+ All Categories
Home > Documents > Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom nach supracondylärer Humerusfraktur beim Kind

Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom nach supracondylärer Humerusfraktur beim Kind

Date post: 26-Aug-2016
Category:
Upload: m
View: 232 times
Download: 3 times
Share this document with a friend
4
Post-traumatic anterior interosseus nerve syndrome after supracondylar frature of the humerus in a child Summary. The interosseus anterior syndrome is a rare nerve compres- sion syndrome that concerns only the motor branch of the median nerve. It is evidenced by paralysis of the M. flexor pollicis longus and M. flexor digitorum profundus II with weakness of flexion of the terminal joint of the thumb and index finger but without sensory loss. From the surgical point of view this complica- tion has special importance because of pediatric fractures of the distal hu- merus. In this paper we discuss the differential diagnosis, therapy and prognosis of this nerve injury by pre- senting an illustrative case of a 7- year-old boy suffering a supracondy- lar fracture of the humerus with a post-traumatic anterior interosseus nerve syndrome. Key words: Anterior interosseus nerve syndrome – Kiloh-Nevin syn- drome supracondylar humerus fracture – Nerve compression syn- dromes – Pediatric fracture. Zusammenfassung. Das N.-interos- seus-anterior-Syndrom ist ein selte- nes, den rein motorischen Nervenast des N. medianus betreffendes Ner- venkompressionssyndrom. Klinisch imponiert der Ausfall des M. flexor pollicis longus und des M. flexor di- gitorum profundus II, was zu dem charakteristischen Bild des „Kneif- griffs“ fu ¨ hrt ohne Sensibilita ¨tsver- lust. Aus chirurgischer Sicht hat diese Symptomatik besondere Bedeutung im Zusammenhang mit kindlichen Frakturen des distalen Humerus. An- hand eines Fallbeispiels eines 7 ja ¨ hri- gen Jungen mit posttraumatischem Ausfall des N. interosseus anterior nach supracondyla ¨ rer Humerusfrak- tur wird diese Nervenla ¨ sion, die Dif- ferentialdiagnosen, Therapie und Prognose dargestellt und diskutiert. Schlu ¨ sselwo ¨ rter: N.-interosseus-an- terior-Syndrom – Kiloh-Nevin-Syn- drom supracondyla ¨re Humerus- fraktur Nervenkompressionssyn- drome – kindliche Frakturen. Der N. interosseus anterior ist ein rein motorischer Ast des N. medi- anus, der von diesem distal des M. pronator teres abzweigt und auf der Membrana interossea parallel der A. interossea anterior auf eine Di- stanz von ca. 10 cm nach peripher verla ¨uft. In seinem weiteren Verlauf gibt der N. interosseus anterior meh- rere Muskela ¨ste ab, die den M. flex- or pollicis longus, M. pronator qua- dratus und den M. flexor digitorum profundus II sowie teilweise die an- deren tiefen Fingerbeuger innervie- ren (Abb.1). Es kommt jedoch ha ¨u- fig zu Variationen im Nervenverlauf [21, 22], wie die wichtige Martin- Gruber-Anastomosen in ca. 15% der Fa ¨lle, bei der motorische Fasern des N. medianus auf den N. ulnaris u ¨bergehen. Im Fall einer Anastomo- se zwischen N. interosseus anterior und N. ulnaris kommt es zum Voll- bild einer Medianusparese ohne Sensibilita ¨ tsverlust. Die klinischen Symptome erge- ben sich aus dem Funktionsverlust der durch den N. interosseus anteri- or innervierten Muskeln. Es fa ¨ llt die Beugung des Endgliedes des Dau- mens und des Zeigefingers aus, so daß eine Anna ¨herung der Finger- beeren im Spitzenbereich nicht mehr erfolgt und der Fingerkontakt weiter proximal entsteht. Der Spitz- griff und das Bilden eines O sind nicht mehr mo ¨ glich, es kommt zu dem typischen Kneifgriff. Sensibili- ta ¨ tssto ¨ rungen fehlen, da es sich um einen rein motorischen Nerven han- delt. Das klinische Bild des N.-interos- seus-anterior-Syndroms ist so ty- pisch, daß nur wenige andere Diffe- rentialdiagnosen in Erwa ¨ gung gezo- gen werden mu ¨ ssen. Dazu geho ¨ ren die Ruptur des Daumen- und pro- funden Zeigefingerbeugers [15, 16], die congenitale Aplasie jeglicher tie- fer Beugesehnen [24] oder des Flex- or pollicis longus und ein durch eine weit fortgeschrittene Ringbandste- nose fixierter Daumen oder Zeige- finger [5]. Apparativ la ¨ßt sich die Diagnose meistens neurologisch sichern. Es kommt zu elektromyographisch nachweisbaren Denervierungsaktivi- ta ¨ ten (Fibrillationspotentiale und po- sitive monophasische Wellen) sowie zu einem stark reduzierten Aktivi- ta ¨tsmuster in Form von Einzelentla- dungen des M. flexor pollicis longus, M. flexor digitorum profundus II und M. pronator quadratus. Ein wei- teres Zeichen ist die verla ¨ ngerte mo- torische Latenz nach Stimulation des N. medianus in der Ellenbeuge [19]. Von dem N.-interosseus-anterior- Syndrom ist das Pronator-teres-Syn- drom abzugrenzen, bei dem der Me- Chirurg (1997) 68: 738–741 Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom nach supracondyla ¨ rer Humerusfraktur beim Kind A. Joist, F.G. Scherf, U.Joosten und M. Neuber Klinik und Poliklinik fu ¨r Unfall- und Handchirurgie (Direktor: Prof. Dr. E. Brug) der Westfa ¨lischen Wilhelms-Universita ¨ t Mu ¨ nster Springer-Verlag 1997
Transcript
Page 1: Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom nach supracondylärer Humerusfraktur beim Kind

Post-traumatic anterior interosseusnerve syndrome after supracondylarfrature of the humerus in a child

Summary. The interosseus anteriorsyndrome is a rare nerve compres-sion syndrome that concerns onlythe motor branch of the mediannerve. It is evidenced by paralysis ofthe M. flexor pollicis longus and M.flexor digitorum profundus II withweakness of flexion of the terminaljoint of the thumb and index fingerbut without sensory loss. From thesurgical point of view this complica-tion has special importance becauseof pediatric fractures of the distal hu-merus. In this paper we discuss thedifferential diagnosis, therapy andprognosis of this nerve injury by pre-senting an illustrative case of a 7-year-old boy suffering a supracondy-lar fracture of the humerus with apost-traumatic anterior interosseusnerve syndrome.

Key words: Anterior interosseusnerve syndrome – Kiloh-Nevin syn-drome – supracondylar humerusfracture – Nerve compression syn-dromes – Pediatric fracture.

Zusammenfassung. Das N.-interos-seus-anterior-Syndrom ist ein selte-nes, den rein motorischen Nervenastdes N. medianus betreffendes Ner-venkompressionssyndrom. Klinischimponiert der Ausfall des M. flexorpollicis longus und des M. flexor di-gitorum profundus II, was zu demcharakteristischen Bild des „Kneif-griffs“ fuhrt ohne Sensibilitatsver-lust. Aus chirurgischer Sicht hat dieseSymptomatik besondere Bedeutung

im Zusammenhang mit kindlichenFrakturen des distalen Humerus. An-hand eines Fallbeispiels eines 7 jahri-gen Jungen mit posttraumatischemAusfall des N. interosseus anteriornach supracondylarer Humerusfrak-tur wird diese Nervenlasion, die Dif-ferentialdiagnosen, Therapie undPrognose dargestellt und diskutiert.

Schlusselworter: N.-interosseus-an-terior-Syndrom – Kiloh-Nevin-Syn-drom – supracondylare Humerus-fraktur – Nervenkompressionssyn-drome – kindliche Frakturen.

Der N. interosseus anterior ist einrein motorischer Ast des N. medi-anus, der von diesem distal des M.pronator teres abzweigt und auf derMembrana interossea parallel derA. interossea anterior auf eine Di-stanz von ca. 10 cm nach peripherverlauft. In seinem weiteren Verlaufgibt der N. interosseus anterior meh-rere Muskelaste ab, die den M. flex-or pollicis longus, M. pronator qua-dratus und den M. flexor digitorumprofundus II sowie teilweise die an-deren tiefen Fingerbeuger innervie-ren (Abb.1). Es kommt jedoch hau-fig zu Variationen im Nervenverlauf[21, 22], wie die wichtige Martin-Gruber-Anastomosen in ca. 15%der Falle, bei der motorische Faserndes N. medianus auf den N. ulnarisubergehen. Im Fall einer Anastomo-se zwischen N. interosseus anteriorund N. ulnaris kommt es zum Voll-bild einer Medianusparese ohneSensibilitatsverlust.

Die klinischen Symptome erge-ben sich aus dem Funktionsverlust

der durch den N. interosseus anteri-or innervierten Muskeln. Es fallt dieBeugung des Endgliedes des Dau-mens und des Zeigefingers aus, sodaß eine Annaherung der Finger-beeren im Spitzenbereich nichtmehr erfolgt und der Fingerkontaktweiter proximal entsteht. Der Spitz-griff und das Bilden eines O sindnicht mehr moglich, es kommt zudem typischen Kneifgriff. Sensibili-tatsstorungen fehlen, da es sich umeinen rein motorischen Nerven han-delt.

Das klinische Bild des N.-interos-seus-anterior-Syndroms ist so ty-pisch, daß nur wenige andere Diffe-rentialdiagnosen in Erwagung gezo-gen werden mussen. Dazu gehorendie Ruptur des Daumen- und pro-funden Zeigefingerbeugers [15, 16],die congenitale Aplasie jeglicher tie-fer Beugesehnen [24] oder des Flex-or pollicis longus und ein durch eineweit fortgeschrittene Ringbandste-nose fixierter Daumen oder Zeige-finger [5].

Apparativ laßt sich die Diagnosemeistens neurologisch sichern. Eskommt zu elektromyographischnachweisbaren Denervierungsaktivi-taten (Fibrillationspotentiale und po-sitive monophasische Wellen) sowiezu einem stark reduzierten Aktivi-tatsmuster in Form von Einzelentla-dungen des M. flexor pollicis longus,M. flexor digitorum profundus IIund M. pronator quadratus. Ein wei-teres Zeichen ist die verlangerte mo-torische Latenz nach Stimulation desN. medianus in der Ellenbeuge [19].

Von dem N.-interosseus-anterior-Syndrom ist das Pronator-teres-Syn-drom abzugrenzen, bei dem der Me-

Chirurg (1997) 68: 738–741

Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndromnach supracondylarer Humerusfraktur beim KindA. Joist, F.G. Scherf, U.Joosten und M. Neuber

Klinik und Poliklinik fur Unfall- und Handchirurgie (Direktor: Prof. Dr. E. Brug) der Westfalischen Wilhelms-Universitat Munster

Springer-Verlag 1997

Page 2: Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom nach supracondylärer Humerusfraktur beim Kind

dianusstamm weiter proximal vomAbgang des N. interosseus anteriordurch Kompression des M. pronatorteres betroffen ist (Abb.2). Klinischfindet sich bei geringer Auspragungein lokaler Druckschmerz uber demN. medianus im Bereich des distalenDrittels des M. pronator teres. Beiaktiver Pronation gegen Widerstandkommt es zu einer deutlichenSchmerzverstarkung in diesem Be-reich (Pronationsschmerz). In ausge-pragten Fallen leiden die Patientenunter einem Dauer- und Ruhe-schmerz, der in den distalen Unter-arm und die Hand ausstrahlen kann.Schon die passive Pro- und Supinati-on fuhrt zu einer erheblichen Ver-starkung der Symptomatik. Es be-steht eine motorische Schwacheoder Ausfall der vom N. medianusversorgten Muskelgruppen mit De-nervationszeichen bei gleichzeitiger

Verzogerung der sensiblen Nerven-leitgeschwindigkeit und Parasthesi-en typischerweise des ersten bis drit-ten und radialen vierten Fingers [4].

Unter dem Pseudo-interosseus-anterior-Syndrom versteht man diepartielle Lasion der posterioren Fa-sern des N. medianus proximal desAbgangs des N. interosseus anteriorunter Aussparung der sensiblen An-teile [26].

Die Ursachen des Interosseus-an-terior-Syndroms sind vielfaltig. Ta-belle 1 zeigt die aus der Literatur zu-sammengestellten Falle der Nerven-lasion im Zusammenhang mit kindli-chen supracondylaren Humerusfrak-turen. Eren et al. fuhrten 3 weitereFalle einer Schadigung des N. int-erosseus anterior bei supracondyla-ren Humerusfrakturen auf, teilten je-doch nicht mit, ob es sich dabei umkindliche Frakturen handelte [10].

Weitere Ursachen konnen stump-fe Traumen (z. B. Motorradunfall,Treppensturz), ungewohnte und in-tensive mechanische Belastungen (z.B. schweres Heben, Tatigkeiten mitstarker Belastung des Ellenbogenswie Rohrebiegen), Druckeinwirkun-gen (z. B. Tragen einer Tasche,Schreiben in ungewohnlicher Hal-tung), iatrogene Maßnahmen (z. B.Injektionen, Pflasterzug, Platten-osteosynthese des Radius) oder Ner-venentzundungen sein. Desweiterenwurde es als postpartales Symptomund im Rahmen systemischer Er-krankungen beschrieben [2, 14, 29].

Nicht immer konnen jedoch me-chanische oder traumatische Ein-flusse fur das Auftreten eines N.-int-erosseus-anterior-Syndroms verant-wortlich gemacht werden, in fast derHalfte der Falle kam es zu einemspontanen Ausfall uber Nacht [14].Als weitere Ursachen fanden sichnach operativer Freilegung Tumo-ren, wie ein Neurom des N. medi-anus, Lipom oder Fernmetastasen,aberrierende Bander und einengen-de Sehnenarkaden, Gefaßanomalienund eine Gefaßthrombose [1, 22].

Fallbericht

Ein 7 jahriger Junge zog sich nach einemSturz auf den linken Ellenbogen eine supra-condylare Humerusfraktur zu. In einemauswartigen Krankenhaus erfolgte primarein geschlossener Repositionsversuch mitanschließender Ruhigstellung in einem„Cuff-and-collar-Verband“. Da unter die-sen Maßnahmen keine zufriedenstellendePosition erreicht werden konnte, kam derJunge mit einer Verzogerung von 2 Tagenin unsere Klinik zur weiteren Therapie.

A. Joist et al.: Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom beim Kind 739

Abb.1. Topographische Anatomie des N.medianus und Abgang des N. interosseusanterior. 1 = N. medianus; 2 = A. brachialis;3 = N. radialis; 4 = N. interosseus anterior;5 = A. radialis; 6 = N. ulnaris

Abb. 2. Lagebeziehung des M. pronatorteres zum N. medianus. 1 = N. medianus;2 = M. pronator teres; 3 = N. radialis;4 = A. brachialis; 5 = A. radialis

Tabelle 1. N.-interosseus-anterior-Syndrombei kindlichen supracondylaren Humerus-frakturen, Synopse uber 25 Falle

Autoren Anzahlder Falle

Warren (1963) [27] 2

Spinner u. Schreiber (1969) [23] 6

Galbraith u. McCullough(1979) [12] 1

Moehring (1986) [18] 1

Pirone (1988) [20] 2

Bamford u. Stanly (1989) [3] 3

Dormans et al (1995) [9] 7

Geutjens (1995) [13] 3

Page 3: Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom nach supracondylärer Humerusfraktur beim Kind

Bei Aufnahme fand sich eine massiveSchwellung uber dem linken Ellenbogenmit stark schmerzhafter Einschrankung derBeweglichkeit, klinisch erschien der distaleHumerusbereich verkurzt und einge-staucht. Die mitgereichten Rontgenaufnah-men zeigten eine supracondylare Humerus-fraktur mit erheblicher Dislokation(Abb.3). Die Durchblutung und Sensibilitatwaren intakt, es fiel jedoch schon die man-gelnde Beugefahigkeit der Fingerendglie-der des Daumens und des Zeigefingers auf.Aufgrund der extremen Schwellung im lin-ken Ellenbogenbereich war eine sofortigeoperative Versorgung nicht moglich, so daßabschwellende Maßnahmen eingeleitetwurden und 6 Tage nach dem Unfallereig-nis die verzogerte Osteosynthese mittels ei-ner offenen Reposition und Kirschner-draht-Osteosynthese vorgenommen wer-den konnte.

Die postoperative Rontgenkontrollezeigte ein anatomisch korrektes Repositi-onsergebnis (Abb. 4).

Nach der operativen Versorgung be-stand klinisch weiterhin ein N.-interosseus-anterior-Syndrom, das nach Abschluß derWundheilung elektromyographisch gesi-

chert werden konnte (Abb. 5, 6). Der sonsti-ge weitere postoperative Verlauf war kom-plikationslos, so daß nach 5 Wochen dieMaterialentfernung vorgenommen werdenkonnte. Die nach 6 Wochen durchgefuhrtenneurologischen Kontrolluntersuchungenzeigten eine zunehmende Remission derN.-interosseus-anterior-Symptomatik, sodaß auf eine operative Revision mit Freile-gung und Neurolyse des Nervens verzichtetwurde. Zehn Wochen nach dem Traumakonnte der Junge mit voller Kraft im End-gelenk des Daumens und Zeigefingers beu-gen (Abb.7).

Diskussion

Erstmalig wurde die von Kiloh undNevin 1952 als peripheres Nerven-kompressionssyndrom erkannte iso-lierte Lasion des N. interosseus ante-rior als Folge von Frakturen vonSpinner [23] und Warren [27] be-schrieben. In den folgenden Jahrenwurde das Syndrom wiederholt imZusammenhang mit supracondyla-ren Humerusfrakturen gesehen.Dormans [9] fand bei 200 Kinderndieses Frakturtyps 7 N.-interosseus-anterior-Syndrome neben weiterenNervenlasionen. Geutjens [13] be-schrieb 3 Falle im Zusammenhangmit kindlichen supracondylarenFrakturen des Humerus. Galbraithund McCullough [12] fanden bei1540 geschlossenen oder disloziertenFrakturen in einem Fall und Pirone[20] bei 230 Kindern in 2 Fallen eineN.-interosseus-anterior-Symptoma-tik. Moehring [18] beobachtete dieLasion bei einer nicht reponiblen su-pracondylaren Fraktur des Humerus.

Es gibt jedoch mehrere Studienmit großeren Fallzahlen, die uberkeine N.-interosseus-anterior-Symp-tomatik als posttraumatische Kom-plikation berichten. So konnte Culp[6] bei 101 Kindern in 13 % der Falleeine Nervenlasion nach supracondy-larer Humerusfraktur beobachten,fand aber keine isolierte Schadi-gung des N. interosseus anterior.D’Ambrosia [7] beschrieb 7 Schadi-gungen der Armnerven bei 74 Frak-turen, und Dodge [8] fand bei 48Kindern in 13 % Nervenlasionen beikindlichen supracondylaren Hume-rusfrakturen ohne ein N.-interos-seus-anterior-Syndrom. Die Beob-achtungen von Flynn [11] uber einenZeitraum von 16 Jahren, in dem bei72 Kindern eine geschlossene Repo-

sition mit Kirschnerdrahtspickungdurchgefuhrt wurden, ergab in 8 Fal-len neurologische Komplikationenohne den Nachweis einer N.-interos-seus-anterior-Lasion.

Wir glauben, daß die Diagnosemanchmal in Unkenntnis dieser sel-tenen Nervenlasion nicht gestelltwird. Hinzu kommt, daß bei Kinderndie Diagnosestellung schwierig seinkann, da der motorische Funktions-verlust hinter der akuten Schmerz-symptomatik zurucksteht und jedeBewegung vermieden wird. Aus chir-urgischer Sicht steht die vasculare Si-tuation und eine zugige Versorgungder Fraktur im Vordergrund.

Es gibt 2 Haupterklarungen bzgl.der Atiologie des N.-interosseus-an-terior-Syndroms im Zusammenhangmit supracondylaren Humerusfrak-turen. Die am haufigsten vertreteneAuffassung ist die indirekte Schadi-gung des Nervens durch Zugkrafteim Rahmen des Traumas. Es handeltsich nicht um ein Compartmentsyn-drom wie das Karpaltunnelsyndromnach distaler Radiusfraktur. Auchergeben die bis jetzt veroffentlichtenFallbeschreibungen keinen Hinweis

A. Joist et al.: Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom beim Kind740

Abb.3. Unfallbild: stark dislozierte supra-condylare Humerusfraktur

Abb.4. Postoperative Rontgenaufnahmenach Reposition und Kirschnerdraht-Osteosynthese

5

6

Abb.5, 6. Mangelnde Beugefahigkeit imEndgelenk des linken Daumens und Zeige-fingers als Folge der Parese des M. flexorpollicis longus und des M. flexor digitorumprofundus II

Abb.7. Vollstandige Ruckbildung derN.-interosseus-anterior-Symptomatik linksnach 10 Wochen

Page 4: Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom nach supracondylärer Humerusfraktur beim Kind

auf die Gefahr einer Einklemmungdes N. interosseus anterior in denFrakturspalt, was bei der Abzwei-gung des Nervens distal des Ellenbo-gengelenkes unwahrscheinlich er-scheint.

Daruber hinaus wird diskutiert,daß es zu einer Schadigung des po-sterioren Anteils des N. medianusproximal des Abgang des N. interos-seus anterior direkt im Bereich derFraktur kommt. Die partielle Lasionwird auch Pseudo-interosseus-ante-rior-Syndrom genannt [25].

Wir schließen uns dieser Erka-rung nicht an, da schon Spinner undSchreiber ausfuhrten, daß eine totaleLahmung des Flexor pollicis longusund des Flexor digitorum profundusII ohne Sensibilitatsverlust als Aus-druck einer isolierten Schadigungder posterioren Medianusfasern un-ter Aussparung aller sensiblen Fa-sern als unwahrscheinlich anzusehenist [23].

Als weiteren atiologischen Faktorschlug Geutjens vor, daß eine vor-ubergehende Ischamie neben derTraktion und Kontusion des N. me-dianus das posttraumatische N.-int-erosseus-anterior-Syndrom bei kind-lichen supracondylaren Humerus-frakturen begunstigen wurde [13].In diesem Fall muß diskutiert wer-den, ob das ischamiebedingte reakti-ve Odem im Sinne eines voruberge-henden Compartmentsyndroms dieSymptomatik verstarkt.

Die Prognose mit spontaner Re-mission des posttraumatischen N.-interosseus-anterior-Syndroms nachsupracondylarer Humerusfraktur ist– wie auch fruhere Untersuchungenzeigten [3, 12, 17, 20, 23, 28] – gun-stig, ohne daß eine chirurgische In-tervention erforderlich ist. Eine Frei-legung des Nervens war nicht erfor-derlich, und es kam in einem Zeit-raum von 8 Wochen bis 3 Monatenzu einer vollstandigen Ruckbildungder neurologischen Ausfalle.

Die geringen Fallzahlen lasseneine endgultige Therapieempfeh-lung bzgl. des operativen und kon-servativen Vorgehens jedoch nichtzu, so daß bei Dislokation und Ein-stauchung der supracondylarenFraktur mit posttraumatischem Hin-weis auf eine direkte Schadigungdes N. medianus oder bei deutlichprolongierter Reinnervation ohne

eindeutige elektromyographischerBesserung nach 6–8 Wochen eineFreilegung und operative Revisionindiziert erscheint [24]. Das Wissenuber die typische klinische Sympto-matik und die gunstige Prognose derLasion des rein motorischen Astesdes N. medianus erleichtert die arzt-liche Fuhrung der Eltern und deskindlichen Patienten.

Literatur

1. Assmus H, Hamer J, Martin K (1975)Das Nervus-interosseus-anterior-Syn-drom. Nervenarzt 46: 659

2. Axmann HD, Mailander P (1995) DasInterosseus-anterior-Syndrom aus chir-urgischer Sicht. Nervenarzt 66: 610

3. Bamford DJ, Stanly D (1989) Anteriorinterosseus nerve paralysis: an underdi-agnosed complication of supracondylarfracture of the humerus in children. In-jury 20: 294

4. Bayerl W, Fischer K (1979) Das Prona-tor-teres-Syndrom. Handchirurgie 11: 91

5. Buck-Gramcko D, Nigst O (1992) Ner-venkompressionssyndrome. In: Buck-Gramcko D, Nigst O (Hrsg) Die hand-chirurgische Sprechstunde. Hippokra-tes, Stuttgart, S 20

6. Culp RW, Osterman AL, Davidson RS,Skirven T, Bora FW (1990) Neural inju-ries associated with supracondylar frac-tures of the humerus in children. JBone Joint Surg Am 72: 1211

7. D’Ambrosia RD (1972) Supracondylarfractures of the humerus – preventionof cubitus varus. J Bone Joint Surg Am54: 60

8. Dodge HS (1972) Displaced fractures ofhumerus in children – Treatment byDunlop’s traction. J Bone Joint SurgAm 54: 1408

9. Dormans JP, Squillante R, Sharf H(1995) Acute neurovascular complica-tions with supracondylar humerus frac-tures in children. J Hand Surg Am 20: 1

10. Eren S, Bruser P, Meyer-Clement M(1983) Ergebnisse bei der Behandlungdes Nervus interosseus Anterior-Kom-pressionssyndromes. Handchirurgie 15:221

11. Flynn JC, Matthews JG, Benoit RL(1974) Blind pinning of displaced su-pracondylar fractures of the humerus inchildren. J Bone Joint Surg Am 56: 263

12. Galbraith KA, McCullough CJ (1979)Acute nerve injury as a complication ofclosed fractures or dislocations of the el-bow. Injury 11: 159

13. Geutjens GG (1995) Ischaemic anteriorinterosseus nerve injuries following su-pracondylar fractures in children. Injury26: 343

14. Huffmann G, Leven B (1976) N. interos-seus anterior-Syndrom. Bericht uber 4

eigene und 49 Falle aus der Literatur. JNeurol 213: 317

15. Kawabata H, Masada K, Kawai H,Masatomi T (1991) Rupture of theflexor pollicis longus in v. Recklingshau-sen’s disease. J Bone Joint Surg Am 16:666

16. Mahring M, Semple C, Gray IC (1985)Attritional flexor tendon rupture due toa scaphoid non union imitating an ante-rior interosseus nerve syndrom. A casereport. J Hand Surg Br 10: 62

17. McGraw JJ, Behrooz AA, Hanel DP,Keppler L, Burdge RE (1986) Neuro-logical complications resulting from su-pracondylar fractures of the humerus inchildren. J Pediatr Orthop 6: 647

18. Moehring HD (1986) Irreducible su-pracondylar fracture of the humeruscomplicated by anterior interosseusnerve palsy. Clin Orthop 206: 228

19. Penkert G (1983) Interosseus anterior-Syndrome. Handchirurgie 15: 223

20. Pirone AM, Graham HK, Krajbich JI(1988) Management of displaced exten-sion type supracondylar fractures of thehumerus in children. J Bone Joint SurgAm 70: 641

21. Spinner M (1970) The anterior interos-seus-nerve syndrome. J Bone Joint SurgAm 52: 84

22. Spinner M (1970) The anterior interos-seus nerve syndrome with special atten-tion to its variations. J Bone Joint SurgAm 52: 84

23. Spinner M, Schreiber SN (1969) Anteri-or interosseus-nerve paralysis as a com-plication of supracondylar fractures ofthe humerus in children. J Bone JointSurg Am 51: 1584

24. Spinner M (1978) Injuries to the majorbranches of peripheral nerves of theforearm, 2nd edn. Saunders, Philadel-phia, p 160

25. Stern PJ, Fassler PR (1993) Anterior in-terosseus nerve compression syndromIn: Gelbermann (ed) Operative nerverepair and reconstruction. Lippincott,Philadelphia, p 983

26. Sunderland SS (1978) Nerves and nerveinjuries, 2nd edn. Churchill Livingstone,New York, p 695

27. Warren JD (1963) Anterior interosseusnerve palsy as a complication of forearmfractures. J Bone Joint Surg Br 45: 511

28. Wilkins KE (1984) Fractures and dislo-cations in the elbow region. In: Rock-wood CA (ed) Fractures in children.Lippincott, Philadelphia, p 374

29. Zilch H (1983) Isolierte Lahmung desM. flexor pollicis longus nach Platten-osteosynthese des Radius. Unfallheil-kunde 86: 407

Dr. A. JoistKlinik und Poliklinikfur Unfall- und HandchirurgieWestfalische Wilhelms-UniversitatWaldeyerstraße 1D-48149 Munster

A. Joist et al.: Posttraumatisches Nervus-interosseus-anterior-Syndrom beim Kind 741


Recommended