nach seinem Verstndnis zu sehr in

    regionalem, mundartlichen Gebrauch waren, durch weitlufigere Begriffe und leistete dabei

    einen Beitrag zum gemeinsamen Deutsch.18

    Mit der Einfachheit in der deutschen Sprache ging Luthers Bestreben einher, auch den

    Gottesdienst in seiner ursprnglichen Reinheit und Einfachheit wiederherzustellen. Die

    katholische Messe war fr die Reformatoren zu einem menschlichen Werk19 herabgesetzt

    5

    14 Seit 1560 gewann durch Frankfurts Drucksttten das Westmitteldeutsche an Bedeutung, im Sden herrschte die neue humanistische Gelehrsamkeit (S. 365). Zusammen mit dem Ostmitteldeutschen bildeten sie das

    Gemeindeutsche; auerhalb befanden sich zu Luthers Zeiten die Gebiete Kln, Schweiz und

    Niederdeutschland, die sich im 16. und 17. Jh. sprachlich anpassten. Die einst blhende Schreibsprache des

    Niederdeutschen verlor nach dem wirtschaftlichen Verfall der Hanse an Bedeutung. Ebda.: S.364ff. 15 Keller, Rudolf E.: Die deutsche Sprache und ihre historische Entwicklung. Bearbeitet und bertragen aus dem Englischen von Karl-Heinz Mulagk. Hamburg, 1995: S.367ff. 16 Ebda.: S.371 17 Ebda. 18 Ebda.: S. 367ff. 19 Veit, Patrice: Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische

  • worden, das den Glubigen dazu diene, die Gerechtigkeit Gottes durch Taten erwerben zu

    wollen, anstatt, wie von Luther ersucht, allein durch den Glauben. So forderte die

    Reformation ein Verbot jeglicher Prachtentfaltung in der Kirche.20 Dies bedeutete jedoch

    nicht, dass Martin Luther die Musik verurteilte, denn sie hatte fr ihn einen hohen

    Stellenwert, da sie einen strkeren Einfluss auf die Menschen habe, als das bloe Sprechen.

    Er wusste, dass die Musik Auswirkungen auf die menschlichen Affekte hatte, Trost spenden

    knne und Leidenschaften zgelte, wodurch sie Schutz vor den Versuchungen des Teufels

    bot. Somit eignete sie sich besonders gut dazu, das Wort Gottes zu transportieren und den

    Zuhrern nahe zu bringen.21

    Die textlichen Grundlagen der Beispielstcke SWV 84, 88, 89, 304 und 429 Auch Heinrich Schtz folgte als Protestant dem Vorbild Luthers und den reformatorischen

    Idealen. Er bemhte sich bei der Dichtung geistlicher Texte um eine fr jeden Kirchgnger

    verstndliche Sprache, so verwendete er fr seine Kompositionen vorwiegend Bibelprosa,

    dabei zu einem Groteil deutsche, in der bersetzung Luthers, aber auch lateinische.22

    Die drei hier untersuchten Werke mit lateinischem Text sind in den Cantiones sacrae von

    1625 enthalten. Fr SWV 84, Ecce advocatus meus apud te, verwendet Heinrich Schtz

    hingegen eine nichtbiblische geistliche Dichtung, die Verse 5,3 aus den Meditationes Divi

    Augustini, welche zu den patristischen Pseudoepigrapha zhlen, was bedeutet, dass sie nicht

    von Augustinus stammen, sondern spter entstanden und ihm nur zugeschrieben wurden.

    Solche Zuschreibungen gelten nach heutigem Verstndnis als Flschungen, waren im

    Mittelalter aber sehr hufig, so drften circa 80 bis 90 Prozent der Schriften, die aus dieser

    Epoche unter dem Namen Augustins berliefert sind, hierzu gehren. Die Meditationes

    waren als Erbauungsliteratur bis in das 19. Jahrhundert hinein sehr beliebt.23 Eine deutsche

    bersetzung dieses Textes, die wahrscheinlich Heinrich Schtz selbst vornahm, ist die

    Grundlage fr SWV 304 Siehe, mein Frsprecher und bildet eines der Kleinen geistlichen

    6

    Untersuchung. Stuttgart, 1986: S.16 20 Ebda.: S.16f. 21 Ebda.: S.24f. 22 Gudewill, Kurt: Zum Verhltnis von Sprache und Musik im Werk von Heinrich Schtz. SJb 1991 23 Auskunft von Dr. Alexander Eisgrub, Mitarbeiter der Augustinus-Forschung in Wrzburg.

  • Konzerte I von 1636. Der lateinische Text von SWV 88 Oculi omnium in te sperant

    Domine stammt aus der Bibel, Psalm 145, 15-16; das Pater noster, SWV 89 ist aus dem

    Neuen Testament, Matthus 6,9-13.24 Das Vater unser von Heinrich Schtz ist der zweite

    Teil aus SWV 429 aus den Zwlf geistlichen Gesngen von 1657 und verwendet ebenfalls

    Matthus 6,9-13 in der bersetzung Martin Luthers. Zusammen mit dem ersten Teil, Aller

    Augen warten auf Dich, Herre, Psalm 145,15-16, ebenso in Luthers Version, und dem

    dritten Teil, eine ins Deutsche bertragene lateinische Tischcollecte, bildet SWV 429 das

    Benedicite vor dem Essen. In protestantischen Husern des 16. und 17. Jahrhunderts wurde

    das gemeinsame Mahl stets von diesem Benedicite sowie dem Deo Gratias nach dem

    Essen eingerahmt.25

    Das Latein bei Heinrich Schtz Die groen lateinischen Werksammlungen von Heinrich Schtz sind beide vor 1630 gedruckt

    worden, die Cantiones sacrae (1625) und die Symphoniae sacrae I von 1629; nach

    dieser Zeit entstanden nur noch einzelne Stcke mit lateinischem Text.26 Laut Amalie Abert

    liegt dies daran, dass die Cantiones sacrae im Auftrag des katholischen Frsten Eggenberg

    entstanden und die Symphoniae sacrae I in Italien erschienen sind, Anlsse, zu denen das

    von Schtz eigentlich bevorzugte Lutherdeutsch wenig passend gewesen wre. Reinhard

    Gerlach vermutet weiterhin, dass der Komponist die Mittel der lateinischen Sprache bereits

    ausgeschpft hatte und sich deshalb seit 1630 fast ausschlielich nur noch dem Deutschen

    widmete.27 Das Latein war bereits seit Jahrhunderten die einzige Grundlage fr liturgische

    Texte gewesen und gehrte aufgrund ihrer Beschaffenheit der alten Satztechnik, der prima

    7

    24 SWV 88-90 bilden das Benedicite vor dem Essen, SWV 91-93 das Deo Gratias nach dem Essen und formen zusammen die lateinischen Gegenstcke zu SWV 429 und SWV 430. 25 Volckmar-Waschk, Heide: Die Cantiones sacrae von Heinrich Schtz. Entstehungen, Texte, Analysen. Kassel 2001: S.256 26 In den Kleinen geistlichen Konzerten I befinden sich 3 lateinische Stcke, in den Kleinen geistlichen Konzerten II sind 11 lateinische Kompositionen vertreten, dazu kommen 8 weitere, verstreute Werke und

    mindestens 10 lateinische Stcke, die nicht erhalten sind. Vgl.: Weber-Bockholdt, Petra: Die lateinische Sprache

    im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-

    Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a., 1993: S.52f. 27 Weber-Bockholdt, Petra: Die lateinische Sprache im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang

    1993. Kassel u.a., 1993: S.53

  • pratica an. Warum sich die lateinische Sprache nicht so sehr fr die Neuerungen der

    Kompositionsweise des 17. Jahrhunderts eignete, liegt vor allem an ihren Qualitten als

    Schriftsprache, die es erschweren, den Text einer Vokalkomposition fr den Zuhrer

    verstndlich wiederzugeben. Thrasybulos Georgiades fand heraus, dass sich der Sprechakt

    nicht mit dem Sinngehalt des Gesagten decken wrde, denn die Bedeutung eines Wortes sei

    nicht unmittelbar mit der Betonung einer bestimmten Silbe verbunden. Vielmehr verteilt das

    Lateinische die Hebungen zur Verdeutlichung der jeweiligen grammatikalischen Funktion,

    also nach der Flexion gem Genus, Numerus und Kasus.

    Georgiades verdeutlicht dies anhand des Wortes adorare (verehren): Im Infinitiv wird der Akzent auf das zweite a gesetzt (adorre), whrend bei der ersten Person, Singular, das erste o mit einer Hebung versehen wird (adro). Im Genitiv der Substantivierung adortio liegt die Betonung hingegen auf dem zweiten o (adoratinis).

    Man bezeichnet diese Eigenschaft als Nebenordnung der Silbenbetonung, aufgrund deren

    Prinzip Georgiades schlussfolgert, dass die Musik den Bedeutungsgehalt des lateinischen

    Textes nicht verdeutlicht, weil die gesprochene Sprache ihn ebenfalls nicht bercksichtigt.28

    In der Vertonung lateinischer Texte durch Heinrich Schtz kann man diese Nebenordnung

    beispielsweise anhand SWV 88 bemerken. Die erste Wortphrase culi mnium in t

    sprant wrde man wie eben gekennzeichnet vortragen, tatschlich wurden die Hebungen,

    musikalisch bestimmt durch lange Notenwerte oder das Legen auf betonte Zeit, jedoch in

    anderer Weise gesetzt, ohne hingegen den Satz zu parodieren: culi mnium n te sprant.29

    Bei den lateinischsprachigen Kompositionen von Schtz erkennt man die traditionelle

    Vertonung im Sinne der prima pratica. Als Beispiel kann wieder SWV 88 aus den Cantiones

    sacrae fungieren, in dessen ersten zwei Takten man den Textanfang Oculi omnium in te

    sperant Domine [] zwar durch die homophone Beteiligung aller vier Stimmen deutlich

    verstehen kann; gleichsam jedoch, als reichten diese Worte aus, im Hrer die vollstndige

    Aussage des Textes wachzurufen, fhrt das Stck in der alten, uerst dichten und

    kunstfertigen, Satztechnik fort. Der restliche Text nmlich, [] et tu das escam illorum in

    tempore opportuno. Aperis tu manum tuam, et imples omne animla benedictione., ist fr das

    menschliche Ohr in seiner tatschlichen, wrtlichen Bedeutung nur schwer wahrnehmbar, da

    28 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.53ff. 29 vgl. Anhang 3 (1/2) 8

  • die teilhaftigen Stimmen ihn zeitlich versetzt vortragen.30 Das Textgefge lst sich in einem

    einzigen bewegten Klang auf und wird lediglich durch Interpunktionszeichen gegebene

    Zsuren unterbrochen. Petra Weber-Bockholdt erklrt dies folgendermaen:

    Die Motette feiert den Text wie die Liturgie Texte und Handlungen feiert, wobei die Wiederholung von Gekanntem, dem erneuten Begehen des Textsinns die zentrale Rolle zukommt. Der Text kann im Verstndnis der Motette und ihrer Hrer nicht entstehen und verklingen, sondern er steht geschrieben, er wird gelehrt, daher auch gekannt und als dieser unabhngig von der Motette gekannten Text vorgetragen31

    Thrasybulos Georgiades nennt diese, im 16. Jahrhundert entwickelte Vorgehensweise

    liturgische Vertonung32, von der sich Schtz bei der Annahme der neuen Satztechniken, in

    dem Mae, wie die Reformatoren vom Lateinischen als Kirchen- und Bibelsprache

    abweichen, abwendet.

    Das Deutsche bei Heinrich Schtz Wenn Martin Luther in die deutsche Sprache bersetzt hat, dann galt fr ihn die Regel, dass

    das Schreiben sich der Art und Weise des einfachen und volkssprachlichen Redens anpassen

    sollte. Es ist wohl nicht falsch, zu behaupten, dass Heinrich Schtz fr seine deutschen

    Vokalkompositionen dasselbe Prinzip angewendet hatte und somit das Singen sich dem

    Sprechen gleichfalls annhert, denn die Grundlage fr seine musikalische Sprache besteht

    aus der Musikalisierung freier Rhythmik der Bibelprosa. Dieses Vorgehen ist allein dadurch

    mglich, dass das Deutsche eine Volkssprache (Vulgrsprache) ist, ein Umstand, der einen

    wesentlichen Unterschied gegenber der lateinischen Sprache bildet.

    Die Besonderheit der deutschen Volkssprache lsst sich anhand des Wortes veranschaulichen,

    denn bei ihm seien, ganz im Gegensatz zum lateinischen, Form und Bedeutung untrennbar

    miteinander verknpft. Sobald nmlich im Deutschen ein Begriff erklingt, drngen sich dem

    Hrer unmittelbare Vorstellungen ber dessen Sinngehalt auf, da in der Aussprache die

    Betonung der bedeutungstragenden Silbe streng festgelegt ist. Anders als im Latein gilt hier

    fr das Deutsche das Prinzip der Unterordnung, denn innerhalb eines Wortes gibt es,

    9

    30 vgl. Anhang 3 (1/2) und (2/2)

    31 Weber-Bockholdt, Petra: Die lateinische Sprache im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a., 1993: S.56

    32 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt

  • unabhngig von seiner jeweiligen Beugung, stets nur eine bestimmte Wurzelsilbe, der die

    bedeutungstragende Funktion zukommt, whrend die anderen Silben sich dieser

    unterordnen mssen und vom Sprecher nicht betont werden knnen, ohne den Sinn des

    Wortes zu parodieren.33

    Georgiades veranschaulicht dies anhand des Wortes verehren, dessen sprachliche Betonung immer auf dem zweiten e liegt, sowohl im Infinitiv (verhren), als auch bei Konjugation (ich verhre), Substantivierung (Verhrung) und ihrer Deklination (der Verhrung).34

    Bei der Vertonung von deutschsprachigen Prosatexten ist dieser Sprechakzent mageblich fr

    den Rhythmus in der Musik. Dabei gibt es nur zwei Mglichkeiten der Betonungsverteilung;

    meist geschieht diese auf der ersten Silbe des Wortes (ugen, wrten, slig), wird der

    Wortstamm, der die Wurzelsilbe enthlt, jedoch um ein Prfix erweitert, so ist die zweite

    Silbe bedeutungstragend (gehiligt, vergben, Verschung). Damit ergeben sich auch

    fr die musikalisch-rhythmische Gestaltung zwei Formen, entweder Abtakt (betont

    unbetont) oder Auftakt (unbetont betont), Akzentuierungen, die man bercksichtigen muss,

    wenn man die deutsche Sprache verstndlich in die Musik bertragen will.35

    Anhand Schtz vierstimmiger Vertonung des Pater noster, SWV 89, beziehungsweise des

    Vater unser, SWV 429 (zweiter Teil), lsst sich dies an einem kleinen Beispiel

    exemplifizieren. In Takt 11 der deutschen Version wird die Phrase und vergib [uns]

    wesentlich natrlicher als die lateinische Entsprechung et dimitte [nobis], Takt 14/15,

    akzentuiert36:

    Im Pater noster beginnt der Sopran mit einer Achtelnote ber et, aber auf starker Zeit.

    Dadurch, dass jedoch die gesamte Sentenz mit Achtelnoten versehen ist, ergibt sich ein

    knstlicher Sprachduktus, der im Hrer den Eindruck erweckt, er habe nicht die beiden

    Begriffe et und dimitte vernommen, sondern vielmehr ein einziges Wort, et-di-mit-te,

    das beim bloen Hreindruck kein direktes Begreifen eines Wortsinns auslsen kann. Diese

    Empfindung wird durch den imitierenden Einsatz der brigen Stimmen nur noch verstrkt.

    Im Vater unser hingegen gibt der Tenor die Wortsequenz als erster wieder, wobei die

    10

    an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.62 33 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.54-58

    34 Ebda.: S.54 35 Ebda.: S.55ff. 36 vgl. Anhang 6 (2/4) und Anhang 5 (2/5)

  • Achtelnote des und auf unbetonter Zeit liegt, da es lediglich eine Konjunktur darstellt. Das

    vergib wird, gem der Betonungsregel bei Prfix, mit einer Achtelnote (ver-) und einer

    punktierten Halben Note (-gb) versehen, wodurch der lebendige Sprechrhythmus

    unverflscht wiedergegeben wird. Die anderen Stimmen verfahren anschlieend in gleicher

    Weise, beziehungsweise Altstimme und Bass in hnlicher.37 Die Bedeutung der Textstelle

    erschliet sich dem Rezipienten der deutschen Version also bereits unmittelbar beim

    Hrvorgang.

    Mit der Natrlichkeit und Spontaneitt, die sich durch die Akzentuierung bei der Aussprache

    des Deutschen ergeben, ist noch eine weitere Eigenschaft verbunden, die das Wesen einer

    Volkssprache gegenber der lateinischen Schriftsprache unterscheidet. So stellte Georgiades

    fest: [Die Silbenbetonung] fhrt aber auch zum Einswerden von Wort und Nachdruck, von

    Sprache und Ausdruck, von Vergegenstndlichung und Ich, von Objektivitt und

    Subjektivitt.38. Die Folge daraus ist, dass nicht nur der reine, inhaltliche Textsinn im

    Deutschen so unmittelbar mit der Aussprache verknpft ist, sondern auch sein Affektgehalt,

    der individuelle Gemtszustand der sprechenden Person. So ist es bei der Vertonung von

    deutscher Prosa daher nicht nur mglich, eine sprachliche Wirklichkeit darzustellen, sondern

    durch die jeweilige Ausdrucksweise eine persnliche, menschlich-geistliche Haltung

    wiederzugeben.39

    Den Eigenschaften der Volkssprache musste sich die Musik folglich anpassen, um das

    biblische Wort und die christliche Heilslehre vermitteln zu knnen. Denn laut Luther konnte

    es nicht ausreichen, bei einer Vokalkomposition den lateinischen Text einfach nur ins

    Deutsche zu bersetzen, die Noten jedoch beizubehalten, da Akzent, Noten, Melodie und

    Gebrde sich nach den Regeln der Muttersprache richten mssen.40

    37 Die Lnge liegt bei beiden immer noch auf der zweiten Silbe von vergib, wenn auch im Alt mit einer kleinen Koloratur, im Bass mit nur einer halben Note versehen; das und liegt in allen Stimmen auf

    unbetonter Zeit. 38 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.55 39 Ebda.: S.53-70 40 Ebda.: S.61 11

  • 3 Kompositionstechnik und Reformationsgedanke

    3.1 Textverstndlichkeit durch musikalische Mittel Um den deutschen Text in seiner reinen und natrlichen Form verstndlich wiederzugeben, ist

    es notwendig, die musikalischen Mittel schlichter zu halten. Dies macht sich bei Heinrich

    Schtz insbesondere durch den hufigen Einsatz der Homophonie bemerkbar. So ist SWV

    429 (erster Teil), Aller Augen warten auf Dich, Herre, nahezu durchgehend homophon,

    und der gesamte Text des Stckes klar verstehbar von Anfang bis Ende. In der lateinischen

    Entsprechung hingegen, SWV 88, Oculi omnium in te sperant Domine, wird die

    Gleichzeitigkeit in Text und rhythmischer Gestalt nur die ersten beiden Takte lang gewahrt.41

    In hnlicher Weise verhlt sich die deutsche Version des Vater unser gegenber der

    Vertonung des lateinischen Pater noster. Den Satz Geheilget werde dein Nam., 3. und 4.

    Takt, fhren alle vier Stimmen, zwar mit Unterschieden in der jeweiligen Melodie, aber in

    Rhythmus und Text gleichmig aus. Das lateinische Gegenstck sanctificetur nomen

    tuum. beginnt mit einem Einsatz im Sopran, zwei Viertelnoten spter wird die Sequenz erst

    von Alt- und Bassstimme, wieder zwei Viertelnoten darauf erst vom Tenor wiedergegeben.42

    Hinzu kommt der Einsatz von Pausen, die sich im natrlichen Sprechakt ergeben, und die eine

    Vokalkomposition deutlich nach Sinnabschnitten gliedert. Damit ist nicht nur die

    Kennzeichnung von Interpunktionszeichen durch Pausen gemeint, denn diese geschieht

    gleichermaen in lateinischen wie in deutschen Werken. Vielmehr werden neue Textpassagen

    deutscher Vertonungen zuerst in einer einzigen Stimme eingefhrt, whrend die anderen

    schweigen, damit man den Wortsinn verstehen kann. Bei lateinischen Stcken setzen die

    unterschiedlichen Stimmen viel hufiger schon zu einem Zeitpunkt ein, an dem eine andere

    Stimme ihr Wort noch nicht zu Ende gesungen hat, wodurch der Zuhrer dem

    Bedeutungsgehalt des Textes nicht mehr folgen kann.43

    Als Beispiel dient wieder das Vater unser, etwa die Passage Dein Will gescheh, 5. und 6.

    Takt.44 Der Tenor beginnt allein und deutlich mit Dein Will und fhrt erst mit gescheh

    12

    41 vgl. Anhang 3 und 4 42 vgl. Anhang 5 (1/5) und 6 (1/4) 43 Gudewill, Kurt: Zum Verhltnis von Sprache und Musik im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 13. Jahrgang

    1991. Kassel u.a., 1992: S.7 44 vgl. Anhang 6 (1/4 und 2/4)

  • fort, wenn die drei brigen Stimmen ebenfalls die ersten beiden Worte vollzogen haben und

    schlieen so gemeinsam ab.

    Im Pater noster, Takt 7, setzt zunchst der Bass mit seinem Fiat voluntas tua ein, aber

    zu einem Zeitpunkt, an dem Sopran, Alt und Tenor noch auf der letzten Silbe von Adveniat

    regnum tuum schweben. Der Sopran beginnt darauf, lediglich eine Achtelnote nach der

    Bassstimme, ebenfalls das Fiat voluntas tua vorzubringen, das in Takt 7 von beiden

    Stimmen bereits abgeschlossen wird, whrend Alt und Tenor noch damit beschftigt sind, die

    gleiche Sentenz in Takt 8 auszufhren.45

    In hnlicher Weise ist der Textabschnitt Und fhr uns nicht in Versuchung, Takte 14 bis

    16, gegenber Et ne nos inducas in tentationem, Takte 19 bis 22 gestaltet.46

    3.2 SWV 84 und SWV 304 - eine liturgische und eine persnliche Vertonung Da sich nun in der deutschen Sprache Bedeutung und Erklingen, Bedeutung und Sprechen

    restlos decken,, schlussfolgerte Georgiades, kann auch das musikalische Erklingen der

    Sprache nicht anders als auf die Bedeutung eingehen. Die Musik kann hier nicht bloer

    Trger der Sprache sein wie im Lateinischen.47. Mit der Vertonung der deutschen Sprache

    als Mittlerin des Bibelwortes48 ist demnach ein zweiter bersetzungsakt nach dem ersten

    der bersetzung Luthers49 verbunden, der, wie jeder bersetzungsvorgang, eine neue,

    diesmal musikalische Deutung mit einschliet. Heinrich Schtz erschuf auf diese Weise

    nicht eine liturgische, sondern eine persnliche Vertonung50, was im Folgenden anhand der

    zweisprachigen Vertonung von SWV 84 Ecce advocatus meus apud te und SWV 304

    Siehe, mein Frsprecher gezeigt wird.

    3.2.1 Gemeinsamer Aufbau

    13

    45 vgl. Anhang 5 (2/5) 46 vgl. Anhang 5 (3/5) und 6 (3/4) 47 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.59 48 Kunze, Stefan: Sprachauslegung und Instrumentalitt in der Musik von Heinrich Schtz. Zweiter Teil. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner

    Breig. 4./5. Jahrgang 1982/83. Kassel u.a., 1983: S.39 49 Ebda. 50 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.62

  • Das kleine geistliche Konzert Siehe, mein Frsprecher SWV 304, ist dem lateinischen

    Vorgnger aus den Cantiones sacrae, Ecce advocatus meus SWV 84 vom Aufbau her

    sehr hnlich. So kann man beide Stcke in drei Teile gliedern, wobei der erste sich in vier

    Stze aufteilt, Takte 1 bis 49 (dt.) bzw. 1 bis 25 (lat.), die vier unterschiedliche Eigenschaften

    Jesu vorstellen: Frsprecher oder advocatus, Hohepriester oder Pontifex summus,

    Opfer oder hostia und Lamm oder agnus. Eingeleitet werden diese Abschnitte

    jeweils mit Siehe beziehungsweise Ecce, vorgetragen werden sie abwechselnd durch

    zwei Unterstimmen- und ein Oberstimmenduett, abgesehen vom letzten Satz, der eine

    Beteiligung aller vier Stimmen enthlt. Der zweite Teil behandelt die Heilslehre Christi, die

    von einem Tenor Solo gesungen wird, whrend im dritten Abschnitt die vierstimmige Bitte

    um Erhrung durch Gott das Konzert abschliet.

    3.2.2 Sprachliche Besonderheiten Fr die deutsche Version des Werkes greift Heinrich Schtz an bestimmten Stellen in die

    textliche Vorlage ein, wohingegen der lateinische Text, abgesehen von einigen Wort- und

    Satzteilwiederholungen, unberhrt bleibt. Die Erklrung dafr liegt wieder im Wesen der

    deutschen Sprache, an ihrer Lebendigkeit, Gegenwrtigkeit und ihrem Affektgehalt als

    Volkssprache: Denn die Vertonung deutscher Prosa ist innig mit der schpferischen Tat der

    persnlich verbindlichen Deutung verknpft.51

    Zum einen folgt Schtz dem protestantischen Gebot einer schlichten und verstndlichen

    Sprache, wenn er den Ausdruck opprobriis affectus aus dem Original nicht durch die

    wortgetreue bertragung mit Schmhungen versehen wiedergibt, sondern den lateinischen

    Ausdruck lieber mit verhhnet und verspottet bersetzt. Gleichzeitig verstrkt die neue

    Wortwahl, zwei unterschiedliche Begriffe mit der gleichen Bedeutung, diese Passage und das

    Leiden Christi wird fr den Hrer intensiver erklrt. hnlich verfhrt er mit dem Satz Ecce

    Pontifex summus, qui non alieno eget expiari sanguine, qui proprio refulget cruore..

    Wortgetreu msste eine deutsche bertragung lauten: Siehe, dies ist der Hohepriester, der

    nicht durch fremdes Blut die Vergebung erwirkt, der durch sein eigenes Blut hervorstrahlt..

    Schtz hingegen ersetzt die schwer nachvollziehbare Wendung durch Blut hervorstrahlen

    und arbeitet seine persnliche Interpretation dieser Textstelle wie folgt heraus: Siehe, mein

    14

    51 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.64

  • Hohepriester, welcher durch sein eigen Blut in das Heilige eingegangen ist, und hat eine

    ewige Erlsung erworben. Erwhnenswert ist zudem der Einsatz von Possessivpronomen,

    die eine persnliche Nhe zwischen Gott beziehungsweise Jesus und dem Menschen

    zelebriert, die in der lateinischen Version nicht in diesem Ausma aufgebaut wird:

    Siehe, mein Hohepriester Ecce Pontifex summus [] ist fr uns zur Snde gemachet worden, [] peccata nostra pertulit, und hat unsre Schmerzen auf sich geladen, / und hat uns mit seinen Wunden geheilet et languores nostros suo livore sanavit. Durch diesen unsern [] Mittler Per hunc summum Mediatorem Eine hnliche Gewichtung betrifft die Anzahl der Wiederholungen im Vergleich beider

    Versionen. Diese gravierenden Abweichungen von der Textvorlage dienen Schtz einerseits

    zur persnlichen Textausdeutung, knnen aber auch bloe formgebende Mittel der

    Komposition darstellen.52 Ein Vergleich zwischen den verschiedensprachigen Stcken zeigt,

    dass Schtz auf die deutschen wiederholten Stellen ohne lateinische Entsprechung besonderen

    Wert gelegt hat (hier unterstrichen), und er diese deshalb betonen wollte, im Gegensatz zu

    einigen der lateinischen Repetitionen, die meist nur zur musikalischen Ausgestaltung

    verwendet wurden:

    siehe (2 mal wiederholt) ecce (2 mal wiederholt) das unbefleckte Lamm sine macula hat seinen Mund nicht aufgetan os suum non aperuit mit seinen Wunden geheilet suo livore sanavit erhre uns / einigen (wird nicht genannt) o barmherziger Vater clementissime Pater So dienen die Wiederholungen von siehe, Takte 26 bis 32, und ecce, Takte 13 bis 17,

    der harmonisch komplexen Prachtentfaltung aller vier Stimmen in auffallend langen

    Notenwerten53; die erneuten Wiedergaben von o barmherziger Vater, Takte 82 bis 93, und

    clementissime Pater, Takte 42 bis 47, heben die Schlusswirkung am Ende des Stckes

    noch einmal besonders hervor54, ein von Schtz hufiger verwendetes kompositorisches

    52 Gudewill, Kurt: Zum Verhltnis von Sprache und Musik im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 13. Jahrgang

    1991. Kassel u.a., 1992.: S.9 53 vgl. Anhang 1 (3/8 und 4/8) und 2 (3/6) 54 vgl. Anhang 1 (8/8) und 2 (6/6) 15

  • Mittel.55

    3.2.3 Musikalische Textausdeutung Um eine persnliche Vertonung zu schaffen, also die textliche Vorlage nicht nur zu

    verknden, sondern auch auszulegen, gengt es Heinrich Schtz nicht, den Text nur

    verstndlich und klar artikuliert wiederzugeben. Kurt Gudewill meint, dem Komponisten lge

    ein sprachliches Urbild56 zugrunde, das sich dem natrlichen Sprechen annhert, von dem

    er jedoch bei der musikalischen Deutung auf verschiedene Weise abweichen kann.

    Dies geschieht in Form von Kontrasten zwischen kurzen und langen Notenwerten, die

    sukzessiv, also aufeinanderfolgend nur von einer Stimme, oder simultan, von mehreren

    Stimmen gleichzeitig, ausgefhrt werden knnen.57

    3.2.3.1 Sukzessive und simultane Kontraste Auf die Begriffe, die mit langen Notenwerten versehen werden, fllt dadurch ein besonderer

    Nachdruck; der Hrer nimmt diese somit intensiver wahr. In beiden Beispielen, SWV 84 und

    304, nimmt Schtz diese Kompositionstechnik auf, setzt daher auf die erste Silbe von Ecce

    beziehungsweise von Siehe, jeweils zu Beginn der drei Duette58, eine Ganze Note. Jedoch

    erklingt das Siehe fr den Hrer stets andersartig artikuliert als das Ecce, ein Umstand,

    der sich auf die verschiedenartige Silbenbetonung der zwei Sprachen zurckfhren lsst.

    Obwohl beide Begriffe zweisilbig sind und gleichermaen eine Terz hinab fallen, vernimmt

    man durch die Aufsaugekraft der Wurzelsilbe59 Sie- in der deutschen Version eine

    scheinbare, im Notenbild unsichtbare Pause nach dem Wort. Es entsteht eine andersgeartete

    Sngerhaltung, da der Rezipient einen Nachdruck in diesem Imperativ Siehe hrt, der eine

    apostolische, predigende Situation, eine tatschliche Aufforderung zu sehen erzeugt.

    Die erste Silbe von Ecce hat nicht die gleiche Macht wie ihre deutsche bersetzung, denn

    16

    55 Gudewill, Kurt: Zum Verhltnis von Sprache und Musik im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 13. Jahrgang

    1991. Kassel u.a., 1992.: S.9 56 Ebda.: S.6 57 Ebda.: S.9 58 vgl. Anhang 1 (1/8: Takt 1, 3 und 2/8: Takt 9) Anhang 2 (1/6: Takt 1, 6 und 2/6: Takt 17) 59 Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984: S.68

  • das Lateinische erwirkt durch die Nebenordnung der Silbenbetonung eine frei schwebende

    Vertonung60, durch die das Wort affektlos verklingt und keine Zsur zum folgenden

    advocatus verursacht, das zustzlich auch noch auf der gleichen Tonhhe folgt.

    Des weitern wird in SWV 84 meus, Takt 2, in der deutschen Version dagegen Himmel,

    Takte 3 und 4, durch Halbe Noten beschwert61; welche Intention Schtz dazu bewegt hat,

    bleibt wohl im Bereich des Spekulativen. Ebenso verhlt es sich mit summus in Takt 4 und

    5, das in hnlicher Weise wiedergegeben wird.62 Die Darstellung durch den Sopran, der

    Wortanfang sogar auf der bislang im Stck hchsten Note (e), verdeutlicht beispielhaft die

    Wortbedeutung (hchster). In Siehe, mein Frsprecher legt Schtz eben diese Betonung

    auf die zweite Hlfte von Hoherpriester, Takte 8 und 9.63 Es ist hier ebenfalls hypothetisch,

    darin eine Deutung durch Schtz feststellen zu knnen, aber dennoch erwhnenswert, dass er

    das Hohe des Hohepriesters nicht gleichermaen verdeutlicht hat.

    Weiterhin wird in der lateinischen Version das Wort sanguine ber den gesamten Takt 6

    hinweg auskoloriert, whrend bei SWV 304 Blut in Takt 10 nur mit einer einzigen Halben

    Note versehen ist.64 Diese wird im Sopran gegenber einer Achtelkette im Alt ausgehalten

    und fungiert wohl im Sinne der Textverstndlichkeit. Aber es gibt auch solcherlei geartete

    melismatische Verzierungen, die in den Bereich der Textausdeutung gehren.65

    3.2.3.2 Koloraturen und Tonmalerei Die Koloratur von refulget (refulgere strahlen, schimmern, glnzen) in Takt 7 und 8 zeigt

    gegenber der deutschen Vertonung an, dass Schtz hier eine Bedeutungsverschiebung im

    Text vorgenommen hat, da die Entsprechung erworben (Takte 16 und 17) eben nicht durch

    Sechzehntelketten ausgeziert wurde.66 Dafr hat der Komponist jedoch Erlsung in Takt 14

    17

    60 Ebda.: S.69 61 vgl. Anhang 1 (1/8) und 2 (1/6) 62 vgl. Anhang 1 (1/8) 63 vgl. Anhang 2 (1/6) 64 vgl. Anhang 1 (2/8) und 2 (1/6) 65 Gudewill, Kurt: Zum Verhltnis von Sprache und Musik im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 13. Jahrgang

    1991. Kassel u.a., 1992: S.10 66 vgl. Anhang 1 (2/8) und 2 (2/6)

  • bis 16 auskoloriert, einen abstrakten Begriff, der tonmalerisch gegenber (hervor)-

    strahlen eigentlich nicht erfassbar ist. Dieses Beispiel beweist, dass fr Schtz bei deutschen

    Vertonungen nicht der bloe Wortsinn mageblich ist, wie etwa im Lateinischen, sondern die

    persnliche Assoziation mit einem Wort, welches dann nach seiner eigenen Deutung im Werk

    ausgelegt werden konnte.

    In hnlicher Weise bemerkenswert ist die Passage et languores67 nostros, Takt 29 und 30,

    beziehungsweise und hat unsre Schmerzen, Takt 57 und 58, aus der Solopartie des

    Tenors.68 et languores ist durch einen chromatischen Aufstieg (c-c-des-d), nostros

    durch einen chromatischen Abstieg (e-es) dargestellt, Wendungen, die Schmerz und

    Verzweiflung ausdrcken knnen, daher also auergewhnlich affektgeladen sind. Die

    deutsche bertragung ist vergleichsweise schlicht gehalten, denn und hat unsre wird

    gleichbleibend auf einer Tonhhe (des) und Schmerzen einen Halbton hher (d) deklamiert.

    Es entsteht der Eindruck, dass Heinrich Schtz die lateinischen Sprache hier mit dem ntigen

    Affekt ausstatten musste, den sie von Natur aus nicht aufbringen kann, whrend das Deutsche,

    diese lebendige Volkssprache, auf solch eine tonmalerische Sttze nicht angewiesen ist.

    Der Psalmist Der gesamte Sologesang des Tenors ist in der lateinischen Version vom monodischen

    Prinzip69 geprgt, bei dem Textsinn und Affekt gleichermaen in der Musik zum Ausdruck

    gebracht werden sollten. Dies macht sich durch die eben schon erwhnte Stelle et languores

    nostros bemerkbar, die durch ihre langgezogene Chromatik der Lamento-Arie der Arianna

    von Monteverdi, dem Paradebeispiel der Monodie, stark hnelt. Grundstzlich ist diese Stelle

    mehrfach mit musikalischen Raffinessen ausgestattet, beispielsweise rhythmisch, durch die

    Synkopierung von peccata, Takt 27/28,70 doch auch harmonisch; hier sei kurz auf die

    Generalbassbegleitung hingewiesen, die in SWV 84 komplexer ausgestaltet wurde,

    beispielsweise durch die Anwendung des Saltus duriusculus in Takt 30 (As zu a)71.

    18

    67 eigentlich Schlaffheit, Schwermut oder Schwchen 68 vgl. Anhang 1 (6/8) und 2 (5/6) 69 Kunze, Stefan: Sprachauslegung und Instrumentalitt in der Musik von Heinrich Schtz. Erster Teil. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner

    Breig. 1. Jahrgang 1979. Kassel u.a., 1979: S.11 70 vgl. Anhang 1 (6/8) 71 vgl. Anhang 1 (6/8)

  • In SWV 304 ist die Solopartie demgegenber eher rezitativisch. Hier werden auffallend

    viele Wrter nur auf einer einzigen Tonhhe deklamiert. Beispielsweise der von keiner

    Snde gewut hat, Takt 60 bis 62, wird mit den ersten sechs Silben auf gleichbleibender

    Notenlage (b) vorgetragen, die lateinische Entsprechung weist hingegen nur vier auf (Takt

    27: qui peccatum auf b).72 Als letztes Beispiel sei die Sequenz und hat uns mit seinen

    Wunden geheilet, [], Takte 61 bis 69, gegenber suo livore sanavit, [], Takte 30 bis

    34 untersucht.73 Das lateinische suo livo-(re) (Viertel-Achtel-Achtel-Halbe) umspielt eine

    Terz und bildet eine zweimalig wiederkehrende Wendung, die eher eine knstliche

    Verzierung darstellt, als einen natrlichen Sprechvorgang. Die deutsche bertragung

    entwickelt kein gesangliches Motiv, obwohl seinen Wun-(den) (Viertel-Viertel-Halbe)

    ebenfalls eine Terz umfasst. Doch hier entsteht durch die lngeren Notenwerte der Eindruck

    eines getragenen Vortrags, bei dem man die hnlichkeit gegenber des sich spter

    etablierenden Rezitativs der Oper bereits erkennen kann.

    Schlielich springt der lateinische Tenor fr die letzte Wiederholung von suo livore in Takt

    32 in die Septime (von f auf e), was der Stelle einen affektvollen Klang gibt, ganz in

    Ausdeutung des Textes, whrend man im deutschen Stck nur einen harmlosen Sextsprung

    vollfhren muss (g zu e).

    4 Musicus poeticus Musica poetica

    4.1 Begriffsklrung Die besondere Art und Weise, wie Schtz mit der Sprache umgegangen ist, dass er den Text

    in die Music bersetzt74 hat, also auch dessen Wortsinn in seinen Werken hrbar machte,

    brachte ihm bei seinen Rezipienten in heutiger Zeit, wie beispielsweise Hans Heinrich

    Eggebrecht, den Beinamen Musicus poeticus ein.75

    Diese Bezeichnung leitet sich von der Musica poetica ab, ein Begriff, der in der Reforma-

    tionszeit von gebildeten Musikern geprgt wurde, in seiner ursprnglichen Bedeutung jedoch

    nicht etwa fr eine besonders poetische Musikform steht. Die musica poetica oder

    eigentlich die Ars musica poetica beschftigt sich mit der Herstellung eines musikalischen

    19

    72 vgl. Anhang 2 (4/6) und 1 (6/8) 73 vgl. Anhang 2 (5/6) und 1 (6/8 und 7/8) 74 zitiert in: Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schtz. Musicus poeticus. Wilhelmshaven, 2000: S.32 75 Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schtz. Musicus poeticus. Wilhelmshaven, 2000

  • Werkes und kann daher aus moderner Sicht als ein Synonym fr Komposition oder

    Kompositionslehre verstanden werden, in Analogie zur Ars poetica, der Dichtkunst.

    Daraus leitet sich ab, dass Musicus poeticus in seinem ursprnglichen Sinn bis in die zweite

    Hlfte des 17. Jahrhunderts lediglich die Ttigkeitsbezeichnung eines Komponisten darstellte,

    analog zum Poeticus, dem Dichter.76 Erst spter hat man die Musica poetica durch die

    Kombination mit dem Vorgang des componere synonym mit der Bezeichnung

    compositio verwendet, und schlielich durch das Wort Komposition abgelst.77

    4.2 Die musikalisch-rhetorische Figurenlehre Was Hans Heinrich Eggebrecht hingegen mit dem Begriff der musica poetica in

    Verbindung brachte ist vielmehr eine Kompositionslehre des 16. und 17. Jahrhunderts, die auf

    den Grundlagen der Rhetorik vermittelt wurde. Ihm zufolge ist Heinrich Schtz der

    Reprsentant der deutschen, humanistischen und lutherischen Musiktradition78, die er auf der

    Basis des kontrapunktischen Satzes und unter Verwendung musikalisch-rhetorischer Figuren

    zur Vollendung fhrte. Dies sei das Kernstck der Musica poetica gewesen und von Schtz

    durch italienische Einflsse wie etwa den Sologesang und die Ausarbeitung des

    musikalischen Ausdrucks lediglich ergnzt worden.79 Tatschlich ist es richtig, dass die Lehre

    der Rhetorik mit der Lehre der Musik in der Geschichte schon vielfach miteinander in

    Verbindung gebracht worden ist.

    4.2.1 Die Rhetorik und ihre Beziehungen zur Musiklehre Bereits in der Antike gehrten die Rhetorik wie die Musik gleichermaen zu den artes

    liberales, den freien Knsten, die einem alle notwendigen Kenntnisse fr das Leben

    vermitteln sollten. Hier haben Redner wie Cicero und Quintilian gelehrt, dass musikalische

    20

    76 Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a.,

    1993: S.9 77 Bandur, Markus: Musica poetica. Freiburg i. Br., 2000. In: Handwrterbuch der musikalischen Terminologie. Bd 4. Stuttgart, 1972 - 78 Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schtz. Musicus poeticus. Wilhelmshaven, 2000: S.11 79 Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a.,

    1993: S.10f.

  • Kenntnisse im Erlernen und Anwenden der Redekunst durchaus hilfreich sein knnen.80

    Seit dem frhen Mittelalter wurden die freien Knste als septem artes liberales bezeichnet,

    deren Erlernung bis ins 16. Jahrhundert als Grundlage und Qualifikation fr ein

    weiterfhrendes Studium wie beispielsweise Jura galt. Die Rhetorik gehrte in diesen sieben

    Disziplinen, zusammen mit Grammatik und Dialektik, dem Trivium der artes dicendi an,

    whrend die Musik mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie das Quadrivium der artes

    mathematicae bildete. Unter der ars musica an der Universitt verstand man lediglich die

    theoretische und mathematische Auseinandersetzung mit der Musik, die mit ihren

    Gesetzmigkeiten die gttliche Ordnung widerspiegeln sollte. Jedoch verliert die musica

    speculativa81 nach und nach an Bedeutung; der praktische Musikunterricht hingegen war im

    Lehrplan der Schulen enthalten und erhielt, hnlich wie die antiken Sprachen, zur

    Reformationszeit eine starke Aufwertung. Zu dieser Zeit beginnen die Musiker sich die

    Redekunst zum Vorbild zu nehmen, da die Musik in hnlicher Weise die Aufmerksamkeit des

    Zuhrers und seine Affekte wecken sollte, damit die Aussagen des Textes besser auf ihn

    wirken knnen.82

    Allerdings entwickelte sich die musikalische Rhetorik keineswegs in den damals

    musikalisch fortschrittlichen Lndern Italien oder Frankreich, wo man sich auf sporadische

    Hinweise bezglich der Gemeinsamkeiten von Redekunst und Musik beschrnkte, sondern in

    den protestantischen Teilen Deutschlands, die in musikalischer Hinsicht als eher provinziell

    galten. Der Grund hierfr lag in der Organisation des latein-protestantischen Schulwesens, an

    dessen Institutionen die Rhetorik Ziel und Hhepunkt nach jahrelanger Beschftigung mit der

    lateinischen Sprache und ihrer Autoren bildete, gleichzeitig aber auch die Qualifikation fr

    das Hochschulstudium darstellte. Der Schler sollte dabei lernen, ein vorgegebenes Thema

    eigenstndig und gem der antiken Schriftsteller, Cicero, Aristoteles und Quintilian, zu

    erarbeiten. Die damals bliche Lehrmethode basierte auf einer Dreiteilung des Lernvorgangs,

    bestehend aus praeceptum, der geltenden Regel, die anhand von einem exemplum, dem

    Beispiel, erlutert wurde und in der imitatio, der Nachahmung desselben, gelernt und

    21

    80 Wille, Gnther: Musica romana. Die Bedeutung der Musik im Leben der Rmer. Amsterdam, 1967: S.494ff. 81 Johannes de Muris grenzt die musica practica von der musica speculativa ab. 82 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986:

    S.6f.

  • angewendet worden ist.83

    4.2.1.1 Die Lehre von der Rhetorik In der Rhetorik unterscheidet man zunchst drei verschiedene Redetypen, die Gerichtsrede,

    genus iudiciale, die beratende Rede, genus deliberativum, und die Lob- und Prunkrede,

    genus demonstrativum. Anschlieend muss der Redner fnf Schritte durchlaufen,

    beginnend mit der Inventio, bei der er die fr das Thema relevanten Gedanken sammelt,

    insbesondere seine Argumente. Nun folgen die Dispositio, in der diese Sachverhalte in eine

    logische Reihenfolge gebracht werden, und darauf die Elocutio, die sich mit den dazu

    passenden Begriffen und Wortfolgen beschftigt. Schlielich muss man die Rede

    einstudieren, dies bedeutet die Memoria, und letztendlich auch vor einem Publikum

    vortragen, was in der Actio geschieht. Inventio, Dispositio und Elocutio werden nochmals

    unterteilt in res und verba, wobei res die Sachverhalte meint, die das Thema beinhaltet,

    und verba fr die Arbeit daran im Medium der Sprache steht. berdies sollte der Redner

    ber die vier virtutes elocutiones verfgen, die sowohl die fehlerfreie Sprache (puritas

    oder latinitas), deutliche Aussprache (perspicuitas), und Redeschmuck (ornatus)

    beinhalten, als auch den Sinn fr die richtige sprachliche Form, gemessen an bestimmten

    Themen, Zielen und Zuhrerschaften der Rede (aptum oder decorum). Zum Ornatus

    gehrt wiederum die Lehre von der Verwendung von Figuren und Tropen, wobei ein Tropus

    die Vertauschung des eigentlichen Ausdrucks mit einem verwandten bildlichen ist, z. B. "ich

    fliege" statt "ich eile". Redefiguren stellen Besonderheiten in der Wortwahl, der Wortfolge

    und des Satzbaus dar und dienen dem Ausschmcken der Rede und dem Ausdruck und der

    Erregung von Affekten.84 Die Wichtigkeit der Erlernung rhetorischer Fhigkeiten, die jeder

    protestantische Akademiker lernen musste, macht deutlich, dass nicht nur der berufsmige

    Redner von der Rhetorik profitieren konnte. In nahezu jedem Aufgabenbereich war es von

    Nutzen, rhetorische Eigenschaften zu beherrschen, wie etwa berzeugungskraft, logische

    Argumentationsfhigkeit, sprachlichen Ausdruck und die Beherrschung des freien Vortrags.

    So gab es auch eine Verbindung zwischen Rhetorik und Musik.

    22

    83 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986: S.8 84 Ebda.: S.8f.

  • 4.2.1.2 Die Stellung der Musik im Lehrplan latein-protestantischer Schulen Eine Hauptaufgabe lateinisch-protestantischen Schulen bestand darin, den Gottesdienst

    musikalisch zu gestalten, wodurch der Musikunterricht in diesen Institutionen wesentlich an

    Bedeutung gewann. Das Ziel der musikalischen Unterweisung war es demnach, Snger

    auszubilden, die mehrstimmige Vokalkompositionen mglichst rasch erlernen und in

    ansprechender Weise vortragen knnen. Sie beinhaltete somit die Vermittlung von

    Notenkenntnissen, Anleitung zum Blattsingen, Einfhrung in die Tonartenlehre und Hinweise

    auf die richtige Art des Gesangsvortrags. Der Kompositionsunterricht wurde von lteren

    Kantoren bernommen und fand auerhalb der Schule in Form von Privatunterricht statt; er

    war den besonders talentierten Schlern vorbehalten. Der Stand der Kantoren genoss im

    brigen zu dieser Zeit hohes Ansehen, da durch sie das protestantische Musikleben zum

    grten Teil bestimmt worden war. ber ihren Unterricht gibt es heute allerdings kaum

    Hinweise, da bei der privaten Unterweisung keine Notwendigkeit bestand,

    Kompositionslehren in Druck zu geben. Die damaligen handschriftlichen Quellen sind heute

    zum grten Teil nicht mehr existent, die wenigen Aufzeichnungen zeugen jedoch davon,

    dass die Musiktheorie in hnlicher Weise wie die Rhetorik unterrichtet worden ist. Dass die

    Regeln der Redekunst fr die Lehrer als Musterbeispiele in ihren Lehrstunden dienen konnte,

    bot sich wahrscheinlich geradezu an, denn im Gedchtnis der Schler war dieses System noch

    frisch im Gedchtnis und allgegenwrtig. Auerdem konnte die Vokalmusik, das Kernstck

    des Kompositionsunterrichts, als besondere Variante des kunstvollen Sprechens betrachtet

    werden. Vielleicht bedienten sich die Kantoren auch deshalb der Terminologie der Rhetorik,

    damit die Musiklehre verstrkt als Disziplin einer theoretisch fundierten Wissenschaft

    angesehen wurde und somit wieder zu ihrer ehemaligen Stellung unter den sieben freien

    Knsten zurckfinden konnte.85

    3.2.2 Joachim Burmeisters Musica poetica um 1600 Die Kompositionslehre bestand traditionell aus Kontrapunkt-, Tonarten- und Klausellehre,

    ergnzte sich im 16. und 17. Jahrhundert aber durch die Beschftigung mit Fragen der

    Textbehandlung.86

    23

    85 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986:

    S.10f. 86 Ebda.: S.11

  • In Italien wurde die Musiktheorie dabei auf Anweisungen zur richtigen Textunterlegung und

    der Empfehlung, bei der Anfertigung eines Musikstckes die Eigenschaften des Textes zu

    bercksichtigen, begrenzt. Der Komponist sollte sein Werk unbedingt dem Charakter des

    Inhaltes anpassen, wozu es Anleitungen gab, welcher musikalischer Manahmen man sich

    dafr bedienen konnte und durfte.87

    In Deutschland wurden die Kompositionslehren meist von Kantoren entwickelt, wodurch in

    den Abschnitten, die sich mit dem Verhltnis zwischen Musik und Sprache beschftigen,

    vielfach die Verbindungen zwischen Redekunst und Musik thematisiert worden sind. Der

    Rostocker Kantor Joachim Burmeister hat in seinen musiktheoretischen Traktaten um 160088

    erstmals die Terminologie der Rhetorik und ihr Lehrsystem schlssig auf die

    Kompositionslehre bertragen. Man knnte ihn daher als den Begrnder der sogenannten

    musikalisch-rhetorischen Figurenlehre bezeichnen, die sich in Deutschland bestndig

    weiterentwickelt hat, wobei die neuen Stilmittel aus Italien planvoll darin eingeflochten

    worden sind. Burmeister hat die Aufgabe des Komponisten mit der eines Redners

    gleichgesetzt, was fr die Musik bedeutet, dass sie die Mittel und Strukturen der Rhetorik

    bernimmt. Er verwendete dabei die Figurbegriffe aus der Elocutio, die mehr als Inventio

    oder Dispositio auf die Methodik von Praeceptum, Exemplum und Imitatio ausgerichtet

    waren. Als figrlich wurde in der Rhetorik die Vortragsart bezeichnet, die von der

    herkmmlichen Sprechweise abweicht, sowie diejenigen Ausdrucksformen, mit denen der

    Redner seine Rede ausschmcken und das Interesse des Zuschauers wecken kann.

    Komplementr dazu wurde die musikalische Figur als eine melodische oder harmonische

    Wendung definiert, die von der einfachen Kompositionsweise abweicht, also Mittel, durch die

    man die Musik ausgestalten kann, damit sie kunstvoller wird. Burmeister unterteilte die

    Gesamtheit der Figuren in drei Gruppen, die Figurae harmoniae, das sind Figuren, die im

    mehrstimmigen Satz funktionieren, Figurae melodiae, solche, die sich nur in der Melodie

    bemerkbar machen, und utriusque Figurae (tam Melodia quam Harmoniae), also die

    Figuren, die auf beiderlei Weisen anwendbar sind.89 Im Einzelnen konnten solche Wendungen

    24

    87 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986: S.11 88 Hypomnematum Musicae Poeticae, Rostock 1599 Musica Autoschediastike, Rostock 1601 Musica poetica, Rostock 1606 89 Toussaint, Georg: Die Anwendung der musikalisch-rhetorischen Figuren in den Werken von Heinrich Schtz. Mainz, 1949: S.6

  • satztechnische Vorgnge sein, wie beispielsweise die Imitation, welche Burmeister Fuga

    realis nannte, wenn sie streng vollzogen wird, Metalepsis, wenn die Imitation durch die

    anderen Stimmen erst bei der Einfhrung einer zweiten Melodie einsetzt, Hypallage, wenn

    es sich um eine Gegenfuge90 handelt, oder Apokope, wenn der zu imitierende

    Melodieabschnitt in seiner Durchfhrung pltzlich abbricht. Wiederholungsfiguren wurden

    von dem Rostocker Kantor unter anderem als Analepsis bezeichnet, sofern sie auf gleicher

    Tonhhe und in allen Stimmen erfolgt, hingegen als Mimesis, falls dabei ein Wechsel in der

    Lage passiert, und die Aufeinanderfolge von zwei Mimesis als Anadiplosis.

    Auch ungewhnliche melodische Wendungen gehrten zu Burmeisters Lehre, wie das Auf-

    und Abschreiten des Stimmumfanges, Hyperbole und Hypobole, aber auch bestimmte

    Formen der Dissonanzbehandlung, wie beispielsweise der Durchgang (Symblema) und die

    Synkope (Syncopa). Sie alle gehrten, sofern sie in einer Beziehung zur Textausdeutung

    stehen, zur Gruppe der tonmalerischen Figuren, auch Hypotyposis genannt. Erwhnenswert

    ist zudem die Pathopoeia, die zu den Sinnfiguren91 geordnet wurde und die Anwendung

    von Chromatik als starke Ausdrucksmglichkeit bedeutet.92

    In der kompositorischen Praxis waren Burmeisters Traktate keine Anleitungen zur Bildung

    musikalisch-rhetorischer Figuren. Jedoch konnten die Darstellungen der einzelnen

    Figurbegriffe den Schler dazu anregen, ihre Ausfhrungen und konkreten Anwendungen in

    den Werken groer Komponisten zu erkennen und diese, gem der damaligen Lehrtradition,

    als exempla buona nachahmen.93

    Im weiteren Verlauf der musikalisch-rhetorischen Figurenlehre des 17. und 18. Jh. erschien

    eine Flle von musikalischen Abhandlungen zu diesem Thema. Dies scheint ein Beweis fr

    das Ausma und die Wichtigkeit der rhetorischen Musiklehre fr das Kompositionsverfahren

    dieser Zeit zu sein. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Inhalt dieser Schriften sich

    tatschlich in der Praxis niederschlug und einen so groen Einfluss auf die Komponisten

    genommen hatte, da die meisten Verfasser solcher Abhandlungen als praktische Komponisten

    25

    90 Ebda.: S.10 91 Toussaint, Georg: Die Anwendung der musikalisch-rhetorischen Figuren in den Werken von Heinrich Schtz. Mainz, 1949: S.28 92 Ebda.: S.6-30 93 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986:

    S.11ff.

  • gar nicht in Erscheinung getreten sind, sondern vorwiegend als Rhetoriker oder Theologen

    galten.94 Diejenigen Autoren, die ber ihre Schriften hinaus auch in geachteten musikalischen

    Stellungen waren oder als Komponisten geschtzt wurden, beziehen sich dagegen nur wenig

    auf Burmeisters Traktate, sondern erffnen vielmehr eine Tradition, die als deutsche Zerlino-

    Nachfolge95 verstanden werden kann und die von Seth Calvisius begrndet wurde.96

    4.2.3 Gioseffo Zarlino und Seth Calvisius In Calvisius Kompositionslehre macht sich der Einfluss Gioseffo Zarlinos bemerkbar, in

    dessen musiktheoretischem Werk Le Istitutioni harmoniche97 lediglich allgemein auf

    Verbindungen zwischen der ars musica und der ars oratoria hingewiesen wurde.

    Weiterhin lehrte der Italiener in den Abschlusskapiteln seines Werkes, auf der Grundlage,

    dass Melos, gem Platons Definition, aus Logos, Harmonia und Rhythmus besteht, wie die

    quivalenz von sprachlichem und musikalischem Ausdruck zustande kommen konnte.

    Rumlichkeit, Zeitlichkeit und Affektgehalt werden dabei von der Musik nicht dargestellt,

    sondern sind vielmehr ihre Eigenschaften, so der Zeitcharakter ihrer Rhythmik und die

    rumliche Differenzierbarkeit der Tne. Zeitliche oder rumliche Vorstellungen etwa konnten

    durch schnelle oder langsame Tonfolgen und hohe oder tiefe Tonlagen ausgefhrt werden;

    dies jedoch galt bereits als selbstverstndlich98. Bedeutender hingegen war die Erkenntnis,

    dass gewisse Harmonien und Intervallfortschreitungen als affekthaltig angesehen wurden,

    wie beispielsweise an den wirkungsvollen Unterschieden bei Stimmdurchschreitungen in

    Ganz- oder Halbtnen und bei Dur- und Mollakkorden bewiesen wurde. Zarlino behandelt

    26

    94 Johann Lippius, Joachim Thuringus, Athanasius Kircher und Elias Walther beispielsweise sind als schaffende Musiker ohne Bedeutung. Selbst von Burmeister sind keine weiteren Kompositionen auer den Musikbeispielen

    seiner Traktate bekannt. Vgl. Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage

    der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86.

    Kassel u.a., 1986: S.13 95 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986: S.13 96 Ebda.: S.12f. 97 Zarlino, Gioseffo: Le Istitutioni harmoniche. Venedig, 1558 98 Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a.,

    1993: S.17

  • auerdem natrliche Tonfolgen und solche[], die durch Alteration einzelner Tne aus der

    natrlichen Ordnung fallen99, laut Zarlino movimenti naturali und movimenti

    accidentali. Sie konnten gegenstzliche Affekte darstellen wie heiter und traurig, hart und

    weich, sowie bitter und s. Mit all diesen Charakteristika besa die Musik eine eigene

    Sprache, mit der sie in der Lage war, nicht nur die bloen Worte des Textes zu zeigen, die

    imitazione delle parole, sondern die Inhalte des Wortlauts zu verdeutlichen, den Sinn

    dessen, was mit den Worten bezeichnet wurde, gem einer imitazione del soggetto delle

    parole.100

    Diese Hinweise griff Calvisius in seiner Kompositionslehre Melopoeiia101 auf, aus der in

    erweiterter Form hervorgeht, dass hnlichkeiten und Verbindungen zwischen Musik und

    Rhetorik bestanden. Zwar vergleicht Calvisius die Verwendung der Tropen und Figuren in

    der Redekunst mit verschiedenen Intervallen, Kon- und Dissonanzen, Klauseln und Fugen in

    der Musik, so war fr ihn der Ornatus in der Rede quivalent etwa mit gewissen

    Dissonanzbehandlungen und der Klausellehre. Dabei wurden diese musikalischen

    Gestaltungsmittel jedoch in erster Linie als Schmuck einer Komposition verstanden, der

    unabhngig von einer Textunterlegung auch reine Instrumentalwerke zieren konnte.

    Grundstzlich waren die Musiktheoretiker, die der kompositorischen Praxis verbunden waren,

    wie Calvisius, Zarlino und alle darauf folgenden, der Auffassung, dass stereotype

    Lehrschemata, wie die musikalisch-rhetorische Figurenlehre, bei der Textausdeutung durch

    Musik schwerlich hilfreich sein konnten. Vielmehr sollte sich der Schler auf das traditionelle

    Schema der exempla buona verlassen und gute Musik nachahmen, als Vorschriften zu

    lernen.102

    Auch Burmeister verwies, wie bereits bemerkt, auf die Nachahmung groer Meister.

    Obzwar seine musikalisch-rhetorische Figurenlehre kaum Eingang in die zeitgenssischen

    Kompositionstechniken gefunden haben kann, sind seine Traktate fr die Reformationszeit

    verstndlich. Der Kantor wollte in erster Linie die vagen Umschreibungen der Mittel ersetzen,

    27

    99 Ebda.: S.17 100 Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a.,

    1993: S.17 101 Calvisius, Seth: Melopoeiia. Erfurt, 1592 102 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986:

    S.13ff.

  • die man vor ihm fr kunstvolle Kompositionen verwendet hatte. Im Lehrsystem der Rhetorik

    konnte er przise Definitionen dafr finden und sie smtlich einordnen, gem des

    Leitspruches, Gott hab die Welt nach Ma, Zahl und Gewicht geordnet: Herr, wie sind Deine

    Werke so gro und viel! Du hast sie alle weise geordnet.103 Zudem erschuf er mit seiner

    Figurenlehre einen exakt erlern- und prfbaren Unterrichtsstoff fr seine Schler.

    4.3 Heinrich Schtz und seine Musica poetica Inwieweit Heinrich Schtz musikalisch-rhetorische Figuren zur Komposition seiner Werke

    verwendet hatte, ist in der Forschung des fteren thematisiert worden. Georg Toussaint104 und

    Hans Heinrich Eggebrecht105 liefern zahlreiche Belege fr den Gebrauch musikalischer

    Stilmittel zur Ausdeutung einzelner Wrter. Walter Simon Huber106 gelang es sogar, eine

    Motivsymbolik bei Schtz festzustellen und diese in Gruppen von sechs Urmotiven

    einzuordnen. Zudem ist der Komponist mit den Bereichen der Redekunst seit seiner Kasseler

    Schulzeit vertraut gewesen, in der neben musikalischem auch rhetorischer Unterricht zu

    geben gepflegt wurde.107 Ob Heinrich Schtz nun als Musicus poeticus im Eggebrechtschen

    Sinn zum Begrnder einer spezifisch deutschen [Musik-]Tradition108 avancierte, zu deren

    Bestandteilen auch die musikalisch-rhetorische Figurenlehre gehren sollte, kann durch die

    nhere Betrachtung Schtz kompositorischer Ausbildung nachgegangen werden.

    Schtz begann seine kompositorische Ausbildung in Italien mit 24 Jahren, in einem Alter

    also, in der sein Weltbild bereits weitestgehend geprgt und von deutschen und

    protestantischen Wertvorstellungen durchdrungen war. Zu dieser Zeit war man nmlich der

    Ansicht, dass sich die Ausdrucksmittel der italienischen Musik besonders gut dafr eigneten,

    die evangelische Botschaft in Luthers Schrift und Sprache musikalisch zu verdeutlichen und

    zu verlebendigen. Michael Praetorius beispielsweise behauptete von der italienischen Musik,

    28

    103 Psalm 104,24 104 Toussaint, Georg: Die Anwendung der musikalisch-rhetorischen Figuren in den Werken von Heinrich Schtz. Mainz, 1949 105 Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schtz. Musicus poeticus. Wilhelmshaven, 2000 106 Huber, Walter Simon: Motivsymbolik bei Heinrich Schtz. Kassel und Basel, 1961 107 Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a.,

    1993: S.20 108 Ebda.: S.11

  • sie knne gleichzeitig Cantio, Gesang, und Contio, Predigt, sein.109

    Schtz Lehrer war der Italiener Giovanni Gabrieli, der ihn in Kontrapunkt und dem rechten

    Gebrauch bildlich-affektiver Darstellungsmittel unterrichtete, welche im Eigentlichen die

    bewusste Abweichung von den strengen Regeln der Satztechnik bedeuteten. Wie die letzten

    sieben Kapitel Zarlinos De Istitutioni harmoniche auch beweisen, waren die Italiener sehr

    bedacht auf das richtige Verhltnis zwischen Musik und Text und wussten um seine hohe

    Kunst. Deshalb waren zum Ende der Ausbildung als Kompositionsschler

    Madrigalkompositionen abzuliefern, denn gerade dort konnte man beweisen, dass man

    sowohl den Kontrapunkt als auch den musikalischen Umgang mit dem Text beherrscht.

    Schtz hatte als Erstlingswerk ebenfalls ein Madrigalbuch abzuliefern, mit dem er zeigen

    musste, dass er sich die musikalische Sprache Italiens zu eigen gemacht hatte. In den

    Italienischen Madrigalen sind die Stilmittel noch sehr hufig, in Werken spterer Zeit

    setzt Schtz den Gebrauch seltener, aber planvoller ein.110

    Wie man erkennt, sind musikalische Gestaltungsmittel zur Textdeutung eine Erfindung der

    Italiener. Schtz selber bezeichnete ihr Land als die rechte hohe Schule der Musik und fhlte

    sich keineswegs der deutschen Lehrtradition verpflichtet, sondern pldierte dafr, ein

    italienisches Traktat, die Ars Contrapuncti von Marco Scacchi, einem polnischen

    Hofkapellmeister aus Italien, auch in Deutschland zu verbreiten.111 Fr die weltlichen Texte

    der Madrigalkompositionen konnte Heinrich Schtz daher die erlernten bildlich-affektiven

    Darstellungsmittel, gem eines Eggebrechtschen Musicus poeticus einsetzen, die sich

    schlielich bei Musiktheoretikern in Deutschland als Figurenlehre etablierten. Die tiefere

    Bedeutung der geistlichen Textvorlagen hingegen erforderte zudem ein zweite Ebene der

    Interpretation durch den Komponisten. Aus Sicht der Rhetorik hatte es Schtz demnach

    strker mit den res, den Inhalten der biblischen Prosa, zu tun und weniger mit den verba,

    der bloen Wortwahl.112 In vielen Fllen macht sich seine musikalische Ausdeutung der

    Texte, die persnliche Interpretation durch den Komponisten, auch gar nicht in ihrem

    29

    109 Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a.,

    1993: S.11 110 Ebda.: S.14f. 111 Ebda.: S.11 112 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u.a., 1986: S.20

  • Wortlaut begreiflich, weshalb die Kenntnis der Figurenlehre keine Voraussetzung zum

    Verstndnis seiner Werke darstellt.113

    Der Grundstein des spezifisch deutschen und protestantischen Charakters in der Musik von

    Heinrich Schtz wurde demnach nicht in seiner musikalischen Ausbildung gelegt. Grnde fr

    die Musica poetica im heutigen, Eggebrechtschem Sinn, sind wohl nicht in der

    musikalischen Handwerkslehre des Komponisten zu finden. Wie in den vorangegangenen

    Abschnitten bereits erlutert, gibt Heinrich Schtz seiner Musik den deutschen Charakter

    durch einen uerst feinfhligen Umgang mit den Eigenheiten seiner Muttersprache, und den

    protestantischen dadurch, dass der Musiker als Person hinter der Wrde seines Amtes

    [] zurckzutreten hatte114 und somit in hchstem Mae der Vermittlung christlicher Lehren

    im Lutheranischen Sinne zu Diensten war.

    Literaturverzeichnis Primrliteratur

    Heinrich Schtz. Neue Ausgabe smtlicher Werke. Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Band 7: Zwlf Geistliche Gesnge SWV 420 431. Kassel u. a., 1988

    Heinrich Schtz. Neue Ausgabe smtlicher Werke. Herausgegeben im Auftrag der Neuen Schtz-Gesellschaft. Band 9: Cantiones sacrae (1625) Nr. XXI XL. Kassel u. a., 1960

    Heinrich Schtz. Neue Ausgabe smtlicher Werke. Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Band 11: Kleine Geistliche Konzerte 1636/1639. Abt. 2: Konzerte fr zwei bi vier gemischte Stimmen. Kassel u. a., 1963

    Sekundrliteratur

    Bandur, Markus: Musica poetica. Freiburg i. Br., 2000. In: Handbuch der musikalischen Terminologie. Band 4. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. nach Hans Heinrich Eggebrecht. hg. von Albrecht Riethmller. Stuttgart, 1972

    Bernhard, Christoph: Die Kompositionslehre Heinrich Schtzens in der Fassung seines Schlers Christoph Bernhard. Hg. von Joseph Mller-Blattau. Kassel u.a., 1963

    Besch, Werner: Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Bochum, 1968. In: Wegera, Klaus-Peter (Hg.): Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Eine

    30

    113 Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u.a.,

    1993: S.19 114 Ebda.: S.20

  • Dokumentation von Forschungsthesen. Tbingen, 1986 Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schtz. Musicus poeticus. Wilhelmshaven, 2000 Forchert, Arno: Musik und Rhetorik im Barock. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der

    Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 7./8. Jahrgang 1985/86. Kassel u. a., 1986

    Forchert, Arno: Heinrich Schtz und die Musica poetica. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u. a., 1993

    Georgiades, Thrasybulos Georgios: Musik und Sprache. Das Werden der abendlndischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin, Heidelberg, New York, 1984

    Gudewill, Kurt: Zum Verhltnis von Sprache und Musik im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 13. Jahrgang 1991. Kassel u. a., 1992

    Huber, Walter Simon: Motivsymbolik bei Heinrich Schtz. Kassel und Basel, 1961 Keller, Rudolf E.: Die deutsche Sprache und ihre historische Entwicklung. Bearbeitet und

    bertragen aus dem Englischen von Karl-Heinz Mulagk. Hamburg, 1995 Kunze, Stefan: Sprachauslegung und Instrumentalitt in der Musik von Heinrich Schtz. Erster

    Teil. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 1. Jahrgang 1979. Kassel u. a., 1979

    Toussaint, Georg: Die Anwendung der musikalisch-rhetorischen Figuren in den Werken von Heinrich Schtz. Mainz, 1949

    Veit, Patrice: Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische Untersuchung. Stuttgart, 1986

    Volckmar-Waschk, Heide: Die Cantiones sacrae von Heinrich Schtz. Entstehungen, Texte, Analysen. Kassel 2001

    Weber-Bockholdt, Petra: Die lateinische Sprache im Werk von Heinrich Schtz. In: Schtz-Jahrbuch. Im Auftrage der Internationalen Heinrich-Schtz-Gesellschaft. Herausgegeben von Werner Breig. 15. Jahrgang 1993. Kassel u. a., 1993

    Wille, Gnther: Musica romana. Die Bedeutung der Musik im Leben der Rmer. Amsterdam, 1967

    Anhang: 1.: SWV 88 Oculi omnium in te sperant, Domine 2.: SWV 429, 1. Teil Aller Augen warten auf Dich, Herre 3.: SWV 89 Pater noster, qui es in coelis 4.: SWV 429, 2. Teil Vater unser 5.: SWV 84 Ecce advocatus meus 6.: SWV 304 Siehe mein Frsprecher

    31


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