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PREDIGTEN IN FREIER REDE - evangelische … · Jeden Tag, „öffnen“ wir eine „Tür“ des...

Date post: 17-Sep-2018
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PREDIGTEN IN FREIER REDE © PFARRER HEINZ DIETER MÜLLER TONSCRIPT: INGE GRONAU Predigtorte: Klinikum Augsburg (Kapelle) Bezirkskrankenhaus Augsburg (Kapelle) St. Thomas Kriegshaber-Augsburg [email protected] www.pfarrer-mueller.de B I B E L E R L E B E N Predigten 2014 http://www.evangelische-predigten.de/Predigten/Evangelische_Predigten.html Panorama Foto: Ulrich Wirth 2012
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Page 1: PREDIGTEN IN FREIER REDE - evangelische … · Jeden Tag, „öffnen“ wir eine „Tür“ des neuen Tages. Voller Erwartung, voller Spannung, was denn hinter dieser Tür auf mich

PREDIGTEN IN FREIER REDE

© PFARRER HEINZ DIETER MÜLLER

TONSCRIPT: INGE GRONAU

P r e d i g t o r t e :

K l i n i k u m A u g s b u r g ( K a p e l l e )

B e z i r k s k r a n k e n h a u s A u g s b u r g ( K a p e l l e )

S t . T h o m a s K r i e g s h a b e r - A u g s b u r g

[email protected]

www.pfarrer-mueller.de

B I B E L E R L E B E NPredigten 2014

h t t p : / / w w w. e v a n g e l i s c h e - p r e d i g t e n . d e / P r e d i g t e n / E v a n g e l i s c h e _ P r e d i g t e n . h t m l

Panorama Foto: Ulrich Wirth 2012

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B I B E L E R L E B E NPredigten 2014

h t t p : / / w w w. e v a n g e l i s c h e - p r e d i g t e n . d e / P r e d i g t e n / E v a n g e l i s c h e _ P r e d i g t e n . h t m l

Klinikum Augsburg © Foto Uli Wirth -

Bezirkskrankenhaus (BKH)

Kapelle im BKH

Kapelle im Klinikum

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BibelerlebenPredigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscripte: Inge Gronau

gehalten 2014

Predigtorte:

• Kapelle-Klinikum Augsburg• BKH Bezirkskrankenhaus• St. Thomas• St. Thomas - Chapel

weitere Predigten von Heinz Dieter Müllerwww.pfarrer-mueller.de

Datum Titel

DS400873 01.12.2013 1. Advent - Hebräer 10, 19-25

DS400875 22.12.2013 4. Advent - Hinabgestiegen - Jesaja 52, 7-9

DS400876 31.12.2013 Silvester - Geborgen in Gottes Hand - Psalm 139 i. A.

DS400877 09.01.2014 Bartimäus - Am Weg des Lebens - Mk. 10, 46-52

DS400878 19.01.2014 Thomasevangelium - Johannes 20, 24-31

DS400879 26.01.2014 Heilung im Dorf des Trostes - Johannes 4, 43-54

DS400880 26.01.2014 Palliativ Gedenkgottesdienst - Vorhang

DS400881 06.02.2014 Bartimäus - Markus 10, 46-52

DS400882 20.02.2014 Mose am brennenden Dornbusch - 2. Mose 3, 1-14

DS400883 27.01.2013 Thomas der Zwilling - Johannes 20, 24-31

DS400884 25.02.2014 Bartimäus - Mk. 10, 46-52

DS400886 27.02.2014 Jod, die Hand - Jesaja 41, 10

Dictate 02.03.2014 Elia - 1. Könige 19, 1-13

DS400890 06.04.2014 Draußen vor dem Tor - Hebräer 13, 12-14

DS400892 20.04.2014 Ostern - das leere Grab - Lukas 24, 1-12

DS400893 01.05.2014 Eine schöne Geschichte

Predigten 2014 im Überblick

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Bibelerleben

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BibelerlebenPredigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscripte: Inge Gronau

gehalten 2014

Predigtorte:

• Kapelle-Klinikum Augsburg• BKH Bezirkskrankenhaus• St. Thomas• St. Thomas - Chapel

weitere Predigten von Heinz Dieter Müllerwww.pfarrer-mueller.de

Datum Titel

DS400894 04.05.2014 Der gute Hirte - Hebräer 13, 20-21

DS400898 08.06.2014 Pfingsten - Apostelgeschichte 2, 1-11

DS400899 22.06.2014 Höre Israel ... - 5. Mose 6, 4-9

DS400901 24.06.2014 Höre Israel ... - 5. Mose 6, 4-9 (2)

DS400902 29.06.2014 Der Himmel geht über allen auf ..., Apg. 1, 8-10

DS400906 28.09.2014 Garten Eden - 1.Mose 2, 4b-9(10-14) - 15.SonTrin

DS400908 12.10.2014 Das ganze Bild - Markus 9, 14-28 - 17.SonTrin

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 1. Advent 01.12.2013

in: Kapelle Klinikum-AugsburgTondatei: DS400873

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Liebe Gemeinde, mit dem 1. Advent beginnt ein neues Kirchenjahr. Das will sagen, bevor diese Welt mit einem neuen Jahr anfängt, beginnt Gott schon ganz kleine Schritte in und mit dieser Welt zu wagen. Und während der Adventszeit üben wir diesen Weg der kleinen Schritte auch mit.

Es ist eine geheimnisvolle Zeit – Dunkelheit um uns herum und wir freuen uns, wenn wir Lichter sehen. Und wenn wir keine sehen, dann zünden wir welche an bei uns, weil wir diese Hoffnung in uns tragen, die Hoffnung gegen die Dunkelheit. Die Dunkelheit draußen und die Dunkelheit drinnen. Mit kleinen Schritten bewegen wir uns durch diese besondere Zeit, hin zu dieser Heiligen Nacht.

Jeden Tag, „öffnen“ wir eine „Tür“ des neuen Tages. Voller Erwartung, voller Spannung, was denn hinter dieser Tür auf mich warten mag? Unsere Kinder laden wir ein, dieses Ritual zu üben. Mit den Türen in den Adventskalendern, wenn sie die öffnen. Und ich erinnere mich an meine Jugend, da wusste ich natürlich, dass meist ein kleines Stück Schokolade dahinter verborgen war, etwas Süßes, was mir den Tag versüßte.

Ein Einüben in ein kleines Ritual, das vielleicht auch später einmal greifen sollte, wenn wir ganz andere „Türen“ öffnen, in unserem Leben. Türen, die verschlossen sind und wo wir nicht wissen, was dahinter auf uns wartet.

1. Advent - Botschaft von JenseitsHebräer 10, 19-25

Bild © Heinz D. Müller - Kapelle Klinikum

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Heute möchte ich uns einen Abschnitt aus einem „geheimnisvollen“ Brief lesen, ganz passend zu dieser Zeit. Er trägt eine merkwürdige Überschrift, wenn wir sie hören, beginnen wir gleich zu rätseln: wer ist damit gemeint? Fühlen wir uns angesprochen? Denn adressiert ist der Brief: „An die Hebräer“!

Haben wir noch etwas Geduld, spüren wir erst den Worten nach. Ich lese aus dem 10. Kapitel:

Weil wir denn nun liebe Brüder (und ich füge hinzu, Schwestern) durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist durch das Opfer seines Lebens. Und haben einen Hohepriester über das Haus Gottes. So lasst uns hinzu treten mit wahrhaftigem Herzen und vollkommenem Glauben, besprengt in unseren Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser. Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken, denn er ist treu, der sie verheißen hat. Und lasst uns aufeinander Acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.

Vielleicht sind diese letzten Worte uns zunächst einmal am nächsten. Da „naht“ sich etwas, kommt auf uns zu. All das andere mag vielleicht sehr hoch geklungen haben, vielleicht sogar sehr theologisch, dass wir sagen: Was soll es bedeuten?

Gönnen wir uns etwas Zeit, um zunächst diesem einen Worte näher zu kommen, das in der Adressen Überschrift steht: „Hebräer“. Wer könnte damit gemeint sein?

Die hebräische Sprache der Bibel hilft uns dem näher zu kommen. Denn in dem Wort für Hebräer steckt das Wort: „iwri“ und iwri bedeutet: jenseits. Der Brief ist gerichtet an die, die von jenseits sind und die vom Jenseitigen noch eine Ahnung haben. Die Hebräer kommen von woanders her. Ich meine, wir dürfen diese Anrede gerne auch auf uns beziehen. Wir sind zwar hier, ganz diesseits in der Welt, aber tief in uns, ist da nicht auch ein Wissen und Ahnen: eigentlich kommen wir von ganz woanders her?

Wenn wir ganz weit zurückgehen in unserer Biografie, dann können wir dem nachempfinden. Denn wir kommen in diese Welt auch durch „eine Tor“ – das „Tor“ der Mutter. Wir kommen aus einem anderen Bereich hinein in diese Welt. Wir sind eigentlich schon von Geburt an vom Jenseits.

Auch die Bibel erzählt uns das und wir beten das, mit dem Gebet, das Jesus uns gelehrt hat: Unser Vater im Himmel! Von dort kommen wir her. Wenn dieser Brief an die Hebräer gerade im Neuen Testament steht, dann ist er auch ein Erinnerungsschreiben an den Jenseitigen, die Jenseitige in uns.

Erinnert euch! Haltet die Hoffnung lebendig, auch dann, wenn schon manche die Versammlung verlassen haben. Wie ja so viele heute schon die Kirchen verlassen haben, weil sie mit dieser Botschaft nichts mehr anfangen können. Weil die Worte, die wir zuvor gehört haben, zu hoch für sie klingen, zu weit weg, nicht mehr verständlich sind. Weil sie den Zugang dazu verloren haben.

Sie sagen: Ihr erreicht mich nicht mehr. Aber darum geht es doch – erreicht zu werden. Nicht alleine durch dieses Leben gehen zu müssen, das ist doch die Botschaft von Weihnachten. Was wir zuvor auch gesungen haben in dem Lied (EG 7) „O Heiland reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf ... „O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm tröst uns hier im Jammertal.“ Und er kommt, so bekennen wir unseren Glauben, nicht nur in diese Welt, sondern noch unüberbietbar tiefer, hinunter bis ins Reich der Hölle und kehrt zurück zum Vater. Und zum Abschied verspricht er seinen Jüngern: „Ich gehe hin, um euch die Stätte zu bereiten, damit ihr seid, wo ich bin “

Immer wieder diese Melodie (Ps. 24): „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch“, macht euch offen und bereit, damit ihr das hört und vernehmt. Die Nacht ist nicht das Letzte. Die Hoffnungslosigkeit ist nicht das Letzte. Nein, diese Hoffnung, die soll beständig sein und bleiben. Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung.

Dieses Wort „hoffen“, birgt auch ein Geheimnis in sich, das wir heben wollen. In der Nationalhymne Israels betet man noch heute und singt die „haTigwa“. Dass die Hoffnung nicht untergehen mag. Aber dieses Wort „haTigwa“ hat etwas zu tun mit dem Worte für „Taufe“, für „mikwe“. Im Worte mikwe ist als Wortstamm enthalten das Wort für Hoffnung. Hoffnung, das ist der Maßstab des Himmels. Und

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diese Hoffnung beginnt dort und hat etwas zu tun mit dem Wasser in das wir getaucht werden bei unserer Taufe.

In der Bibel heißt es, dass am 3. Tag der Schöpfung diese Wasser eingesammelt werden. Ein sonderbares Bild! Die Wasser werden eingesammelt, damit das Trockene sichtbar wird. Wasser in der Bibel ist immer ein Zeichen für die Zeit. Das heißt, wenn die Zeit eingesammelt wird, die Zeit auch unseres Lebens, dann wird auch das andere wieder sichtbar, was uns umgibt, nämlich die Ewigkeit.

Deswegen ist die Hoffnung mit der Taufe so eng verbunden. Weil sie uns immer wieder daran erinnert. Auch wir werden hinein getaucht ins Wasser der Taufe, in die Zeit und wir werden aus dem Wasser, aus der Zeit wieder herausgeholt. Früher hat man das ganzheitlicher gemacht. Da ist man wirklich untergetaucht worden und wieder heraus geholt. Heute reichen symbolhaft ein paar Tropfen Wasser. Doch dann wird dieses Bild vielleicht auch nicht mehr so lebendig. Dass wir erleben, wir kommen vom Jenseits her, in diese Zeit, ins Wasser der Zeit und irgendwann einmal werden wir auch von hier wieder herausgeholt.

Deswegen beauftragt Jesus seine Jünger auch mit den Worten und sagt: Werdet Menschenfischer! Holt die Leute raus aus dieser beengten Zeit, wo sie Angst haben und spüren, das Leben wird enger und kürzer. Nein, entschleunigt euch, da ist noch etwas anderes da. Interessanterweise erleben Kinder dies in der Adventszeit noch ganz urtümlich. Für sie vergeht die Zeit des Advents fast gar nicht. Sie sind voller Hoffnung und möchten endlich Heilig Abend erreichen. Aber das sind ja noch vier Wochen bis dorthin – eine lange Zeit!

Und für uns, die wir älter werden, da verrinnt uns die Zeit in den Händen. Jedes Jahr schauen wir zurück und denken, Silvester war doch fast erst gestern. Schon wieder jährt es sich. Wir merken, ein ganz anderes Zeitgefühl.

In all dies Erleben hinein erreicht uns der Brief „an die Hebräer“. An die vom Jenseits, an den von Jenseits, in mir selber.

Die Adventszeit hilft so sich zu erinnern und im Glauben sich zu üben: Das versprochene Kind kommt! Selber waren wir auch Kind und bleiben dieses Kind, das wir einmal waren, auch wenn wir älter werden und uns verändern. Dieses Lebendige, das uns Gott gegeben hat, das bleibt! Es bleibt und wird eingesammelt, von ihm und zurückgegeben an uns.

Der Sohn, der kommen wird und immer wieder kommt, wird uns erinnern und zu sagen: Ich bin der, der dich dorthin führt. Jenseits dieses Vorhanges, von dem erzählt wird, der im Tempel den Zugang zum Allerheiligsten, zu Gott, noch versperrt. Bei Jesu, Kreuzigung, da zerreißt er. Der Zugang zu Gott wird frei durch ihn.

Wir merken, so weit weg sind wir gar nicht. Diese Andere, Jenseitige, ist schon da und will ergriffen werden, nicht mit Beweisen und nicht mit Wissenschaftlichkeit. Sondern im Glauben, mit Vertrauen und durch Treue.

Drei Worte, die im Hebräischen, der Sprache der Bibel ein Wort sind: „Glaube“. Das gleiche Wort, das wir am Ende einer Predigt immer wieder sprechen. Hebräisch heißt es „emuna“ und bedeutet dreierlei: ich glaube, ich vertraue, ich bin treu. Im Deutschen heißt es: Amen!

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 4. Advent 22.12.2013

in: Kapelle Klinikum-AugsburgTondatei: DS400875

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Der Predigttext für den heutigen 4. Advent steht bei Jesaja im 52. Kapitel.

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: „Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander, denn alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems. Denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.“

Liebe Schwestern und Brüder, bleiben wir noch etwas bei diesem Bild, das uns der Prophet Jesaja erzählt. Am Anfang seines Prophetenbuches stehen die Worte - nicht wie wir sie fälschlich übersetzen die „Offenbarung des Jesaja“ – aus dem Hebräischen übersetzt heißt es eigentlich das „Sehen des Jesaja“, das innere Sehen ist wohl damit gemeint. Er sieht etwas tief in sich und bringt es in seinen Worten zum Gehör in diese Welt. Da beschreibt er die Berge, die diese frohe Botschaft, man hört es den lieblichen Klang, da kommt etwas auf uns zu, etwas Überirdisches.

Der Berg, ganz nahe zum Himmel hin. Von dort her kommt eine Botschaft und sie ist lieblich anzuhören, sie wächst. Etwas in uns will uns hinauf ziehen und mit hinein nehmen in diese Bewegung, die vom Himmel über die Berge zur Welt kommen will.

4. Advent - HinabgestiegenJesaja 52, 7-9

Bild © Heinz D. Müller - Salzbergwerk in Wiedliczka

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Und dann übersieht Jesaja das Andere auch nicht. Er sagt: „…und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems!“ Er spricht zu all dem, was zerbrochen ist, was fragmentiert ist. Wo wir noch Stückwerk sehen, wo der lange Weg nicht mehr im Blick ist. Wo etwas abgebrochen ist, bei mir an Vertrauen, an Zuversicht, an Gesundheit weggebrochen ist, wo Krankheit sich meldet und wo etwas auf meiner Seele lastet, wie so ein Trümmerblock. Zu dem sagt Jesaja, das soll alles getröstet werden! Dort möchte seine Botschaft hinkommen. die Botschaft möchte diese Trümmer erreichen und sie wieder zu- und ineinander fügen, dass es wieder ein ganzes Bild ergibt, vor unseren Augen.

Welch’ eine Botschaft! Hinein gesprochen in diese lange Zeit der Erwartung, des Sich-hinbewegens auf diese eine, heilige Nacht zu. Drei Advente haben wir schon hinter uns. Wir sind kurz vor dem Vierten und müssen uns selber fragen: Hat diese Botschaft mich erreicht? Wo stehe ich denn auf diesem Weg? Auf meinem ganz persönlichen Weg, durch diese langen Nächte und wie steht es um die Sehnsucht, dass diese lange, die längste, dunkle Nacht im Jahr zu meiner „Heiligen Nacht“ wird. Zu der Nacht, wo etwas auf mich zukommt, was von Jenseits her ist, was unerwartet kommt, mich überrascht.

Diese Woche lag ich auf der Behandlungsbank meines Krankengymnasten. Während er an meinem Rücken arbeitete, fragte er mich, wie es mir denn so geht in der Adventszeit. Und ich begann ihm von meinem ganzen Stress zu erzählen. Den zahlreichen Anforderungen, was alles noch gemacht werden müsse und schließlich von der Last, bei all dem auch noch an Geschenke denken zu müssen. Und dann setzte ich noch eines drauf und berichtete ihm, wie es mir gegangen sei, als ich über den Christkindlesmarkt ging und all die Dinge sah, die mich so gar nicht auf Weihnachten eingestimmt hätten.

Er hörte mir schweigend zu und wurde in dem aufmerksamen Zuhören zu meinem Seelsorger. Schließlich sagte er mir folgendes: „Wissen Sie, ich stelle Sie mir so vor, wenn Sie im Krankenhaus durch die Gänge gehen in ihrer Ruhe und in Ihrer Zuversicht. Dass da etwas von Ihnen ausstrahlt, auf die Menschen hin.“ Dieses Bild hat mich angesprochen und mir gutgetan, auch wenn ich selber mich nicht so fühlte. Es hat mich aber daran erinnert, eigentlich sollte es so sein! Und es hat mich auch schmerzlich berührt, weil ich mich selber so weit davon entfernt gefühlt habe.

Advent möchte uns helfen, wieder dorthin zu kommen zu diesem Licht, das Gott in uns hinein gegeben hat, das dieser Jesaja sehen kann.

Von diesem Licht her erleuchtet kann er die Welt ansehen und kann die Freudenbotschaft auf den Bergen ausmachen. Er kann sich darauf freuen, dass die Trümmer in seinem Leben auch, in jedem Leben auch, getröstet werden, dass sie besucht werden vom Höchsten her in dieser Welt.

Von diesem Besuch, von ganz oben, nach ganz unten, davon habe ich etwas verstehen können bei meiner letzten Reise, die durch Polen ging. Von Krakau machten wir uns auf den Weg nach Lemberg. Auf dem Weg machten wir einen kleinen Abstecher zu einem der ältesten Salzbergwerke dieser Erde. In Wiedliczka, ist das Salzbergwerk noch aktiv und man kann es teilweise besichtigen. Über viele hunderte Stufen geht es hinunter in die Tiefe bis auf 300 Meter. Von dort dem tiefsten Punkt dieses Salzbergwerkes habe ich Ihnen dieses Bild mitgebracht.

Die Bergwerksleute – keine Künstler, sondern Handwerker - haben mit der Kraft ihrer Hände und ihres Vorstellungsvermögens einen großen Raum geschaffen, eine Kathedrale mitten unter der Erde. An einer Seitenwand haben sie diese Szene, den Stall von Bethlehem mit der Geburtsgeschichte Jesu aus der Wand heraus gehauen. Wenn Sie genau hinschauen, dann können Sie sehen, mittendrin in dieser Szene, das erleuchtete Kind. Licht, selbst dort unten, am tiefsten Punkt!

Da ist bei mir selber ein Licht aufgegangen, die Bergwerksleute haben etwas verstanden von dem: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ ... Gott beugt sich so weit hinunter, ins tiefste Menschsein hinunter…“ Eine so tiefe Verbeugung bis an den Grund, ins Dasein der Grubenarbeiter von Wiedliczka.

Egal wie tief gesunken wir sind, egal wie tief und verlassen wir uns fühlen mögen, die Botschaft Gottes, sein Zur-Welt-kommen, erreicht uns auch dort. ER kommt zu uns, wird Mensch und Kind.

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Damit wird noch etwas anderes ausgedrückt: Gott möchte in Kontakt kommen mit der Verlassenheit, mit dem Schmerz, der Trauer mit all dem „Tiefen“ das uns befällt. Er will auch das auf sich nehmen und es mit uns tragen. Das ist damit gemeint, mit diesem Menschwerden Gottes.

Wir brauchen bisweilen Zeit, um das zu verstehen, manchmal ein ganzes Leben lang. Deshalb ist die Adventszeit auch so lange, damit wir Stück für Stück, Schritt für Schritt uns dieser Botschaft nähern. Nicht äußerlich nähern, sondern in uns.

Dass wir auch bei und in uns „hinunter steigen“ in die Tiefen „unserer Bergwerke“. Und dass wir von dort her auch diese „freudigen Boten“ ausmachen, die doch auch da sind, die von „den Bergen“ her ihren Weg nach unten suchen und uns dort, in der Tiefe, uns erreichen, es uns leichter machen und beim Aufstieg helfen.

So, wie wir das auch erlebt haben, als wir schließlich, von dort unten, zurückgekehrt sind. Von einem Lift, mit einem großen Schutztor, aufgenommen, an die Erdoberfläche zurück gehoben wurden – Macht hoch die Tür!

Von tief unten, ging es hoch hinauf. Der beschwerliche Abgang stand zu Beginn, aber von dort unten ging es ganz schnell und leicht und einfach wieder hinauf. Ein Erleben: vom Grund des Bergwerkes, hinauf in die Sonne, in den Tag, ins Leben. Das ist der Weg von Weihnachten.

Ein Weg, der so beginnt, dass gesagt wird, eine Jungfrau wird ein Kind empfangen und erzählt dadurch, hier haben wir es mit übernatürlichem Erleben zu tun. Da, wo nach menschlichem Ermessen nichts geboren werden kann, kein Leben auf die Welt kommen kann, ausgerechnet da sagt Gott: Ich mache alles neu. Ein neues Leben! Nicht nur am Ende der Bibel erzählt. Schon an Weihnachten wird uns gesagt: Geht und hofft, dass diese Botschaft euch erreicht, dass die Trümmer wieder ihren Platz finden und einnehmen können, gefügt werden, zu einem neuen Tempel, zu einer neuen Gestalt. Überall dort, wo wir den Tod vor Augen haben, da sagt Gott uns und hält uns dieses Bild vor – neues Leben, das Leben geht weiter! In der tiefsten Nacht, es leuchtet, da kommt Gott zu uns auf die Welt. Amen

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: Silvester 31.12.2013

in: Kapelle Klinikum-AugsburgTondatei: DS400876

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten, Herr segne du an uns Reden und Hören.

Lassen wir uns diese Worte aus dem Psalm 139 gefallen.

Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es. Du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist? Und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mich bei den Toten, siehe so bist du auch da.

Welch weit umspannendes Wort Gottes, das uns an diesem letzten Tag des Jahres 2013 erreicht. Ein Wort, das einen Bogen aufspannt vom Beginn des Lebens bis an das Ende des Lebens und darüber hinaus. Es gibt keinen Bereich, der nicht unterhoben wäre von dieser Hand Gottes, von dieser Zusage, von diesem Geheimnis, von dieser Herausforderung, da ist jemand da, der kümmert sich um mich. Und ich mit meinen ganz kleinen persönlichen Sorgen und Nöten, mit den sinnigen und unsinnigen Dingen, mit denen wir uns herumschlagen, all das hat Platz in dieser großen, gütigen, barmherzigen Hand Gottes, in der wir „zu Hause“ sein dürfen.

Ich habe Ihnen heute ein entsprechendes Bild mitgebracht, das ich Ihnen gerne mit auf Ihren Weg durch das Jahr 2014 mitgeben möchte.

Silvester - Geborgen in Gottes HandPsalm 139 i.A.

Bild © Heinz D. Müller - 2013Camino - Nähe Gotarrendura, Spanien

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Ein Bild, aufgenommen auf einem ganz besonderen Weg, nämlich dem Camino, dem Pilgerweg nach Santiago de Compostello. Ich war mit einer Gruppe unterwegs. Wir wollten den vermutlichen Geburtsort der Theresa von Avila besuchen, Gotarrendura in Spanien. Auf dem Weg dorthin wanderten wir auf dem Camino.

Ich ließ die Gruppe voraus gehen, wollte mir Zeit lassen und für mich sein, war der Letzte, das Schlusslicht auf diesem Weg. Und als ich wieder Anschluss gefunden hatte, da hielt mir eine Mitpilgerin ihre offene Hand entgegen mit den Worten: „Schau, was ich auf dem Camino gefunden habe!“ Eine lose Schrauben-Mutter und ein Stein in Herzform lagen in ihrer Handfläche. Ich staunte über die symbolhaften Fundstücke. Welch’ ein Geschenk auf diesem Weg der Wege, der Mutter aller Wege, könnte man sagen.

Ich bekam eine Ahnung für das Geheimnis, das viele Menschen spüren und erfahren. Sie gehen nicht umsonst diesen Weg. Sie gehen ihn weil sie merken, dieser Weg, der zeigt mir etwas vom Leben schlechthin. Ich bin unterwegs. Ich komme von woher und ich gehe wohin, in der Hoffnung, dieses Ziel auch zu erreichen. Auch wenn es mühselig und beschwerlich ist, aber ich setze einen Schritt vor den anderen und nähere mich so. Ich mache Begegnungen auf diesem Weg, treffe andere, die mit unterwegs sind, lasse mir von ihnen ihre Erfahrungen zeigen, ihre Fundstücke und man tauscht sich aus.

In dieser Hand, die mir die Pilgerin vors Gesicht hielt da entdeckte ich so zwei Dinge auch von mir selber. Zum einen diese lose Schraubenmutter, Symbol für etwas, was man selber auch weggibt, weil es nicht mehr passt. Weil es vielleicht alt und rostig geworden ist und weil wir es loslassen wollen und auch loslassen dürfen.

Ich habe in diesem Jahr einen Umzug hinter mich bringen müssen und habe etwas ganz Wichtiges gelernt bei diesem Prozess, etwas einzupacken und dann auch zu überlegen, will ich es noch weiter mit mir tragen, oder kann und will ich mich davon trennen. Und je mehr ich mich eingeübt habe in dieses Loslassen, umso euphorischer bin ich geworden, weil ich gemerkt habe, man kann mit ganz wenig auch ganz gut unterwegs sein. Und dann habe ich mir das Andere angeschaut in dieser Hand, den Stein in Herzform. Wo ist mein Herz so hart wie dieser Stein, dachte ich bei mir selber? Und ist noch die Hoffnung in meinem Herzen da, dass trotz alledem es die Form des Herzens bewahren mag und sich ausstreckt, voll Sehnsucht nach Verwandlung in ein Herz aus Fleisch?

Sehnt es sich dorthin zurück, was Gott uns angeboten hat in seinem Wort (Hes. 36,26): ich möchte Ihnen helfen, dass Ihr Herz aus Stein wieder ein menschliches Herz wird, ein Herz, das warm ist. Das sich bewegt, das lebendig ist.

Dass diese Sehnsucht groß ist bei uns, das spüren wir alle, ob evangelisch oder katholisch, so wie wir auf diesen neuen Papst Franziskus reagieren. Der zurückkehren will, zu den ganz einfachen Dingen indem er sagt: Geh dorthin, wo der Arme und Ärmste ist, tue deine Hand auf und gib. Und schau, dass deine Kasse am Abend immer gut leer ist. Halt nichts fest, schenke so, wie du beschenkt worden bist. Auch das gilt es wieder zu entdecken, die Geschenke, die wir bekommen, die in unsere leeren Hände gelegt werden.

Die Hand, je weiter ich darüber nachdachte, umso erstaunter wurde ich, welch große Botschaft uns mit dieser „Hand“ gegeben ist.

Mich hat interessiert, wo taucht denn diese „Hand“ zum ersten Mal in der Bibel, im Worte Gottes, auf? Schon im zweiten Buch Mose bin ich fündig geworden. So weit zurück muss man gehen, um „die Hand“ zu finden, von der Gott spricht. Es ist eine Stelle, wo sich die Männer des Volkes Gottes Zeichen an die Hand und an die Stirn machen, zur Erinnerung, Gebetszeichen! Und dann erzählt die Bibel weiter und sagt:

Und wenn dich heute oder morgen dein Sohn fragen wird: „Was bedeutet dieses Zeichen?“, dann sollst du ihm sagen: „Der Herr hat uns mit mächtiger Hand aus Ägypten aus der Knechtschaft geführt!“

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Das ist die Hand! Das ist die Hand Gottes, die nach uns greifen will, uns hingehalten wird, von Anbeginn an. Überall dort, wo wir gefangen sind, gefangen auch in unserem steinernen Herzen. Gefangen dort, wo wir gar nicht wissen, dass wir gefangen sind, aber die Unlebendigkeit spüren und merken, eigentlich sollte es anders sein, eigentlich möchte ich ein Anderer sein. Ich weiß, tief innen ist das in mich hinein gelegt, von oben her, nur verschüttet, gefangen, gefesselt. Ich weiß nicht warum? Die Lebensumstände sind nun einmal so. In diese Situation hinein kommt diese „Hand Gottes“ und dies sagt: Ich will dich aus all dem befreien!

Wenn wir einen Gedanken Sprung machen hin ins neue Testament, dort, wo dann das Kind aus der Krippe, das noch klein ist und dann groß geworden ist, und dann das erste Mal öffentlich auftritt, dann kommt er zu denen, die gefangen sind. Gefangen in ihrer Krankheit! Er streckt seine Hand aus und berührt sie und sie werden frei und wieder lebendig! Der Evangelist Johannes sagt dazu: Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in die Hand gegeben.

Das alles ist mit „der Hand“ verbunden. Und wir, die wir hier im Krankenhaus sind, wissen, was es bedeutet, wirklich be“hand“elt zu werden, angerührt und berührt zu werden – wirklich berührt!

Vor zwei Tagen saß ich hier vorne in der ersten Reihe der Kapelle. Ich habe Aufnahmen gemacht von unserer neu gestellten und gestalteten Krippe und als ich wieder aufstehen wollte, hatte ich einen fürchterlichen „Schuss“ im Rücken. Seitdem laufe ich etwas krumm und schief durch die Gegend (Michael kennt das von mir, ab und an habe ich solche Episoden). Und dann bin ich hier im Haus umhergeirrt nach Hilfe. War in der Physiotherapie Abteilung, aber leider hatte keiner Zeit für eine Behandlung. Bis ich schließlich auf der Palliativstation gelandet bin, bei lieben Pflegeschwestern. Eine Schwester hat gleich ein Kirschkernkissen in die Mikrowelle gelegt hat und mir dann Salbe gebracht, zum Behandeln und Einreiben. Wie gut das getan hat, Hand anzulegen und behandelt zu werden. Keine Maschine, keine Diagnostik, sondern einfach nur die menschliche Hand. Ich meine die Hand ist deshalb so wichtig, weil diese Hand, meine und deine sichtbare Hand geheimnisvoll verbunden ist mit der Hand Gottes, die mitteilen will: ich bin mächtig und befreie dich aus deinen Gefangenschaften, aus deiner Krankheit. Da will ich dich anrühren und zu dem wieder bringen, der du schon immer bist.

Die Hand! Die Hand, die von oben kommt und nach unten reicht. Dieses Geheimnis ist so durchdringend und so wirklich, dass wir es auch in der Sprache und in der Schrift, der Heiligen Schrift, wiederfinden können. Im Hebräischen, der Ursprache der Bibel, da ist das kleinste der 22 Buchstaben Zeichen, geformt wie ein Tropfen der aus dem Himmel hinein in diese Welt kommt. Und der Name dieses Buchstabens der „jod“ heißt bedeutet: „Hand“.

Mit dieser „Hand“ in der Schrift der Bibel reicht Gott hinein in diese Welt. Wie ein Kind, so klein, dass man es übersehen kann. Man kann meinen, das hat keine Bedeutung, das Jota. Es ist aber aus der Schrift nicht wegzudenken.

Zu diesem Kleinsten, dem Kind, zu dem sagt doch Jesus immer wieder: Vertrau darauf, denn da kommt die Kraft her. Die sind verbunden mit dem Himmel, wenn ihr nicht werdet wie die.... Und schön, dass auch heute Abend Kinder da sind im Gottesdienst (und jetzt gerade schlafen an der Schulter des Vaters. Weil sie sich einfach geborgen fühlen.)

Vielleicht können wir etwas von dem wieder in uns lebendig werden lassen, wenn wir unsere Hände anschauen, die vier Finger mit dem einen Daumen gegenüber, die vier Himmelsrichtungen und der Daumen, als „Himmel“ ihnen gegenüber. Wenn wir das miteinander verbinden, werden größere Zusammenhänge wieder deutlich.

Wenn wir hier im Krankenhaus den Segen anderen Menschen zusprechen, die Hand auf ihr Haupt legen und ein Kreuz auf die Stirne zeichnen, dann machen wir dies mit dem Daumen, dem Himmelszeichen!

Wir haben alles schon bei uns und in uns. Vielleicht können wir mit dieser Erinnerung gut nach Hinten schauen auf all das, was war und uns freuen auf das, was vor uns liegt. Vielleicht können wir sogar mit einer Melodie auf den Lippen diesen neuen Weg in das Jahr 2014 beginnen:

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Sing, bet und geh auf Gottes Wegen. Verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.

Zu dieser Melodie gehört aber noch eine innere Vergewisserung, mit wem wir unterwegs sein werden, allein, oder wundersam begleitet? Jochen Klepper gibt uns in seinen Versen die tröstliche Antwort:

Der du allein der Ew’ge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unserer Zeiten.Bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten. Amen

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA 09.01.2014

in: Kapelle KlinikumTondatei: DS400877

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Liebe Schwestern und Brüder, für den heutigen Abend habe ich eine Geschichte aus dem Markus-Evangelium ausgesucht. Es ist eine Heilungsgeschichte eines Menschen, der blind war.

Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und viele fuhren ihn an, er solle still schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und Jesus blieb stehen und sprach: „Ruft ihn her!“ Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: „Sei getrost, steh auf, er ruft dich!“ Da warf er seinen Mantel von sich und sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Was willst du, das ich für dich tun soll?“ Der Blinde sprach zu ihm: „ rabuni, dass ich sehend werde.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.“ Und zugleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Liebe Schwestern und Brüder, eine Weggeschichte, die wir da gehört haben. Auf dem Weg Jesu, da sind viele Menschen, manche einfach nur so, andere wieder mit einem Gespür der Erwartung in sich. Etwas in ihnen ist noch lebendig geblieben, dass sie merken, der, der jetzt vorüber geht, hier an diesem Weg, das ist nicht Irgendwer. Da begegnet einem die Sehnsucht, die er in sich selber spürt. Auch wenn er noch so lange dasitzt, nichts sieht, weil seine

Bartimäus - Am Weg des LebensMk. 10, 46-52

Bild: Spirituelles Zentrum MünchenRumänische Christusikone© Heinz Dieter Müller

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Augen trübe, blind sind, für das, was um ihn herum geschieht. Etwas ist dennoch lebendig geblieben, was sich hinaus sehnt in diese Welt, was nach Erfüllung verlangt.

So lernen wir am Anfang dieses Weges durch dies Jahr 2014 den Bartimäus kennen. Eine Gestalt aus dem Neuen Testament, der einen Namen trägt, der es wert ist, ihn einmal zu übersetzen, aus der Sprache der Bibel selbst, dem Hebräischen. Bartimäus heißt übersetzt, der Gerechte, der Geschätzte. Was ist denn hier zu schätzen in seinem Leben? Diese Geschichte hilft uns, das vielleicht besser zu verstehen, zu erspüren, wenn wir in diesen Bartimäus hinein sehen mit unseren Augen!

Er hat etwas in sich, was die anderen, die Augen haben und sehen können, vielleicht gar nicht mehr besitzen. Er weiß, da ist jemand unterwegs zu mir, in meine Verlorenheit und von dem könnte mir Hilfe kommen. Eine Haltung, so wie es der Psalm 121 auch besingt und wir zuvor gebetet haben: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?

Wenn das in uns da ist, dieser tiefe Wunsch, dieses Verlangen, dann wird auch die andere Seite sich melden und zeigen und in Erscheinung treten, wie bei diesem Bartimäus, dem Geschätzten, dem Gerechten. Jesus spürt, dass da dieses Verlangen ist, wie er es auch gespürt hat bei der Frau, die von hinten an ihn herangetreten ist und sein Gewand angerührt hat und er spürte, da geht eine Kraft von mir aus. Diese Frau setzte alles auf dies Vertrauen, wenn ich doch nur sein Gewand berühre, dann könnte ich geheilt werden, sein Gewand allein, das genügte schon. Dies Mal, bei Bartimäus, ist seine Stimme, die genügen sollte, er ruft, ja schreit hinaus in die Dunkelheit seines Daseins: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Ein Stoßgebet!

Ein Gebet in wenigen Worten zusammen gefügt und es bewirkt so viel. Weil er es wiederholt, wenn auf die erste Gebetsäußerung keine Erhörung erfolgt. Dann spricht Bartimäus es wieder, immer dringender, bittender: Jesus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner.

Ich war letzte Woche auf einem Kongress in München, von dem ich Ihnen auch dieses Bild heute mitgebracht habe. Dort, im spirituellen Zentrum da hängt es im Meditationsraum. Eine Ikone aus Rumänien, die das Gesicht, das Antlitz Jesu trägt.

Nichts anderes sichtbar, als nur sein Gesicht, das Antlitz Jesu. Wir haben uns dort getroffen, aus ganz Europa, vor allem aus Teilen der Ostkirche, wo es diese Tradition gibt, das immerwährende Jesus- oder Herzensgebet. Es wird über viele Jahrhunderte von vielen Menschen gesprochen, immer nur diese wenigen Worte: Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner!

Die Worte des Bartimäus werden wiederholt und wiederholt, immer nur dieses eine Gebet, das sich verbindet mit unserem Atem, beim Einatmen der erste Teil des Satzes: „Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes“ und beim Ausatmen dann: „erbarme dich meiner!“. Ein Gebet so nötig wie die Luft zum Atmen, das immerwährende Herzensgebet, wie unser Herzschlag unermüdlich arbeitet, damit wir am Leben bleiben, so auch dieses Gebet, es verbindet sich mit unserem Lebenszentrum und von dort her wirkt es nach außen, hilft auch, dass Ruhe einkehrt in dieses unruhige Herz, wie Augustin schon sagte: „Mein Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir.“

In Gott finden wir den großen Schalom, den großen Frieden, wo dann alles da ist, was schon immer da war, aber nur für uns nicht sichtbar, nicht spürbar, weil wir vielleicht neben unserem Lebensweg stehen, abgestellt, vergessen, übersehen, auch von den Anderen, übersehen auch von mir selber. Und dann kann dieses Gebet von ganz tief innen uns wieder dorthin führen ins Zentrum, zu dem Gegenüber, zu diesem Jesus, der unterwegs ist zu retten und zu helfen und wieder lebendig zu machen, wieder sehend zu machen, was vorher blind und dunkel war.

Und dieser Ruf Jesu führt beim Bartimäus zu seiner „Auferstehung“ er steht auf, wirft seinen Mantel ab, wie ein äußeres Zeichen, wir würden sagen, da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen, wie wenn jetzt der Schleier von ihm genommen wird, der Schleier der Verdunkelung und er kommt zu dem, von dem er alles erhofft.

Jesus aber vollbringt keine Spontanheilung, wie wir uns das bisweilen vorstellen, er möchte diesem Bartimäus helfen, das auch auszusprechen, was seine Sehnsucht, sein tiefer Wunsch ist. Und fragt: „Was willst Du, dass ich Dir tun soll?“ Von außen betrachtet, ist man immer schlauer und weiß, was

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dem anderen vielleicht fehlt, man könnte ihm schnell einen guten Ratschlag geben. Aber wir wissen ja, dass auch Ratschläge einen „Schlag“ im Worte bergen und manchmal mehr wehtun als sie einem nützen würden.

Deswegen ist Jesus so behutsam. Und so aufmerksam, dass er dem Bartimäus sagt: „Und was willst du wirklich?“ Und Bartimäus sagt: „Ich möchte sehend werden.“ Er sagt es in einer liebevollen Weise: „Rabbuni“, mein Lehrerlein.

Dort wo Vertrauen ist da wird auch die Sprache weich und zart. Wie Jesus auch zu seinem Vater betet und sagt: „Abba, lieber Vater, lieber Pappi.“ Es ist eine ganz zärtliches, ein ganz freundliches, ein ganz intimes, ein ganz freundschaftliches Anreden. Wie gute alte Freunde begegnet man sich, ist gleich auf Augenhöhe, merkt der Andere sieht in mich hinein wie ein aufgeschlagenes Buch, ich muss eigentlich gar nicht viel tun. Ich darf mich erlösen lassen.

Dann schenkt ihm Jesus dieses Sehen, wonach er sich so sehnt. Aber vielleicht ist es noch ein viel größeres Sehen als wir es von außen her bemerken. In der englischen Sprache ist es verborgen. Wenn jemand etwas versteht, dann sagt er: „Oh, I see.“ Oh, ich sehe, wörtlich übersetzt. Aber gemeint ist: „ich verstehe“ jetzt, ich habe jetzt eine Einsicht. Ich sehe jetzt das Wesentliche, durch diese Welt sehe ich die große andere Welt, die ja auch noch da ist. Ich bin nicht verlassen, ich bin nicht übersehen. Gott sieht mich, bis ins tiefste Innere hinein.

Das geschieht auch in diesem Gebetsruf, dieses Öffnen und in sich hinein sehen lassen. Gott bitten, dass er zu uns kommt in unser Leben. „Jesus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner!“ Nicht viele Worte, aber immer wieder wiederholt können sie allein schon von dort her uns den Trost geben, den wir suchen und die Augen öffnen, für die Gegenwart Gottes in meinem Leben. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 2.So.n.Epiphanias 19.01.2014

in: St. Thomas Augsburg Kriegshaber

Tondatei: DS400878

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Liebe Gemeinde, die heutige Predigt hat eine kleine Vorgeschichte. Dies Jahr begann für mich mit einer Fortbildung, die ich in München, im spirituellen Zentrum dort, gehört habe. Es war ein Vortrag über das Thomasevangelium. Ein Evangelium, das erst 1945 aufgetaucht ist. Ein Beduine hat bei Grabungen eine Grabstelle entdeckt und darin, neben dem Skelett, einen ungefähr einen Meter großen, versiegelten, Tonkrug. Der wurde dann gehoben und aufgemacht und darin kamen dreizehn Papyrusbücher, in Leder gebunden, zutage. Es sind die ältesten Bücher der Menschheitsgeschichte, denn bis dahin sind nur Papyrusrollen gefunden worden, oder aber auch Tonscherben. Man wusste nicht viel mit dem anzufangen bis diese Bücher dann ihren Weg ins Kairoer Museum gefunden hatten. Dort wurden sie übersetzt und schon der erste Satz hat die Wissenschaft zum Staunen gebracht. Er geht so: „Dies sind die geheimen Worte, die Jesus der Lebendige sprach und die Didymus Judas Thomas aufgeschrieben hat“.

Didymus Judas Thomas? Didymus, übersetzt heißt das: „Der Zwilling“ und wir spüren, dass dies in die Richtung zu diesem anderen Thomas hindeutet, den wir kennen und der uns im Johannesevangelium besonders vorgestellt wird.

Da ich heute, hier in der St. Thomaskirche, predige, habe ich gedacht, nachdem das alles für mich noch so frisch ist, lade ich jetzt die Thomas-

ThomasevangeliumJoh. 20, 24-31

Bild © Heinz D. Müller - 2014St. Thomaskirche, Augsburg

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Geschichte aus dem Johannes-Evangelium ein, um sie mit uns zu bedenken. Zu hören und zu erleben, was sie uns heute erzählen wird.

Wenn Sie nach vorne sehen, dann bemerken Sie, dass dieser Thomas ganz besonders in diesem Kunstwerk an der Altarwand hervorgehoben wird. Wie mit einem Vergrößerungsglas wird er herausgeholt aus dem Kreis der anderen Jünger, die um ihn und Jesus herumstehen. Thomas und sein Meister Jesus stehen im Mittelpunkt im Fokus dieses Bildes. Ich lese uns dazu die Geschichte aus dem Johannesevangelium im 20. Kapitel:

Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Er aber sprach zu ihnen: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich es nicht glauben.“ Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren und tritt mitten unter sie und spricht: „Friede sei mit Euch!“ Danach spricht er zu Thomas: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Thomas antwortete und sprach zu ihm: „Mein Herr und mein Gott!“ Spricht Jesus zu ihm: „Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

Wenn wir diese Geschichte hören, weiß ich nicht, wie wir durch sie geprägt worden sind. Wann wir sie das erste Mal gehört haben und welcher Beigeschmack sich an diesen Thomas geheftet hat. Vielleicht ist es der Beiname: „der ungläubige“ Thomas, „der zweifelnde“ Thomas, den er dann bekommen hat? Eine Festlegung, die zu dem geführt hat, was wir auf dem Bild vor uns auch sehen können, ein Thomas der etwas traurig drein schaut. Und dennoch, er hat den Kopf geneigt hin zu Jesus, dem er angehören will.

Dieser Beiname gehört zu der einen Seite des Thomas, die ihn verfolgt durch die Zeiten. Und dann ist da auch das Andere da. Und diese Spannung, gilt es jetzt erst mal wahrzunehmen. Mit dem Thomasevangelium ist ein Buch auftaucht, aus der gleichen Zeit geschrieben, wie das Matthäusevangelium und das auch den Namen „Evangelium“ trägt und die Wissenschaft, wie auch die Menschen begeistert, die diese Sammlung der Jesusworte aufnehmen, sich daran freuen und sich daran orientieren, eigentlich etwas Positives.

Weiter sollten wir staunen, denn diese Kirche trägt den Namen „St.“-Thomas-Kirche. Das verkürzte „St.“ heißt: „der Heilige“ Thomas. Das „Heilige“ ist doch ein Hinweis auf die ganz andere Seite des Thomas. Auch das Evangelium führt uns auch auf die Spur und erzählt: Schau doch mal genau hin, da wird von Thomas, dem „Zwilling“ geredet – Didymus! „Didymus“, was Zwilling heißt im Thomasevangelium und „Thomas der Zwilling“ wie er im Johannesevangelium vorgestellt wird. Und übersetzten wir das Wort „Thomas“ aus dem Hebräisch-Aramäischen, das Wort „tuomim“, für Thomas, heißt auch: Zwilling.Der Zwillingscharakter wird im Thomasevangelium sogar verdoppelt. Die Bibel, wenn sie Namen verwendet, möchte damit auch eine Botschaft übermitteln. Wenn wir aufmerksam auf diese drei Namen im Thomasevangelium schauen, nämlich: Didymus-Judas-Thomas, dann entdecken wir noch einen Namen, der negativ behaftet ist. Wir denken an Judas, der seinen Herrn verraten hat.

Aber auch da sollten wir nicht zu schnell sein mit unserem Urteil und Vorurteil. Denn die Bibel erzählt ja, der vierte Sohn der Lea, der diesen Namen bekommt, Jehuda, und der dann vergriechischst zu Judas wird, heißt zunächst: „Gott loben, Gott danken“. Also ein Thomas, der „Gott loben und Gott danken“ in seinem Namen trägt und der ebenso diesen Zwillingsaspekt im Namen hat. Jedoch die Bibel erzählt uns nicht, wer denn dieser andere – wer sein Zwillings-Bruder ist. Sie schildert uns nur, diesen Thomas in dieser Szene, wie in diesem Bild, ganz nah und eng mit Jesus zusammen.

Und so könnte man auf den Gedanken kommen und sagen, vielleicht ist das der Zwilling, der andere Bruder. Wie wir auch sagen, Jesus mein Bruder. Und wir merken, dieser Thomas kommt uns da schon näher. Sagt uns etwas ganz Besonderes!

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Und sehen wir mal auf diese Besonderheit, die er uns erzählt, die uns die Bibel erzählt mit dieser Geschichte. Da ist der Thomas, der einen Aspekt besonders gut kann oder vielleicht auch braucht. Er möchte sehen! Er möchte gerne glauben, aber dazu braucht auch das Andere. Er braucht den Beweis, jemanden, den er anfassen kann, mit dem er sprechen kann, der wirklich da ist für ihn. Und vielleicht ist das ja auch unsere Not, wenn wir zu Gott beten und uns an ihn wenden und innerlich uns aber fragen: Wo bist du? Wie siehst du aus? Wer ist mein Gegenüber?

Eine ganz alte Sehnsucht im Menschen. Und ich denke, dass diese Sehnsucht auch Gott berührt. Denn so viele Jahrhunderte, Jahrtausende haben Menschen mit ihm gelebt und auch leben können, dass sie Gott anerkannt haben, den Herrn, aber sich kein Bild von ihm gemacht haben, wie die Bibel ja sagt, mach dir kein Bildnis von ihm, Gott ist ganz anders, dass du ihn dir gar nicht vorstellen kannst.

Und dennoch ist da diese Sehnsucht im Menschen da nach einem persönlichen Gegenüber. Und ich denke, das können wir mit dem Sohn Gottes verbinden. Er ist die Antwort Gottes an den Menschen: schau doch, so bin ich zu Dir, wie dieser Jesus, der auf dieser Welt war und auf dieser Welt gegangen ist, gelebt hat, gelitten hat, gestorben ist und ... auferstanden ist. Das ganze Bild – das bin ich. So kannst du dir mich vorstellen. So kannst du mir gegenüber sein, so können wir in eine Beziehung kommen und miteinander den Weg gehen im Leben, im Leiden, im Sterben ... und darüber hinaus. Du gehst ja meinen Weg mit, den ich dir vorausgegangen bin. Du bist nie mehr allein.

Aber manchmal sind wir in so verschlossenen Räumen gefangen, wie die Jünger damals. Die Türen sind zu, erzählt das Johannesevangelium, da kommt niemand hinein, da verändert sich nichts und es zeigt sich, aus eigener Kraft geht da erst mal gar nichts.

Doch selbst dort, in diesen geschlossenen Raum, in diese Abgeschottetheit, wie auch in meiner Gedankenwelt, in meiner Verzweiflung, auch da ist mit einem Mal Jesus mitten unter ihnen.

Er nimmt das ernst. Diese Not, diese Glaubensnot dieses Thomas, der sagt: „Ich brauche es doch! Bevor nicht meine Hand dort hinlangt, berührt, kann ich nicht glauben.“ Und Jesus holt ihn ab bei seiner Sehnsucht, bei seinem Verlangen. Und ermutigt dadurch auch uns, in unserem Beten, in unserem Sprechen mit Gott. Wir dürfen bei unseren Fragen bleiben. Auch wenn alle anderen sagen: „Ja, das darfst du nicht.“ und „Mach’s doch besser, glaub doch nur so!“

Nein, wenn es wirklich das Anliegen ist, tief im Herzen, dann dürfen wir es und sollen es vor Gott bringen und Gott wird antworten. Wie Jesus antwortet und sagt: „Leg deine Hand in meine Wunde, berühr mich, komm mir nahe.“

Und da passiert das Andere in diesem Thomas. Dann wird der andere Zwillingsaspekt im Thomas lebendig, dieser zweifelnde Thomas wird zum „heiligen“ Thomas. Der dann das ausspricht, was die Amerikaner gerne sagen, wenn sie etwas verstehen, endlich den Durchblick bekommen: „Oh, I see“! I see – ich sehe, aber nicht mit den Augen sondern viel tiefer, jetzt verstehe ich! Die Augen gehen mir innen auf. Jetzt weiß ich es: mein Herr und mein Gott!

Das kommt diesem Thomas über die Lippen und er spricht mit diesen beiden Worten etwas nach, was unsere jüdischen Geschwister viermal am Tag beten das „Schema Israel“: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist Einer“, ist einzigartig. Das Glaubensbekenntnis, ja Glaubens-Gebet in der jüdischen Frömmigkeit. Das Glaubensbekenntnis des Thomas, mein Herr und mein Gott, versteht man vom erst hebräischen Schema Israel recht. Denn da werden eigentlich zwei Gottesnamen genannt „Elohim“, das Wort für Gott und dann der zweite Gottesname den man nicht ausspricht und mit der mit dem Worte „HaSchem“ umschrieben wird. Zwei Worte für Gott und man fragt sich, sind es etwa zwei Götter? Doch der Gläubige sagt in seinem Bekenntnis, seinen täglichen Gebeten, es sind nicht zwei, es ist ein Gott: der Herr, unser Gott, der Herr ist Einer.

Gott ist immer Gott. Wie auch der Vater im Himmel und Jesus Christus Einer ist! Das „sieht“ dieser Thomas, diese tiefe Einsicht, dieser tiefe Frieden kommt ihm. Er hat Frieden gemacht, besser Frieden gefunden, in seinem Zweifel, in seiner Verzweiflung, in seiner Orientierungslosigkeit und ständigen inneren Frage: an wen soll ich mich wenden? Und Gott sagt: Schau mich in Jesus Christus an und du siehst den Vater. Niemand kommt zum Vater denn durch mich, wie Jesus auch sagt.

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Wir merken, dieser Thomas ist ein ganz besonderer Jünger. Der einen ganz weiten Bogen spannt von dem, der orientiert ist am Handeln. Er muss immer seine Hand ausstrecken und berühren und betasten. Er muss sich mit dieser Welt auseinander setzen, in Beziehung treten – äußerlich! Wie wir uns auch manchmal in unseren Gemeinden sehr stark betätigen und viel tun wollen, äußerlich. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Es ist nicht die ganze Wirklichkeit.

Die Wirklichkeit wird dann zur ganzen Wirklichkeit, wenn ich in Beziehung komme mit dem lebendigen Christus, dem Auferstandenen. Der das neue Leben ist und die Wunden des Alten an sich trägt, die über-wunden sind. Und wo nun neues Leben durchscheint.

Am 8. Tage erzählt uns die Bibel da passiert das. Wir kennen die sieben Tage der Schöpfung und die sieben Tage der Woche, aber wo ist der Achte? „Acht“ ist in der Bibel ein Zeichen dass etwas ganz Neues beginnt. Und dorthin lädt uns dieser „andere“, der „heilige“ Thomas ein. Er ist der Jünger vom 8. Tag, der nun die ganze Wirklichkeit sieht und sagt: Von dort her wird das Andere, das Alte nun geleitet. Es kommt zur Ruhe. Alles findet seinen Platz und jetzt weiß ich, jetzt verstehe ich erst alles.

Ich denke, es ist etwas Besonderes, in so einer Kirche zu sein, die St.-Thomas-Kirche heißt. In so einer Gemeinde zu sein, die sich St.-Thomas-Gemeinde nennt und Gottesdienst zu feiern mit solch einem Bild vor Augen.

Gönnen wir uns die „evangelische Freiheit“, mal von dem einen Thomas zu dem anderen zu wechseln und umgekehrt. Dem einen die Ehre zu geben, dem Thomas, dem Handelnden, der betasten möchte, aber dann dort nicht stehen zu bleiben, sondern auch sich vom Auferstanden an die Hand nehmen zu lassen und sich das neue Leben zeigen zu lassen. Amen

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 26.01.2014

in: der Kapelle - KlinikumTondatei: DS400879

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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DS400879-Joh4,43-54-Heilung Sohn koenigl. Beamte,26.1.14

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Johannesevangelium im 4. Kapitel:

Als Jesus nun nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer auf, die alles gesehen hatten, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte. Denn sie waren auch zum Fest gekommen. Und Jesus kam abermals nach Kanaa in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. Und es war ein Mann im Dienst des Königs, dessen Sohn lag krank in Kapernaum. Dieser hörte, dass Jesus aus Judäa nach Galiläa und ging zu ihm und bat ihn, herab zu kommen und seinem Sohn zu helfen, denn der war totkrank. Und Jesus sprach zu ihm: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ Der Mann sprach zu ihm: „Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt.“ Und Jesus spricht zu ihm: „Geh hin, dein Sohn lebt.“ Der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte und ging hin. Und während er hinab ging, begegneten ihm seine Knechte und sagten: „Dein Kind lebt!“ Da erforschte er von ihnen die Stunde, in der es besser mit ihm geworden war. Und sie antworteten ihm: „Gestern um die 7. Stunde verließ ihn das Fieber.“ Der merkte der Vater, dass es die Stunde war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: „Dein Sohn lebt.“ Und er glaubte mit

Heilung im Dorf des TrostesJoh. 4, 43-54

Bild © Heinz D. Müller - 2009Kapernaum, See Genezareth

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seinem ganzen Hause. Das ist nun das zweite Zeichen, dass Jesus tat, als er aus Judäa nach Galiläa kam.

Liebe Schwestern und Brüder, wir werden eingeladen heute zu diesem zweiten Wunder, das Jesus, bei Johannes zumindest, wie es erzählt wird, getan hat. Das erste war die wundersame Verwandlung des Wassers in Wein bei einer Hochzeit. Und kurz darauf nun dieses: Ein Mann, ein hoher Beamter eines Königs kommt in Not, sein Sohn ist zu Tode erkrankt. Und schon diese Bezeichnung sollte uns einladen, etwas zu verweilen bei diesem Wort, bei dieser Botschaft. Einer, der ganz nah am König ist der weiß nicht mehr weiter. Und man könnte sich fragen, jemand, der so nah beim König ist der könnte sich doch alles leisten die besten Ärzte herbeirufen, wenn jemand, der ihm nahe ist in Not gerät.

Aber dieser Beamte spürt ganz tief innen, der König dieser Welt, könnte man sagen, der kann mir nicht helfen. Die Hilfe, die spüre ich und die hoffe ich, die kommt vielleicht von dem, von dem dieses erste Wunder berichtet worden war.

Und noch etwas sollte uns bei dieser Geschichte stutzig machen. Da wird von dem Sohn erzählt. Natürlich können wir meinen, es ist sein Kind, das ist so die erste Vermutung. Aber dann, wenn die Bibel von den Söhnen spricht, dann schwingt noch etwas anderes mit. Wir wissen, der alte Abraham und die Sarah, die alt, betagt waren und keine Nachkommen hatten, die haben sich auch diesen Sohn gewünscht. Der „Sohn“, das ist immer das Weitergehen in dieser Welt. Das ist die Zukunft, das ist die Generation, die uns dann nachfolgt, wenn wir hier unsere Schritte in dieser Welt getan haben.

Wenn nun diesem Beamten sein Sohn erkrankt, dann heißt es, auch mit seiner Zukunft scheint es nicht gut bestellt zu sein. Seine Hoffnung, die ist im Keller. Seine Hoffnung ist erkrankt. Vielleicht Sinnlosigkeit, wozu dieses Ganze, wozu vielleicht dieser ganze Luxus, ich bin hier beim König aber sollte das denn alles sein? Gibt es denn vielleicht noch etwas ganz anderes in dieser Welt, jenseits vom guten Leben hier?

Das sind die Fragen, die diesen Beamten umtreiben. So ist er ist auf der Suche und weiß, dieser König, dem er dient, da wird er seine Antworten nicht bekommen. Ein anderer König, der große König. Das Urbild vom König, Gott im Himmel, dort, das wäre die bessere Spur. Er macht sich auf den Weg, zögernd, zaudernd, nicht so ganz mit seinem Glauben eins. Und doch beginnt er seinen Weg.

Und auch dieser Weg ist ganz bezeichnend in der Bibel. Denn er sagt und die Bibel sagt es: Er geht hinauf, dorthin wo Jesus ist, nach Judäa. Und Jesus kommt herab zu ihm nach Galiläa, nach Kapernaum, wie es die Bibel sagt. Und dieses Wort Kapernaum, das sagt uns vom Hebräischen her um was es da geht. Dort heißt der Ort bis heute noch, das Dorf, am See Genezareth gelegen, Qwarnachum. Und Qwarnachum, Kapernaum für uns verdeutscht, ist das „Dorf des Trostes“ – Trosthausen. Dort ist Jesus zuhause. Und den sucht der Beamte, diesen Trost. Einen Trost, der ihn wirklich tröstet, so dass er wieder leben kann und Leben erhält.

Da, wo er bisher war, hat er ihn nicht gefunden. Aber er ruft zu dem hin, der da „oben“ ist in Judäa und sagt: Komm herab zu mir. Schon allein diese Bezeichnung hilft uns zu verstehen, dass es hier um ganz andere Orientierungen geht. Nicht nur die Orientierung in dieser Welt hier, oben und unten, sondern dieses Hinaufsteigen in eine andere Wirklichkeit. Sich verbinden mit dem, worauf wir hoffen, es aber nicht wissen und dennoch daran glauben möchten. Dass da „oben“ einer ist, der „herab“ kommt, um mir zu helfen, wenn ich ihn darum bitte.

Der tiefste Seufzer, den uns die Bibel erzählt, ist im 2. Buch Mose zu finden. Dort, wo das Volk in Knechtschaft lebt und seufzt. Und dieser Seufzer macht sich auf den Weg nach „oben“. Und dann erzählt uns die Bibel, Gott erhört dieses Seufzen seines Volkes und dann schickt er Rettung in Gestalt des Mose. Und führt sein Volk in die Befreiung. (2Mose 3,7-10)

Wenn wir diese beiden Stellen aus der Bibel miteinander vergleichen, dann spüren wir, da ist eine Melodie drinnen, die uns immer wieder begegnet. Überall dort, wo wir in Nöten sind, wo wir das Gefühl haben, das Leben entgleitet uns. Wir sind dem Tod näher als allem anderen. Wenn wir keine Hoffnung und keine Zukunft mehr spüren für uns selber, dann wäre der Trost doch der, dass diese

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Sehnsucht wieder wach wird. Da möge doch einer da „droben“ sein, der zu mir „herabkommt“ um mir zu helfen.

Das ist, das Weihnachtswunder das sich immer wieder neu ereignet. Der Eine dort oben, der Vater im Himmel spürt und merkt genau worum wir ihn bitten und brauchen. Diese „Nacht der Welt“ ist so groß und so schwarz, dass er diesen Stern an das Firmament heftet und sagt: Schau hin, da ist die Rettung in dieser Welt. In diesem Einen, in Jesus, der wird immer größer, für dich. Er wird auch kommen zu dir, in dein Leben, um dir zu helfen.

So begegnet nun dieser königliche Beamte in seiner Sehnsuchtsbewegung dem Jesus, der zu ihm herabkommt. Und der sagt ihm: „Warum braucht ihr Zeichen? Glaubt doch!“

Vertraut doch, dass Gott euch nicht alleine lässt. So sagt er ihm dies eine Wort: Dein Sohn lebt. Im Hebräischen hört sich das ganz anders an da hat das Wort für Leben, „chajim“, eine Endung, die ein Plural, ein Doppeltes ausdrückt. Es ist nicht nur ein Leben hier, sondern es ist ein Leben hier und ganz woanders auch noch. Wir wissen es von hier aus nicht. Wir können aber daran glauben. Und interessanterweise, das Wort für „Tod“ im Hebräischen gibt es nur in der Einzahl nur hier könnte man sagen. Aber Leben ist doppelt! Das Wort selber hilft uns, zu sehen, da ist mehr. Und an dieses Leben, sagt Jesus, glaube doch an dieses ganze Leben.

Mit dieser Zusage geht der Beamte heim und merkt beim Gehen, es verändert sich etwas bei ihm. Sein Horizont wird größer. Er sieht vielleicht nicht mehr nur dieses Eingegrenzt sein in diese eine Welt, von Geburt bis zum Tod sondern merkt da ist noch viel mehr. Sehen kann ich es nicht, aber ich kann daran glauben. Diese Veränderung bringt auch wieder Zukunft in sein Leben. Sein Sohn lebt. Er lebt von dem Moment an, wo diese Begegnung stattgefunden hat. Wo diese Beziehung wieder in Gang gesetzt worden ist, oder ganz neu sich gestaltet, von dort her verändert sich die Welt von dem Mann, der nun nicht mehr Beamter genannt wird, sondern „Mensch“ in der Bibel.

Und damit ist jeder Mensch gemeint, der sich aufmacht und sagt: Komm doch herab in meine Wirklichkeit. Und zieh mich zu dir hinauf in deine Wirklichkeit. Hilf mir, mehr zu sehen, als ich im Moment sehen kann.

Das ist der Trost, der uns erreicht von der Bibel her, von dem See Genezareth her, wohin sich Gott in Jesus auf den Weg macht, zu all denen, die mühselig sind, beladen, am Leben verzweifeln und ohne Hoffnung. Denen allen will er sagen: Kommt mit auf den Weg, zu dem ich euch einlade. Ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit und ich führe ins Leben. Amen.

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Gedenkgottesdienst 2014

Kapelle Klinikum Augsburg Klinikseelsorge

Pfarrer Heinz D. MüllerTonscript: Inge Gronau

DS 40088026.01.2014

Palliativ - Gedenkgottesdienst - Vorhang

Liebe Angehörige, liebe Mitarbeitende der Palliativstation. Heute ist ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung für Sie – und, auch für mich! Auch ich möchte heute meinen Erinnerungen nachgehen, an einen Menschen denken, der bei uns auf Station war. Über viele Jahre, vor seinem Klinikaufenthalt, war er bei uns tätig, in der Evangelischen Seelsorge, als ehrenamtlicher Prediger. Hier, wo ich jetzt stehe, hatte er gestanden und zu der Gemeinde gesprochen. Persönlich möchte ich mich erinnern an Gottfried! Erinnern, das heißt doch auch, nach innen schauen und nach innen gehen, bei sich selber. Dorthin, wo die Erinnerungs-Bilder sind, die wir wertschätzen, die uns prägen. Erinnerungen sind wie Geschenke, die wir uns gegenseitig geben, auf unserem Wege hier, in diesem Leben. Mein Erinnerungs-Geschenk von Gottfried, das möchte ich heute mit Ihnen teilen.

In der Mitte seines Lebens geschah ein prägendes Ereignis. Einen Unfall hatte er glücklicherweise überlebt und war wieder genesen. Diesen Neuanfang hatte Gottfried wie ein geschenktes zweites Leben erfahren und gedeutet. Er hat in diesem Bewahrtwerden „Gottes Hand“ erfahren und sich fortan diesem Gotte anvertraut. Ein feuriger Prediger ist er geworden und hat diesen Dienst gerne ausgeübt. Doch in seinem neu geschenkten Leben, meldeten sich bald Schatten, er erkrankte ernsthaft und litt unter mehrfachen Symptomen.

Krebs wurde schließlich diagnostiziert. Gottfried kämpfte, in mehrfachen Therapien, immer wieder neu dagegen an. Über viele Jahre ging es so. Besserung und Hoffnung, dann wieder Neuausbruch der Krankheit, ein Auf und Ab, nie hörte ich ihn klagen. Diesen einen Satz aber, den hörte ich ihn öfters sagen. Einen Satz, der andere fast erschreckte, die seine

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Lebens- und Krankheitsgeschichte kannten und die dann diesen Ausspruch von Gottfried, mit Überzeugung gesprochen, zu hören bekamen: „Gott macht keine Fehler.“

Dieser Aussage ist er treu geblieben. Trotz der, nach außen hin, hoffnungslosen Prognose, lebte Gottfried eine Fröhlichkeit, eine Zuversicht, mit der er andere noch aufbaute und tröstete, die eigentlich ihn begleiten und trösten wollten.

Ende letzten Jahres, bei einem erneuten Klinikaufenthalt besuchte ihn ihn auf einer der Stationen hier im Klinikum. Er stand unmittelbar vor der Entlassung nach Hause. Die Angehörigen rätselten noch, wie sie die Pflege zu Hause bewerkstelligen könnten. Die Metastasen in seinem Kopf waren schon so weit ausgebreitet, dass er sich kaum mehr erinnern konnte, welcher Tag es war. Schließlich schlug ich vor, fragen zu gehen, ob Gottfried nicht auf die Palliativstation kommen könne.

Auf meinem Weg zu den Aufzügen kam mir Frau Perret, unsere Stationsleitung entgegen und im Vorbeigehen fragte ich „Wohin des Weges?“ Und bekam zur Antwort:„Ich gehe den Gottfried holen, er kommt zu uns auf die Station.“ So haben sich zwei Wege gekreuzt. Von einer anderen Seite schon ist an ihn gedacht worden. So kam er dann auf die Palliativstation. Seine Familie war erleichtert und dankbar, dass sie Unterstützung bekamen und dass Gottfried nun in guten Händen war. Nach wenigen Tagen verstarb er, kurz vor dem Beginn des neuen Jahres.

„Gott macht keine Fehler“. Das war Gottfrieds Leitspruch. Diejenigen, die seine schwere Krankheitsgeschichte kannten, kamen bisweilen ins Rätseln ob das wirklich so sei, macht Gott keine Fehler? – Man sah doch, dass die Krankheit bei ihm siegen würde, ein absehbares Ende in Sicht war. Wo war Gott denn, hier? Warum gab er keine Heilung?

In dieser Zeit des Ringens mit dieser schweren Glaubens- und Zweifelsfrage, haben wir uns, die wir Gottfried begleitet haben erinnert gefühlt an diese andere Gestalt aus der Bibel, den Hiob. Auch zu dem kamen Freunde in seinem rätselhaften Leiden, um ihn zu trösten. Der Trost der Freunde sah bei Hiob so aus, dass sie nach einer Ursache, nach einem Grund suchten, von dem her sich das Leiden erklären ließe. Aus heiterem Himmel wird man nicht krank, so war ihre Überzeugung. Gott macht keine Fehler, der Fehler muss dann woanders zu suchen sein.

Aber Hiob ließ sich nicht beirren von seinen Freunden. Den Sinn seines Leidens, falls es einen solchen gäbe, den wollte er sich nur von Gott selber erklären lassen. So ist er im Fragen und Ringen dran geblieben an seinem Gott. Auch wenn dieser Gott so fern schien, so stumm, in seinem Leben. Schließlich bekam Hiob doch seine Antwort, von Gott persönlich.

Später, nach Gottfrieds Beerdigung, erzählte mir seine Frau, vom letzten Geschenk das ihr Mann Gottfried ihr gab, auf seinem Sterbebett.

Er schien schon nicht mehr ganz in dieser Welt zu sein, träumte vor sich hin, die Schmerzen wurden ihm genommen, durch die Medikamente und dann, erzählte sie mir: „ drehte sich Gottfried noch einmal um zu mir und sah mich an, mit einem Blick, den ich mein Lebtag nie mehr vergessen werde. Die Augen so klar, so leuchtend. Wie wenn sie schon „hinüber“ geschaut und das Andere gesehen hätten. Dieser letzte Blick war wie sein letztes Vermächtnis, wie das letzte Sagen-wollen, jetzt weiß ich, ich habe gesehen: „Gott macht keine Fehler!’“

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Dies Erlebnis ist mir nachgegangen und hat mich zu diesem Bild geführt, das ich heute mit Ihnen teilen möchte. Alle, die wir hier in die Kapelle kommen, sehen es vor uns, diesen Vorhang, der vor die Fenster gespannt ist. Der Blick hinaus ist verhangen, nur schemenhaft lässt sich erahnen, was jenseits des Vorhanges ist.

Früh am Sonntagmorgen wenn wir hier Gottesdienste feiern geht jenseits des Vorhanges die Sonne auf und scheint hierher hinein. Eine Botschaft, wie aus einer anderen Welt. Und mir fällt dazu die Geschichte aus dem Neuen Testament ein. Jesus war am Kreuz verstorben - Frau Dr. Jung hat uns bereits an dieses Kreuz in ihrer Begrüßung erinnert - und die Bibel berichtet, gleich nach Jesu Tod zerriss im Tempel der Vorhang, von oben nach unten. Ein vielsagendes Bild und Zeichen.

Der Vorhang im Tempel, war ein Symbol für die Trennung. Eine Trennung der profanen Welt, der Welt hier, in der wir leben und dem Allerheiligsten, im Tempelinneren, der heiligen Welt, zu der wir hin unterwegs sind und die sich symbolhaft jenseits des Vorhanges befindet. Der heilige Raum, wo nur Gott, im Symbol der Bundeslade, wohnt. Kein Mensch kann Gott hier sehen ohne Schaden zu

nehmen und deswegen dieser Vorhang, um die Welt und seine Geschöpfe zu schützen. Nur einer, der Hohepriester durfte einmal im Jahr jenseits des Vorhanges hin ins Allerheiligste gehen.

Mit Jesu Tod am Kreuz geschieht nun dies gewaltige Zeichen. Die Trennung ist aufgehoben, der Vorhang ist zerrissen. Der Weg ins Vaterhaus, der Weg zu Gott ist frei, Jesus hat diesen Weg aufgetan.

So deute ich für mich dieses Leuchten in Gottfrieds Augen. Das Klare, Helle ist wie eine Botschaft: sei getrost, dies ist nur das Vorläufige. Die Wirklichkeit, die wartet auf uns, wir werden sehen...

Unser Bild zeigt aber noch mehr. Wie hier auf dem Altar sehen Sie dieses kleine Kreuz. Der gleiche Künstler, der das große Kreuz für uns angefertigt hat, von ihm stammt auch dies Kleine. Das Auffällige dieses kleinen Kreuzes ist der runde Kreis, der die vier Seiten des Kreuzes verbindet.

Das will sagen, die einzelnen Teile, das, was wir nur bruchstückhaft erleben in dieser Welt, oder, wo für uns ein Leben in die Brüche geht, weil die Verbindung zu dem Menschen, den wir liebhaben, mit dem wir so viele Jahre gegangen sind, wo dieses Leben mit einem Male nicht mehr da ist, fühle ich mich selber zerbrochen in meiner Trauer.

Diese Bruchstücke dieses Zerbrochen-sein, möchte der, der am Kreuz gestorben ist, der die ganze Wirklichkeit des Leides selber erlebt, erfahren, durchlitten hat und der uns permanent sagt: Dort, wo du bist, da war ich auch, ich kenne das. Ich kenne den Schmerz, ich kenne die Trauer. Aber komm zu mir, komm mit mir, folge mir nach. Komm in meine Nähe, dass diese Bruchstücke wieder ganz und heil werden. Ich helfe dir die Bruchstücke zu verbinden.

Heil werden bedeutet, da fügt sich was zusammen, wird wieder rund und ganz, es schließt sich, macht endlich Sinn. Es fühlt sich für mich rund und richtig an, das ist dann unser Empfinden.

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Jede und jeder von Ihnen hat vielleicht auch so eine Botschaft mitbekommen, wie ich sie von Gottfried mitbekommen habe und die Seinen. Eine Botschaft des Dankes für die Begleitung, aber auch eine Botschaft des Mutes und der Zuversicht und des Trostes. Der Weg, der jetzt beschritten werden muss, ist ein Weg des Überganges. Ein Weg, der weiter geht. Das meinte Jesus, wenn er sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“

Diesen Weg durch den Vorhang, durch diese letzte Barriere, durch die wir alle müssen, Gott selber, in Jesus, hat sie freigemacht, gehbar gemacht. Er bleibt an unserer Seite, so wir an ihn glauben wollen, oder uns überraschen lassen, dass er dann da ist, wenn wir es am wenigsten vermuten.

So können wir vielleicht heute diesen kleinen Weg des Rituals gehen, hin zum Kreuz. Der für manche ein großer Weg ist, ein trauriger Weg. Gehen Sie in sich, erinnern Sie sich, Sie sind nicht allein unterwegs. Die guten Erinnerungen ihrer Lieben sind mit dabei, die Lieben sind da in Ihrer Erinnerung bei Ihnen, denn die Liebe kann nichts trennen, sie bleibt unzertrennlich und diese Verbindung bleibt ganz.

Gehen wir im Vertrauen ermutigt von diesem Lied: „Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke, mein Licht, Christus, meine Zuversicht, auf dich vertrau ich und fürcht’ mich nicht, auf dich vertrau ich und fürcht’ mich nicht.“

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 26.01.2014

in: Kapelle KlinikumTondatei: DS400880

weitere Predigten von Heinz D. Müller

www.pfarrer-mueller.de

Liebe Angehörige, liebe Mitarbeitende der Palliativstation. Heute ist ein Tag des Gedenkens und der Erinnerung für Sie – und, auch für mich! Auch ich möchte heute meinen Erinnerungen nachgehen, an einen Menschen denken, der bei uns auf Station war. Über viele Jahre, vor seinem Klinikaufenthalt, war er bei uns tätig, in der Evangelischen Seelsorge, als ehrenamtlicher Prediger. Hier, wo ich jetzt stehe, hatte er gestanden und zu der Gemeinde gesprochen. Persönlich möchte ich mich erinnern an Gottfried! Erinnern, das heißt doch auch, nach innen schauen und nach innen gehen, bei sich selber. Dorthin, wo die Erinnerungs-Bilder sind, die wir wertschätzen, die uns prägen. Erinnerungen sind wie Geschenke, die wir uns gegenseitig geben, auf unserem Wege hier, in diesem Leben. Mein Erinnerungs-Geschenk von Gottfried, das möchte ich heute mit Ihnen teilen.

In der Mitte seines Lebens geschah ein prägendes Ereignis. Einen Unfall hatte er glücklicherweise überlebt und war wieder genesen. Diesen Neuanfang hatte Gottfried wie ein geschenktes zweites Leben erfahren und gedeutet. Er hat in diesem Bewahrtwerden „Gottes Hand“ erfahren und sich fortan diesem Gotte anvertraut. Ein feuriger Prediger ist er geworden und hat diesen Dienst gerne ausgeübt. Doch in seinem neu geschenkten Leben, meldeten sich bald Schatten, er erkrankte ernsthaft und litt unter mehrfachen Symptomen.

Krebs wurde schließlich diagnostiziert. Gottfried kämpfte, in mehrfachen Therapien, immer wieder neu dagegen an. Über viele Jahre ging es so. Besserung und Hoffnung, dann wieder Neuausbruch der Krankheit, ein Auf und

Palliativ - Gedenkgottesdienst - Vorhang

Bild: Kapelle Klinikum Augsburg

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Ab, nie hörte ich ihn klagen. Diesen einen Satz aber, den hörte ich ihn öfters sagen. Einen Satz, der andere fast erschreckte, die seine Lebens- und Krankheitsgeschichte kannten und die dann diesen Ausspruch von Gottfried, mit Überzeugung gesprochen, zu hören bekamen: „Gott macht keine Fehler.“

Dieser Aussage ist er treu geblieben. Trotz der, nach außen hin, hoffnungslosen Prognose, lebte Gottfried eine Fröhlichkeit, eine Zuversicht, mit der er andere noch aufbaute und tröstete, die eigentlich ihn begleiten und trösten wollten.

Ende letzten Jahres, bei einem erneuten Klinikaufenthalt besuchte ihn ihn auf einer der Stationen hier im Klinikum. Er stand unmittelbar vor der Entlassung nach Hause. Die Angehörigen rätselten noch, wie sie die Pflege zu Hause bewerkstelligen könnten. Die Metastasen in seinem Kopf waren schon so weit ausgebreitet, dass er sich kaum mehr erinnern konnte, welcher Tag es war. Schließlich schlug ich vor, fragen zu gehen, ob Gottfried nicht auf die Palliativstation kommen könne.

Auf meinem Weg zu den Aufzügen kam mir Frau Perret, unsere Stationsleitung entgegen und im Vorbeigehen fragte ich „Wohin des Weges?“ Und bekam zur Antwort:„Ich gehe den Gottfried holen, er kommt zu uns auf die Station.“ So haben sich zwei Wege gekreuzt. Von einer anderen Seite schon ist an ihn gedacht worden. So kam er dann auf die Palliativstation. Seine Familie war erleichtert und dankbar, dass sie Unterstützung bekamen und dass Gottfried nun in guten Händen war. Nach wenigen Tagen verstarb er, kurz vor dem Beginn des neuen Jahres.

„Gott macht keine Fehler“. Das war Gottfrieds Leitspruch. Diejenigen, die seine schwere Krankheitsgeschichte kannten, kamen bisweilen ins Rätseln ob das wirklich so sei, macht Gott keine Fehler? – Man sah doch, dass die Krankheit bei ihm siegen würde, ein absehbares Ende in Sicht war. Wo war Gott denn, hier? Warum gab er keine Heilung?

In dieser Zeit des Ringens mit dieser schweren Glaubens- und Zweifelsfrage, haben wir uns, die wir Gottfried begleitet haben erinnert gefühlt an diese andere Gestalt aus der Bibel, den Hiob. Auch zu dem kamen Freunde in seinem rätselhaften Leiden, um ihn zu trösten. Der Trost der Freunde sah bei Hiob so aus, dass sie nach einer Ursache, nach einem Grund suchten, von dem her sich das Leiden erklären ließe. Aus heiterem Himmel wird man nicht krank, so war ihre Überzeugung. Gott macht keine Fehler, der Fehler muss dann woanders zu suchen sein.

Aber Hiob ließ sich nicht beirren von seinen Freunden. Den Sinn seines Leidens, falls es einen solchen gäbe, den wollte er sich nur von Gott selber erklären lassen. So ist er im Fragen und Ringen dran geblieben an seinem Gott. Auch wenn dieser Gott so fern schien, so stumm, in seinem Leben. Schließlich bekam Hiob doch seine Antwort, von Gott persönlich.

Später, nach Gottfrieds Beerdigung, erzählte mir seine Frau, vom letzten Geschenk das ihr Mann Gottfried ihr gab, auf seinem Sterbebett.

Er schien schon nicht mehr ganz in dieser Welt zu sein, träumte vor sich hin, die Schmerzen wurden ihm genommen, durch die Medikamente und dann, erzählte sie mir: „ drehte sich Gottfried noch einmal um zu mir und sah mich an, mit einem Blick, den ich mein Lebtag nie mehr vergessen werde. Die Augen so klar, so leuchtend. Wie wenn sie schon „hinüber“ geschaut und das Andere gesehen hätten. Dieser letzte Blick war wie sein letztes Vermächtnis, wie das letzte Sagen-wollen, jetzt weiß ich, ich habe gesehen: „Gott macht keine Fehler!’“

Dies Erlebnis ist mir nachgegangen und hat mich zu diesem Bild geführt, das ich heute mit Ihnen teilen möchte. Alle, die wir hier in die Kapelle kommen, sehen es vor uns, diesen Vorhang, der vor die Fenster gespannt ist. Der Blick hinaus ist verhangen, nur schemenhaft lässt sich erahnen, was jenseits des Vorhanges ist.

Früh am Sonntagmorgen wenn wir hier Gottesdienste feiern geht jenseits des Vorhanges die Sonne auf und scheint hierher hinein. Eine Botschaft, wie aus einer anderen Welt. Und mir fällt dazu die Geschichte aus dem Neuen Testament ein. Jesus war am Kreuz verstorben - Frau Dr. Jung hat uns bereits an dieses Kreuz in ihrer Begrüßung erinnert - und die Bibel berichtet, gleich nach Jesu Tod zerriss im Tempel der Vorhang, von oben nach unten. Ein vielsagendes Bild und Zeichen.

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Der Vorhang im Tempel, war ein Symbol für die Trennung. Eine Trennung der profanen Welt, der Welt hier, in der wir leben und dem Allerheiligsten, im Tempelinneren, der heiligen Welt, zu der wir hin unterwegs sind und die sich symbolhaft jenseits des Vorhanges befindet. Der heilige Raum, wo nur Gott, im Symbol der Bundeslade, wohnt. Kein Mensch kann Gott hier sehen ohne Schaden zu nehmen und deswegen dieser Vorhang, um die Welt und seine Geschöpfe zu schützen. Nur einer, der Hohepriester durfte einmal im Jahr jenseits des Vorhanges hin ins Allerheiligste gehen.

Mit Jesu Tod am Kreuz geschieht nun dies gewaltige Zeichen. Die Trennung ist aufgehoben, der Vorhang ist zerrissen. Der Weg ins Vaterhaus, der Weg zu Gott ist frei, Jesus hat diesen Weg aufgetan.

So deute ich für mich dieses Leuchten in Gottfrieds Augen. Das Klare, Helle ist wie eine Botschaft: sei getrost, dies ist nur das Vorläufige. Die Wirklichkeit, die wartet auf uns, wir werden sehen...

Unser Bild zeigt aber noch mehr. Wie hier auf dem Altar sehen Sie dieses kleine Kreuz. Der gleiche Künstler, der das große Kreuz für uns angefertigt hat, von ihm stammt auch dies Kleine. Das Auffällige dieses kleinen Kreuzes ist der runde Kreis, der die vier Seiten des Kreuzes verbindet.

Das will sagen, die einzelnen Teile, das, was wir nur bruchstückhaft erleben in dieser Welt, oder, wo für uns ein Leben in die Brüche geht, weil die Verbindung zu dem Menschen, den wir liebhaben, mit dem wir so viele Jahre gegangen sind, wo dieses Leben mit einem Male nicht mehr da ist, fühle ich mich selber zerbrochen in meiner Trauer.

Diese Bruchstücke dieses Zerbrochen-sein, möchte der, der am Kreuz gestorben ist, der die ganze Wirklichkeit des Leides selber erlebt, erfahren, durchlitten hat und der uns permanent sagt: Dort, wo du bist, da war ich auch, ich kenne das. Ich kenne den Schmerz, ich kenne die Trauer. Aber komm zu mir, komm mit mir, folge mir nach. Komm in meine Nähe, dass diese Bruchstücke wieder ganz und heil werden. Ich helfe dir die Bruchstücke zu verbinden.

Heil werden bedeutet, da fügt sich was zusammen, wird wieder rund und ganz, es schließt sich, macht endlich Sinn. Es fühlt sich für mich rund und richtig an, das ist dann unser Empfinden.

Jede und jeder von Ihnen hat vielleicht auch so eine Botschaft mitbekommen, wie ich sie von Gottfried mitbekommen habe und die Seinen. Eine Botschaft des Dankes für die Begleitung, aber auch eine Botschaft des Mutes und der Zuversicht und des Trostes. Der Weg, der jetzt beschritten werden muss, ist ein Weg des Überganges. Ein Weg, der weiter geht. Das meinte Jesus, wenn er sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“

Diesen Weg durch den Vorhang, durch diese letzte Barriere, durch die wir alle müssen, Gott selber, in Jesus, hat sie freigemacht, gehbar gemacht. Er bleibt an unserer Seite, so wir an ihn glauben wollen, oder uns überraschen lassen, dass er dann da ist, wenn wir es am wenigsten vermuten.

So können wir vielleicht heute diesen kleinen Weg des Rituals gehen, hin zum Kreuz. Der für manche ein großer Weg ist, ein trauriger Weg. Gehen Sie in sich, erinnern Sie sich, Sie sind nicht allein unterwegs. Die guten Erinnerungen ihrer Lieben sind mit dabei, die Lieben sind da in Ihrer Erinnerung bei Ihnen, denn die Liebe kann nichts trennen, sie bleibt unzertrennlich und diese Verbindung bleibt ganz.

Gehen wir im Vertrauen ermutigt von diesem Lied: „Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke, mein Licht, Christus, meine Zuversicht, auf dich vertrau ich und fürcht’ mich nicht, auf dich vertrau ich und fürcht’ mich nicht.“

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 06.02.2014

in: Kapelle KlinikumTondatei: DS400881

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Für den heutigen Abend habe ich Ihnen eine Geschichte aus dem Markus-Evangelium mitgebracht. Sie steht im 10. Kapitel:

Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und viele fuhren ihn an, er solle still schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und Jesus blieb stehen und sprach: „Ruft ihn her!“ Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: „Sei getrost, steh auf, er ruft dich!“ Da warf er seinen Mantel von sich und sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Was willst du, das ich für dich tun soll?“ Der Blinde sprach zu ihm: „Rabuni, dass ich sehend werde.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen.“ Und zugleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Liebe Schwestern hier in der Kapelle, liebe Zuseherinnen und Zuhörer. Eine Geschichte, die passend ist für einen Abend. Da, wo es dunkel wird, da, wo es dem ähnlich wird, was dieser Bartimäus über viele Jahre durchlebt hat, dunkle Nächte. Er lebt in einer dunklen Welt und sieht nichts. Lebt in Dunkelheit und Gefangenheit seines Daseins. Und das ausgerechnet in einer kleinen Stadt mit dem Namen Jericho.

BartimäusMarkus 10, 46-52

Bild: Google, Jesus heilt den blinden Mann von Eustache Le Sueur 1625–1650

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Vielleicht kommen uns noch die Erinnerungen an diese eine Stadt aus dem Alten Testament (Jos. 6, 1 ff), die umgangen werden musste, immer wieder, weil sie Mauern hatte und uneinnehmbar war. Eine Stadt, die sich eingemauert hatte, zu der man keinen Zugang fand. Sechs Tage umrundeten die Krieger des Joschua die Stadtmauern und nichts geschah, dann am siebten Tage umrundeten sieben Priester sieben Male mit Posaunengetöse die Stadt, der Bundeslade folgend, die vorangetragen wurde. Der Klang der Posaunen verbunden mit dem Kriegsgeschrei der Israeliten brachten schließlich die Mauern zum einstürzen. Jericho war erobert.

Wenn wir Bartimäus in der Stadt Jericho begegnen, so könnte es uns etwas über ihn und sein Umfeld erzählen. Vielleicht dies: wir begegnen hier Menschen, oder einer Gemeinschaft, die sich eingeigelt hat, wie in einer Wagenburg. Wo es keinen Zugang nach außen gibt, gefangen in sich selber. Wie dieser Bartimäus, der auch gefangen ist in dem, was er erlebt – seine Dunkelheit. Noch mehr trägt dieser Name „Jericho“ in sich, nicht nur die Erinnerung an diese eine Stadt, die eingenommen werden musste. Das Wort „Jericho“ kommt von dem hebräischen Wort „jareach“, das ist der Mond. Man könnte sagen, es ist die Mondstadt, in der dieser Bartimäus zu Hause ist. Ein Hinweis auf das Dunkle, die Nacht, die Bartimäus gefangen hält.

Aber der Mond erzählt uns noch viel mehr. Nachher werden wir das Abend-Lied „vom Mond“ singen (EG 482, 1-3.7). Das Matthias Claudius gedichtet hat und wo die 3. Strophe erzählt: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen/ und ist doch rund und schön.“ Der Mond steht für Veränderung aber auch für Wiederkehr. Halb – dreiviertel – ganz... Wie ein Rad, das sich dreht und dreht und man kommt nicht weiter. Ein Jahr reicht dem anderen die Hand, wir zählen die Jahre auch mit Mon(d)aten und so gehen wir durchs Leben. Dafür steht dieser Mond und man stellt sich ganz automatisch die Frage: Ja und was ist dann? Gibt es nicht noch etwas jenseits von dem, von dieser Gleichförmigkeit, von diesem immer-wieder-sich-schließen wie im Kreise? Gibt es auch noch das ganz Andere, nämlich die Überraschung des neuen Tages?

Die Antwort auf diese Frage ist unterwegs und kommt in Gestalt und Person dieses Jesus. Wir kennen und singen ja auch dies Lied: „Herr Jesu, Gnadensonne“ (EG 404). In Jesu Kommen, geht „die Sonne“ auf in dieser Stadt Jericho, dort, wo der Mond zu Hause ist und seine wiederkehrenden Kreise zieht. Da kommt nun dieser ganz Andere hin.

Bartimäus, obwohl in seiner Blindheit gefangen und nicht sehen kann, was und wer da kommt, er trägt ein Geheimnis in seinem Namen, das ihm nun die Kraft gibt, den, der da kommt, zu erkennen und anzurufen. Übersetzt heißt „timäus“: „der Geschätzte“, „der Geehrte“. Und Bar-timäus ist der Sohn des Geschätzten. Er trägt, einen Schatz in sich, nämlich, dass er die frohen Botenschritte hören kann, den Schritt des Erlösers, der da unterwegs ist in diese Stadt, durch diese Stadt des Mondes. Er erhebt seine Stimme, weiß nicht in welche Richtung er rufen soll, aber er schreit diese Worte: „Jesus Christus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Ein kraftvoller Ruf!

Ein kraftvoller Gebetsruf, den dieser Bartimäus aus seinem Inneren nach außen bringt. Das Geschätzte in ihm: Er hat diese Sehnsucht, er trägt dieses Wissen in sich, der „Mond“ ist nicht das Einzige. Die Nacht ist nicht alles in dieser Welt, es gibt doch hoffentlich den, der mich daraus erlösen kann. Den ganz Anderen.

Der erste Ruf, verhallt und Bartimäus tut das, was wir auch tun sollten, wenn es nicht gleich nach unserem Willen geht. Bleib hartnäckig! Ruf weiter. Wie es die Ostkirche über viele Jahrhunderte tut und pflegt, indem sie diesen einen Ruf, diesen einen Satz des Bartimäus als ein Herzensgebet immer wieder spricht: Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner.

Mit jedem Einatmen und Ausatmen verbinden sie diesen Ruf, pflegen sie dieses Gebet, sehnen sie sich nach dieser Nähe, nach dieser Beziehung mit dem, der uns das Leben verspricht, der die Sonne ist, das Licht in sich trägt, für alle, die in Dunkelheit gehen und wandeln.

Jesus hört den Ruf, bleibt stehen und ruft den Bartimäus zu sich. Und Bartimäus tut das, was bei ganz Vielen auch passiert, die spüren, dass ihr Gebet erhört worden ist. Er wirft seinen Mantel von sich, springt auf und kommt zu Jesus.

Warum, so frage ich mich, erzählt die Bibel von diesem Mantel? Vielleicht deshalb, weil es im Bild gesprochen folgendes bedeutet: all das, was ihn bisher „ummantelt“ hat, was ihn dadurch auch

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gefangen gehalten hat, was sich über seiner Person abgelagert hat, wie eine Patina und zweite Haut, was nicht zu ihm gehört, aber was er mit sich herumschleppen musste. Die Vorurteile, die Deutungen von außen, das Stigmata, das ihm aufgedrückt worden ist: Du bist ein Blinder, du blickst nicht durch, du läufst ganz blind durch diese Welt!

Wie auch immer diese Ummantelungen geklungen haben, Bartimäus wirft sie ab, schüttelt sie ab wie einen alten Mantel und steht nun so vor diesem Jesus da, wie Gott ihn geschaffen hat, kann man sagen.

Durch Jesu einladenden Ruf, traut er sich aus seinem Versteck heraus. Er braucht nicht mehr „die Blätter“, den Schutz, sich nicht vor Gottes Angesicht zu trauen. Nein, Jesus sagt: Komm so, wie du bist, mit all deiner Nacktheit, mit all dem, wo du dich vielleicht schämst und dich nicht unter die Menschen traust. Bei mir darfst du so sein, wie du bist.

Schon allein diese Einladung, diese Freiheit, diese Erlaubnis, alles ablegen zu dürfen, was hindert und bedeckt und vor Gottes barmherzigem Blick zu stehen, das öffnet die Augen. Vielleicht nicht so ganz die öffentlichen, die äußeren Augen, aber ich glaube ganz sicher, den inneren Blick, die Einsicht, das Sehen, das Erkennen von innen her: ja Gott meint mich und er will mich in seiner Nähe haben. Ich muss mich nicht mehr verstecken, muss nicht mehr meine Augen verschließen. Er hilft mir, die Welt und mich so zu sehen, wie sie sind.

In dieser intimen Begegnung auf Augenhöhe mit Jesus, da hört Bartimäus diese Frage: Nun sag mir doch du, was ich für dich tun soll. Jesus ermächtigt und erlaubt dem Bartimäus sein eigenes Wollen ins Wort zu bringen, seine innere Stimme zu finden. Und Bartimäus bringt diese Worte hervor: „Rabbuni, mein Meisterlein, mein lieber Meister kann man übersetzen, dass ich wieder sehend werde!“ Dieser Prozess – zu seinen Worten, zu seinem Wollen hin geführt zu werden, das öffnet den Blick nach innen mit Augen, die mehr sehen und dann merken, ich kann glauben.

Weil ich nun die große Wirklichkeit sehe. Mehr sehe als nur den Mond. Ich sehe, dass Mond und Sonne zueinander gehören, dass der Tag auf die Nacht folgt. Dass dies Leben, auch wenn es hier vergeht, in ein größeres Leben mündet, das mit Ewigkeit beschrieben wird. Zu diesem Blick, zu dieser Einsicht, führt diese Begegnung mit Jesus, dem Sohn Davids.

Diese Geschichte von Bartimäus kann auch uns helfen. Uns daran zu erinnern, dass auch wir alle etwas Besonderes in uns tragen. Nämlich dieses: „Wir sind Kinder Gottes!“ Wir sind Menschen, die gerufen werden, in Gottes Nähe zu sein, bei ihm, von ihm gefunden zu werden und von ihm die Augen geöffnet zu bekommen für das große Bild des Lebens. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: L.S.n.Epiphanias 09.02.2014

in: Kapelle KlinikumTondatei: DS400882

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen.

Noch mögen die Worte aus der Geschichte, die sehr lange ist, in uns nachklingen. Vielleicht haben wir mit Verwunderung vernommen, was dem Mose an diesem Gottesberg geschehen ist. Was sich da ereignet hat und wir rätseln vielleicht noch, wie das zusammen passt, mit diesem letzten Sonntag nach Epiphanias, wo, wie ich zu Beginn des Gottesdienstes ja gesagt habe, wir dem „Licht“ der Weihnacht ja noch nachspüren. Und vielleicht spüren wir, am Ende dieser Epiphanias Zeit nochmal dem Impuls nach: Welches Licht offenbart sich dem Menschen, zeigt sich auf seinem Weg? Und - in dieser Geschichte – begegnet uns Licht auf eine ganz besondere Weise.

Mose, der Hirte. Im Dienste seines Schwiegervaters ist er auf der Weide. In der Nähe eines Berges. Die Überlieferung, nicht die Geschichte in der Bibel hier, erzählt uns, warum dieser Moses sich ausgerechnet auf den Weg gemacht hat hin auf diesen Berg.

Berge haben es in sich! Sie bergen etwas, schon im Wort des Namens. Manchmal gibt es dort Steine, die sich lösen. Es ist gefährlich. Man weiß nicht, welche Schluchten sich da auftun, Berge verbergen etwas. Und so wird in der Überlieferung zu dieser Geschichte erzählt: Ein Lämmlein aus der Herde hat sich auf den Weg gemacht, die Herde des Mose verlassen und ist entwichen.

Mose am brennenden Dornbusch2Mose 3,1-14

Bild: Google, Chagall, Brennende Dornbusch

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Mose, der getreue Hirte, geht nun diesem einen Schäflein nach. Macht sich auf den Weg und sucht es. Mose, schon hier der gute Hirte, der dem Einen nachläuft und die 99 zurück lässt, um das Eine wieder Heim zu holen, in die Einheit der großen Herde. Und die Überlieferung gibt die Deutung zu unserer Geschichte: Weil Mose so treu ist diesem Kleinen, Unwesentlichen gegenüber, aus diesem Grunde zeigt sich dem Mose Gott, begegnet ihm in dieser Lichterscheinung und spricht ihn von dort her an.

Eine sonderbare Licht Erscheinung, da brennt ein Dornbusch, nach menschlichem Ermessen müsste man sagen, wenn Feuer an dieses dürre Geäst kommt, dann brennt es lichterloh, in null-komma-nix. Es verbrennt, fällt zu Asche. Doch Mose traut seinen Augen kaum, er sieht dieses dürre, trockene Geäst des Dornbusches, in hellen Flammen und es bleibt doch ganz, heil. Bleibt, was es ist, trockenes Geäst!

Nun könnte man gleich hingehen und diese Geschichte interpretieren aus moderner Sicht und sagen, Halluzination, zu lange in der Sonne gestanden, wie auch immer – aber damit würden wir dem Geheimnis der Botschaft der Bibel keinen Millimeter näher kommen.

Vielleicht hilft uns der Name dieses Berges etwas tiefer ein zu steigen in diese Geschichte. Denn er wird mit dem Namen Horeb uns erzählt. Und „Horeb“ kommt vom hebräischen Wort für „Schwert“. Im Wort Schwert schwingt schon vernichten und zerstören mit. Erst einmal schrecken wir vor dieser Deutung zurück. Und doch hat sie etwas mit unserer Geschichte zu tun. Denn hier wird tatsächlich etwas vernichtet, zerstört, nämlich das Bild unserer für selbständig genommenen Wirklichkeit. Wie wir diese Welt sehen.

Wir sagen, wenn das Eine da ist, das Feuer, dann muss es natürlich in Zerstörung enden. Das ist die Logik der Welt. Das ist die Logik der Wissenschaft. Aber dem Mose kommt hier ein ganz anderes Bild entgegen. Da brennt etwas und verbrennt nicht. Es bleibt, wie es war. Und Mose merkt und spürt, hier wird ihm etwas geschenkt. Eine Einsicht, ein Blick in einen größeren Zusammenhang, denn aus diesem Dornbusch heraus kommt nun auch eine Stimme zu ihm, die ihn anspricht und sich als Gott vorstellt: Ich bin der Gott deiner Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Ich bin der Gott deiner Vergangenheit. Aber ich bin auch der ganz andere, der für das steht, dass alles neu wird. Du siehst in mir in dieser Geschichte beides in einem, Vergangenheit und das Bleibende, das Ganze, in einem Bild.

Wir sollten dieses Bild des brennenden und nicht verbrennenden Dornbusches auch aufnehmen in unser Leben und mit diesem Bild überall dorthin schauen, wo wir diese Erfahrung machen, dass da etwas vergeht.

Es vergeht die Zeit dieser Welt. Sie verbrennt sozusagen, ganz schnell oftmals und gerade, wenn wir älter werden, haben wir das Gefühl, die Zeit eilt voran und wir können sie nicht einhalten. Wir können sie nicht festhalten. Und natürlich fragen wir uns dann: Wohin geht das alles? Verbrennt es uns, wird es dann zu Asche? Wie auch über uns einmal die Worte gesprochen werden, Asche zu Asche ... Die Bibel sagt: Nein, es bleibt, wie es war. Es ist aufgehoben, ganz da, bei Gott in seiner Wirklichkeit, in seiner Präsenz. Da ist alles eins, ganz und heil.

Das hebräische Wort für Himmel, schamajim, hilft uns da, das noch einmal von einer anderen Seite aus zu verstehen. Himmel im Hebräischen, der Sprache der Bibel, so sagt man, ist aus zwei Worten zusammengesetzt. Aus dem Worte „esch“ für Feuer und dem Worte „majim“ für Wasser. Der Himmel ist sozusagen der Ort, wo Feuer und Wasser zusammen sein können und trotzdem das Eine nichts dem Anderen antun kann, nicht mehr entweder oder, wie in unserer Welt sondern das Eine und das Andere zu gleicher Zeit. Wie Tod und Leben! Beides da und nicht nur die eine Seite der Medaille, sondern die andere Seite der Medaille gleich mit. Das ist das große Bild, das uns die Bibel zeigt und vorhält, hier auf diesem Berg Gottes, dem Horeb. Dort, wo der Hirte Mose diesem einen Lämmlein nachläuft um es Heim zu holen, damit nichts verloren geht.

Eine Melodie, die durch die ganze Bibel immer wieder durchtönt. Gott lässt niemanden außerhalb seinem Bereich. Er geht ihm nach. Hier tut es Mose, stellvertretend für Gott sozusagen. Der gute Hirte, hier schon im Alten Testament. Und dann bekommt er auch noch den Grund zu hören, weshalb sich Gott meldet und gerade diesen Mose auserwählt. Denn die Stimme sagt ihm und ich sage es in meinen Worten was wir in 2Mose 3,9 lesen können: „Ich habe das Geschrei, das Stöhnen, das

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Leiden meines Volkes gehört und es tut mir weh, sie so ganz allein zu lassen in ihrer Finsternis, in ihrer Dunkelheit. Ich möchte ihnen ein Zeichen der Hoffnung, wie ein kleines Licht der Kerze, anzünden. Ich will bei ihnen sein, durch dich, Mose.“

Das ist eine Einladung an den Menschen selber. Dass wir immer wieder, dort, wo wir Dunkelheit erleben, wo wir Schmerzen erleben, wo wir Ferne erleben, wo wir Einsamkeit erleben, dass wir dort unseren Mund und wenn es unser Mund nicht ist, unser Herz auftun können, die innere Stimme erheben, die dann schon schreit und ruft: Wo bist Du? Und wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott hört, schon jemanden finden wird den er dann auf den Weg schickt, in unsere Wirklichkeit hinein, uns zu begleiten, bei uns zu sein.

Immer wieder werden Menschen berufen zu diesem Dienst der Begleitung und der stellvertretenden Nähe Gottes. Hier im Krankenhaus, die Klinikseelsorge, die immer wieder versucht, diesen Dienst zu tun, so gut es eben geht. Aus menschlicher Sicht da zu sein, den Rufer zu hören, wahrzunehmen, wo denn Hilfe angesagt ist und vonnöten? Wo erlebt jemand die Ferne und sucht die Nähe?

Diese Geschichte von Mose, wird uns erzählt, gerade dort, wo wir uns aufmachen in ein neues Jahr, hoffentlich ausgerüstet mit vielen guten Lichterfahrungen, die wir dann brauchen können, wenn es einmal anders, finster, um uns wird. Wenn wir das Andere erleben! Und dass wir dieses Bild von Mose auch mitnehmen, dass er bruchstückhaft dies erlebt hat, die große Wirklichkeit in einer Lichtgestalt.

Neben dieser grundlegenden festen Erfahrung, dass etwas, alles, vergeht in unserem Leben, steht doch auch diese andere Erfahrung! Und wenn ich keinen „brennenden Dornbusch“ hier erlebe, so darf ich daran glauben, dass er zwar brennt und doch nicht verbrennt.

Wir machen im Moment eine Beobachtung bei Menschen gerade bei solchen, die sehr gerne helfen und für andere da sein wollen und die dann mit einem mal in ihrem Leben diesen Zustand der totalen Erschöpfung erleben, für den wir heute ein Wort gebrauchen, das „burnout“ heißt, ausgebrannt.

Es passiert, dass das Feuer der Lebendigkeit hier ausgeht, vielleicht deswegen verlischt, weil wir uns ganz mit dieser Wirklichkeit identifizieren und uns sagen, darüber hinaus gibt es nichts anderes. Ich muss alles hier hinein pressen, in diese kurze Zeit des Lebens, die, so es gut geht, 120 Jahre dauern mag, so die Verheißung der Bibel. Aber was danach? Sollte dann alles aus sein? Sollte Gott, der Schöpfer, den wir im Psalm 100 gelobt haben für seine Schöpfung, sollte er etwas geschaffen haben, was dann verloren ist? Sollte er nicht vielmehr der gute Hirte sein, viel mehr noch als der Mose, guter Hirte war. Der gute Hirte in Jesus, der besonders zu denen kommt, die verloren sind, die ausgegrenzt sind, die versprengt sind von der großen Herde? Und der sagt: All das gehört zueinander, zu mir.

Alle die Momente meines Leben, selbst die, die ich vielleicht missachte und für gering erachte, auch die gehören zu mir dazu. Das Ganze ist dann die Wirklichkeit. Und zu dieser Wirklichkeit sind wir unterwegs. Mit einem Gott, der sagt: Ich werde sein, der ich sein werde. Und dieses „Sein“ heißt, ein Gott der Vergangenheit, der Zukunft und der Gegenwart in einem.

Bei Gott ist alles aufgehoben. Das, was war und das, was kommen wird und wir sind dazwischen, mit ihm unterwegs, dem ewigen Sein ganz nahe. Und, von Mal zu Mal mag dann die Dunkelheit der Welt für einen kurzen Moment sich auftun und ein Lichtstrahl uns ergreifen und wir spüren, das Sein Gottes, es ist doch da, in meinem Leben, jetzt. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA 20.02.2014

in: Kapelle KlinikumTondatei: DS400883

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Liebe Schwestern und Brüder, als ich zuvor diese beiden Bilder ausgeteilt hatte, war zunächst gleich die Frage: „Wo sind die denn her? Wo sind die denn aufgenommen worden?“ Und das möchte ich gleich am Anfang erklären. Man weiß es nicht, aber jeder Krankenhauspfarrer ist normalerweise auch an eine Gemeinde angebunden, das gehört sich so, damit man sozusagen immer auch „geerdet“ ist hier in der Gegend. Ich selber bin an St. Thomas angebunden, habe dort Sitz und Stimme im Kirchenvorstand und von dort stammt auch dieses Bild. Aus der St-Thomas-Kirche in Kriegshaber.

Als ich heute Nachmittag dort hinging, um diese Bilder aufzunehmen, da hat es nicht lange gedauert, ich war zunächst allein in dem schönen, großen Kirchenraum, da stand plötzlich ein Mann hinter mir und fragte, was ich denn hier tue. Ein neuer Mitarbeiter, der mich noch nicht kannte und der sehr aufmerksam war, dass sich nicht irgendjemand reinschleicht in die Kirche und vielleicht etwas Verbotenes tut, aber dem war nicht so. Ich war dort, um dieses Bild aufzunehmen, weil ich Ihnen heute Abend gerne die Geschichte aus dem Evangelium des Johannes dazu erzählen mag.

Thomas der ZwillingJohannes 20, 24-31

Bild: St. Thomaskirche, Augsburg, Kriegshaber© Heinz Dieter Müller

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Aber sehen Sie erst einmal auf dieses linke Bild. Das zeigt den Anblick, den die Gemeinde vor sich hat, wenn sie Gottesdienst feiert. Man sieht den Altar mit den beiden Leuchtern an der Seite und oberhalb, über dem Erdkreis, noch einmal etwas erhöht, dieses Bild der elf Jünger und in der Mitte wie mit einem großen Vergrößerungsglas hervorgeholt diese beiden Figuren, einer zur rechten, einer zur linken. Und wenn man von unserer Seite aus auf die linke Figur sieht, dann kann man die Male des auferstandenen Jesus sehen und an seiner Seite der Thomas.

Auf dem rechten Bild sehen Sie das Ganze noch einmal wie mit dem Vergrößerungsglas hervorgeholt, hereingezoomt, sagt man heute. Und wir sehen diesen Thomas noch einmal in ganz besonderer Weise hervorgeholt durch den Künstler. Und nun die Geschichte dazu, wie sie uns das Johannes-Evangelium erzählt.

Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: „Wir haben den Herrn gesehen.“ Er aber sprach zu ihnen: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägel Male sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich es nicht glauben.“ Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren und tritt mitten unter sie und spricht: „Friede sei mit Euch!“ Danach spricht er zu Thomas: „Reiche deine Finger her und sieh meine Hände an und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig sondern gläubig.“ Thomas antwortete und sprach zu ihm: „Mein Herr und mein Gott!“ Spricht Jesus zu ihm: „Weil du mich gesehen hast Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

Liebe Schwestern und Brüder, eine Geschichte, weit weg und doch so nah. Denn sie erzählt von Menschen in der Nähe Jesu, die mit ihm gegangen sind bis zu diesem Kreuz, woran er dann gestorben ist und die dann nach drei Tagen ihn wiedergesehen haben, aber nicht glauben können, was sie sehen. Ganz verunsichert treffen sie sich in diesem Raum. Sie erzählen dem Thomas, dass sie den Auferstandenen gesehen haben, doch er kann es nicht glauben. Er kann nur das glauben, was er auch wirklich sieht, wo er einen wissenschaftlichen Beweis mit Händen und Füßen zum Greifen vor sich hat. Dann ja!

Aber Glauben, auf das Hörensagen der anderen hin, selbst wenn es die besten Freunde sind, denen man trauen kann, er kann es nicht. Thomas, einer dieser Zwölf. Er trägt noch den Beinamen „Zwilling“. Und wir fragen uns: Ja, wo ist denn der Zwilling in dieser Geschichte geblieben? Wo ist denn sein Zwillingsbruder? Die Bibel lässt diese Frage unbeantwortet. Und man könnte dadurch zum Gedanken kommen, vielleicht ist es dieser Thomas selber, der zwei Seelen in seiner Brust hat, der diese beiden repräsentiert.

Beide Menschentypen, die wir auch kennen, vielleicht auch in uns selber haben. Dieser eine Mensch, der gerne wissenschaftlich etwas erklärt bekommen haben möchte. Und der andere, der glauben kann, wenn man ihm etwas erzählt. Der auch einmal „Fünfe“ gerade sein lassen kann, der Vertrauen hat, dass noch etwas anderes da ist, was eben nicht mit Händen und Füßen zu greifen ist. Wir leben in einer Welt, in der wir dieses „Beide“ auch kennen. Manchmal vielleicht verstörend kennen, wenn wir unseren Augen nicht mehr glauben können. Man kann mit Fotos so vieles machen. Mit Photoshop kann man die Wirklichkeit so darstellen, dass sie vom Auge her zu glauben ist, aber dennoch nicht der Wirklichkeit entspricht. Wir sind heute soweit, dass wir uns etwas vorgaukeln können, was gar nicht mehr so da ist. Und wir dann verunsichert sind, was ist denn nun wahr und was ist nur eine Illusion.

Ich denke, wir Menschen, schon von klein auf, wir brauchen auch dieses Andere. Diese Geschichten, die vielleicht nicht wahr sind, aber die so gut rein gehen und an die wir gerne glauben wollen. Wenn wir unserer Oma oder unserer Mutter früher immer wieder bittend gesagt haben: Erzähl mir die Geschichte von „Hänsel und Gretel“ und wie sie alle heißen, nochmal. Geschichten, die nicht wahr sind und dennoch etwas in sich haben, was uns glauben lässt an eine größere, schönere, geheimnisvolle Welt.

Die Bibel will mit ihren Geschichten nicht sagen, dass das, wozu sie uns einlädt, woran wir glauben dürfen und können, dass das nicht wahr ist. Gerade bei so einer Geschichte, dass hier jemand

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gestorben ist und auferstanden. Das ist schon eine starke Geschichte, an die wir gerne glauben wollen, besonders dann, wenn wir an solche Grenzen kommen, wie vielleicht hier im Krankenhaus. Grenzen unseres eigenen Lebens. Und wir merken, wie nach aller Welt, soll es denn weitergehen? Wird es Hilfe geben? Werden die Ärzte eine Maßnahme finden, um mir weiterzuhelfen? Und was ist, wenn nicht? Gibt es noch etwas jenseits von dieser ganzen Technik, von diesem ganzen Machbaren?

Da sagt die Bibel: Vertraue und glaube, dass da mehr ist, als dein Auge wahrnehmen kann. Selbst dort, wo die Menschen, die du kennst vor deinen Augen verschwinden, weil sie sterben. Bei Gott, in einer anderen Wirklichkeit, sind sie lebendig, sind sie da.

Dann sind wir gerne geneigt und wollen gleich „unsere Finger“ hineinstecken und sagen: „Ich will es aber sehen und fühlen.“ Jesus sagt zu diesem Menschen: „Selig sind, die nicht sehen und dennoch glauben.“ Und dieses Wort „Glauben“ hat im Hebräischen eine dreifache Bedeutung. Nicht nur Glauben, wie wir das kennen. Wir kennen nur ein Wort aber dort im Hebräischen der Sprache der Bibel, heißt das gleiche Wort für Glaube, emuna ein Dreifaches: Glauben, Vertrauen und Treue.

Drei Worte, aber nur ein Wort im Hebräischen. Wie um zu sagen, wenn du nicht glauben kannst, dann vertraue doch. Und wenn du nicht vertrauen kannst, dann sei doch dem treu, der dir das sagt: „Ich lebe und ihr sollt auch leben!“

So könnten wir uns einüben, einüben mit diesem Thomas, der beides kennt. Und vielleicht lohnt es sich auch diese Seite in uns selber kennen zu lernen, dass wir loslassen, im Vertrauen drauf dass es eine Hand gibt die uns hält, wenn nichts mehr zum Halten ist. Und dass diese Hand zu dem gehört, der da ist bei uns und uns hilft, eine größere Wirklichkeit zu erleben. Dort, wo der Auferstandene an unserer Seite ist und wir ihn sehen von Angesicht zu Angesicht. Amen.

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Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DiA 25.02.2014

in: Kapelle KlinikumTondatei: DS400884

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Eine Geschichte habe ich uns heute Abend mitgebracht, sie steht im Markus-Evangelium. Wenn wir dieser Geschichte weiter zuhören, werden wir entdecken, dass sie auch etwas mit dem Mond zu tun hat, mit dem in Verbindung steht, von dem wir gerade gesungen haben (Der Mond ist aufgegangen...). Ich lese nun aus dem Markus-Evangelium im 10. Kapitel.

Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und viele fuhren ihn an, er solle still schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und Jesus blieb stehen und sprach: „Ruft ihn her!“ Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: „Sei getrost, steh auf, er ruft Dich.“ Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: „Was willst Du, dass ich für dich tun soll?“ Der Blinde sprach zu ihm: „Rabbuni, dass ich sehend werde.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Geh hin, Dein Glaube hat Dir geholfen.“ Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

BartimäusMk. 10, 46-52

Bild: wikipedia, Bartimäus, Eustache Le Sueur (Porträt von 1625–1650)

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Eine Geschichte, in der die Dunkelheit eine Rolle spielt, im Leben des Bartimäus. Dort sitzt er, in dieser Stadt, am Wegesrand. Die Stadt trägt den Namen Jericho. Für diejenigen, die die Bibel etwas kennen, wird dieser Ort gleich Assoziationen hervorrufen. Jericho eine Stadt im Alten Testament. Von ihr wird erzählt, als das Volk Gottes auf dem Weg war, in das gelobte Land, kommen sie zu dieser Stadt Jericho. Jericho aber war verschlossen, wie die Bibel erzählt (Jos. 6,1 ff), abgeschottet durch hohe Mauern. Die Priester mussten siebenmal diese Stadt umrunden, unter Posaunengetöse und das Volk stimmte dazu ein Kriegsgeschrei an, bis die Mauern schließlich einstürzten.

Eine Geschichte von einer Stadt, die sich abgeschirmt nach außen, niemanden herein lässt zu sich. Ausgerechnet in einer Stadt mit Namen Jericho sitzt nun dieser Bartimäus. Auch er, ausgegrenzt in seinem Leben, gefangen in einer Dunkelheit, wie von uneinnehmbaren Mauern umgeben. Jericho, das Wort aus dem Hebräischen, trägt eine Botschaft in sich, das Wort jareach und das heißt: Mond. Man kann sagen, Bartimäus lebt in einer Mondstadt. Hier kommen wir zu der Verbindung mit dem Lied, das wir zuvor gesungen haben.

Jericho, eine Stadt, die den „Mond“ im Namen trägt, zum Symbol hat. Spüren wir dem nach, was dieser Mond für uns symbolisiert. Der Erdentrabant, ein Zeichen am Himmelszelt, das sich ständig verändert. Einmal ist er viertel zu sehen, dann wieder halb, dann wieder ganz und dann verschwindet er völlig vor unseren Augen, um dann nur wieder einen neuen Kreislauf zu beginnen und seine Wandlungen fortzusetzen.

Wir zählen unsere Jahre nach den Monaten, wo auch der Mond eine Rolle spielt und merken, dass dieser Mond uns immer wieder begleitet, uns dieses vor Augen hält, dass das Leben sich verändert und uns die Frage bringt, wo geht es hin? Wo ist denn das, wenn wir dieses Leben hinter uns bringen, was kommt dann? Sollte alles einmal verschwinden wie dieser Mond, ins Unsichtbare, sozusagen abtauchen ins große Dunkle? Oder könnte es noch mehr, anderes geben?

In diese Situation, in diese Lebenssituation, in diese Empfindung von dem Bartimäus mit seinen Fragen: „Wo geht es denn hin?“ und „Wer befreit mich, sollte denn das, das ganze Leben sein?“, da kommt dieser Eine, dessen Schritte er nur hört, vielleicht dies noch hört, was andere Menschen über ihn erzählen. Hoffnung macht sich breit bei ihm selber, vielleicht könnte das, was er so an Wortfetzen aufnimmt, auch für ihn Bedeutung haben, ihm gelten.

Dieser Eine, der sich zu den Menschen hinbegibt, gerade dorthin, wo die Not am größten ist. Die Gebeugten aufrichtet, Hoffnung schenkt, wo Hoffnungslosigkeit sich breit macht. „Könnte er auch zu mir kommen, in meine Dunkelheit?“ Bartimäus wagt zu hoffen.

Und das mit Recht. Trägt dieser Bartimäus doch in sich eine Botschaft. Sein Name sagt schon, übersetzt aus dem Hebräischen: „Der Geschätzte, der Geachtete“. Er trägt einen Schatz in sich und dieser Schatz könnte vielleicht dies sein, seine Sehnsucht nach mehr. Die Hoffnung, dass nicht nur dieser „Mond“ da ist, der uns immer nur die Vergänglichkeit vor Augen führt, sondern dass da doch mehr sein könnte, Licht und Leben.

Wie neben dem Mond auch die Sonne noch da ist, ein ganz anderes Gestirn. Und Bartimäus wendet sich an Jesus, den wir ja auch mit der Gnadensonne gleichsetzen. Er hofft und spürt, vielleicht könnte der es sein, der mich befreit, der die Mauern niederreißt, die mich umgeben. Der die Nacht meines Lebens in einen neuen Tag wandelt.

Bartimäus erhebt seine Stimme und beginnt zu rufen: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Er sieht nichts, aber diesen Satz wiederholt er, immer lauter rufend, bis er gehört wird.

Bartimäus tut hier etwas, was die Ostkirche als eine Gebetsmeditation bis heute praktiziert, indem sie seinen Satz aufgenommen hat und als Herzensgebet immer wieder betend nach spricht, mit jedem Einatmen und Ausatmen: „Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner“.

Ein Gebet, das die Ostkirche bis heute betet, unablässig, weil sie weiß, wenn ich bete und mich an Gott wende, wird er dieses Gebet nicht unerhört lassen. Wie als Zeichen, wie als Bezeugung, macht es eine Kirche vor, mit ihren Gläubigen: kommt doch, wendet euch an Gott, er wird euch hören.

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Wie den Bartimäus wird er euch rufen, in seine Gegenwart und wird euch ansehen mit barmherzigen Augen! Er wird euch zu dem verhelfen, was dieser Bartimäus gleich spürt und erlebt. Mit einem Male kann er seinen Mantel, das was ihn umgibt, gefangen hält, all das, was auf ihm lastet, abwerfen. Er ist erleichtert von all dem, was auf seinen Schultern lastet, so leicht und frei kann er unter die Augen Jesu treten. Und Jesus hilft ihm, seinen Wunsch zu artikulieren, das auszudrücken, nach dem er sich so sehnt und er fragt ihn: „Bartimäus, was willst du, dass ich dir tun soll?“

Jesus macht etwas, was Ärzte heute auch machen sollte. Es gibt ein Buch, das ich mir neulich gekauft habe, von einem Arzt empfohlen, es trägt den englischen Titel „Trust me, I am the patient“. Vertraue mir, ich bin der Patient. Ich muss es doch wissen.

Es ist wichtig und richtig, dass Patienten ihre Leidensgeschichte ins Wort bringt, davon erzählt und dann, unter kundiger Anleitung des Arztes, zu dem geführt werden, was Erleichterung und Hilfe bringt. Leider sind die Prozeduren heute andere.

Man nimmt Blut ab, man wird untersucht und durchleuchtet, aber das Gespräch kommt zu kurz. Wirklich hinzuhören, was hat dich dort hingebracht, wo du heute bist? Was sind deine Gefühle, deine Deutungen, wo willst du hin? Nach was steht dein Sinn? Diese Spuren werden zu wenig in der Anamnese, der Erforschung der persönlichen Krankengeschichte verfolgt.

Bartimäus weiß gleich was er auf Jesu Frage antworten will. Er sagt: „Rabuni“, das heißt Meisterlein, mein lieber Meister, dass ich sehend werde! Und Jesus erfüllt ihm diesen Wunsch, aber vielleicht auf eine andere Weise, als wir meinen, dass dieser Wunsch erfüllt wird. Wir denken gleich daran, die Augen gehen auf und er sieht, möglich, ich denke auch, dass das passiert ist. Aber vielleicht ist noch viel mehr passiert, dass Bartimäus zu einer anderen Sicht- und Sehweise gekommen ist. Die Amerikaner sagen, wenn sie etwas verstanden haben: „Oh, I see!“ Oh, ich sehe, aber nicht so sehr mit den Augen sehen, sondern, ich verstehe jetzt, ich blicke tiefer, habe Einsicht, sehe Zusammenhänge. Merke mit einem Mal, der Mond ist nicht alles, die Sonne ist ja auch da. Der Mond bekommt sein Licht ganz von woanders her. Und wenn es dort an diesem Himmelsgestirn so unübersehbar für jeden da ist, vielleicht dann auch das Leben selber. Dass wir bescheint werden, dass wir die Kraft bekommen, dass die Quelle, die da ist und die wir mit Gott gleichsetzen, dass wir von dorther Gesundheit und Leben und Hoffnung und Einsicht bekommen. Und Bartimäus erlebt das in dieser intimen Beziehung, in diesem intimen Geschehen zwischen ihm und Jesus.

Ein wunderschönes Bild, sich das zu vergegenwärtigen, was mit mir passiert, wenn ich mich unter diese liebenden Augen begebe, Gottes Augen, Jesu Augen, die mich anschauen voller Zärtlichkeit, voller Liebe entdecken und mir sagen: dich habe ich schon immer gesucht, nach dir habe ich mich schon immer gesehnt, nun bist du da, ja in meiner Nähe.

Lassen wir uns von diesem Bartimäus anstecken, den „Schatz“ auch in uns selber wieder zu suchen, der so lauten kann: „Du bist ja geliebtes Kind Gottes, dich meine ich, dich suche ich, auch in deiner Nacht, auch dort, wo du das Gefühl hast, niemand sieht mich mehr an. Gott tut es und er ist unterwegs, zu dir. Amen.

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Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA 27.02.2014

in: Kapelle BezirkskrankenhausTondatei: DS400886

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Liebe Schwestern und Brüder, heute Abend habe ich Ihnen ein Bild mitgebracht, zu dem ich nur einen Vers aus dem Alten Testament vom Propheten Jesaja uns vorlesen möchte. Der eine Vers passt vielleicht auch ganz gut zu diesem Bild, weil darauf auch hier nur ein kleines Zeichen zu sehen ist, dazu später mehr – zunächst, aus dem Wort Gottes, beim Propheten Jesaja, da steht im 41. Kapitel:

„Fürchte Dich nicht, ich bin mit Dir. Ich weiche nicht, denn ich bin Dein Gott. Ich stärke Dich, ich helfe Dir auch. Ich halte Dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“ (Jes. 41,10)

Fürchte Dich nicht, ich bin bei Dir, ich halte Dich mit der „rechten Hand“ meiner Gerechtigkeit!

Nun möchte ich Ihnen erzählen, was wir auf diesem Bild sehen können. Ein kleines Zeichen. Das kleinste Zeichen aus dem hebräischen Alphabet. Das Zeichen „jod“. Wir kennen das Wort „jod“ vielleicht aus diesem Spruch: „Kein Jota sollt ihr aus der Bibel herauslösen“, weil sonst die ganze Bibel in sich zusammen fällt. An diesem kleinen Buchstaben, davon hängt alles ab. Der kleinste Buchstabe im hebräischen Alphabet. Man kann ihn schnell übersehen.

Wer das Hebräische lernt und liest, der kann entdecken, dass eigentlich jeder Buchstabe so beginnt wie dieses „jod“, nämlich wie ein Tropfen, der von einer

Jod, die HandJesaja 41, 10

Bild: Hebräischer Buchstabe - jod/judQuelle: Google

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unsichtbaren oberen Linie kommend sich nach unten ausformt. Jedes Zeichen beginnt so wie dieses „jota“ und dann macht es, je nachdem, seine eigenen Bewegungen, Ausformungen nach unten.

Unsere ersten Schreibversuche haben wir auf einer Grundlinie unternommen in unseren Schönschreibheften. Die hebräischen Buchstaben haben ihren Ausgangspunkt auf einer gedachten oberen Linie. Jedes Zeichen kommt sozusagen wie aus dem Himmel, wie ein Regentropfen, der oben beginnt und dann nach unten hin, je anders, Gestalt gewinnt.

Das Besondere, dieser jeder Buchstabe im hebräischen Alphabet hat auch einen Namen. Und dieser kleinste hier heißt: „Hand“. Eine Hand, die aus dem Oben, aus dem Nichts herauskommt und hinunter greift, dorthin, wo jemand sich nach dieser Hand hin ausstreckt.

Das Wort für Gott im Hebräischen beginnt auch mit diesem kleinen ersten Zeichen, dem jod, Gottes „Hand“. Die starke Gotteshand, verborgen und dennoch sichtbar in diesem kleinen Zeichen. Leicht zu übersehen, kaum wahrnehmbar. Man muss schon ganz genau hinsehen, um es zu entdecken.

Ich frage mich, ob dies nicht auch ein Hinweis ist, etwas, was wir kennen. Nämlich dies, wir sehen Gottes „starke“ Hand so selten in unserem Leben. Vielleicht übersehen wir sie nur.

Wir sehnen uns danach, wie es im Psalm heißt: wir sehnen uns nach Dir Gott, nach Deiner „rechten Hand“, aber wo ist sie? Und trauen wir dieser rechten Hand auch wirklich etwas zu, wenn sie so klein ist, wie auf unserem Bild?

Wenn wir unser Leben betrachten spüren wir, da ist so vieles, was danach verlangt, aufgegriffen zu werden, was danach verlangt, dass es berührt wird, was danach verlangt, dass man sich ihm zuwendet, es anpackt und dann dort hinstellt und ihm wieder Kraft gibt, damit es sich wieder aufrichten kann. Ich kann mir vorstellen, jeder von uns kennt das, in sich selber, diesen Bereich, wo ich angerührt werden möchte, vielleicht manchmal zärtlich, vielleicht manchmal so, dass ich diese stärkende, unterstützende, Hand an meinem Rücken spüren möchte, die mir Kraft gibt, mir vielleicht einen gewissen Push gibt, damit ich in die Gänge komme, dass ich mich wieder bewege und voran komme.

All das sind Sehnsüchte in uns, nach dieser starken Hand Gottes. Dass sie da sein mag, um mich anzurühren, an der ich mich aufrichten kann, wie ein kleines Kind an der Hand des Vaters, die es braucht, wenn es die ersten Schritte wagt und noch nicht ganz sicher ist. Die Bibel, der Prophet Jesaja, hält uns dies vor und sagt: Suche nach dieser Hand, sehne dich nach dieser Hand und fürchte dich nicht, denn sie ist da. Sie ist da und wir müssen uns selber etwas anstrengen, diese Hand zu suchen. Auch wenn sie ganz klein ist, übersehbar klein, aber Gott will sie uns in unserem Leben immer wieder entgegen halten, sie spüren lassen – seine Nähe ... in Gottes Hand!

Der große „unsichtbare Gott“, ist auch ganz klein geworden, so klein wie diese „Hand“, in diesem Kind Jesus, fast zu übersehen in dieser dunklen Nacht und dennoch ist er in die Welt gekommen.

Das sind alles Geschichten, Mitteilungen aus dem Heiligen, die uns Hoffnung machen wollen. Dass wir merken, es ist nicht zu spät, auch bei mir nicht. Auch wenn meine Nacht so dunkel ist, dass ich sie mir gar nicht dunkler vorstellen kann, just in dieser Nacht, da möchte Gott sein Licht anzünden, auf die Welt kommen, groß werden und dich begleiten. Und du wirst merken, dass so eine kleine Hand sehr machtvoll sein kann und dass sie dich wieder dorthin führen kann, wo auch du dann wieder spürst, ich kann wieder gehen, meinen Weg im Leben. Dazu möge Gott uns allen sein Begleiten schenken, jeden Tag aufs Neue. Amen

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 02.03.2014Estomihiin: Kapelle KlinikumTondatei: Dictate

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen. Der Predigttext heute steht im 1. Könige-Buch im 19. Kapitel.

Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte. Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: „Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast.“ Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort.

Er aber ging hin in die Wüste, eine Tagesreise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach: „Es ist genug! So nimm nun Herr meine Seele, ich bin nicht besser als meine Väter.“ Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe ein Engel rührte ihn an und sprach: „Steh auf und iss.“ Und er sah sich um und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des Herrn kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: „Steh auf und iss, denn du hast einen weiten Weg vor dir.“ Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise 40 Tage und 40 Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb. Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über

Elia1. Könige 19, 1-13

Bild: © Heinz D. MüllerIkone_Pastoralkolleg_Neuendettelsau

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Nacht und siehe, das Wort des Herrn kam zu ihm: „Was machst du hier, Elia?“ Er sprach: „Ich habe geeifert für den Herrn, den Gott Zebaoth. Denn Isebel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übrig geblieben und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen.“

Der Herr sprach: „Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den Herrn und siehe, der Herr wird vorüber gehen.“ Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her. Der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben. Aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach: „Was hast du hier zu tun, Elia?“

Liebe Schwestern und Brüder, eine lange Geschichte, ein langer Vorlauf und dann diese wundersame Begegnung! Elia kommt dort, was die Sehnsucht seines Herzens ausmacht – bei der Begegnung mit Gott selber. Gönnen wir uns doch auch etwas Zeit, bis wir zu dieser Begegnung kommen und diese Begegnung verstehen, die diesem Elia zuteil wird.

Ich habe Ihnen heute ein Bild mitgebracht. Ein Bild, das diese Szene uns noch einmal vor Augen führt, so wie es die Ostkirche in der Tradition der Ikonen uns beschreibt und anbietet.

Dies Foto von der Ikone habe ich an einem besonderen Ort aufgenommen. Vor zwei Wochen war ich am Pastoralkolleg. Eine Einrichtung, ein Angebot meiner Landeskirche für all die Pfarrerinnen und Pfarrer, einmal heraus zu kommen aus ihrem Berufsalltag, mit anderen Kolleginnen und Kollegen zusammen zu sein, in Neuendettelsau im „Haus der Stille“ von der Diakonie. Dort gibt es eine kleine Kapelle in der diese Ikone auf den Betrachter wartet. Die Tage dort sind strukturiert durch Gebetszeiten in dieser Kapelle und die Zeit in dieser Kapelle sind, könnte man sagen, auch strukturiert, geformt, ausgerichtet durch möglichst viel Zeiten der Stille. Nicht reden, sondern eher hören und lauschen auf das, was die einzelnen Worte der Bibel, oder des Gesangbuches in einem wecken. Dem nachspüren um vielleicht auch dort hinzukommen, wo dieser Elia hingekommen ist. Dass er nämlich diese sanfte, diese nicht vernehmbare Stimme, dieses schwebende Schweigen - hört. Dort, wo Gott dann zu ihm spricht und ihm sozusagen dann die „inneren“ Augen öffnet für das, was er gerne verstehen möchte, einsehen möchte, in seinem Leben.

Und dort in dieser Kapelle hängt diese Ikone und Pfarrerinnen und Pfarrer haben sie vor sich in den Zeiten der Stille.

Diesen Elia hat ein Ereignis in Bewegung gebracht, eine Notsituation. Er hatte sich ereifert für seinen Gott und nun wird er deswegen verfolgt und fürchtet um sein Leben. Er kommt in Bewegung, besser, wird in Bewegung gebracht und spürt und verlangt nach dem, was als Überschrift über unserem heutigen Sonntag Estomihi steht: Herr sei mir ein starker Fels, esto mihi in lapidem fortissimum (Ps. 31,3b). Aber und das ist seine Not, er spürt diesen festen Lebensgrund nicht mehr in seinem Leben. Vielmehr, der Boden wird ihm fast unter den Füßen weggezogen. Er macht sich auf und flieht in die Wüste.

Er macht sich auf und geht, wie viele Menschen heutzutage sich auch aufmachen in ihrer Notsituation. Mit einem Mal erleben auch sie ihr Leben wie eine Wüstenzeit, wo nur mehr Leere ist. Wo sie keine Nahrung bekommen, wenn noch für den Körper, so doch nicht mehr für ihre Seele.

Zwei Kapitel früher wird erzählt (auf der Ikone ist diese Geschichte von Elia am Bache Krit rechts zu sehen), dass Elia in dürren Zeiten dafür gebetet hat, dass der Regen kommt und in der Zeit der Wüste erfährt er nun das andere, dass er in Zeiten der Not Nahrung erhält für seinen Körper und ein Wort des Aufrichtens, des Trostes, der Ermutigung für seine Seele. Und interessanterweise, beide Male kommt die Hilfe von Oben.

Raben in der ersten Erzählung und Engel hier bringen ihm Brot und Wasser, damit er trinken und sich stärken kann. Die Bibel gibt uns damit auch einen Hinweis, woher wir unsere Hilfe erbitten sollen, nämlich aus der Höhe. Von dort her, wie wir „den Himmel“ beschreiben. Indem wir uns aufrichten, nach oben hin, aus unserer gebeugten Haltung, die uns durch das Schicksal auferlegt worden ist,

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durch die Last des Lebens, die Last der Krankheit, die Last der Verzweiflung, die Last der Einsamkeit, weil ein Mensch, den man geliebt hat und der lange Zeit einen begleitet hatte nun nicht mehr an der Seite ist.

All dies sind solch Aufbruchsstimmungen, solch Aufbruchssituationen, wie sie der Elia erlebt. Er macht sich auf und flieht erst mal, doch diese Flucht führt ihn dorthin, wo er erwartet wird.

Die Chinesen, haben in ihrer Sprache etwas verstanden von dem, denn das Schriftzeichen für Krise hat noch eine zweite Bedeutung, es heißt gleichzeitig auch Chance. Im gleichen Wort verborgen: die Beschreibung der Situation und das Annehmen der Situation: Krise. Aber gleichzeitig auch der Hinweis: schau tiefer, bleib dran, fühl dich nicht verlassen, denn es kann sein, dass gerade diese Situation dich dorthin führt, wo du eine Begegnung erhältst und dir deine Lebensfragen gedeutet werden, du zu dem Frieden kommst, den du suchst, dass deine Seele wieder Kraft und Nahrung bekommt.

Elia macht sich so ausgerüstet auf den Weg, gestärkt durch die Speise des Himmels. 40 Tage, 40 Nächte ist er unterwegs und kommt an den Berg Horeb und übernachtet dort in einer Höhle. Unser Ikonenschreiber hat diese Szene in den Mittelpunkt gerückt. In dieser Höhle, kann man sagen, wird das vorbereitet, diese große Begegnung.

Zwei Dinge müssten wir noch vertiefen, bevor wir uns auf diese große Begegnung zugehen. Zum einen, dass wir auf diesen Elia noch einmal schauen und uns fragen, wer ist denn dieser Mensch, warum gerade er und warum wird er uns als einer der großen Propheten vorgestellt? Neben Mose ist er einer der größten. Und später, im Neuen Testament, wo die Jünger sich auch auf diesen Berg, den Berg Tabor machen und dann oben diese Vision haben, dann sehen sie Jesus flankiert von Mose und dem Elia. Auch dort wieder der Berg, der Berg der Begegnung, aber nur mit dem Anderen, mit dem Sichtbaren, mit dem Hörbaren, Gott, der sich in Jesus Christus zeigt.

Elia trägt in seinem Namen das Geheimnis seiner besonderen Bedeutung. Eigentlich heißt er Eliahu und das bedeutet: Mein Gott ist der Herr. Er vereinigt in seinem Namen beide Gottesnamen der Bibel, Elohim der zuerst in der Bibel genannt wird und den zweiten Gottesnamen der Tetragramm (JHWH) genannt wird, weil er nicht aussprechbar ist und daher nur „Haschem“, der Name aller Namen, sozusagen, genannt wird und den Luther mit HERR, groß geschrieben, übersetzt hat.

Das „Schma Jisrael“ das Glaubensbekenntnis: Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist einer – Eliahu trägt das in seinem Namen.

Aus diesen beiden Gottesnamen ist das Wort Elia zusammen gesetzt und das will heißen, es gibt keine zwei, es gibt nur den einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erden. Und es gibt mehr als diese getrennte Zweiheit, die uns zur Verzweiflung bringt, wenn wir Gesundheit und Krankheit auseinander nehmen und sagen: „Wenn ich auf der einen Seite bin, dann ist das andere nicht da.“ Nein, wir tragen immer alles in uns. Auch Gesunde sind auf irgendeine Weise manchmal krank. Ihnen fehlt bisweilen auch etwas. Dann vielleicht auf ganz andere Weise. Nicht so ausgedrückt, durch ein körperliches Symptom, sondern vielmehr als ein Fehlen von Glück, Zufriedenheit und Gelassenheit.

Wir alle gehen in diesem Leben als Bedürftige durch die Welt und versuchen immer wieder, dieses Beides zueinander zu bringen, diese Lebensfragen, die sich nicht auflösen lassen. Und Elia ist einer, der sagt: dennoch es gibt das, dass wir von woanders her angesprochen werden und Beides erleben. Und dies Beides wird ihm geschenkt auf diesem Berg Horeb.

Und dieser Berg „Horeb“, in seinem Namen auch da dieses Doppelte. Auf der einen Seite ist er hergeleitet von dem Namen für Schwert. Da wird sozusagen etwas zerstört, vielleicht sogar mein Gottesbild zerstört. Und dann trägt der Berg auch dieses Wort in sich, das man im Wort für Schwangerschaft hört: harajon. Das hebräische Wort für „Berg“, „har“, ist im Wort für „Schwangerschaft“ enthalten.

Und wenn wir an den gewölbten Bauch, an „den Berg“ der Mutter denken, dann ist das auch wie ein Berg, der sich da erhebt, wenn sie liegt. Und aus diesem Berg heraus, aus dieser „Nacht der Verborgenheit“ heraus tritt Elia dann sozusagen in das neue Leben, in die Begegnung mit Gott. Der ihm nicht im Außergewöhnlichen, im Spektakulären erscheint, wo wir meinen, jetzt muss es Blitz und

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Donner geben und dann erst die große Erscheinung. Nein, Gott kommt immer, immer, sagt die Bibel, ganz bescheiden auf die Welt und tritt ganz bescheiden in Erscheinung, in deinem Leben, wie ein kleines Kind, übersehbar und man glaubt nicht dran. Und dennoch, sagt die Bibel, werdet so, wie diese kleinen Kinder. In ihnen ist schon alles da. Sie sind ganz nah am Ursprung. Sie wissen etwas von den Engeln und den Himmeln und sie erzählen uns dann diese Geschichten, wenn wir hören würden. Und dann kommt es zu dieser Begegnung.

Nach diesem Spektakulären kommt dann das, was Martin Luther so übersetzt oder deutet, ein „stilles, sanftes Sausen“. Und Martin Buber, der das Hebräische besser kennt, übersetzt: „eine Stimme verschwebenden Schweigens“ und will man noch näher an die Hebräische Sprache heran, dann steht dort: „eine dünne, zarte Stimme“ (kol demama dakka). Darum geht es, in der Stille begegnet uns eine Stimme. Da spricht jemand, da spricht jemand ganz leise, fast nicht hörbar. Und deswegen ist die Stille auch so entscheidend, so wichtig. Das Haus der Stille, in Neuendettelsau. Wo die Pfarrer eingeladen werden, wieder diese Stille zu üben, ihr zu vertrauen, dass aus dieser Stille eine Stimme sich meldet und spricht, zunächst ganz leise und doch unüberhörbar, weil sie in uns etwas zum stimmigen Empfinden weckt.

Wir merken dann, es „stimmt“, was da gesagt wird. Es fühlt sich „stimmig“ an. Wir kennen es aus unserer Sprache und überall dort, wo wir jemanden hören und dann merken, es stimmt. Für mich stimmt es zumindest, was er, oder sie sagt. Dann sind wir diesem Erlebnis sehr nahe gekommen. Auch jetzt die Stille, das nicht reden und doch spüren, wie gut dieses Wort, das Wort Gottes uns tut. Wenn es uns erreicht ganz tief innen. Wenn es uns ein Gefühl der Ruhe gibt, der Stimmigkeit, des Trostes und des neuen Lebens. So lassen wir uns auch einladen von diesem Elia, laden wir ihn ein in unser Leben, dass er uns etwas lehrt und weitergibt von dieser Begegnung. Dass diese Begegnung auch zu unserer Begegnung wird, mit der „dünnen, zarten Stimme“. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

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gehalten am: 02.03.2014Estomihiin: Kapelle KlinikumTondatei: Dictate

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1. Könige 19,1-13-2.3.2014 – Elia-Estomihi

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen. Der Predigttext heute steht im 1. Könige-Buch im 19. Kapitel.

Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte. Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: „Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast.“ Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort.

Er aber ging hin in die Wüste, eine Tagesreise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach: „Es ist genug! So nimm nun Herr meine Seele, ich bin nicht besser als meine Väter.“ Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe ein Engel rührte ihn an und sprach: „Steh auf und iss.“ Und er sah sich um und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel

Elia1. Könige 19, 1-13

Bild: © Heinz D. MüllerIkone_Pastoralkolleg_Neuendettelsau

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des Herrn kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: „Steh auf und iss, denn du hast einen weiten Weg vor dir.“ Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise 40 Tage und 40 Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb. Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht und siehe, das Wort des Herrn kam zu ihm: „Was machst du hier, Elia?“ Er sprach: „Ich habe geeifert für den Herrn, den Gott Zebaoth. Denn Isebel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übrig geblieben und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen.“

Der Herr sprach: „Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den Herrn und siehe, der Herr wird vorüber gehen.“ Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her. Der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben. Aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach: „Was hast du hier zu tun, Elia?“

Liebe Schwestern und Brüder, eine lange Geschichte, ein langer Vorlauf und dann diese wundersame Begegnung! Elia kommt dort, was die Sehnsucht seines Herzens ausmacht – bei der Begegnung mit Gott selber. Gönnen wir uns doch auch etwas Zeit, bis wir zu dieser Begegnung kommen und diese Begegnung verstehen, die diesem Elia zuteil wird.

Ich habe Ihnen heute ein Bild mitgebracht. Ein Bild, das diese Szene uns noch einmal vor Augen führt, so wie es die Ostkirche in der Tradition der Ikonen uns beschreibt und anbietet.

Dies Foto von der Ikone habe ich an einem besonderen Ort aufgenommen. Vor zwei Wochen war ich am Pastoralkolleg. Eine Einrichtung, ein Angebot meiner Landeskirche für all die Pfarrerinnen und Pfarrer, einmal heraus zu kommen aus ihrem Berufsalltag, mit anderen Kolleginnen und Kollegen zusammen zu sein, in Neuendettelsau im „Haus der Stille“ von der Diakonie. Dort gibt es eine kleine Kapelle in der diese Ikone auf den Betrachter wartet. Die Tage dort sind strukturiert durch Gebetszeiten in dieser Kapelle und die Zeit in dieser Kapelle sind, könnte man sagen, auch strukturiert, geformt, ausgerichtet durch möglichst viel Zeiten der Stille. Nicht reden, sondern eher hören und lauschen auf das, was die einzelnen Worte der Bibel, oder des Gesangbuches in einem wecken. Dem nachspüren um vielleicht auch dort hinzukommen, wo dieser Elia hingekommen ist. Dass er nämlich diese sanfte, diese nicht vernehmbare Stimme, dieses schwebende Schweigen - hört. Dort, wo Gott dann zu ihm spricht und ihm sozusagen dann die „inneren“ Augen öffnet für das, was er gerne verstehen möchte, einsehen möchte, in seinem Leben.

Und dort in dieser Kapelle hängt diese Ikone und Pfarrerinnen und Pfarrer haben sie vor sich in den Zeiten der Stille.

Diesen Elia hat ein Ereignis in Bewegung gebracht, eine Notsituation. Er hatte sich ereifert für seinen Gott und nun wird er deswegen verfolgt und fürchtet um sein Leben. Er kommt in Bewegung, besser, wird in Bewegung gebracht und spürt und verlangt nach dem, was als Überschrift über unserem heutigen Sonntag Estomihi steht: Herr sei mir ein starker Fels, esto mihi in lapidem fortissimum (Ps. 31,3b). Aber und das ist seine Not, er spürt diesen festen Lebensgrund nicht mehr in seinem Leben. Vielmehr, der Boden wird ihm fast unter den Füßen weggezogen. Er macht sich auf und flieht in die Wüste.

Er macht sich auf und geht, wie viele Menschen heutzutage sich auch aufmachen in ihrer Notsituation. Mit einem Mal erleben auch sie ihr Leben wie eine Wüstenzeit, wo nur mehr Leere ist. Wo sie keine Nahrung bekommen, wenn noch für den Körper, so doch nicht mehr für ihre Seele.

Zwei Kapitel früher wird erzählt (auf der Ikone ist diese Geschichte von Elia am Bache Krit rechts zu sehen), dass Elia in dürren Zeiten dafür gebetet hat, dass der Regen kommt und in der Zeit der Wüste erfährt er nun das andere, dass er in Zeiten der Not Nahrung erhält für seinen Körper und ein Wort des Aufrichtens, des Trostes, der Ermutigung für seine Seele. Und interessanterweise, beide Male kommt die Hilfe von Oben.

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Raben in der ersten Erzählung und Engel hier bringen ihm Brot und Wasser, damit er trinken und sich stärken kann. Die Bibel gibt uns damit auch einen Hinweis, woher wir unsere Hilfe erbitten sollen, nämlich aus der Höhe. Von dort her, wie wir „den Himmel“ beschreiben. Indem wir uns aufrichten, nach oben hin, aus unserer gebeugten Haltung, die uns durch das Schicksal auferlegt worden ist, durch die Last des Lebens, die Last der Krankheit, die Last der Verzweiflung, die Last der Einsamkeit, weil ein Mensch, den man geliebt hat und der lange Zeit einen begleitet hatte nun nicht mehr an der Seite ist.

All dies sind solch Aufbruchsstimmungen, solch Aufbruchssituationen, wie sie der Elia erlebt. Er macht sich auf und flieht erst mal, doch diese Flucht führt ihn dorthin, wo er erwartet wird.

Die Chinesen, haben in ihrer Sprache etwas verstanden von dem, denn das Schriftzeichen für Krise hat noch eine zweite Bedeutung, es heißt gleichzeitig auch Chance. Im gleichen Wort verborgen: die Beschreibung der Situation und das Annehmen der Situation: Krise. Aber gleichzeitig auch der Hinweis: schau tiefer, bleib dran, fühl dich nicht verlassen, denn es kann sein, dass gerade diese Situation dich dorthin führt, wo du eine Begegnung erhältst und dir deine Lebensfragen gedeutet werden, du zu dem Frieden kommst, den du suchst, dass deine Seele wieder Kraft und Nahrung bekommt.

Elia macht sich so ausgerüstet auf den Weg, gestärkt durch die Speise des Himmels. 40 Tage, 40 Nächte ist er unterwegs und kommt an den Berg Horeb und übernachtet dort in einer Höhle. Unser Ikonenschreiber hat diese Szene in den Mittelpunkt gerückt. In dieser Höhle, kann man sagen, wird das vorbereitet, diese große Begegnung.

Zwei Dinge müssten wir noch vertiefen, bevor wir uns auf diese große Begegnung zugehen. Zum einen, dass wir auf diesen Elia noch einmal schauen und uns fragen, wer ist denn dieser Mensch, warum gerade er und warum wird er uns als einer der großen Propheten vorgestellt? Neben Mose ist er einer der größten. Und später, im Neuen Testament, wo die Jünger sich auch auf diesen Berg, den Berg Tabor machen und dann oben diese Vision haben, dann sehen sie Jesus flankiert von Mose und dem Elia. Auch dort wieder der Berg, der Berg der Begegnung, aber nur mit dem Anderen, mit dem Sichtbaren, mit dem Hörbaren, Gott, der sich in Jesus Christus zeigt.

Elia trägt in seinem Namen das Geheimnis seiner besonderen Bedeutung. Eigentlich heißt er Eliahu und das bedeutet: Mein Gott ist der Herr. Er vereinigt in seinem Namen beide Gottesnamen der Bibel, Elohim der zuerst in der Bibel genannt wird und den zweiten Gottesnamen der Tetragramm (JHWH) genannt wird, weil er nicht aussprechbar ist und daher nur „Haschem“, der Name aller Namen, sozusagen, genannt wird und den Luther mit HERR, groß geschrieben, übersetzt hat.

Das „Schma Jisrael“ das Glaubensbekenntnis: Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist einer – Eliahu trägt das in seinem Namen.

Aus diesen beiden Gottesnamen ist das Wort Elia zusammen gesetzt und das will heißen, es gibt keine zwei, es gibt nur den einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erden. Und es gibt mehr als diese getrennte Zweiheit, die uns zur Verzweiflung bringt, wenn wir Gesundheit und Krankheit auseinander nehmen und sagen: „Wenn ich auf der einen Seite bin, dann ist das andere nicht da.“ Nein, wir tragen immer alles in uns. Auch Gesunde sind auf irgendeine Weise manchmal krank. Ihnen fehlt bisweilen auch etwas. Dann vielleicht auf ganz andere Weise. Nicht so ausgedrückt, durch ein körperliches Symptom, sondern vielmehr als ein Fehlen von Glück, Zufriedenheit und Gelassenheit.

Wir alle gehen in diesem Leben als Bedürftige durch die Welt und versuchen immer wieder, dieses Beides zueinander zu bringen, diese Lebensfragen, die sich nicht auflösen lassen. Und Elia ist einer, der sagt: dennoch es gibt das, dass wir von woanders her angesprochen werden und Beides erleben. Und dies Beides wird ihm geschenkt auf diesem Berg Horeb.

Und dieser Berg „Horeb“, in seinem Namen auch da dieses Doppelte. Auf der einen Seite ist er hergeleitet von dem Namen für Schwert. Da wird sozusagen etwas zerstört, vielleicht auch mein Gottesbild zerstört und dann trägt der Berg auch dieses Wort in sich, das man im Wort für Schwangerschaft hört: harajon. Das hebräische Wort für „Berg“ ist im Wort für „Schwangerschaft“ enthalten.

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Und wenn wir an den gewölbten Bauch, an „den Berg“ der Mutter denken, dann ist das auch wie ein Berg, der sich da erhebt, wenn sie liegt. Und aus diesem Berg heraus, aus dieser „Nacht der Verborgenheit“ heraus tritt Elia dann sozusagen in das neue Leben, in die Begegnung mit Gott. Der ihm nicht im Außergewöhnlichen, im Spektakulären erscheint, wo wir meinen, jetzt muss es Blitz und Donner geben und dann erst die große Erscheinung. Nein, Gott kommt immer, immer, sagt die Bibel, ganz bescheiden auf die Welt und tritt ganz bescheiden in Erscheinung, in deinem Leben, wie ein kleines Kind, übersehbar und man glaubt nicht dran. Und dennoch, sagt die Bibel, werdet so, wie diese kleinen Kinder. In ihnen ist schon alles da. Sie sind ganz nah am Ursprung. Sie wissen etwas von den Engeln und den Himmeln und sie erzählen uns dann diese Geschichten, wenn wir hören würden. Und dann kommt es zu dieser Begegnung.

Nach diesem Spektakulären kommt dann das, was Martin Luther so übersetzt oder deutet, ein stilles, sanftes Sausen. Und Martin Buber, der das Hebräische besser kennt, der sagt: Eine Stimme verschwebenden Schweigens. Darum geht es, um eine Stimme. Da spricht jemand, da spricht jemand ganz leise, fast nicht hörbar. Und deswegen ist die Stille auch so entscheidend, so wichtig. Das Haus der Stille, in Neuendettelsau. Wo die Pfarrer eingeladen werden, wieder diese Stille zu üben, ihr zu vertrauen, dass aus dieser Stille eine Stimme sich meldet und spricht, zunächst ganz leise und doch unüberhörbar, weil sie in uns etwas zum stimmigen Empfinden weckt.

Wir merken dann, es „stimmt“, was da gesagt wird. Es fühlt sich „stimmig“ an. Wir kennen es aus unserer Sprache und überall dort, wo wir jemanden hören und dann merken, es stimmt. Für mich stimmt es zumindest, was er, oder sie sagt. Dann sind wir diesem Erlebnis sehr nahe gekommen. Auch jetzt die Stille, das nicht reden und doch spüren, wie gut dieses Wort, das Wort Gottes uns tut. Wenn es uns erreicht ganz tief innen. Wenn es uns ein Gefühl der Ruhe gibt, der Stimmigkeit, des Trostes und des neuen Lebens. So lassen wir uns auch einladen von diesem Elia, laden wir ihn ein in unser Leben, dass er uns etwas lehrt und weitergibt von dieser Begegnung. Dass diese Begegnung auch zu unserer Begegnung wird, mit der schweigenden dünnen Stimme. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 06.04.2014Judikain: Kapelle KlinikumTondatei: DS400894

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag Judika steht im Hebräerbrief im 13. Kapitel:

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.

Liebe Schwestern und Brüder, mit dem heutigen Sonntag, im alten Brauch, begann die Passionszeit, begann dieses Hinausgehen aus den geschützten Räumen, wenn auch nur in unserem Mitgehen und Mitleiden, hinaus dorthin, wo dann uns am Karfreitag das Kreuz begegnet, der Ort, wo wir dann dieses Leid so übermächtig erleben, wo wir dann auch das erleben, das Ende dieser Zeit, dieses Lebens, das Furchtbare, an das wir uns nicht herantrauen wollen, schon gar nicht allein. Wir brauchen Begleitung, brauchen jemanden, der mit uns geht, um das auszuhalten. Der Hebräerbrief sagt uns, dieser Jesus, der ist diesen Weg gegangen, vor uns und für uns, an diesen „Ort“ und mit ihm können wir uns auch auf den Weg machen, wenn es für uns heißt, Passion!

Draußen vor dem TorHebräer 13, 12-14

Bilde: © Heinz Dieter MüllerJerusalem-Goldene Tor, 2011

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Diese Fragen auszuhalten, die wir so gerne dann beantwortet haben, wenn diese Frage uns bedrängt, uns bedrückt: warum? Warum gerade ich, warum das Leid, warum der Tod? Es ist ein Weg, der irgendwann auf jeden von uns zukommt, spätestens dann, wenn wir Menschen unserer Umgebung verlieren, wenn sie den Weg voraus gehen, den wir einmal hinterher gehen werden, dann, wenn unsere Zeit gekommen sein wird.

Die Bibel verschließt ihre Augen nicht vor diesem, aber sie stellt uns andere Bilder zur Seite, die nicht nur Bilder sind, sondern gelebte Realität, Wahrheit, dass wir diesen Weg nicht alleine gehen sollen. Da draußen, vor dem Tor, da wartet er auf uns.

Und ich möchte mit Ihnen einmal diese Bilder abschreiten, die uns hier in diesem Hebräerbrief begegnen: die Stadt und das Tor. Doch dieses Tor ist verschlossen.

Ich habe Ihnen dazu ein Bild mitgebracht, von Jerusalem. Der Blick von Golgatha her hinüber geblickt auf die Heilige Stadt Jerusalem. Wir sehen im Hintergrund hinter den geschlossenen Stadtmauer, den Felsendom und in der Stadtmauer dieses große Tor, das „das goldene Tor“ genannt wird.

Es wird erzählt, dass Jesus am Palmsonntag durch dieses Tor eingezogen ist in diese Stadt. Im Judentum, unserer Geschwisterreligion spielt dieses Tor eine ganz große Rolle, dort wird es genannt: Scha'ar haRachamim, das Tor des Erbarmens. Dort, so wird erzählt, wird der Messias erwartet. Dieses Tor soll offen sein und wie es nun mal in dieser Welt ist, interessanterweise, gerade dieses Tor ist verschlossen und versiegelt worden, von den Herrschern dieser Welt, um genau das zu verhindern, dass eben dieser Messias kommt und einziehen kann in die Heilige Stadt. Ich kann diesen Bemühungen dieser Welt und der Herrscher dieser Welt fast nur mit einem Schmunzeln begegnen.

Denn, ich denke dabei auch gleich an diese Situation, wo Jesus auferstanden ist und die Jünger sich in dem Raum verschließen vor Angst, weil sie nicht wissen, wie sie dem Neuen begegnen sollen. Auch dort, die Türen zu, verbarrikadiert und Jesus kommt dennoch durch alles hindurch und begegnet ihnen und isst mit ihnen, hat Gemeinschaft, Begegnung mit ihnen. Es will uns einfach sagen, Gott kommt und findet immer wieder Wege, ganz andere Wege, um jede verschlossene Türe hinter sich zu lassen, sie wieder zu öffnen. Denn dieses Bild des Tores ist ein ganz wesentliches Bild aus der Bibel, dieses „Tor“ soll immer offen sein. Offen sein für das, was dann eben durch dieses Tor herein kommen kann, uns begegnen kann. Wo Begegnung, Zukunft statt finden kann.

Im Alten Testament im ersten Buch Mose, im 18. Kapitel, da wird uns so eine Situation erzählt. Von jemandem ganz besonderen, von Abraham – Abraham, der Vater des Glaubens auch genannt wird!

Von ihm können wir lernen, was Glauben bedeutet. Abraham sitzt in seinem Zelt, alt und betagt. Er hat nicht das bekommen, wonach er sich Zeit seines Lebens gesehnt hat. Er und seine Frau Sarah sind darüber alt geworden, haben nicht den erwarteten und erhofften Sohn bekommen, noch nicht. Dort sitzt er, im „offenen“ Zelt. Und die Überlieferung erzählt: dieses Offensein von Abraham, gerade dort, wo man sagt, es ist alles schon vorbei, das Leben bringt mir nichts mehr, ich habe das Ende erreicht, dort, am „Tiefpunkt“, könnte man sagen, bleibt Abraham offen für die Begegnungen, die auf ihn zukommen können.

Selbst dort, in seinem Alter, hochbetagt, jenseits von Gut und Böse, könnten wir sagen. Und dann kommen die drei Engel zu ihm. Und in den Engeln begegnet ihm Gott selber und sagt ihm: „Du wirst einen Sohn bekommen.“ Und Sarah hört es, hinten im Zelt und lacht. Und neun Monate später ist Isaak, der erhoffte Sohn da. Das ist Glauben! Das passiert dem Glaubenden.

Offen zu sein, selbst dort, wo die Welt „Nein“ sagt. Wo sie sagt, es ist nicht möglich! Dennoch offen zu sein, für die Überraschung. Gott ist immer für eine Überraschung gut. Es gibt nicht diese Grenzen, die wir uns immer wieder denken und die die Welt uns aufzeigt, wo die Herrscher dieser Welt sagen: Und ich verbaue und versiegle dieses Tor, damit der Messias nicht kommt, der Erwartete. Lasst Euch überraschen!

Nun, dort „vor dem Tor“, selbst dort, wo wir ausgrenzen und sagen, da wollen wir nicht hin, dorthin geht Jesus. Ich habe zu Beginn von diesem Scha'ar haRachamim gesprochen, diesem Tor des

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Erbarmens, der Barmherzigkeit und es wird auch erzählt, das ist das Tor, wo die Schechina, die Gegenwart Gottes, uns erreicht und zu uns kommt.

Wir dürfen gespannt sein, selbst auf diesem Weg, wo wir jetzt durch das Kirchenjahr eingeladen werden, diese Zeit der Passion, des Leidens zu bedenken, den Weg mitzugehen, dass selbst dieser Weg, ein Weg draußen vor dem Tor ist, aber es ist kein Weg, wo wir in Einsamkeit und allein gehen, sondern wo er mitgeht. Wo er auf uns wartet. Und noch eine Überraschung hat das Wort Gottes für uns bereit, das Wort selber, die Buchstaben des hebräischen, das vierte Wort im Alphabet, die dalet, das ist die Tür. Und gerade dieser Geliebte, der David, der Vater des Messias, wird mit zwei „D“s geschrieben, mit zwei „dalets“, mit zwei Türen.

David, der auch der Geliebte ist. Der Geliebte Gottes ist, trägt zwei Türen in seinem Namen. Das heißt, Geliebt sein und sich geliebt fühlen, das heißt in solch einer Grundhaltung dem Leben begegnen, dass ich es annehmen kann, wenn eine Tür sich schließt. Weil ich weiß, ich habe ja noch eine andere. Und diese andere Tür öffnet sich für mich. In diesem Wort des Geliebten ist ein Weg beschrieben von Tür zu Tür, eine Tür schließt sich, das Schicksal hat mich getroffen, es geht nicht mehr weiter. Ich bin ganz verzweifelt, ich halte es aus, weil ich weiß, da ist ja noch eine andere Tür. Mit Gottes Hilfe, weil ich mich geliebt weiß von ihm, weil ich in dieser Erwartung lebe, der kann doch nur Gutes mit mir vorhaben, für mich halten und mir schenken. Deswegen wird es eine zweite Tür geben, durch die ich gehen kann.

So großartig, so tiefsinnig ist diese Bibel, dass sie uns dies anbietet. Gerade dieser David, der dann die Psalmen geschrieben hat, immer sagt, all diese Psalmen, die Lobpsalmen und die Klagepsalmen und die Bußpsalmen, all das hat er erlebt und sagt: „So reich ist diese Welt und wenn ich auf der einen Seite bin, darf ich hoffen und mich sehnen und offen sein und offenständig sein, wie dieser Abraham. Weil – ich glaube doch! Ich glaube gegen die Wirklichkeit an, weil mir das ja eigentlich wirklicher Glaube ist. Alles, was ich beweisen kann, hat nichts mit Glauben zu tun, was ich erklären kann, hat nichts mit Glauben zu tun. Glauben hat etwas mit dieser Sarah zu tun, die mit 90 Jahren gesagt bekommt: Und Du wirst Mutter werden. Du wirst einen Sohn bekommen und die erst mal herzhaft lacht.

Ob ihr das Lachen vergangen ist, weiß ich nicht. Aber zumindest die Hoffnung ist erfüllt worden, sie und Abraham, der Vater und die Mutter des Glaubens, sie haben gemerkt, was es bedeutet, geliebt zu werden von Gott. Dass eine Tür zugehen kann und dann darf man diesen Weg weitergehen in der Hoffnung, im Glauben, in der Gewissheit, dass die nächste Tür sich auftun wird. So hat Jesus uns auch eingeladen auf diesen Weg und gesagt, ich bin dieser Weg, ich bin die Wahrheit, glaubt daran. Ich stehe draußen vor dem Tor und warte auf euch und ich nehme Euch mit, hinein ins Leben. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 20.04.2014Osternin: Kapelle KlinikumTondatei: DS400892

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Die Osterbotschaft für den heutigen Sonntag steht im Lukasevangelium im 24. Kapitel.

Aber am 1. Tag der Woche, sehr früh, kamen sie zum Grab und trugen bei sich die wohlriechenden Öle, die sie bereitet hatten. Sie fanden aber den Stein weggewälzt von dem Grab und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesus nicht. Und als sie darüber bekümmert waren, siehe da trat zu ihnen zwei Männer mit glänzenden Kleidern. Sie aber erschraken und neigten ihr Angesicht zur Erde. Da sprachen die zu ihnen: Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Gedenkt daran, wie er euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war: „Der Menschensohn muss überantwortet werden in die Hände der Sünder und gekreuzigt werden und am dritten Tage auferstehen.“ Und sie gedachten an seine Worte. Und sie gingen wieder weg vom Grab und verkündigten das alles den elf Jüngern und den anderen Allen. Es waren aber Maria von Magdala und Johanna und Maria, des Jakobus Mutter und die anderen mit ihnen. Die sagten das den Aposteln. Und es erschienen ihnen diese Worte als wären es Geschwätz und sie glaubten ihnen nicht. Petrus aber stand auf und lief zum Grab und bückte sich hinein und sah

Ostern - das leere GrabLukas 24, 1-12

Google Bilder: Das leere Grab

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nur die Leinentücher und ging davon und wunderte sich über das, was geschehen war.

Liebe Schwestern und Brüder, wie es wohl uns ergeht, wenn wir diese Worte hören. Klingen sie dann so, wie bei den einen als Geschwätz, als, naja schöne Erzählung, aber glauben kann ich nicht daran. Oder aber steckt etwas von diesem Petrus in uns, dass wir sagen, das klingt interessant, ich gehe hin und möchte es mir etwas näher ansehen, etwas betrachten, ich nähere mich diesem, vielleicht, unheimlichen Ort, dem Grab und schau’, ob es da etwas zu entdecken gibt. Wenn wir wenigstens diese Haltung, diesen Impuls, dieses Sehnen nach etwas Neuem in uns haben, ja dann könnte Ostern für uns etwas bereithalten. Nämlich diese Überraschung, die genauso wundersam für uns klingt, dass wir merken, das Grab ist leer.

Ein leeres Grab, eine leere Stelle erst einmal und wir halten inne und möchten gerne, dass die auch gefüllt wird, dass die wieder mit dem besetzt wird, den wir an dieser Stelle vermutet haben, für die Jünger, dem Jesus. Der mit ihnen gegangen ist, ihnen von Gott erzählt hat, der sie eingeladen hat zu glauben und zu vertrauen, wieder dem Leben mehr zuzutrauen, sich überraschen zu lassen, sich an die Grenzen führen zu lassen, wo die Gebeugten leben, die Betrübten, die in Angst und Schrecken sind, die das Leid spüren und dorthin wo sie mit ihm erlebt haben, dass sich etwas verwandelt hat, Gebeugte haben sich wieder aufgerichtet, die Traurigen haben wieder zu ihrer Freude zurück gefunden, die schon bald dem Tod überantworteten, die haben das Leben neu geschenkt bekommen. Solche Erlebnisse haben sie mit diesem Jesus an der Seite erlebt und erfahren, sie waren mit dabei.

Aber was, wenn dieser Jesus nicht mehr da ist, wenn diese Stelle, dieses Grab leer ist, wo man ihn hinein gelegt hat. Vielleicht, so eine erste Spur von Ostern, – ist Jesus auferstanden und lässt diese Stelle leer? Weil er sagt, an diese Stelle soll euer Erleben, euer Ostererleben treten.

Wenn ihr ohne mich die gleichen Erfahrungen macht, wie damals mit mir. Wenn ihr in eurem Leben an Situationen heran kommt, wo der Tod laut an eure Tür pocht und nach menschlichem Ermessen, das Ende näher ist als das Leben. Wenn ihr an diesen Ort kommt in eurem Leben und spürt, Schutzengel waren da. Sie haben den Menschen, der dem Tod so nahe war zur Seite gestanden und bei euch entsteht dann dieses Gefühl der Dankbarkeit dass die Schutzengel einen guten Dienst gemacht haben. Vielleicht auch ganz „erschöpft“ sind von ihrer Rettungsaktion bei dem Menschen, der euch so sehr am Herzen liegt. Dann habt ihr etwas gespürt von Ostern. Dann merkt ihr, der, von dem die Bibel erzählt und wo das Grab nun leer ist, der ist noch immer da, unterwegs an der Seite derjenigen, die hoffen und glauben und vertrauen und sagen, dieses Leben ist ein bewahrtes Leben. Es kommt aus guten Händen, aus den Händen Gottes, es kommt in diese Welt, die einen Anfang hat und auch ein Ende. Wir kennen das Dazwischen, aber das, was wir als Ende vor Augen haben, das macht uns Angst.

Wir haben es ja erlebt, mit ihm unterwegs zu sein und dann das, am Ende – das Kreuz! Die Schatten sind noch da, wie auf unserem Bild, der Schatten des Kreuzes reicht bis an dieses Grab und überschatten es sozusagen.

Und dann ist da diese Tür, wo wir meinten, dass sie verschlossen ist. Wenn jemand stirbt, geht jeder durch diese Tür hindurch und noch keiner kam zurück und hat uns erzählt, wie es an der anderen Seite aussieht. Es ist ganz anders, sagt uns die Bibel. Sie sagt uns, erst einmal diese Tür, dieser letzte Stein, der so schwer ist und wo sich jeder erst einmal wundert und sagt, wer könnte ihn zur Seite schieben, der Stein ist weggerollt.

Das Grab ist aber leer. Bringt uns ins Verwundern weckt Angst in uns und Schrecken, weil es erst einmal unseren Denkhorizont überschreitet. Vielleicht machen wir uns dann ganz fürchterliche Gedanken, wie das Jenseits denn aussehen kann. Und manche Gedanken gehen dann in eine ganz falsche Richtung und Angst und Schrecken und Höllenbilder tauchen auf. Aber nein, die Bibel sagt, das Grab ist, schlichtweg, erst mal leer. Dafür, zwei Engel begegnen uns dort, und diese Engel, da sollte man genau hinsehen, die glänzen.

Sie haben ein glänzendes Gewand an und ich frage mich, woher kommt denn dieser Glanz, aus sich selbst leuchten sie nicht, nein, er ist ihnen geschenkt worden und bleibt an ihnen haften und dieser Glanz der begegnet uns auch, wenn wir Glück haben, wenn wir verliebt sind, wenn wir in die Augen eines Anderen sehen und dann diesen Glanz der Freude, den Glanz des ganz Anderen, der Überraschung, entdecken. Dann spüren wir etwas von einer anderen Wirklichkeit, von einem anderen

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Erleben, das gleich bei uns diese Sehnsucht weckt, von dem möchte ich auch etwas haben. Und dieser Glanz kann selbst dort auf uns scheinen, wenn wir einen Menschen in den Tod hinein begleiten.

Ein guter Freund von mir ist hier im Klinikum gestorben auf der Palliativstation und seine Frau erzählte mir dann von dem letzten Blick. Er hat sein Gesicht ihr nochmal zugewandt, konnte nicht mehr reden, aber er konnte seine Augen öffnen und hat sie angesehen und sie sagte, diesen Blick werde ich nie vergessen. Dieses Leuchten, dieser Glanz! Wie wenn er schon hinein gesehen hätte in eine andere Wirklichkeit und diesen Abglanz mir schenkt als Zeichen, als eine Botschaft.

Wir werden staunen, wir werden uns wundern, wenn wir merken, dieses Grab ist erst einmal leer. Und der, der dort lag, der ist nun vorausgegangen, wie es das Markusevangelium erzählt: „Geht und sagt..., dass er vor euch hingehen wird, nach Galiläa“ (Mk. 16, 7). Dort hatte es begonnen, alles angefangen, am See Genezareth in Galiläa, im Norden. Dort ist er wieder hingegangen. Er ist wieder in dieser Welt, bei euch, geht ihn suchen.

Dies Wort „Galiläa“, aus dem Hebräischen, der Sprache der Bibel, schenkt uns noch etwas mehr, nämlich die Botschaft, die in diesem Worte drinsteckt. Jeder hebräische Buchstabe ist in erster Linie eine Zahl und wenn man dieses „gal“, von dem Galiläa herkommt, die Buchstaben zusammen zählt, dann ergeben sie die Zahl 33. Im Wort Galiläa ist diese Zahl enthalten die für die Lebenszeit Jesu gilt die 33 Jahre.

Im Worte „gal“, Galiläa, steckt noch mehr, übersetzt heißt es auch „Welle“. Die Welle, die mal nach oben geht und mal nach unten und wir spüren gleich, die Bewegung, die mitgeht und sich immer wieder neu zeigt.

Das Gegenbild zu dieser Bewegung kennen wir auch, von den Intensivstationen. Wenn wir die flache Linien auf dem Überwachungs-Monitor sehen, diese gerade Linie der Herzfrequenz, dann heißt es erst einmal, nichts Gutes. Dann heißt es, dieses Leben ist zu einem Ende gekommen. Doch welche Freude, wenn die Herzspezialisten Erfolg haben, im Bemühen um den Patienten und dann diese gerade Linie wieder zu zucken beginnt und in eine Wellenbewegung über geht dann bedeutet das: Leben!

Diese Botschaft der Engel, er ist euch voraus gegangen nach Galiläa, Jesus ist auferstanden in diese Be-weg-ung, in dieses Leben hinein und dort werden wir ihn finden. In diesem Auf und Ab des Lebens. In den Höhepunkten und in den Tiefpunkten.

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Dort werden wir ihn finden. Dorthin geht er uns voraus und ist an unserer Seite. Nur einen Gebetsruf entfernt. Und manchmal nicht einmal den, weil er weiß schon, was wir brauchen und nach was wir uns sehnen. Nach Leben! Frohe Ostern!

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: DoA. 01.05.2014

in: Kapelle KlinikumTondatei: DS400893

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Liebe Schwestern und Brüder eine Geschichte geht mir nach, die ich heute gehört habe. Eine gute Freundin hat sie mir erzählt. Die Geschichte, ist eigentlich ein kleiner Film, ein Kurzfilm. Aber ich denke, auch wenn wir keinen Film jetzt sehen können, wenn ich diese Geschichte erzähle, so entwickeln sich vielleicht bei uns, innerlich, die Bilder dazu und es entsteht ein kleiner Kurzfilm in uns selber.

Erzählt wird von einer älteren Frau. Sie ist in Görlitz unterwegs, trifft dort auf ein Antiquitätengeschäft, schaut hinein und wird wie magisch angezogen, sie geht in dieses Geschäft hinein. Dort steuert sie auf eine alte Vase zu, die sie voller Staunen, fast ehrfürchtig, in die Hände nimmt. Sie besieht diese alte Vase und man kann sehen, wie sie an einer Stelle der Vase hängenbleibt. Oben am Rand hat dieser Vase fehlt ein Stück. Ein Stück dieser Vase ist nicht da, eigentlich ein wertloses Stück, könnte man denken. Und dennoch, diese Frau geht mit der Vase zu dem Verkäufer in dem Antiquitätengeschäft und möchte diese Vase kaufen. Aber enttäuscht muss sie hören, diese Vase ist nicht käuflich. Sie sagt: „ich zahle Ihnen jeden Preis, den Sie haben wollen“. Aber er bleibt hartnäckig, schüttelt nur den Kopf und sagt: „Nein, diese Vase ist nicht zu verkaufen.“

Eine schöne Geschichte

Bild: © Heinz D. MüllerArchäologische Museum Malta, 2014

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Die alte Frau denkt sich, Worte allein werden hier nicht überzeugen, vielleicht aber die Geldscheine, wenn ich sie ihm hinlege auf seinen Tresen. Sie geht in die Bank, hebt alles ab, was sie auf ihrem Konto hat, geht zurück in das Antiquitätengeschäft, legt ihm die vielen Geldbündel auf den Tresen und sagt: „Hier, sehen Sie, ich zahle Ihnen diesen Preis für die Vase.“ Aber der Antiquitätenhändler sagt: „Nein, für Geld ist die Vase nicht zu haben. Außer, Sie können mir eine gute Geschichte erzählen.“ Und so beginnt der zweite Teil dieses Filmes.

Die Frau setzt sich hin, kramt in ihren Erinnerungen und beginnt zu erzählen. Aus ihrer Zeit als kleines Mädchen, auf einem Bauernhof auf polnischem Gebiet, nahe der deutschen Grenze. Es ist Kriegszeit, Soldaten sind unterwegs. Gefährliche Zeiten, man weiß nicht, wer kommt.

Zwei solcher junger Soldaten verirren sich und treffen auf diesen Bauernhof, denken sich es werden hier vielleicht Partisanen versteckt. Der alte Bauer schickt seine Enkeltochter vorsichtshalber hinauf auf den Dachboden und sagt: „Versteck dich dort gut.“ Dazu reicht er ihr diese alte Vase um sie mit in Sicherheit zu bringen. Das Mädchen geht hinauf, versteckt sich. Die Soldaten durchsuchen das ganze Haus und einer verirrt sich hinauf auf den Dachboden. Er entdeckt das kleine Mädchen, das ganz krampfhaft diese kostbare Vase, die der Großvater ihr in die Hände gegeben hat, zu bewahren, zu schützen versucht. Tränen laufen ihr über die Wangen vor lauter Angst.

Der junge Soldat hat Erbarmen. Er macht sich auf und möchte wieder gehen. Auf einmal hört man unten einen Schuss. Es wird nicht erzählt, was passiert. Aber man kann vermuten, dass der Großvater erschossen worden ist. Vor lauter Schreck lässt das junge Mädchen die Vase zu Boden fallen und sie zerspringt in viele Teile. Sie greift nach unten und beginnt ein Stück aufzuheben. Der Soldat eilt zu ihr, hält ihr seine Hand vor den Mund, damit sie nicht schreit und sich damit verrät. Er sammelt in Eile die zerbrochenen Teile dieser Vase vom Boden auf und geht. Ende dieser Geschichte. –

Wir sind wieder im Antiquitätengeschäft. Die Dame in ihren hohen Jahren hat die Geschichte gerade fertig erzählt. Ihre Augen sind voller Tränen und dann greift sie in ihre Tasche und beim Herausnehmen ihrer Hand zeigt sie dem Antiquitäten Händler dieses eine Stück, das sie bewahrt hat, diese vielen Jahre. Er sieht auf das Stück in ihrer Hand und dann auf die Vase. Vorsichtig, ja ehrfürchtig führt er das Stück in die Lücke der Vase und es passt perfekt hinein.

Es stellt sich heraus, dieser Antiquitätenhändler ist der Sohn jenes Soldaten gewesen, der die zerbrochene Vase eingesammelt hatte. Dem Sohn dieses Soldaten ist diese zusammen geklebte Vase als eine kostbare Erinnerung übergeben worden. Nur der Schlussstein hat noch gefehlt, um diese Geschichte, die ein offenes Ende hatte, zu einem guten Ende zu bringen, damit es eine gute, eine schöne Geschichte wird!

Wir kommen von Ostern her. Auch dort ist uns eine Geschichte weitergegeben worden, über viele Jahrtausende hinweg erzählen wir sie uns weiter. Auch damals, dort, ist eine Lücke geblieben, man weiß nicht, ist das Grab leer, was ist passiert, ist er auferstanden?! Man weiß es nicht.

Aber immer wieder geschieht es, dass Menschen in ihrem Leben erleben, wenn sie andere Menschen treffen und der gute Geist diese Beziehung segnet, dass sie merken, auf einmal, etwas schließt sich indem sie sich erzählen und im Erzählen sich selber finden. Vielleicht die alten Bruchstücke, aus der eigenen Lebensgeschichte, wieder an ihren Platz hin fügen und sie spüren, dass alles rund und gut und heil und vollkommen ist.

Dann merken sie, dass die Geschichte von Ostern immer wieder aufs Neue zu guten Geschichten führt - lebendigen Geschichten, Auferstehungsgeschichten. Amen.

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Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 04.05.2014Miserikordia Dominiin: Kapelle KlinikumTondatei: DS400894

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Die Überschrift für den heutigen Sonntag lautet in Latein: Miserikordias Domini, Worte aus dem Psalm 33,5. Es geht um die Barmherzigkeit Gottes. Und diese Barmherzigkeit Gottes wird uns in einem Bild angeboten, dem des guten Hirten. Dazu hören wir die Worte aus dem Hebräer-Brief im 13. Kapitel.

Der Gott des Friedens aber, der den großen Hirten unserer Schafe, unseren Herrn Jesus von den Toten herausgeführt hat durch das Blut des ewigen Bundes, er mache euch tüchtig in allem Guten zu tun seinen Willen und schaffe in uns, was ihm gefällt durch Jesus Christus, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.

Ein sehr kurzer Predigttext! Aus einem Buch fast am Ende des neuen Testamentes. Es folgen dem Hebräerbrief nur noch zwei kleine Briefe und dann schließt das Neue Testament mit der Offenbarung des Johannes. Also, die Verortung des Hebräerbriefes, an einer wichtigen Stelle. Es geht dem Ende der Bibel entgegen, da bietet uns der Hebräerbrief dieses Bild vom großen Hirten der Schafe an.

Der gute HirteHebräer 13, 20-21

Google Bilder: Der gute Hirte_Ravenna

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Ich kann mich noch gut erinnern. Es war meine erste Gemeinde in Mittelfranken. Dort wurde ich ordiniert, im Münster zu Heidenheim. Dort hatte ich zwei kleine Dörfer zu betreuen. Bei einem meiner Antrittsbesuchen hieß es: „Nein“, der zu Besuchende sei nicht zu Hause, er war Hirte und unterwegs mit seinen Schafen. Man beschrieb mir den Weg, wie ich ihn finden könne. So setzte ich mich wieder ins Auto und fuhr in den Heidegrund. Auf unwegsamen Straßen gelangte ich schließlich zum Weideplatz, wo er sich aufhalten sollte. Etwas entfernt von der Straße konnte ich ihn sehen. Ich stellte den Motor aus, blieb aber für einen Moment noch im Auto sitzen und ließ dieses Bild erst einmal auf mich wirken.

Es sah idyllisch aus, wie auf einer Postkarte, wenn wir uns den guten Hirten gerne vorstellen. Da stand er auf seinen Stab gestützt, den Hütehund an seiner Seite. Aufmerksam beobachtete er, wie die Herde sich verhielt. Die graste in der Mittagssonne gemächlich vor sich hin. Dieses idyllische Bild verwandelte sich schlagartig, als ich die Autotüre öffnete und hinaus trat in diese sengende Mittagshitze. Da erst spürte ich, wie heiß es war. Auf dem kurzen Weg zu dem Hirten hin war mein Hemd schon schweißdurchtränkt. Der stechende Geruch der Schafe kroch meine Nase empor und schließlich überfielen mich auch die Mücken und begannen auf mich einzustechen. Ich spürte und merkte, wie unangenehm diese Situation eigentlich war.

Am liebsten hätte ich mich gleich wieder in mein Auto gesetzt und wäre zurück gefahren und einen anderen Besuch anvisiert. Aber nein, ich blieb und hielt es mit diesem Hirten aus. Wir unterhielten uns und er erzählte mir von seiner Arbeit und ich merkte, was eigentlich einen Hirten ausmacht. Er ist derjenige, der es mit seiner Herde aushält auf sie aufpasst, dass diese Herde beieinander bleibt. Und wenn dennoch ein Schaf sich aus der Herde entfernt, dann schnippt er nur, oder pfeifft, je nachdem wie er seinen Hund dressiert hat, aber meistens sieht der das schon von ganz alleine und springt auf und bringt das verlorene Schaf wieder in die Herde zurück.

Das ist die eigentliche Aufgabe des Hirten, aufzupassen, dass nichts verloren geht. Den Überblick zu behalten über seine Herde.

Er ist nicht derjenige, der permanent arbeitet und läuft und sich verausgabt, seine Energie für das vergeudet, wofür er seinen aufmerksamen Begleiter hat. Nein, er ist derjenige, der aufpasst, dass alles beieinander bleibt.

Im Hebräischen der Sprache der Bibel kommt dies gut zum Vorschein. Da erzählt uns das Wort vom Hirten genau dies. Das hebräische Wort für Hirte, „roeh“ klingt wie das hebräische Wort für „Sehen“, gleich ausgesprochen, nur geringfügig anders geschrieben. Die Worte „Hirte“ und „Sehen“ liegen so nahe beieinander dass wir folgern können: der Hirte ist derjenige, der alles im Blick hat, oder haben soll.

Von einem anderen Hirten wird erzählt, auf den ersten Seiten der Bibel, von Mose, dass er die Herde seines Schwiegervaters Jetro hütet. Ein kleines Schäflein versteigt sich im Berg Mose lässt alle 99 Schafe zurück und geht diesem Einen Schäflein nach. Er sucht es und steigt ihm nach, nimmt alle Beschwernisse auf sich, bis er es schließlich findet und zurück bringt. Die Überlieferung der Bibel erzählt dazu: Weil Mose so aufmerksam und treu war, diesem Kleinen, Geringen gegenüber, darum meldet sich Gott bei ihm, spricht ihn aus dem brennenden Dornbusch an und wählt Mose aus, dass er das Volk Gottes aus der Knechtschaft in Ägypten herausführen soll, durch die Wüste, in die verheißene Freiheit.

Wenn einer dieses in sich trägt, die Aufmerksamkeit, den Blick für das Ganze, dass nichts verloren gehen darf, dann trägt er das in sich, das Qualitätsmerkmal des guten Hirten.

Der Hebräerbrief der bietet uns nun dieses Bild an und korrigiert sich. Denn im Hebräerbrief, auch da kann uns wieder das Hebräische helfen und uns tiefer hinein führen in die Bedeutung dieses Briefes. Man wundert sich ja, wieso gerade dieses Wort „Hebräer“ auftaucht im Neuen Testament. Martin Luther hat sich schon schwer getan mit diesem Brief. Aber im Wort „Hebräer“ steckt das Wort iwri drin, von dem das Wort Hebräer kommt und das heißt: „der Jenseitige“. Es ist ein Brief an das Jenseitige in uns selber. An die Seele, die ja auch von Jenseits kommt, in diese Welt hinein.

Der Brief will uns Trost geben und uns dort noch mal stärken und sagt: Schau, nichts geht verloren. Wir gehen einem Ende entgegen, auch dem Ende des Neuen Testamentes, aber hab’ Vertrauen, sei

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treu. Der große Hirte, der geht jedem nach, einer jeden Seele, könnten wir hinzufügen, geht er nach, nichts und niemand geht verloren.

Nichts geht verloren! Auch dann, wenn wir in diesem Leben immer wieder Verluste erleben. Etwas entschwindet aus unseren Augen, aus unseren Erinnerungen. Wir können uns nicht mehr erinnern, wir vergessen. Und die Bibel sagt: Bei Gott sind all die Gedanken, all das Geträumte, all das, was du erlebt hast, das bleibt bei Dir, es geht nicht verloren.

Eine wunderbare Botschaft, hinein gesprochen in eine Zeit, wo wir auch das Andere erleben, Demenz und Alzheimer, all diese Phänomene und Krankheiten, wo sich etwas auflöst und verschwindet, Menschen, Persönlichkeiten und wir uns fragen, wohin das Ganze? Da sagt die Bibel: Alles bleibt – auf einer anderen Ebene, in einer anderen Wirklichkeit. Gott geht dem nach. Der große Hirte, der passt auf.

Aber auf noch etwas möchte der Hebräerbrief uns aufmerksam machen. In den ersten Kapiteln spricht er davon. Dort setzt er Jesus gleich, mit dem großen Priester, mit dem Hohepriester. Doch in den Schlusskapiteln spricht er bei Jesus nicht mehr von dem Hohepriester, sondern nur noch vom großen Hirten. Im guten Hirten kommt er uns ganz nahe, ohne Hoheitstitel, die uns vielleicht verschrecken könnten, uns auf Distanz halten könnten, uns ihm anzuvertrauen. Er kommt uns ganz nahe.

Wie auch heute Menschen, die von der Botschaft der Bibel angerührt und verwandelt sind uns nahe kommen. Wie viele es im Moment beim Papst Franziskus erleben. Er will nicht mehr der große Papst sein in roten Designerschuhen und gepanzertem Auto. Nein, er geht in normalen, etwas abgewetzten Schuhen, lebt in einer bescheidenen Pension, außerhalb des Vatikans und nimmt einen alten, schäbigen Renault als sein Dienstfahrzeug, nicht mehr das kugelsichere Papamobil. Er lebt etwas von dem vor, nicht mehr Hohepriester, nicht mehr Papst, Obrigkeit, nein, der gute Hirte, der voran geht, der etwas verstanden hat von dem, was der gute Hirte sein will.

Alle, die gerufen sind ins geistliche Amt, das sind keine großen Hirten. Hilfshirten aber allemal. Sie sollen mithelfen und diesem einen großen Hirten nachgehen. Von ihm lernen, von ihm sich ziehen und verwandeln zu lassen, dass andere spüren: ja, er wird mir nachgehen, mir treu bleiben. Auch dann, wenn ich nicht treu bin, nicht glauben kann, er geht mir nach. Er wird mich einholen und dann auf seine Schulter legen und zurückführen, in die große Gemeinschaft, in die große Gemeinschaft der Liebe Gottes. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 08.06.2014Pfingstenin: Kapelle KlinikumTondatei: DS400898

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www.pfarrer-mueller.de

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Liebe Schwestern und Brüder, Sie kennen das sicherlich, wenn Sie den Fernseher einschalten und im Programm einer Serie landen. Die im Fernsehen angebotenen Serien sind im Moment zahllos. In der Regel beginnt eine Episode mit einem kurzen Vorspann. Dann wird in wenigen Worten und Bildern erzählt, was vorher geschah. Ich denke, am Pfingstfest tun wir gut daran, uns auch dieser Frage zu stellen, was vorher geschah? Denn Pfingsten hängt nicht „luftleer“ im Raum, sondern hat Beziehung zu dem Weg davor und doch ist es eine Geschichte, mit der etwas ganz Neues beginnt.

Ich erinnere an das, was vorher geschah: Ostern liegt hinter uns. Im Gebet haben wir dies schon angesprochen, die 40 Tage, die auf Ostern dann folgten, bis zur Himmelfahrt. Der auferstandene Christus ist „40 Tage“ im Kreis seiner Jünger. Als Auferstandener erzählt er ihnen vom Reich Gottes, zeigt diese Verbindung auf, dass diese Welt, mit der großen Welt, der Ewigkeit, eine Einheit bilden und wir von dort her, erst richtig verstehen und begreifen können.

Nach den 40 Tagen folgt Himmelfahrt. Der Auferstandene wird aufgenommen und die Jünger bleiben zurück und schauen ihrem Meister nach. Nach der

PfingstenApostelgeschichte 2, 1-11

Bild: Taube, Taizé

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Himmelfahrt vergehen wiederum 10 Tage, bis zum Pfingstfest, dem Tag, den wir heute feiern. Fünfzig Tage also nach Ostern, beginnt nun etwas ganz Neues!

Wenn die Bibel Zahlen nennt, dann bedeuten sie auch etwas. Nicht eine Bedeutung, die wir aus unserer Mathematik her kennen, wenn wir mit Zahlen zählen 1...2...3 und so fort. Zahlen in der Bibel erzählen uns etwas Wesentliches, wenn wir die Worte, in denen sie überliefert werden, übersetzen. Die „Vierzig“ in der Bibel ist, nach dem alten Wissen, ein Ausdruck für „die Zeit“. Der Buchstabe „Mem“, im Hebräischen, das Zeichen „40“, heißt doch auch „Zeit“.Wenn wir der Bedeutung der genannten „50 Tage“ näher kommen wollen, dann lohnt sich die Erinnerung, dass wir in den Tagen der Schöpfung leben. Am 7. Tag hat Gott, in der Bibel, den Menschen und die Welt geschaffen. Darum heiligen wir ja auch diesen 7. Tag mit dem Sonntag. Wenn nun diese „7“ sich selber begegnet, in der 7 x 7, dann kommt sie an die „49“, weiter geht es in der „Welt der Sieben“ nicht. Das will sagen, nun hat der 7. Tag alles was möglich ist erlebt, hier ist nun eine Grenze im Erleben erreicht. Wenn die Bibel dann von „der Fünfzig“ erzählt, dann bedeutet das, etwas völlig Neues passiert hier. Eine neue Welt bricht an! An dieser Grenze ist nun auch der Auferstandene, der diese Grenze als erster überschreitet.

So könnten wir dieses Pfingsten tiefer verstehen. Mit „der Fünfzig“ erzählt uns die Bibel von der neuen Schöpfung, dem sogenannten „8. Tag“. Und was genau an Pfingsten geschieht, das erzählt uns nun die Apostelgeschichte. Ich lese uns aus dem 2. Kapitel:

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen und es erschienen ihnen Zungen. Und er setzte sich auf einen jeden von ihnen. Und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und sie fingen an zu predigen in anderen Sprachen, die der Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden. Die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie setzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: „Siehe, sind nicht diese alle, die da reden aus Galiläa. Wie hören wir dann jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien. Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom. Juden und Judengenossen, Kreter und Araber, wir hören sie in unserer Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“ Sie entsetzten sich aber alle und wurden ratlos und sprachen einer zum anderen: „Was will das werden?“ Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: „Sie sind voll von süßem Wein.“

Da trat Petrus auf zusammen mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: „Die Juden, liebe Männer und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen.

Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde am Tage, sondern es ist, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: ‘Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen und eure Jünglinge sollen Gesichter sehen und eure Alten sollen Träume haben. Und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen und sie sollen weissagen. Und ich will Wunder tun oben im Himmel und Zeichen unten auf Erden. Blut und Feuer und Rauchdampf. Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe der große Tag der Offenbarung des Herrn kommt. Und es soll geschehen, der den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.’.“

Eine lange Geschichte, der man erst einmal etwas näher kommen sollte. Dazu geselle ich mich mit zu diesen hinaufsehenden Jüngern, die dem Jesus hinterher blickend. Und spüre mit ihnen, wie anstrengend das ist, den „Kopf in den Nacken“ geneigt zu haben, nach oben hin zu sehen. Man verliert in dieser Position dann etwas anderes aus dem Blick, nämlich den Blick auf den Boden, auf dem man für gewöhnlich steht, die Erde, die auch noch da ist und die begangen werden möchte. Der Weg, der vor uns liegt und wo es besser ist, wir richten unseren Blick wieder auf den Weg, damit wir nicht stolpern.

Dennoch dieser Blick nach oben ist entscheidend. Weil nur dann, wenn ich diese Verbindung nach oben hin aufgenommen, oder wiederhergestellt habe, ich wieder mich einnorden kann. Dass ich dann

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wieder weiß, wie ich den Weg zu gehen habe, wo Norden und Süden, wo Osten und Westen ist. Dass ich dann wieder weiß, wie ich mich zu orientieren habe, in diesem Leben. Ich denke, genau darum geht es immer wieder im Leben, um Orientierung. Wieder zu wissen, was wichtig ist, was entscheidend ist, wo der Sinn meines Lebens ist.

Wir erleben eine Sintflut an Worten zur Zeit, eine Sintflut an Informationen, wir wissen nicht mehr, wie wir dem ganzen Herr werden sollen und können. Wir benutzen Suchmaschinen, um uns zurecht zu finden, aber wie viel besser wäre es, wenn wir diese „Suchmaschine“, in uns selber entdecken würden? Dass wir dann schon selber wissen, was „Sache“ ist, dass wir wieder Sicherheit in uns spüren, was ein Ja und Nein bedeutet.

Ich denke, das ist eine Spur, die wir wieder aufnehmen könnten und worauf uns die Apostelgeschichte hinweist, wenn dort mitgeteilt wird: Schau, da wird dir was von oben her gegeben. Dieses „Von-Oben-Gegeben“, das hat auch eine Entsprechung im Alten Testament. Im 2.BMose wird schon von Pfingsten erzählt, verankert ist die Geschichte dort an einem ganz anderen Ort, einer anderen Begebenheit. Nach dem Auszug aus Ägypten und den 40 Tagen Wegemarsch durch die Wüste, kommt das Volk Gottes an den Sinai, an den Berg Gottes. Und dort wird Moses „von Oben her“ etwas gegeben, nämlich die Thora, die zehn „Worte Gottes“.

„Zehn Worte“ werden gegeben, als Orientierung für das Leben, hier auf Erden. Die sind nicht „das Gesetz“, oder die „zehn Gebote“, wie wir die „zehn Worte“ fälschlicherweise, oder theologisch etwas polemisch, übersetzen. Die Thora heißt übersetzt erst mal, „Unterweisung, Lehre“. Es ist die Lehre, die ein gütiger und liebender Vater seinen Kindern anbietet und sagt: Schau, orientier dich daran, dann wird es Dir gut ergehen. Die mit Tränen säen, sollen mit Freuden ernten. Leben in Fülle habe ich für euch vor und hier, in diesem Wort, wenn ihr es befolgt, wenn ihr danach lebt, wenn ihr meine Stimme im Wort hört und vernehmt, dann werdet ihr ein Leben in Fülle haben. Im Tiefsten geschieht dies: Offenbarung des Wortes. Das ist Pfingsten von Alters her. Das Wort wird geöffnet, wie ein wunderbares Geschenk. Das Geheimnis wird erspürt und erkannt und ich erlebe in mir dann, wenn es angekommen ist, dass ich dann staunend ausspreche: Oh ja, das stimmt!

Die Stimme von Oben, die ist im Wort nicht mehr weit weg, sondern ich erlebe sie in mir. Das Wort in deinem Mund, auf deiner Zunge, in deinem Herzen. So nahe möchte Gott uns kommen. Und an Pfingsten geschieht genau das. Jesus sagt dazu: „Ich will euch den Tröster schicken, der Tröster, der bei euch ist, die ganze Zeit.“ Wir können diesen Trost erspüren, erhören, erfühlen, wenn wir sein Wort aufnehmen, es uns sagen lassen, wenn es bei uns ankommt, wenn wir diesen Trost dann wirklich erspüren und erleben. Wenn zum Beispiel Menschen uns begleiten und ein Wort sagen: Trostworte!

Ein theologischer Buchtitel, jüngeren Datums, fragt provozierend: ist die Kirche noch bei Trost? Menschen suchen nach Sinn, nach Orientierung, und die Antwort von Pfingsten ist: nicht weit weg ist es, in deinem Herzen, auf deiner Zunge. Wenn doch die Kirche endlich wieder zum Ort des Trostes werden würde.

So möchte ich mich diesem Bild der Bibel, den Flammenzungen, der Gabe von Oben, die sich auf die Jünger setzen, nähern:Da kommen Flammen von oben, wie Zungen, Feuer. Auch wieder eine Erinnerung an ein früheres Ereignis in der Bibel. Der brennende Dornbusch, wo Mose Gottes begegnet, der Dornbusch brennt und verbrennt nicht. Und aus diesem „paradoxen Wunder“ heraus hört Mose Gottes Stimme.

Immer, wenn dieses Feuer in der Bibel uns begegnet, zeigt es diese andere Wirklichkeit an. Jenseits von dem Wasser, das ein Sinnbild für die Zeit ist. Weil Wasser ja auch verrinnt, wie die Zeit. Festhalten können wir beides nicht. Aber die Flammen am Dornbusch zeigen mehr, es brennt und verbrennt nicht. Will heißen, es vergeht und vergeht doch nicht, ein Paradox, das auf eine jenseitige Erfahrung und Wirklichkeit hinweist.

Wir kennen hier nur dieses: unser Leben vergeht. Wenn wir den Menschen aus dem Blick verlieren, was bleibt, wo geht er hin? Dazu erzählt die Bibel: was von Gott kommt, kann nicht verloren gehen, kann nicht ins Nichts hinein gehen. Es bleibt! Welch’ wundervolle Zurückerinnerung in diesem Bild der Flammen, die nun kommen, auf einen jeden dieser Apostel, sich auf ihren Häuptern niederlassen. Flammen, Zeichen der Ewigkeit, dem Ort, wo beides gleichzeitig sein kann, Vergehen und Bleiben, alles in Einem.

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Der Kopf, die Hauptsache, dort soll wieder Ordnung einkehren, dort sollen wir wieder zusammenbringen, diese beiden Wirklichkeiten, wie wir ja auch unsere beiden Gehirnhälften haben, wo keine ohne die andere sein kann. Beide bedingen sich, aber beide haben besondere Aufgaben. Es soll was zusammen gebracht werden!

Noch eine Spur bringt uns die Bibel, wenn sie von den „40 Tagen“ bis Himmelfahrt und von diesen „10 Tagen“ bis Pfingsten erzählt. Da offenbart sie ein Verhältnis von 4:1. Und wenn wir unsere Hand anschauen, dann entdecken wir auch, diese vier Finger und diesen einen Daumen, der den vier Fingern gegenüber ist. Auch finden wir diese „4“, in den vier Ecken, oder Enden der Erde, unsere Welt, unsere Wirklichkeit und die eine Wirklichkeit, „der Himmel“, dieser Welt der „Vier“, gegenüber. Beides will begriffen sein. Wenn wir greifen wollen, müssen wir ja auch Daumen und Finger zueinander führen. Dann erst verstehen, „begreifen“ wir. Das heißt eben, das Wort Gottes möchte nicht nur zur Hauptsache werden, im Kopf bleiben und uns damit verkopfen. Es möchte sich ausstrecken, in unsere Hand hinein und hinüber reichen durch unsere Tat, in unserem Handeln.

So will der Geist Gottes uns ergreifen, in uns sein und wirken. Und dann verstehen wir vielleicht auch die Tragik dieses Spruches, den ein Theologe einmal gesagt hat: „Jesus verkündete das Evangelium vom Reich Gottes; gekommen ist die Kirche.“ (A. Loisy)

Wir sollten auch hier wieder zurück finden zu dem, „was Sache ist“, zu diesem Reich Gottes, das nahe ist, zu diesem Reichtum der Bibel, was Martin Luther ja eigentlich erreichen wollte. Uns davon zu erzählen, die Worte Gottes offen legen, offenbaren, was an Pfingsten ja eigentlich geschehen soll und geschieht.

Die Bibel erzählt im Hebräischen, der Sprache der Bibel, von drei Wallfahrtsfesten, das eine ist Passah, das ist Ostern, dann kommt schawuot, Pfingsten und dann das Laubhüttenfest, sukkot, das wir in unserer Glaubenstradition leider nicht feiern, aber das dennoch ganz wichtig ist.

Das Besondere an diesen Wallfahrts-Festen ist: man „zieht hinauf ... nach Jerusalem“, wie gesagt wird. Unser Psalm 126, den wir zuvor gesungen haben, ist so ein Wallfahrtslied, den man auf diesem Weg singt. Der Wallfahrtsweg nach Jerusalem, ist ein Weg, der nach „oben“ führt, ein Auferstehungsweg. Jerusalem liegt auf einem Berg. Wenn man dorthin geht, muss man aufsteigen, Aufsteigelieder heißen sie darum auch. Diese Lieder gelten auch und besonders für den Menschen, der sich wieder aufrichten möchte und sich danach sehnt.

…die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten…

Sie werden überrascht werden von diesem Pfingsten, dem „Fünfzigsten“, dem Neuen, der neuen Schöpfung. Wir feiern Pfingsten nur einmal im Jahr, weil es einmalig ist. Und erzählen uns auch von diesem einen Ort, an dem die Jünger sind. Es sind immer Zeichen, diese Feste, von der Ewigkeit her, der Einheit von Zeit und Ewigkeit, wo alles beieinander ist. Feste, die erzählen und nacherlebt werden wollen, Stück um Stück, übers ganze Jahr. Es ist so vielschichtig, dass wir Zeit brauchen, wie bei diesem langen Predigttext heute, um dem näher zu kommen und in uns zu erleben und zu erspüren, zu hoffen und zu beten, sich zu sehnen danach, dass dieser Geist von oben, der Heilige Geist, uns auch wieder befeuert, zur Hauptsache wird, für uns und uns leitet, tröstet, in unserem Leben. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 22.06.20141. Sonntag nach Trinitatisin: Kapelle KlinikumTondatei: DS400899

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Liebe Schwestern und Brüder, heute, am 1. Sonntag nach Trinitatiszeit hören wir einen besonderen Text, es ist das Glaubensbekenntnis unserer jüdischen Geschwister. Diese Worte sind sozusagen das Rückgrat der Thora, das Rückgrat der Bibel.

Ich lese aus dem 5. Buch Mose im 6. Kapitel, dort steht:

Höre Israel, der Herr, unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden. Wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein. Und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

Höre Israel! „Sch’ma Israel Haschem Elohenu, Haschem echad“, so lautet der erste Satz im Hebräischen, der Ursprache der Bibel. Dieses „Höre“, wie dieser ganze Textabschnitt verkürzt heißt, begleitet in der jüdischen Tradition

Höre Israel...5. Mose 6, 4-9

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die Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Schon dem kleinen Kind werden die Glaubensworte ins Ohr gesprochen, bevor es überhaupt verstehen kann, was diese Wort bedeuten. Dreimal am Tage beten unsere jüdischen Geschwister dieses Gebet. Am Morgen und am Abend und dann noch ein drittes Mal, wenn sie auf dem Bette liegen, kurz vor dem Einschlafen. Dann noch einmal diese Worte, dort, wo wir Hinübergleiten von unserem Bewussten hin ins Unbewusste, in den Schlaf, mit seinen Träumen. Besonders schön ist es, wird erzählt, wenn man dann einschläft mit diesem besonderen Wort im Herz. Luther hat dies besondere Wort, das im Hebräischen „echad“ heißt mit „allein“ übersetzt, aber es bedeutet „einzig“. Gott ist einzig, einer, einzigartig. Wenn der Mensch mit diesem Worte „echad=einzig“, auf den Lippen einschläft, dann ist wohliger, gesunder und ruhiger Schlaf beschieden.

Welches tiefe Wissen, dass die Bibel das Ohr gewählt hat, als das erste Organ, als den primären Kommunikationskanal, über den Gott zu seinen Geschöpfen Kontakt aufnimmt. Das Wort, als Medium, das sozusagen von der einen in die andere Welt kommt und dann verinnerlicht werden möchte, es kommt von anderswo ins Ohr hinein und geht den Weg nach innen ins Innere des Menschen. Ein ganz anderer Zugang als der, den wir so gewohnt sind.

Heutzutage ist vieles aufs Außen hin gerichtet. Wir bestaunen die schöne Schöpfung. Auf eine Flut von Bildern sind unsere Augen gerichtet, im Fernsehen, den vielen Bildportalen im Internet, den Nachrichten ... , so könnte man das Auge als das Organ mit dem Erstkontakt zu dieser Welt verstehen ... Doch das, was diese Augen erreicht kann auch zu Trugschlüssen führen. Wie es in der Bibel heißt, mach Dir kein Bildnis, lege nichts fest, lass dich nicht zu sehr beeindrucken durch das, was du äußerlich siehst, denn es kann auch nur das Äußere sein, Äußerlichkeit eben. Schau’ besser ins Innere, ins Wesen eines Menschen. Und schon spüren wir, ja das ist genau das, was ich auch gerne bei mir selber erleben möchte, dass ich erkannt werde, so, wie ich bin, innen drin. Nicht von meiner Äußerlichkeit abhängig, ob ich eine schiefe oder eine gerade Nase habe, ob meine Frisur gut sitzt, ob mein Äußeres stimmt. Nein, wenn ich als Mensch wahr und ernst genommen werden will, wenn ich respektiert, geachtet werde, dann doch wohl, wegen der inneren Werten, die der andere Mensch erspürt. Auf eine ganz andere Art und Weise sieht man mich dann. Und schon merken wir, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem normalen Sehen und dem Ansehen – dem ganz anderen Sehen.

Hier wird es wunderbar, was uns die Bibel erzählt. Dieses hebräische Wort „sch’ma “, besteht aus 3 Buchstaben. Und die Buchstaben haben eine tiefere Bedeutung, dazu wird erzählt: der erste ist eine „Schin“, das unserem „s-c-h“ entspricht, dieser Buchstabe hat in der Mystik des Judentums einen Ort beim Menschen. Er sitzt hier oben in der Mitte der Stirn – zwischen den Augen. Dort ist der Ort des „Schins“ und das „Mem“, der zweite Buchstabe vom Sch’ma, das dem Schin folgt, dieser Buchstabe „mem“, ist hier in der Bauchgegend verortet. Wir kennen auch die Energiezentren im Menschen, die Kopfenergie und die Bauchenergie. Beim Bekreuzigen berühren wir uns auch an diesen Punkten. Ein tief im Menschen verankertes Wissen, diese beiden Orte, „Oben und Unten“ haben eine Beziehung.

In alten Geschichten wird von dem Schin erzählt, bevor Adam und Eva im Paradies vom Baum der Erkenntnis genommen hatten, als sie noch ganz und heil waren, da hatten sie nur ein Auge, dort wo das Schin auf der Stirn sich befindet. Damit konnten sie die Einheit Gottes sehen, Gott allein, Gott einzigartig, so konnten sie im Paradies noch sehen. Erst nach dem sogenannten „Sündenfall“, mit dem Griff nach der Frucht vom Baum vom Wissen von Gut und Böse, da erst schloss sich dieses eine Auge und die beiden anderen Augen öffneten sich. Von da ab sah der Mensch doppelt, öffnete sich die Welt der Dualität für ihn. Von nun an musste der Mensch unterscheiden lernen zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod, dem einem und dem anderen. Von da ab war es nicht mehr so eindeutig, einsichtig, was der Mensch zu sehen bekam. Seither muss der Mensch mühsam lernen, das Gute vom Bösen zu unterscheiden.

Aber der Tröster ist uns gegeben, das Trostwort. Es ist uns gegeben durch das Hören. Durch das Hören auf Gottes Wort. Und deswegen spielt vielleicht auch die Predigt in unseren Gottesdiensten eine so große Rolle. Denn Luther sagt: „Der Glaube entsteht durch das Hören, durch die Predigt. Durch das Reden, indem das Wort durch einen geht und dann aus einem heraus und dann in einen anderen geht und es ist frei.

Ich schreib Ihnen nicht vor, welches Wort Sie aufnehmen sollen und welches Wort Sie weiterdenken und welches Wort bei Ihnen auf guten Humus fällt und dort dann wirkt und sich entfaltet und Frucht

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bringt. So möchte dieses Wort „Sch’ma Israel“ von oben nach unten gehen, in den Körper hinein, dort in die Leibmitte. Dort ist auch unser Magen. Dort sozusagen verarbeiten wir auch die Nahrung, die wir zu uns nehmen. Wir trennen Spreu vom Weizen unser Körper macht das ganz automatisch. Nur wenn wir etwas Falsches essen, dann gibt es diese Stimmungen im Bauch und dann geht es uns nicht gut. Aber in aller Regel können wir darauf vertrauen, dass unser Körper das schon weiß, was gut und richtig für uns ist. Auch da lernen wir dieses Vertrauen. Dieses Aufnehmen und dann es gut sein lassen, in der Hoffnung, dass es uns die Kraft gibt zu leben, die Kraft gibt zum Tun.

Und zur Erinnerung und zum Zeichen daran, wie wichtig diese Glaubensworte sind, wickeln sich unsere jüdischen Geschwister, die Männer zumindest, einen Lederriemen um den linken Arm, nahe zum Herzen und binden sich ein kleines schwarzes Kästchen zum Zeichen auf ihre Stirn. Dort im Kästchen befindet sich ein kleiner Zettel mit diesen Worten, dem „Sch’ma Israel“.

Ein Spickzettel sozusagen als Erinnerungstext, den man immer vor und mit und bei sich haben sollte. Am besten natürlich, wie der Amerikaner sagt, auswendig. Aber das Wort „auswendig“ heißt im Englischen: „by heart“. Ganz nah in Deinem Herzen, in Deinem Mund, da möchte das Wort Gottes sein und wirken, in deinem Reden.

Darum ist das Gespräch in der Seelsorge auch so wichtig. Nicht so sehr wichtig das Reden als vielmehr das Hören! Auch da, erst hören, was der andere mir erzählt. Lauschen, mit einem anderen Ohr hören, die Zwischentöne heraushören, die da sind in der Lebensgeschichte und dem anderen dann vielleicht von diesen Zwischentönen erzählen und sagen: „Schau, das habe ich herausgehört aus Deiner Geschichte, ist Dir das bewusst?“ Und der Andere sagt: „Nein, das habe ich ja noch gar nicht so wahrgenommen. Danke, dass Du mir das sagst.“

Dann hören und sehen wir verändert, anders, bekommen eine neue Perspektive, ergänzen, erweitern unseren Blick und spüren in diesem Prozess vielleicht dieses Andere auch. Dass ja schon ganz andere Spuren sich da mit hinein gemischt haben in unseren Lebensweg. Spuren, wo ich dachte, es sind nur meine Spuren im Sand, am Strand des Meeres (Sie kennen sicher? diese bekannte Geschichte: Spuren im Sand), wo ich denke, alles muss ich alleine machen, dass ich dann auf einmal merke, da sind ja noch andere Spuren an meiner Seite, die Spuren Gottes! Den ich nicht sehe, wie auch, er ist ja nicht da - im Himmel - und dennoch, ganz nah in seinem Wort, in seiner Begleitung durch andere Menschen, die dann wie Engel an meiner Seite sind, ein gutes Wort, ein Lächeln. All das sind seine Anwesenheitszeichen, Vergewisserungen, dass wir nicht allein sind, auf unserem Weg, dass wir hoffen dürfen und glauben dürfen, vertrauen dürfen, dass da noch jemand ist. „Sch’ma Israel“ – Höre!

Und noch etwas zu diesem „Israel“: Nicht dass wir denken, na ja, das ist ja nicht für uns gesprochen. Da ist ja Israel gemeint, das Volk Gottes, das ist weit weg von uns.

Erinnern wir uns an den Menschen der Bibel, an den dieses Wort zuerst ergangen ist, an Jakob. Er hatte Schuld auf sich geladen und flieht vor seinem Bruder Esau, den er um den Vatersegen betrogen hatte und dann kommt er an den Fluss, den Jabbok und kämpft dort mit einem überirdischen Wesen, mit einem Engel, sagen wir, mit höheren Mächten. Dieser Kampf geht die ganze Nacht hindurch. Doch Jakob bleibt dran und als es Morgen ist und das Wesen den Tag scheut, weil er sich vor dem Tageslicht vielleicht fürchtet, wir wissen ja, die Gespenster können nur in der Nacht wirken, dann sagt er: „Lass mich los!“ Und Jakob sagt: „Nein, ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn.“ So wird er gesegnet und geht lebend, aber vom Kampf gezeichnet, humpelnd seiner Wege. In diesem Kampf wird Jakob ein neuer Name gegeben. Beim Segnen sagt das Wesen, von jetzt an sollst Du nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Und dann wird die Erklärung gegeben: „Denn Du hast mit Mächten im Himmel und auf Erden gekämpft und bist dran geblieben.“ Im Ringen hat er „Oben und Unten“ nicht losgelassen!

Jeder Mensch, der diesen Kampf kämpft, ist Israel. Du und ich! Wenn wir mit Mächten in dieser Welt, mit unserem Schicksal, kämpfen und dranbleiben und sagen: „Ich akzeptiere es nicht, dass es nur blindes Schicksal ist. Ich möchte auch Dich Gott, in diesem Kampf sehen, hören, dass Du da bist. Es soll nicht umsonst sein, es soll nicht sinnlos sein, dies alles. Wenn wir diesen Kampf kämpfen und dranbleiben, das ist Israel. Sch’ma Israel, Worte aus der Bibel, Worte aus der Heiligen Schrift, sie begegnen uns. Gegeben auch für uns. Für uns ganz persönlich, dass wir hören, dass wir ringen und kämpfen und spüren, Gott, auch darin liegt Dein Segen. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 24.06.2014Dienstag Abendandachtin: Kapelle KlinikumTondatei: DS400901

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr allein. Und Du sollst den Herrn, Deinen Gott liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all Deiner Kraft. Und diese Worte, die ich Dir heute gebiete, sollst Du zu Herzen nehmen und sollst sie Deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn Du in Deinem Hause sitzt oder unterwegs bist. Wenn Du Dich niederlegst oder aufstehst und Du sollst sie binden zum Zeichen auf Deine Hand und sie sollen Dir ein Merkzeichen zwischen Deinen Augen sein. Und Du sollst sie schreiben an die Pfosten Deines Hauses und an die Türe.

Liebe Gemeinde,es lohnt sich wenigsten den ersten Satz dieses alten Glaubensbekenntnisses in der Ursprache der Bibel, dem Hebräischen, zu hören. „Sch’ma Israel, Haschem Elohenu, Haschem echad.“

In diesen wenigen, für uns etwas fremd klingenden Worten, ist viel zu entdecken, aus dem Wort selber, wenn wir es übersetzen. Martin Luther hat dies schon für uns getan, aber manches, was für unsere Ohren seitdem vertraut klingt, lässt sich genauer übersetzten, wie das hebräische Wort „echad“, das Luther mit „allein“ wiedergibt, das aber einzig, einmalig, einzigartig bedeutet. „Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr allein“, so hatte ich gelesen, besser aber hören wir heraus: der Herr ist einzig, ist einmalig, einzigartig.

Höre Israel...5. Mose 6, 4-9

Bild: Kreuz in der Kapelle im KlinikumAugsburg von Egon Stöckle© Heinz D. Müller

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Weiter könnten wir staunen wenn wir die beiden Gottesnamen betrachten, die nach dem Höre Israel genannt werden. Einmal der Gottesname, den ich mit Haschem wiedergegeben habe, auch schon eine Übersetzung aus Respekt, denn im Text selber stehen 4 Buchstaben, J-H-W-H, jod-he-waf-he, das Wort für Gott, das eigentlich unaussprechbar ist und daher umschrieben wiedergegeben wird. Haschem ist so ein stellvertretender Name dafür, der übersetzt einfach „Name“ bedeutet, will sagen, Gott trägt alle Namen in sich, oder man sagt, der Ewige oder verwendet die theologische Bezeichnung Tetragramm dafür, das heißt einfach die 4 Buchstaben. Martin Luther hat diesen besonderen Gottesnamen mit den vier Buchstaben immer mit dem Wort HERR, auch 4 Buchstaben (!) und dann groß geschrieben, übersetzt.

Der zweite Gottesname der im hebräischen Urtext steht, Elohenu, kommt vom Wort Elohim und den kann man mit Gott übersetzten und auch so aussprechen.

Der erste Satz in diesem alten Glaubensbekenntnis fängt mit einem Ausrufezeichen an: Höre Israel, die Franken würden sagen: aufgemerkt! Ganz wichtig! Du meinst, es gibt viele Götter oder Gottheiten, zumindest stehen da zwei Gottesnamen, aber sei dir gewiss, Er ist Einer! An diesem Satz hätte man schon ein Leben lang zu beten und zu glauben, um das zueinander zu bringen.

Wenn wir aufgemerkt bleiben, dann könnten wir feststellen, dass wir in unserer Sprache diese Aufforderung eigentlich schon erfüllt haben. Denn wie selbstverständlich sagen wir im Umgangston, wenn wir überrascht sind, oder uns auch mal ärgern, dann kommt schon mal dies Wort über unsere Lippen: „Herrgott“, noch mal. Die Worte Herr und Gott in einem!

Ich verweile noch etwas bei diesem Worte Herrgott, denn dieses Bemühen zwei Gottesnamen, zwei Gotteserfahrungen zueinander, ineinander zu denken und in einem zu nennen beschreibt doch etwas von unserer Wirklichkeit.

Es erzählt von unserem Ringen in unserem Leben, so wie wir das Leben manchmal erleben. Denn dieser eine Gottesname im Alten Testament in der hebräischen Ursprache, ist der Name, den wir mit dem „Richtergott“ gleichsetzen, Elohim. Es ist der Gottesname der zuerst in der Bibel bei der Schöpfung genannt wird. Der Schöpfergott, der die Gesetze, die Naturgesetze gegeben hat, die auch gut sind, aber, wo auch einfach etwas feststeht, wie die Schwerkraft in dieser Welt. Wäre sie nicht, hätten wir ein Problem, und gut ist, wenn sie da ist. So kennen wir diesen Gott, der die Naturgesetze geschaffen hat. Aber im Laufe der Kirchengeschichte hat sich dies Bild gewandelt und der „Gott der Gesetze“ ist daraus geworden. Oft hat dies einen schlechten Unterton bekommen. Wir ringen dann auch mit dieser Gottvorstellung, wenn etwas in unserem Leben passiert, was uns nicht gefällt, wo wir dann „das Schicksal“, oder Gott dafür anklagen. Wir fühlen uns durch Gesetz oder Gericht bestraft und bringen es mit diesem Gott des Gerichts, der Schwere, in Verbindung.

Das ist der eine Gottesname. Und der andere „Gott“, den wir mit „Herr“ in der Luther Bibel übersetzen, dort stehen im Hebräischen eigentlich die vier Buchstaben, das Tetragramm, jedoch mit einer weiblichen Endung. Man müsste das Wort eigentlich mit „Herrin“ übersetzen. Wir haben schon gehört, dass diese 4 Buchstaben nicht ausgesprochen werden, umschreibende Namen werden gebraucht. Einer davon ist auch das Wort „Barmherzigkeit“ das eng im Hebräischen mit dem Wort für „Gebärmutter“ zusammen hängt, das passt dann wieder gut zu dem Wort Herrin. Ein Gott, der so zu uns ist, wie eine fürsorgende Mutter. Die Gebärmutter ist ja der Ort der Vorbereitung für diese Welt. Behütet, beschützt, dem Leben zugewandt, das ist Gott, wie er uns auch in der Bibel begegnet, der Barmherzige, der Gütige, der Gnädige. Mit diesem Gott haben wir weniger Schwierigkeiten, den wünschen wir uns oft. Aber dieser andere Gottesbegriff, den wir als hart erleben, der uns manchmal wie ein strenger Vater vorkommt, mit dem tun wir uns nicht so leicht. Wenn etwas hart sich anfühlt in unserem Leben, dann tun wir uns schwer damit und die Bibel sagt, auch das ist nicht außerhalb von Gottes Macht und Schöpfung, diese beiden Gottesnamen die sollst du zueinander bringen, denn sie sind nicht getrennt, sie sind eins. Gott ist einer, einzig, einzigartig.

Außerhalb von Gott kann es nichts geben. Auch nichts Böses, auch nichts Schlechtes ist davon getrennt. Aber das ist genau der Punkt, mit dem wir ringen. Weil wir, wenn wir das Schicksal erleben, das uns hart ankommt, dann machen wir diesen Schritt und sagen: „Wenn das so ist, dann kann Gott nicht dabei sein.“ Dann fühlen wir uns allein, dann machen wir uns schuldig, dann kämpfen wir mit ihm und das ist gut so!

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Denn auch diese Erfahrung klingt im ersten Glaubenssatz mit. Wir haben in der Bibel hier ein Vorbild. Das Glaubensbekenntnis fängt doch an mit: „Höre Israel“, Und dieses Wort „Israel“ begegnet uns in der Bibel in einer ganz besonderen Situation, wo Jakob sich aufmacht und durch einen Fluss gehen will, belastet mit einer schlimmen Vorerfahrung – er hat seinen Bruder betrogen, um den Segen des Vaters und nun hat er ein schlechtes Gewissen. Es wird Dunkel und er begegnet beim Durchqueren des Flusses Jabbok einem Engel, einem Wesen und der beginnt mit ihm zu kämpfen.

Die ganze Nacht ringt er mit diesem Wesen und keiner von beiden kann die Oberhand gewinnen. Der Morgen naht und der Engel sagt: „Lass mich los!“ Und Jakob sagt: „Ich lasse Dich nicht, es sei denn Du segnest mich.“ Und dann segnet dieser Engel den Jakob und sagt: „Wie ist Dein Name?“ Und Jakob sagt: „Jakob!“ Und der Engel sagt: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel!“ Denn Du hast mit Mächten auf dieser Welt und im Himmel gekämpft und Du bist dran geblieben. Du hast nicht aufgegeben.“

Wenn dieses Glaubensbekenntnis nun mit diesen Worten beginnt: „Höre Israel“, dann ist mit „Israel“ nicht ein Volksstamm irgendwo gemeint, sondern dieser „Israel“ kämpft in einem jeden Menschen von uns. Überall dort, wo wir ringen mit der Frage „Warum ich?“

Selbst wenn uns dieses Ringen müde macht und unser Leben verdunkelt. Wenn uns schon fast die Kräfte auszugehen scheinen, dann dürfen wir uns auch an „Israel“ erinnern, dass er in uns ist, dass diese Kraft im Menschen ist und die Bibel sagt: „Höre, Israel!“ Der Herr unser Gott, der Herr ist bei Euch. Den sollst du lieben. Das ist die Aufgabe des Menschen, dass wir Gegensätze in unserem Leben nur so auflösen können, indem wir sie lieben, gegen den Augenschein.

Die ganze Wirklichkeit mag sagen, es ist falsch und dennoch dranbleiben. Und ich denke, Menschen, die „Ja“ zueinander gesagt haben ein Leben lang und das in der Euphorie ihrer ersten großen Liebe und dann den Weg begonnen haben, miteinander zu gehen, durch das Leben, die werden auch das immer wieder erlebt haben, manchmal wäre es leichter, „Nein“ zu sagen, eigene Wege zu gehen. Und dann dennoch sich zu erinnern an dieses „Ja“, diese Liebe, die der Ausgangspunkt war für ihren Weg. Und diese Liebe hilft, Gegensätze wieder zu verbinden, schenkt wieder neue Kraft und überhöht die Wirklichkeit und zeigt uns jenseits dieser Welt, mit all ihren Fragezeichen, mit all ihren Haken und Ösen, mit all ihren Ungerechtigkeiten, mit all dem Leid und Krankheiten, der Herr unser Gott, der Herr ist Einer.

Der Segen, die Auflösung all dieser Rätsel, kommt nicht von uns oder aus uns. Er kommt von dieser anderen Wirklichkeit, die sagt: Gut so! Du hast die Herausforderung angenommen! So groß bist Du als Mensch, dass Du über Dich, über diesen Abgrund hinaus glauben kannst, jenseits des Wissens. Das macht Dich mir gleich. So groß ist der Mensch in seiner Schwachheit, in seiner Verlorenheit.

Wenn wir das alles nicht glauben können, dann können wir zum Kreuz sehen und diesen zum Himmel gewendeten Christuskopf betrachten, der uns das vorgemacht hat, hilflos, ohnmächtig, ganz sich Gott anbietend hier an diesem Kreuz, den Kopf neigend und die schwächste Stelle dem Himmel entgegen streckend und nur Gutes erwartend, voller Vertrauen. Die Antwort wird gewaltig sein, übergroß, unsere Vorstellungswelt übersteigend. Mögen wir sie alle erfahren, Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 29.06.20142. Sonntag nach Trinitatisin: St. Thomas, AugsburgTondatei: DS400902

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Liebe Gemeinde, ich habe schon am Anfang erwähnt, dass dieser Gottesdienst von einer kleinen Gruppe vorbereitet wurde, Frau Z. und Frau B. Vor einer Woche saßen wir drüben im Gemeinderaum, auf dem dortigen Podest, schon ein bisschen erhöht von dieser Welt, dem Himmel etwas näher sozusagen und haben uns Gedanken gemacht, wie der heutige Familiengottesdienst gestaltet werden könnte und unter welches „Thema“ wir ihn stellen könnten?

Der eine Gedanke führte zum nächsten und legte eine Spur nämlich die, dass wir beim Pfingstfest hängen blieben. Das gemeinsame Empfinden war, schnell war es mit „Pfingsten“ vorbei und schon befinden wir uns wieder auf dem „ellenlangen Weg“ in dieser Trinitatiszeit. Keine herausragenden Feste mehr, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten sind vorüber. Und vielleicht, so unserer Idee, wäre es ganz gut, das zu tun, was wir als kleine Gruppe im Gemeinderaum auf diesem kleinen Podest getan hatten nämlich uns eine kleine Unterbrechung zu gönnen. Erst einmal dem Raum zu geben, was da ist. Aufmerksam zu sein auf die Ideen, auf die Gefühle, auf das, was sich meldet und Raum bekommen möchte, eben Raum zum Nachdenken. Wie war denn das mit Pfingsten und 10 Tage davor war ja auch noch ein besonderes Ereignis, Himmelfahrt. Wichtige,

Der Himmel geht über allen auf...Apg. 1, 8-10

St. Thomas, Kriegshaber, Augsburg© Heinz D. Müller

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entscheidende Feste, die aber ein Schattendasein führen in unserem Kirchenjahr. Und so hatten wir uns gedacht, ach, geben wir doch dem wieder etwas Raum.

Laden wir den Heiligen Geist ein in unsere Mitte. „Komm, heilger Geist“, wie wir eben gerade sangen. Bring’ wieder das zum Schwingen und zum Erklingen was du einem Jeden von uns mitgegeben hast. Diesmal stellvertretend geübt, mit den paar Orffinstrumenten in ihren Händen.

Wir haben es zuvor gehört, in der Lesung, dass wir ausgerüstet sind, jeder mit Gaben und Begabungen, von denen wir teilweise noch wenig wissen. Selber kennen wir das ja auch und haben es vielleicht eben gerade erlebt, wenn einem so eine Gabe in die Hand gegeben wird, wie das Orffinstrument, so einfach ist es nicht, es in Gebrauch zu nehmen und damit laut zu werden, dass die anderen das auch hören können, was man da „mitbekommen“ hat. Vielleicht ist man noch nicht so geübt darin und hat es noch nicht zu einer Kunst entwickelt, diese Gabe in uns selber, dass wir mit Selbstvertrauen sie vor den anderen auch zeigen können. Ja, alles braucht eine Zeit der Kultiviertheit, dass wir etwas pflegen und immer wieder tun und üben. So wie bei den Projekten in ihrer Gemeinde.

Ich sehe vor mir Frau W. die das Projekt: „Nur ein Ma(h)l“, ins Leben rief. Zehn Jahre hat es gebraucht, um dann wirklich zu dem zu werden, was es heute geworden ist. Und dies eine Projekt steht stellvertretend so Vieles hier in St. Thomas – die Begabung bei jedem Einzelnen! Gaben, die entdeckt und gelebt werden wollen. Und der Kirchenvorstand bemüht sich auch mit großer Kraft und Engagement, diese vielen Begabungen ins Spiel des Gemeindelebens zu bringen.

Doch hier gilt es aufzumerken. Beim „In-Gebrauch-Nehmen“ der Gaben und ihrem Einsatz. Ich denke da könnten uns diese beiden Feste: Pfingsten – mit der Gabe des Heiligen Geistes, aber auch die Himmelfahrt, helfen tiefer zu verstehen. Lernen wir von der Bibel her, wie wir mit diesen Begabungen umgehen könnten.

Der Himmel geht über allen auf, so haben wir im Kanon vor der Predigt gesungen. Danach sehnen wir uns auch. Und das Wetter am heutigen Sonntag passt „punktgenau“ zu diesem Sehnen. Ja, das wünschen wir uns doch, nach diesem Regen, da soll es wieder sonnig werden. So ähnlich geht es uns auch in unserem Leben selber. Wenn Wolken unseren blauen Lebenshimmel verhängen!

Dann ist etwas zu, bedeckt und wir können uns kaum mehr vorstellen, dass hinter dieser momentanen Betrübnis noch etwas anderes auf uns warten könnte. Wir spüren und erleben uns dann ganz woanders.

An diesem Erlebenspunkt, da lädt uns die Bibel ein, mit in diese Geschichte zu tauchen, an die ich uns noch einmal erinnern möchte, aus der Apostelgeschichte. Der vor kurzem auferstandene Jesus, mit seinen Jüngern bei einander und dann 40 Tage nach Ostern entschwindet er vor ihren Augen. Aufgehoben wird er in die Wolken, in den Himmel und die Zurückbleibenden schauen ihm nach und bekommen als Weisung, bleibt an diesem Ort, Jerusalem, bis ihr ausgerüstet werdet mit der Kraft, nämlich mit dem Tröster, den ich Euch schicken werde.

Was für ein Bild! Da sollten wir erstmal das tun, was wir in unserer Vorbereitung auch getan haben, uns gemütlich hinzusetzen um das Bild einmal wirken zu lassen auf uns ... Jesus, der unterwegs ist mit seinen Jüngern, den sie gesehen haben, angelangt haben, sie haben erlebt, was er bewirken kann und waren überrascht, erstaunt und nun passiert dieses: diese dieses konkrete Erleben. Er beginnt sich zu erheben und zu verschwinden. Er löst sich langsam auf, verschwindet in der Wolke des Himmels.

So ergeht es Menschen die auch Abschied nehmen müssen, Abschied für immer. Von einem Mensch, den wir nicht mehr an unserer Seite haben. Wir haben dann nur noch die Erlebens Bilder, spüren aber auch das andere, da löst sich etwas langsam auf, die Realität, etwas anderes bleibt aber dafür, nämlich diese tiefe Verbundenheit, die tiefe Liebe, so sie da war, und diese Liebe braucht diese konkreten Bilder nicht so sehr, sie spürt eine Verbindung die lebendig bleibt. Die Liebe kennt keinen Tod.

Dafür steht diese Wolke, die festen Bilder lösen sich auf, aber die Verbindung mit dem Wesentlichen, die bleibt lebendig.

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Noch mehr will uns dieser Himmelfahrtsblick der Jüngere aufzeigen.

Die Wolke, ein Zeichen, das dem Volk Gottes vertraut ist. Auf dem Weg durch die Wüste, während des Tages zieht eine Wolke dem Volk Gottes voran. Gott in der Wolke! Und dort, wo die Wolke stehen bleibt, da wird dann das Zelt aufgebaut, das Zelt der Gegenwart Gottes. Die Wolke als ein Bild, das uns sagt: Mach Dir keine Bilder. Denn welches Bild Du Dir auch machst, das verändert sich in der nächsten Sekunde wieder.

Wenn wir die Wolken am Himmel betrachten dann entdecken wir in ihnen manchmal Bilder einen Löwen einen Hund wir entdecken ein Haus und Gesichter, kaum ist das Bild erkannt, schon ist es wieder weg. Permanent verändern sich die Bilder am Himmel und Jesus nun in dieser Wolke. Mach Dir keine Bilder, heißt es in der Bibel, schon gar nicht von Gott. Und in diese Wolke hinein, da entschwindet er und wir müssen gleich die „andere Wolke“ mitdenken, die der Gegenwart Gottes. In dieser Wolke ist er und von „dort her“ schickt er uns den, den er dann den Tröster nennt.

Verlassen wir die „Wolken“, oft folgt auch ihnen, wenn sie verschwunden sind am Himmel dies Zeichen, das uns beim Singen des Liedes, der Himmel geht über allen auf, von den letzten Bänken, über ihren Köpfen hinweg geweht ist und hier nun an meiner Seite aufgespannt ist der Regenbogen.

Das Zeichen der Hoffnung, das Zeichen, es soll weiter gehen. Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, alles soll bestehen und bleiben. Dieser Bogen der Hoffnung wird aufgespannt, „vom Himmel her“, nach der großen Sintflut. Ein Zeichen des Bundes, der Verbindung und Verbundenheit mit dieser Welt, mit dieser Schöpfung, mit dem Menschen. Der Himmel geht über allem auf.

Und dann, von dort her diese Zusage, wir sagen „Heiliger Geist“ und die Bibel sagt uns konkreter noch „der Tröster“, der Tröster kommt von dort dem Menschen. Ein bekannter Praktischer Theologe, Christian Möller hat 2005 ein kleines Büchlein geschrieben mit dem nachdenklichen Titel: Kirche, die bei Trost ist. Kein Ausrufezeichen, aber auch kein Fragezeichen nicht mal ein Punkt bei diesen fünf Worten. Es liegt an unserer Erfahrung. Wie erleben wir das? Rechnet meine „Kirche“ noch mit diesem Tröster, orientiert sie sich noch mit ihrem Blick nach oben, an Jesus dem Christus.

Vor allem ist sie ein Ort, wo ich Trost erfahren kann indem ich mich mit andern darüber austausche über meinen Blick in die Wolken, dem Christus nach ... und dann dir mein Erleben schildere und deines höre, das ganz anders sein kann und sein darf.

Durch diesen Blick in „die Wolken“ gibt es nun nicht mehr „das Rechthaben“. Nur mein Jesus ist der Richtige, nur meiner, wie der ausschaut, nur so kannst Du an ihn glauben. Nein, das gibt es eben nicht mehr. Es gibt nur noch diese Erfahrung, die Jesus, der Tröster, in uns auslöst und uns einlädt, davon zu erzählen, anderen! Zu sagen, schau, wie reich es ist, wie interessant es ist, wie überraschend es ist, dieses Leben und wo Du Ihn überall erleben kannst. Er ist nicht mehr im Himmel. Er ist wieder gekommen, er ist da.

Vielleicht deshalb, denke ich mir, haben wir in unserem Kirchenjahr diese unendlich lange Zeit der Trinitatissonntage, 24 Sonntage im Jahr.

„Trinitatis“ bedeutet das Geheimnis von Gott. Seine Erscheinungsweisen hier in dieser Welt verändern sich, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist, immer wieder anders, aber doch einer. Wie wir auch gehört haben, wir sind eins in Christus, wir sind eins in Gott. Da gibt es nicht diese Verschiedenheiten, für uns, ja, so erleben wir es. Aber die Bibel lädt uns ein zu einer tieferen Erfahrung, schau: Mach aus diesen verschiedenen Erfahrungen, mach eine und das will heißen, Gott ist überall da, es gibt nichts außerhalb von ihm, keine verschiedenen Götter, ein Gott. So besehen ist diese Trinitatiszeit für mich eine verlängerte Pfingstzeit. Weil wir in dieser Zeit immer wieder neu dem „Geheimnis“ nachspüren, alte Geschichten plötzlich neu hören, neue Entdeckungen machen mit Gottes Wirklichkeit, mit Gottes Gegenwart, mitten unter uns.

Wir erleben dies bisweilen dann in kleinen Kreisen, so, wie wir es erlebt haben als kleiner Vorbereitungskreis, drüben im Gemeinderaum. Als wir uns trafen und „blank“ begannen den Gottesdienst heute vorzubereiten. Keiner von uns wusste genau, wie wird nun das denn am Ende

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aussehen? Was werden wir machen? So saßen wir zu dritt da und siehe da, die Ideen kamen, sind beschenkt worden, wo ich selber mir später dachte, allein wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Es hat andere dazu gebraucht, um darauf zu kommen.

So können wir in der Gemeinde das immer wieder neu erleben, wenn wir durch andere bereichert werden, der Himmel geht dann über uns auf und wir entdecken, was im jüdischen Glauben sich so ausdrückt. Dort hat der Messias viele Namen, nicht nur einen. Viele Namen, wie es auch viele Namen für Gott gibt, um zu zeigen, in so Vielem drückt er sich aus. Und einer dieser Namen für den Messias ist Menachem. Und Menachem heißt übersetzt, der Tröster. Dieses Wort „Menachem“ wird im Jüdischen oft mit einem anderen Wort gekoppelt, es erscheint nicht alleine, sondern es heißt dann immer „Menachem Mendel“, „mendel“ ist die Mandel und warum das?

Weil das die erste Frucht ist im Jahr, die sich meldet mit ihren Blüten. Du kannst gar nicht so schnell schauen, schon ist die Mandel da. Du kannst gar nicht so schnell schauen und dieser Himmel ist wieder offen, der Tröster da. Ich wünsche uns allen immer wieder eine freudige, überraschende, vom Geist bereichernde, neue Entdeckung. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 28.09.201415. So.n.Trinitatisin: Kapelle KlinikumTondatei: DS400906

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. 5 Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; 6 aber ein Nebel stieg auf von der Erde und feuchtete alles Land. 7 Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. 8 Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9 Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. 10 Und es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. 11 Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold; 12 und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. 13 Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. 14 Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der

Garten Eden1. Mose 2, 4b-9 (10-14)

Bild: Gebets-Teppich: Paradies© Heinz D. Müller-2015-01-24

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Euphrat. 15 Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.

Liebe Gemeinde,

lassen wir diese Worte, diese tiefen Worte noch etwas in uns einsinken. Ich möchte dazu eine kleine Geschichte erzählen, denn dies Paradies ist mir in den letzten Tagen besonders nahe gekommen. Ich bin noch nicht sehr lange in meinem neuen Haus. Ein Umzug stand an und die Erledigung einer Aufgabe hat sich dabei in die Länge gezogen, nämlich das Bilder Aufhängen. Lange Zeit blieben sie kahl und weiß. Gestern, endlich, war ein guter Freund von mir da und wir haben die Bilder, so gut es ging an den Wänden platziert und der letzte Gegenstand, den wir an eine Wand befestigt hatten, war ein alter Gebetsteppich, mit den Motiven des Paradieses darauf. Und bewusst oder unbewusst haben wir für diesen Teppich einen Ort ausgewählt genau in dem Bereich, wo ich normalerweise frühstücke.

Seitdem sehe ich dort immer wieder, auf diesen Gebetsteppich, mit dem Baum des Lebens, mitten in diesem Teppich als Symbol und dann, neben Adam und Eva, Engel und die Tiere und all das, was wir uns immer wieder zu diesem Paradies vorstellen. Auf dem Weg heute, hierher habe ich bei mir gedacht, eigentlich ein sehr guter Ort, an das Paradies erinnert zu werden, nämlich frühmorgens, wenn ich mich vorbereite, mir Speise und Nahrung zufüge, mich aus- und zurüste für die Anforderungen des jeweiligen Tages. Für etwas, was dann vielleicht auf mich zukommt, wenn ich unterwegs im Krankenhaus bin, wenn ich mich all diesen Sorgen wieder zuwende, die ja dann in Form von Lebensgeschichten auf mich zukommen, wo ich begleite, wo ich konfrontiert werde – dann dieses Bild im Rücken zu haben, das Paradies! Und dies „Bild im Rücken“ sagt mir: dir Mensch ist dies gegeben. Dein Aufenthaltsort ist eigentlich dieses Paradies, in das Gott den Menschen hinein gesetzt hat, das steht am Beginn!

Auch wenn sich später vieles ändert im Leben. Selbst und trotzdem diese „negative“ Erfahrung mit dazu gehört, dass wir durch die Ungehorsams-Geschichte, die dann später folgen wird, aus dem Paradies vertrieben werden, durch eigenes Zutun und seitdem jenseits von Eden leben, begleitet uns dieses Bild. Es ist sozusagen tief eingepflanzt in uns, in unsere Seele in unser Menschsein und dem gilt es immer wieder nachzuspüren, sich daran zu erinnern.

Beim Wiederlesen dieser Worte bin ich hängengeblieben an folgenden Worten: „Und Gott pflanzte..“, …das Paradies.

Nicht, er erschuf, oder er machte, sondern er pflanzte! Ich stelle mir vor: Wie ein kleines Samenkorn hinein gelegt wird, in das Geheimnis der Erde, in diese Welt. Dort, wo es verborgen ist, wo es dunkel ist, wo es dann reifen kann, seine Zeit braucht, bis es sich wandelt und hinaus stößt seine zarten Pflanzen, hinein in diese Welt und dann später einmal Frucht bringt. Dieses Wort „Pflanzen“ hat mir geholfen, achtsamer zu sein, mich aufmerksam gemacht, wie wir uns diesem Bild des Paradieses nähern könnten. Wir brauchen Zeit und wir brauchen Geduld, dass dies Wort, Gottes Wort, auch in uns, sozusagen, auf fruchtbaren Boden fällt und dass es uns auch später einmal nährt und erfreut mit seinen Früchten. Wir selber dann zu diesen Früchten werden, durch unser Bebauen und Bewahren.

Dies „Bild vom Pflanzen, Reifen und Gedeihen“, ein starkes Bild für unseren Zugang und Umgang, sich diesen Worten Gottes zu nähern. Behutsam und langsam, nicht zu schnell drauf zu zugreifen, auf dieses Andere, was uns ja auch vertrieben hat aus diesem Paradies, nämlich dieser Griff nach den Früchten, vom Baum der Erkenntnis, von Gut und Böse, so wird es von Martin Luther übersetzt.

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Aber eigentlich, im Hebräischen steht dort, “der Baum des Wissens“. Das ist eine ganz interessante Mitteilung, ganz tief verstanden von der Bibel, nämlich, was uns eigentlich von Gott entfernt: Das Haben-wollen, das Wissen-wollen. Wir wollen wissen, wir wollen kontrollieren. Je mehr Informationen wir haben, und das zeigt uns diese Welt ja heute sehr deutlich, umso mehr Macht haben wir. Es wird gesammelt, Informationen, Daten, werden gesammelt und wer die meisten Informationen hat, der hat Gewalt und Macht über die anderen.

Es klingelt ungut bei diesem Wort „NSA“, der zügellosen Überwachung durch die Geheimdienste. Wir müssen aufpassen, was wir da machen und es ist der Mensch, der das tut und niemand anderes. Wir haben die Wahl. So rüstet Gott uns aus, von Anfang an. Er setzt uns in diese Freiheit hinein und sagt: „Beides habt ihr zur Wahl das Tun oder das Lassen und ihr entscheidet! Und wenn ihr falsch entschieden habt, dann ist immer noch nicht Ende. Denn ich bin ein gnädiger und barmherziger Gott.“ So steht es am Anfang der Bibel. Selbst beim Fehlgriff findet Gott immer noch einen Schutzraum für den Menschen, selbst dann, wenn dieser Schutzraum in der Entfernung liegt von diesem Paradies. Immer wieder fällt sich Gott ja ins eigene Wort. Er geht dem Menschen nach, den langen Weg geht er mit uns mit und schließlich in eigener Person, im Menschsein Jesu.

Er lässt den Menschen nicht allein. Warum?

Weil dieses „Urbild“, Paradies, gepflanzt ist und so mächtig ist. Weil dieses „Urbild vom Leben“ ja Gott selber ist. Das Leben, die Liebe zum Leben siegt über alles. Das steht am Anfang der Bibel.

Kehren wir zu unserer Geschichte zurück und sehen wir noch einmal hin, wie Gott dann den Menschen macht. Er nimmt von der Erde, formt daraus den Menschen und dann geschieht dies Wunderbare. Er bläst der Form seinen Odem ein. Diese Stelle ist eine ganz besondere in der Bibel und auch hier gilt es, genau hinzusehen, wie bei diesem „Pflanzen“, wie tief das Geheimnis ist. Denn Gott gibt mit seinem Atem eigentlich sich selber hin. Atmen Sie mal aus, dann haben Sie alles gegeben. Alles von sich, alles von innen. Und dann wartet man auf das Kommende, was kommt zurück? Kommt wieder neuer Atem, neues Leben in mich hinein, oder war es das? Von Anbeginn an, ist Gott so zu dieser Welt. Er gibt alles! Und dann fallen mir diese Worte ein: So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab ... So tief und so weit geht es von Anfang an!

Gott ist ein Gott der Lebendigen und deswegen geht es weiter. Nun tragen wir nicht nur diesen Atem in uns, sondern auch ein anderes Geheimnis, das verborgen ist, in diesem Worte „Mensch“, das im Hebräischen „Adam“ heißt. Und wir sagen, naja, das ist ein Name wie halt der „Adam“ auch ein Name ist, den wir unseren Kindern vielleicht geben und fragen nicht weiter. Aber das sollten wir tun. Denn so oft die Bibel Namen nennt, lädt sie uns ein, die Bedeutung in diesem Namen mit zu entdecken. Das Wort für „Adam“ kommt vom hebräischen Wort für „ani dome“ und das heißt, „ich gleiche“. Ich gleiche wem, könnten wir weiter fragen? Ich gleiche Gott. Und Gott gleicht mir. Das muss man sich erst einmal lange auf „der Zunge“ und im Herzen zergehen lassen, was uns da mitgegeben wird, mit dieser Seele, mit diesem Odem und ich habe es gleich auch schon übersetzt, dass dieser Odem, ja die Seele ist.

Wir sagen gerne, der Mensch ist ausgerüstet mit einer Seele, aber eine Seele hat doch auch ein Tier und eine Seele hat auch eine Pflanze. Das teilen wir uns mit der ganzen Welt, aber nur der Adam, der Mensch, ist, nach der Bibel, beseelt mit diesem Odem, wie es im Hebräischen heißt, der Neschama.

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Das ist die Seele, der göttliche Funke, der den Menschen zu etwas ganz Besonderem erhebt. Der ihn „ein klein wenig geringer macht“, wie gesagt wird, wie Gott selber. Das tragen wir in uns. Und wir tragen es in uns, selbst an diese Orte in dieser Welt, wo es ganz dunkel werden kann. Wie auch dieser Sohn es erfährt, in der Geschichte im NT, der sagt: „Was kümmert es mich „im Paradies“, in meines Vaters Hause zu wohnen?“ Da ist doch die Welt viel spannender, die lockt und die ist schön und die will entdeckt werden. Und der Vater sagt: „Freiheit – Du hast die Wahl, Du kannst wählen, Du kannst gehen. Ich rüste Dich sogar dafür aus, Du kriegst alles, dein Teil. Und dieser Sohn geht und macht seine Erfahrungen unterwegs bis er an den Ort kommt, wo es nicht mehr weiter hinunter geht. Wo es ganz dunkel wird.

Und genau an diesem Ort, da leuchtet etwas auf in ihm, dieser Funke, der mit ihm gegangen ist und er sagt zu sich: „War da nicht noch etwas anderes? War da nicht diese Heimat, dieses Paradies, dieses Vaterhaus, mit dem ich ausgerüstet bin, das in mich eingepflanzt ist sozusagen?“ Dort unten, erinnert er sich an das, was ihm fehlt.

„Mir fehlt etwas“, so sagen wir es ja auch, wenn wir hier diesen Ort aufsuchen, das Krankenhaus, dann fehlt uns ja auch etwas. Wir merken, wir sind nicht mehr so, wie wir früher waren, vielleicht glücklich, vielleicht zufrieden, gesund. All das, was mir das Leben lebenswert gemacht hat, nun ist es nicht mehr so.

Das alles ist die Kehrseite von diesem anderen Ausgerüstet-sein, nämlich, das „Paradies“ trägt ja auch einen Namen in sich, den wir jetzt auch heben sollten, nämlich es wird im Hebräischen, „Gan Eden“, genannt. Gan Eden bedeutet übersetzt, „Garten des Wohlbefindens, des Glückes“. Das ist uns versprochen, gegeben, geschenkt, von Gott und das soll uns begleiten. Und überall dort, wo wir Mangel erleiden, wenn uns etwas fehlt von diesem Glück, von dieser Zufriedenheit, dann werden wir erinnert an das Andere, das ja auch da ist. Tief innen, wissen wir es, sonst könnten wir uns nicht erinnern. Dann kommt diese andere Kraft, dieses Licht von Osten her, das goldene Licht, das Ur-Licht, das uns begleitet und geschenkt ist von Gott selber und das uns wieder dort hinführen kann, wie der Psalm 1 es sagt, dass es gut ist, gepflanzt zu sein an den Bächen, an der Quelle, damit wir wieder zu dem werden, der wir sind, Menschen von Gott geschaffen und beseelt zum aufrechten Gang, wie dieser Baum aufrecht zum Himmel hin wächst, seine Arme ausbreitet zum Schutz für andere, die da Zuflucht suchen und Pause machen möchten.

Das sind alles Bewegungen im Menschen selber. Unser Leben führt uns an solche Orte, selbst zu solchen, wo wir verzweifelt sind. Da mögen wir diese Worte wieder hören, die uns vom Anfang her gesagt sind: All eure Sorgen werfet auf IHN, denn ER sorgt für euch.

Wichtig und gut, sich das sagen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass Gott in uns auch dieses Pflänzchen, dieses Samenkorn des Paradieses eingesenkt hat mit seinem Atem, seinem Odem.

Diese Paradies-Geschichte begleitet Menschen immer weiter, ob sie es nun wissen, oder nicht und ich möchte schließen mit der wahren Geschichte eines Königssohnes, der die Musik liebte und die Natur. Aber sein Vater, der ihn auf das harte Amt eines Königs vorbereiten wollte, konnte das nicht akzeptieren. Er nahm ihm seine Instrumente weg und vernichtete sie. Daraufhin machte sich der Sohn auf und floh aus dieser Umgebung. Er wurde wieder eingefangen und beinahe hingerichtet. Nur unter großer Fürsprache, konnte er gerettet werden und schließlich wurde er selber ein König und führte Schlachten. Aber ein Wunsch, ein Hoffnungsbild hat ihn zeitlebens begleitet. Er wollte einmal für sich einen Ort gründen, der „ohne Sorgen“ sei. Er lud einen Architekten zu sich und erzählte ihm seine Vision. Dieser Architekt machte ihm daraufhin einen Vorschlag, hochherrschaftlich, mit hohen Treppen, wo man hinauf steigen konnte, imponierend

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und eines Königs angemessen. Aber das entsprach nicht dem Bild, das in diesem König selber schlummerte. Kurzer Hand machte er sich selber daran, die Pläne für seine Vision zu entwerfen.

Er wollte einen Ort der Begegnung haben, einen Ort, wo man einen direkten Zugang haben konnte, ebenerdig, in die Natur hinein, die er sosehr liebte, wo man Mensch sein konnte. Und so begann er diesen Ort zu bauen und gab diesem Ort den Namen seines inneren Bildes: ein Ort ohne Sorge.

Wir kennen diesen Ort und den Namen des Königs, es war Friedrich II., „der Fritz“, wie er respektvoll genannt wurde, bei Potsdam liegt das Schloss das er dann gründete und der Name ist: Sanssouci, ein Ort „ohne Sorge“. Jeder von uns trägt diesen Ort „in sich“. Lassen wir uns von Gottes Geist dorthin führen und dort Ruhe finden und Frieden. Amen.

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Bibelerleben

Predigten in freier Rede

von Heinz D. Müller

Tonscript: Inge Gronau

gehalten am: 12.10.201417. So.n.Trinitatisin: Kapelle KlinikumTondatei: DS400908

weitere Predigten von Heinz D. Müller

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Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus Amen. In der Stille wollen wir um den Segen des Wortes beten. Herr segne du an uns Reden und Hören, Amen.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Markusevangelium im 9. Kapitel:

Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. Und er fragte sie: „Was streitet ihr mit ihnen?“ Einer aber aus der Menge antwortete: „Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu Dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit Deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen und sie konnten es nicht. Er aber antwortete ihnen und sprach: „Oh Du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei Euch sein, wie lange soll ich Euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!“ Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich als ihn der Geist sah, riss er ihn und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund und Jesus fragte seinen Vater: „Wie lang ist es, dass ihm das widerfährt?“ Er sprach: „Von Kind auf und oft hat er ihn ins Feuer oder ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn Du aber es kannst, so erbarme

Das ganze BildMarkus 9, 14-28

Bild: Raphael-Verklärung JesuBild wurde in der Mitte gefaltet für den Gottesdienst

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Dich unser und hilf uns.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Du sagst, wenn Du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Sogleich schrie der Vater des Kindes: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“

Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: „Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete Dir, fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein.“ Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus ihm aus. Und der Knabe lag da wie tot, sodass die Menge sagte, er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf und er stand auf. Und als er heimkam, fragten ihn seine Jünger für sich alleine: „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?“ Und er sprach: „Diese Art kann durch nichts ausfahren als durchs Beten und Fasten.“

Liebe Gemeinde, bei der Vorbereitung für diesen Gottesdienst habe ich nach einem Bild gesucht, das diese Szene für uns noch einmal abbildet. An dieses Bild bin ich hängen geblieben. Wenn sie es in die Hand nehmen und aufschlagen, dann sehen Sie, dass dieses Bild mehr als diese Szene hat, die wir gerade gelesen und gehört haben, nämlich die um diesen fallsüchtigen, besessenen Knaben unten im Bild, sondern darüber ist ja noch eine ganz andere Szene abgebildet. Da ist mir aufgegangen, sieh genau hin, was ich selber bei der Vorbereitung vergessen hatte. Ich war so konzentriert auf diese Bibelstelle, dass ich die andere Bibelstelle, die eigentlich davor ist und die dieses Bild ergänzt, ganz übersehen hatte. Mir ist klar geworden, dass wir und dass ich auch, sehr oft an die Bibel so herangehen, dass ich sozusagen hinein zoome auf den Text, den ich gerade vor Augen hab und dabei das ganze Andere, das große Bild aus den Augen verliere. Und das ist, denke ich, eine ganz wichtige Erfahrung, die wir beachten sollten, wenn wir die Bibel lesen, die Bibel hören, dann auch immer im Hintergrund zu behalten, das große Bild, das uns mit der Bibel überreicht wird von Gott. Und dieses große Bild zu unserem Bibeltext heute, erzählt noch etwas ganz anderes, ohne das dieser Text gar nicht zu verstehen ist.

Er erzählt nämlich von dieser Erfahrung eines kleinen Jünger Kreises und Jesus, die hinauf steigen auf einen Berg und dort oben, in luftiger Höhe eine ganz besondere Erfahrung machen. Eine mystische Erfahrung könnte man sagen. Die Jünger erleben eine Vision, sehen nicht nur Jesus verklärt, sondern Jesus mit Mose und Elia zusammen. Diese Erscheinung macht sie ganz verzückt und sie wollen am liebsten gar nicht mehr vom Berg runter steigen, in die Niederungen des Lebens dort unten. Viel lieber wollen sie hier oben bleiben, in der Höhe und sagen zu Jesus: Hier ist es gut sein! Lass uns doch drei Hütten bauen, dir eine Mose eine und Elia eine. Aber wie sie wieder aufsehen, sind nicht mehr drei Personen da, sondern nur noch Jesus allein und er sagt ihnen: „Lasst uns wieder hinunter gehen!“

Solche Gipfelerlebnisse sind oft nur ganz kurz. Sekunden vielleicht und wir können sie vergleichen mit den Glücksmomenten, die wir im Leben bisweilen auch haben. Gott sei Dank, hoffentlich oft haben, wo wir innerlich Frieden spüren, wo wir innerlich Glück empfinden, Liebe empfinden, aber wir können diese Momente, so gerne wir es täten, nicht festhalten. Und dennoch, solche Momente, so kurz sie auch sein mögen, sie helfen uns für den langen Weg. Manchmal auch nur, auf dem Weg, hinunter ins Tal, dort, wo die Probleme dieser Welt auf uns warten, Gebrechlichkeiten und Krankheiten, die Besessenheiten dieser Welt.

Durch diese Gipfelerfahrungen, von dort her, wo wir Gott näher gekommen sind, etwas gespürt haben von dieser jenseitigen Welt, die ja auch da ist - und ich denke auch an die Bergpredigt, die Jesus seinen Jüngern hält, von einem Berg her und der andere Berg, wo Gott dem Mose die zehn Tafeln, die zehn Worte, die Schrift, die Thora gibt - Von dort her werden wir gespeist, bekommen wir Nahrung für den langen Weg. Den Weg, der wieder hinunter führt. Aber diesen Weg hinunter, geht uns nun einer voran – einer, der mit uns oben war auf diesem Weg, Jesus. Er geht wieder mit den Jüngern hinunter, weil dadurch deutlich wird: „Diese Welt hat ja Gott lieb.“ Diese Welt da ganz unten.

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Und dort unten stoßen sie auf diese ganz andere Gruppe. Wenn sie das gefaltete Bild dazu umklappen, dann machen wir auch diese Erfahrung selber, dass auf einmal das Helle umgeklappt wird, in den Hintergrund tritt, aber dennoch ja da bleibt in meiner Hand. Mit einem Mal verdunkelt sich diese Wirklichkeit und wir merken, all das, was da unten ist, was bedrohlich ist, was uns herab zieht, auf diesen Erdboden, das begegnet uns da und dort ist eine „Menge“. Dort sind die sogenannten Schriftgelehrten, die sich streiten, disputieren, mit diesem Vater und seinem Kind, das besessen ist, an einer Krankheit leidet.

Dort streiten, suchen sie vielleicht nach dem Grund, wie beim Hiob, wo auch die Freunde kommen und nach der Ursache suchen und fragen, woher kommt denn das, warum hat er das? Es muss doch eine Erklärung, einen Grund geben. Und oftmals ist man dann sehr schlau, naseweis, gibt Ratschläge. Aber schon in diesem Wort allein ist ja das andere schon verborgen. Auch Rat-schläge sind Schläge. Sie helfen nicht sehr weit, sie richten nicht auf, sie geben keinen Trost. Weil sie immer nur dieses eine vor Augen haben, nämlich diese Welt da unten.

Dies Bild, das ich Ihnen heute mitgebracht habe, der Maler Raphael hat es gefertigt, es war sein letztes Werk vor seinem Tod. Wie in einem Vermächtnis hat er den Menschen nach ihm diese beiden Szenen aus der Bibel in ein Bild zusammen gebracht wie um zu sagen: Beides gehört zusammen, reißt es nicht auseinander. Diese Wirklichkeit auf dem Berg, dieses Gipfelerlebnis, wo wir Gott nahe sind, wo wir Verzückung erleben, wo wir uns lösen von diesen Wirrsalen und Irrsalen, unter uns. Doch das wäre nur die eine Wirklichkeit, die andere gehört doch mit dazu. Nicht stehen bleiben und sagen, nur dieses oder jenes, beides zusammen.

Aber dieses Bild hat genau diese Spaltung erfahren. So wie ich nur über diese eine Bibelstelle predigen wollte ohne auf den Zusammenhang zu achten. Ich habe sie isoliert betrachtet, wollte nur über das Unten predigen und habe das andere, das Ganze, aus dem Blick verloren. Genauso ist es auch diesem Bild ergangen. Denn interessanterweise gibt es dieses ganze Bild von Raphael, als zwei eigenständige Bilder. Das obere Bild gibt es als Postkarte im Vatikan zu kaufen. Die Kirche hat sich sozusagen auf den oberen Teil konzentriert und damit gezeigt, das ist es, worum es uns geht –hat vielleicht die Welt darüber vergessen, die Nöte, die Leiden.

Und die untere Seite des Bildes hat jemand ganz anderes ausgewählt und es, ohne den oberen Teil, als Überschrifts-Bild seinem Werk vorangestellt

Es war der berühmte amerikanische Forscher und Arzt, W. Lennox, der den unteren Teil des Bild gewählt hat für sein Lehrbuch über die Epilepsie. Lennox meinte damit die Erklärung gefunden zu haben für den Krankheitszustand dieses Knaben. Der Schaum vor dem Mund hat, der mit den Zähnen knirscht und der hin und her gerissen wird, wie es die Bibel beschreibt. Mal wird er ins Feuer geworfen und dann wieder ins Wasser. So sehen wir diesen Knaben auf dem Bild. Eine Hand hat er nach oben gestreckt, die andere nach unten, wie wenn er diese beiden Wirklichkeiten miteinander verbinden wollte.

Aufgespannt zwischen Feuer und Wasser. Eine Wirklichkeit, die zum Knirschen ist. Die sich nicht in Worte fassen lässt, die einem den Schaum vor den Mund treibt. Ein Zustand der Starre, der Nicht-Lebendigkeit. Ob damit eine Krankheit beschrieben wird – mag sein! Ich erlebe noch etwas anderes darin, in diesem Zustand, nämlich meine Wirklichkeit. Wie oft bin ich aufgespannt und fühle mich zerrissen, zwischen dem, was ich erlebe, wenn ich hier Besuche mache und dann Menschen begegne, die gerne noch viel Zeit vor sich hätten und dennoch Abschied nehmen müssen, die Frage des „Warums“, auf den Lippen und die verzweifeln zwischen dieser Zerrissenheit und Ratlosigkeit. Da kann es einem schon den Schaum vor den Mund treiben. Da

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kann man schon mit den Zähnen knirschen, vor Wut und Verzweiflung, das bin ich auch, merke ich, auf diesem Bild.

Und stellvertretend für die Sprachlosigkeit sehen wir den Vater auf dem Bild. Er sucht und wie gebannt Ausschau hält, auf dem Bild, wo, um alles in der Welt, kommt Rettung her? Wo ist denn einer, der mir hilft, mir heraus hilft, aus dieser Enge, aus dieser Verzweiflung, aus dieser Finsternis?

Und die Hilfe kommt auf ihn zu.

Es ist diese Grunderfahrung. Es ist dieses „große Bild“, das uns hier, in diesem kleinen Bild widergespiegelt wird. Eine Grunderfahrung aus der Bibel, von den Anfängen her, wo Gott im 2. BMose 3,7 sagt: „Ich habe das Elend gesehen, das Geschrei meines Volkes gehört.“ So meldet sich Gott bei Mose und sagt dann: „Und deswegen sollst du jetzt gehen und dieses Volk aus dieser Starrheit, aus dieser Verzweiflung, aus diesem Gefängnis herausführen.“ Immer wieder schickt Gott die Rettung in Menschengestalt und die Menschen sehen es, oder übersehen es, verstehen es, oder nicht und es ist schon etwas zum Verzweifeln, wie Jesus sagt, wie lange denn noch? Mose ist gekommen, Elia ist gekommen, keinem habt ihr geglaubt. Das sind doch alles Zeichen vom Himmel, Boten vom Himmel, die da waren, jetzt bin ich da, Gott selber, in dem was ich tue.

So tief kommt er zu euch, aber Worte sind Worte, es geht um die Taten. Es geht um das Tun, das Erleben, so nahe möchte Gott uns kommen. Und deswegen lässt Jesus auch das Reden, geht zu dem Knaben hin und richtet ihn auf. So erleben wir hier, worum es in der Bibel geht, das große Bild. Es geht um Auferstehung, es geht um dieses Aufgerichtet-sein und Aufgerichtet-werden, des in sich gekrümmten Menschen in seinem Leiden, in seinem Verzagt-sein, in seinem sich reiben an der Warum-Frage. Und so nimmt er ihn an der Hand und richtet ihn auf und er steht auf. Buchstäblich Auferstehung. Jetzt schon, bei diesem Knaben. Und dann sagt der Vater diese Worte: So erbarme dich unser und hilf uns.

Er wendet sich diesem Jesus zu und verbindet in diesem knappen Satz eigentlich zwei Bezeichnungen für Gott. Gott, der Erbarmer und Gott, der hilft und rettet. Und das ist das Wort „Jesus“ aus dem Hebräischen übersetzt. „Jehoshua“, der Herr hilft, der Herr rettet.

Der Vater des Knaben spürt, in diesem Jesus ist dies verbunden, kommt uns nahe, was wir immer wieder nur trennen. Wir sagen: der Himmel dort oben und die Welt hier unten. Nein, beides ineinander, nur nicht immer gleich so zu sehen, wissenschaftlich zu begreifen, von unserem Verstand her zu ergründen.

Wir können uns dieser anderen Wirklichkeit, die wir nicht sehen, nur so nähern, dass wir daran glauben. Dass wir hoffen, dass wir uns sehnen danach und das verstehen, was dieser Vater sagt: „Ich glaube, aber hilf meiner Schwachheit.“ Es muss geschenkt sein, es muss geschenkt werden, dieser Glaube, ich kann ihn nicht tun, ich kann ihn nicht machen.

Das ist die Anleitung aus unserem Text. Dass wir in diesem Glauben verbinden das, was dieser Knabe erlebt, nämlich dieses Ausgespannt sein, zwischen Feuer und Wasser. Und im Hebräischen ist das Wort für Himmel zusammen gesetzt aus diesen beiden Worten, nämlich aus dem Wort für Wasser und aus dem Wort für Feuer – schamajim. Wo Feuer und Wasser zusammen sind, das ist der Himmel. Keine Gegensätze mehr, sondern beides in einem. Nicht mehr Tod oder Leben, sondern Tod und Leben in Einheit. Wir erleben hier immer nur die eine Seite und verzweifeln daran. Aber Gott sagt uns: Geh den ganzen Weg, geh den ganzen Weg und

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du wirst sehen, das ganze Bild. Den Weg, der die Wahrheit. In Wahrheit gehen wir einen Weg. Aber dieser Weg hört nicht dort auf, wo wir verzweifeln, sondern er führt weiter, ins Leben, ins ganze Leben, ins Ewige Leben, Amen.

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