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Pollmann, Leo - Literaturwissenschaft und Methode, 2. Aufl. (Athenäum Fischer, 1971, 316pp)

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Fischer Athenäum Taschenbücher Leo Poilmann Literaturwissenschaft und Methode Literaturwissenschaft
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Fischer Athenäum Taschenbücher

Leo Poilmann

Literaturwissenschaft und Methode

Literaturwissenschaft

Ziel der Studie ist ein Aufriß der im Titel angesprochenen Pro­blematik. ln einem ersten, theoretischen Teil werden Literatur, Wissenschaft und Methode in ihrem wechselseitigen Verhältnis definiert. Der methoden-historische Teil zeichnet am Modell der Beschäftigung mit französischer Literatur den Weg der Literaturwissenschaft bis zur Jahrhundertmitte nach, erläutert dabei in empirisch-historischem Verfahren Grundvoraussetzun­gen literaturwissenschaftlicher Methoden. Der dritte, methoden­kritische Teil widmet sich systematisch den Grundmöglichkei­ten, die heute im Rahmen dessen, was Poilmann das »werk­transzendierende Paradigmacc nennt, zur Diskussion stehen.

Leo Poilmann hat eine Professur für romanische Literaturwis­senschaft an der Universität Erlangen.

Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag

Leo Poilmann

Literaturwissenschaft und Methode

Zweite, verbesserte Auflage

Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag

Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag GmbH & Co., Frankfurt am Main 2. Auflage 1973

Alle Rechte vorbehalten © 1971 by Athenäum Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Umschlagentwurf Endrikat +Wenn Gesamtherstellung Clausen .& Bosse, Leck (Schleswig)

Printed in Germani ISBN 3-8072-2007-X

VORWORT

Diese Einführung in die Problematik der Literaturwissen­schaft und ihrer Methoden geht auf eine Vorlesung mit pa­ralleler Diskussionsveranstaltung zurück, die ich im SS 1970 an der Universität Erlangen gehalten habe. Schon bei der Vorbereitung dieser Vorlesung, erst recht bei den lebhaften Diskussionen mit meinen Studenten und Mitarbeitern, wurde mir bewußt, wie notwendig es ist, angesichts der allgemei­nen Unsicherheit, die auf diesem Gebiete herrscht, über Ziel, Zweck, Sinn und Gegenstand der Literaturwissenschaft und nicht zuletzt auch ihrer Methoden nachzudenken und Ant­wort auf die in diesem Zusammenhang bestehenden bren­nenden Fragen zu suchen und, wenn möglich, zu finden. Wohl ist in jüngster Zeit manche Studie erschienen, die hier orientierend wirken kann, doch fehlt bislang eine Einfüh­rung in die Gesamtproblematik von Literaturwissenschaft und Methode.

So h::.t Jost Hermand in seinem Band Synthetisches Inter­pretieren (München 1968, 2. Aufl. 1969) "Zur Methodik der Literaturwissenschaft" (so lautet der Untertitel) Stellung genommen, dabei aber die grundsätzliche Problematik litera­turwissenschaftlicher Methoden ausgeklammert und sich im wesentlichen darauf beschränkt, einen zweifellos sehr wert­

.. vollen und nützlichen historischen überblick über einige Grundmöglichkeiten literaturwissenschaftlicher Methode zu geben, um dann als Konsequenz seiner Betrachtung das syn­thetische Interpretationsprinzip zu postulieren und dabei der geschichtlichen Perspektive einen bedeutenden Platz an­zuweisen. Manon Maren-Grisebach ihrerseits geht in ihrem Bändchen Methoden der Literaturwissenschaft (Bern und München 1970) den sozusagen entgegengesetzten Weg. Sie sieht von der Geschichte der Methodenentwicklung ab,

6 Vorwort

möchte nur prinzipielle Möglichkeiten aufzeigen, "so wie sie sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben" (S. 7), läßt dabei "die literaturwissenschaftliche Spielart, Motive in der Literatur aller Zeiten zu sammeln, zu vergleichen" (S. 8) ebenso außer acht wie etwa die Textedition, Toposforschung, Stilistik, Semiotik, Nouvelle Critique und New Criticism und bringt es so auf sechs überzeitliche Methoden, die posi­tivistische, die geistesgeschichtliche, die phänomenologische, die existentielle, die morphologische und die soziologische Methode, zu denen sie je einige Belege vornehmlich deut­scher Provenienz und beliebiger Zeiten sammelt, nicht ohne hie und da doch recht nützliche Perspektiven zu öffnen. Die so brennenden Fragen nach dem, was die Methoden der Literaturwissenschaft1 zu begründen und zu rechtfertigen ver­mag und die nach ihrem Ertrag, werden auch hier nicht gestellt. Erwin Leibfried, Kritische Wissenschaft vom Text (Stuttgart 1970), widmet sich einem Teilproblem, dem einer systematisch fundierten Textwissenschafl:, wobei die bestehen­den Methoden der Literaturwissenschaft kaum mehr als den kontrastiven Rahmen zu seinen anregenden, aber auch frag­würdigen Vorstellungen von kritischer Wissenschaft abgeben. J oseph Strelka seinerseits bringt in V ergleichende Literatur­kritik. Drei Essays zur Methodologie der Literaturwissen­schaft (Bern und München 1970) drei Essays, in denen er auf der Auffassung der Literatur als Aussage im Symbol (nach Frye etc.) aufbauend, hinsichtlich der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks die Position lngardens bezieht und es zur vornehmsten Aufgabe von Literaturkritik, Literatur­geschichte und Literaturtheorie erklärt, das Humanum "zu deuten, zu entwickeln und zu verbreiten" (S. 89); der Be­griff und Anspruch Literaturwissenschaft entfällt dabei be­zeichnenderweise, außer im Untertitel. Eine germanistische Autorengruppe schließlich (Jürgen Hauff u. a., Methoden­diskussion, Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft, 2 Bde., Ffm 1971) liefert ein nützliches einschlägiges Arbeitsbuch mit

Wenn im folgenden der Begriff Literaturwissenschaft begegnet, ohne noch systematisch abgeklärt zu sein, ist er im weiten Sinne verwendet, umfaßt er also auch die Literaturgeschichte, soweit sie methodisch betrieben wird.

Vorwort 7

Textbeispielen (und methodisch sehr bedenklichen Frage­bögen), das unter den Überschriften Positivismus, Formalis­mus, Strukturalismus, Hermeneutik und Marxismus einige literaturwissenschaftliche Modelle behandelt, insbesondere ihre theoretischen Voraussetzungen und Implikationen re­flektiert.

Es erübrigt sich wohl zu betonen, daß in allen diesen Fäl­len die speziellen Belange des Romanisten nahezu unberück­sichtigt bleiben, obwohl auch hier in jüngster Zeit manches geschah. Werner Krauss versuchte schon 19 50 (Literatur­geschichte als geschichtlicher Auftrag, in: Studien und Auf­sätze, Berlin 1959) die Literaturwissenschaft zu einer Be­sinnung auf ihre historische Aufgabe aufzurufen; Karl Mau­rer tangierte den Fragenkomplex in seinem Aufsatz "Der gefesselte Prometheus. Tradition und Schöpfung im Urteil der modernen Literaturwissenschaft" (ASNSL, Bd. 201, 1965; S. 401 ff.); Hans-Robert Jauss, der in seiner kleinen Schrift Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwis­senschaft (Konstanz 1967, jetzt ed. suhrkamp 118, 1970) der rezeptionsästhetischen Methode das Wort geredet hatte, ver­sucht, durch das Vorbild der Physikgeschichte hierzu ange­regt, einen analogen Paradigmenwechselliteraturwissenschaft­ficher Methoden nachzuweisen (Linguistische Berichte 3, 1969).

Es liegen also wertvolle Vorarbeiten vor im Hinblick auf das Thema, das wir uns gestellt haben~ Auf der anderen Seite beeinträchtigen aber diese Vorarbeiten in keiner Weise die Dringlichkeit der Aufgabe, die im folgenden in Angriff genommen werden soll. Denn einmal können die drängen­den Fragen nach Sinn und Relevanz literaturwissenschaft­licher Tätigkeit überhaupt nach diesen Arbeiten noch nicht als hinreichend bzw. zufriedenstellend beantwortet gelten, sodann erhält der Studierende in den genannten Beiträgen, so wichtig und nützlich sie sein mögen, noch kein Mittel in die Hand, das ihm erlaubt, sich selbst auf einen Stand der Methodenreflexion zu bringen, der ihm gestattet, sich, in Kenntnis der Sache, selbst für eine Methode zu entscheiden, künftig die Ergebnisse anderer und die Wege, die zu ihnen führten, durchschauen zu können und sich ein Bild zu machen von der Wahl, die er mit einer bestimmten Methode trifft.

8 Vorwort

Diesem Ziel aber soll dieses Buch dienen. Es soll nicht ein­fach Methoden zur Auswahl bieten, soll auch nicht in eine bestimmte Richtung lenken, sondern in die Gesamtproble­matik einführen und über die Darbietung eines möglichst umfassenden Spektrums literaturwissenschaftlicher Methoden den einen zur Mündigkeit führen, dem anderen überblick verschaffen, allen aber den Eindruck vermitteln, daß diese Literaturwissenschaft ein gemeinsames Anliegen aller Betei­ligten sein sollte und sie dies zu sein oder zu werden ver­dient.

Erlangen, im März 1972

INHALTSVERZEICHNIS

Vorbetrachtung 13

I. Theoretischer Teil 23

1. Von Seinsweise und Funktion der Literatur. 24 Was ist Literatur? S. 24 - Zur Geschichte des Begriffs Literatur S. 26 - Die im Begriff Literatur bedeutete Wirklichkeit S. 29 - Zur Aussagehaftigkeit von Lite­ratur im engeren Sinn S. 36 - Die schöne Literatur als "monologische" Kommunikation S. 39 - Die Kon­stituierung der schönen Literatur S. 42 - Die schöne Literatur zwischen Besonderem und Allgemeinem S. 44 - Die schöne Literatur in ihrem Verhältnis zur außer­literarischen Wirklichkeit S. 45 - Von der Wahrhaf­tigkeit der schönen Literatur S. 48 - Von der Ge­schichtlichkeit schöner Literatur S. 49 - Die Funktion der Basis von Literatur S. 53

2. Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft? . 54 Vom Nutzen der Literaturwissenschaft S. 54- Gefah-ren für die Wirksamkeit der Literaturwissenschaft S. 59 - Lite.raturwissenschaft und Literaturunterricht S. 60 - Von Sinn und Problematik der Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft S. 62 - Ein Exkurs (Zur Ge­schichte des Wissenschaftsbegriffs) S. 66 - Zur augen­blicklichen Situation der praktischen Wissenschaften und der Literaturwissenschaft insbesondere S. 69 - Litera­turwissenschaft und Forschung S. 71

3. Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft . Hermeneutik und Empirie S. 73 - Deutakt und Fest­stellungsakt S. 76 - Subjektivität und Objektivität S. 78 - Verfahren zur Kompensation der Subjektivi­tät S. 81 - Folgerungen für das weitere Verfahren s. 84

73

10 Inhaltsverzeichnis

li. Methodengeschichtlicher Rückblick (1800-1950) 86

1. Zur Vorgeschichte literaturwissenschaftlicher Methoden im 19. Jahrhundert . 86 Anfänge oder Vorspiel? S. 86 - Die erste Phase (Kri-tik als Sache der Dichter) S. 90 - Die Herausdifferen­zierung der Sekundärliteratur S. 91 - Sainte-Beuve zwischen Theorie und Praxis S. 93 - Die ersten Vor­zeichen einer Literaturwissenschaft (1850-1870) S. 95 - Die Gründerjahre oder die Einleitung der Wende (1870-1890) s. 99

2. Die Jahrhundertwende oder die Wende nach Innen . Die Notwendigkeit der Wende S. 107- Dilthey S. 108 - Benedetto Croce S. 110 - Der Vosslersche Idealis­mus S. 112 - Poetik, Rhetorik und Stil S. 113 - Die Introduction a la methode de Leonard de Vinci S. 114 - Antipositivistische Kritik S. 114 - Die Philologie S. 118 - Joseph Bedier, Les Fabliaux (1892) S. 120 -Neue Wege einer alten Liebe S. 122

3. Vom ersten zum zweiten Avant-Guerre (1911-1938) Allgemeiner überblick über die Entwicklung S. 125 - Die russischen Formalisten S. 132 - Der Prager Strukturalismus S. 138 - Der frühe Leo Spitzer (1914-1930) S. 140- Der frühe Curtius S. 144- Die werkimmanente Methode von Leo Spitzer S. 146

4. Im Bannkreis des Zweiten Weltkriegs (1936-1949) Doppelte Buchführung S. 150 - Ernst Robert Curtius und die Toposforschung S. 153 ...:... Hugo Friedrich und Erich Auerbach S. 156 - Weitere Aspekte der Zeit­spanne 1936-1949 S. 159

107

125

150

Inhaltsverzeichnis 11

Ill. Gegenwartsbezogener, systematisch-kritischer Teil. 163

<ParadigmawechseL in der Literaturwissenschaft? 163

1. Methoden mit der Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte der Literatur . 172 Poetik und Hermeneutik S. 173 - Rhetorik und Her­meneutik S.176- Stoff-, Motiv-, Themen-, Mythen- und Sujetforschung (allgemein) S. 180 - Stoff-, Mythen- und Motivforschung (insbesondere) S. 192 - Themenfor­schung S. 198 - Mikrokosmische und makrokosmische Strukturen (Sprache und Aufbau) S. 199 -Der Struk­turalismus (einleitende Definition) S. 203 - Der reine Strukturalismus S. 205 - Der empirische Strukturalis-mus S. 207- Der literarische Strukturalismus S. 214-Vom literarischen zum empirischen Strukturalismus s. 218

2. Methoden mit der Grundorientierung auf das Werk . Von der Langue zur parole poetique (zur Stilistik) S. 221 Von der Stilistik zur Werkinterpretation (Stil und Zu­ordnung) S. 226 - Einige Methoden der Werkinterpre­tation S. 229- Werkimmanenz und Werktranszendenz S. 237- Werkimmanenz und Strukturalismus S. 241-Die "analyse structurale" S. 241 - Die "analyse du pluriel" S. 245

3. Methoden mit der Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte . Die "Nouvelle Critique" S. 254 - Die "psychocritique" (Charles Mauron) S. 257 - Die "thematique" (Jean­Paul Weber) S. 260 - Die "thematique existentielle" (J.-P. Richard) S. 261 - Die "critique complhe" (Starobinski) S. 264 - Die "thematique elementaire" (Gaston Bachelard) S. 267 - Die bewußtseinsge­schichtliche Methode (G. Poulet) S. 268 - Die existen­tiell-phänomenologische Methode (Serge Doubrovsky) S. 269 - Von der Problematik der Literatursoziologie S. 272 - Die Grundausrichtungen der Literatursozio­logie S. 278 - Die statistische Literatursoziologie S. 278

221

251

12 Inhaltsverzeichnis

- Die dokumentarisch-historische Literatursoziologie S. 279 - Die hypothetische Literatursoziologie S. 283 - Die Literaturgeschichte S. 289

Bibliographie .

Personenregister

Sachregister

295

303

308

VORBETRACHTUNG

Es ist kaum zu übersehen, daß sich das, was. die Länder deutscher Zunge Literaturwissenschaft nennen, seit geraumer Zeit im Brennpunkt eines recht kritischen Interesses befindet. Hatte diese Disziplin im Zuge des deutschen Idealismus, der die Dichtung "als höchste Manifestation der schöpferischen Vernunft" begriff!, früh schon eine Schlüsselstellung erreicht, so sieht sie sich jetzt in Frage gestellt, entwickelt sie auf der anderen Seite ganz neue Möglichkeiten und Ansprüche. Es schien sich unter dem Ansturm naturwissenschaftlichen, auf Fakten pochenden Denkens, aber auch unter der Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen zu erweisen, daß sie doch nur eine typische Frucht des Idealismus, sozusagen eine Fata Morgana war. Als eine "inverted pyramid of theory on a pin-point base of reality" charakterisierte sie einmal ein amerikanischer Gelehrter2, und dieser sicher nicht unberech­tigte Ausspruch scheint sich zu bewahrheiten, nachdem die Literaturwissenschaft es sich gefallen lassen muß, danach ge­fragt zu werden, wo denn ihre Wissenschaftlichkeit liege, zu was sie wohl gut sei, ja worin sie überhaupt bestehe und welches ihre Methoden seien. Auf all diese Fragen ist man ganz offensichtlich schlecht vorbereitet3, sie sind zu direkt

Nach M. Wehrli, Allgemeine Literaturwissenschaft, S. 9. (Die Zahlenangaben in Anmerkungen und Text beziehen sich hier wie stets auf die jüngste, in der Bibliographie genannte Aus­gabe. Voll zitiert wird nur, wenn das Werk nicht Aufnahme in die Bibliographie fand).

2 R. H. Fife (nach Wehrli, ebda, der die genaue Quelle nicht angibt).

3 Ein plastisches Bild davon liefert W. Killy mit seinem Artikel "Wozu eigentlich Literaturwissenschaft?", Die Zeit, 20. Februar 1970.

14 Vorbetrachtung

und unvermittelt für eine Disziplin, die es nicht nötig hatte, sich zu begründen.

Auf der anderen Seite aber erlebt die gleiche Disziplin parallel zu dieser Infragestellung und dieser Hilflosigkeit in grundsätzlichen Fragen gerade in jüngster Zeit einen unge­ahnten Aufschwung, erschließt sie sich neue Möglichkeiten wissenschaftlicher Arbeit, findet sie die Öffnung zu anderen Disziplinen, zur Soziologie, zur Philosophie, zur Psycholo­gie, zur Ethnologie, zur Linguistik und gar zur Mathematik (der Band Mathematik und Dichtung, München 1965, die Sammlung "Dialog" und die Zeitschrift Sprache im techni­schen Zeitalter können als repräsentativ für letztere Öffnung gelten). All das geschieht aber, wenn wir einmal von Diskus­sionen im Umkreis der Nouvelle Critique, vom Struktura­lismus und einem Damaso Alonso absehen, ein wenig über die noch ungeklärte Problematik der Literaturwissenschaft selbst hinweg. Mit anderen Worten, die Prämissen dieser Erneuerung sind nicht oder noch nicht hinreichend geprüft worden. Wendet man sich aber ungewappnet diesen Fragen zu, dann kann es einem ergehen wie vielen, die schon der Resignation verfallen sind: alles gerät ins Wanken, nichts hält mehr der Korrosion der Frage nach dem Sinn und der epistemologischen Haltbarkeit stand4 • Hier muß daher, auf die Gefahr mancher Ernüchterung hin, zunächst einmal an­gesetzt werden.

Die erste Ernüchterung, die wir dabei hinnehmen müssen, ist diejenige, daß die Länder deutscher Sprache nahezu allein in der Welt stehen mit ihrem Begriff Literaturwissenschaft und dem Anspruch, den dieser enthält. Das muß uns zu den­ken geben. In Frankreich finden wir die Begriffe "philolo­gie" und "critique", aber eine "science de la litterature" wird höchstens einmal in der Umgebung von Roland Barthes diskutiert, sei es als Fernziel, dem die N ouvelle Critique

4 Typisch für diese Unsicherheit ist etwa der Fall eines Aufsatzes über Science et scientificite sur l'objet litteraire, den Denis Guenon im Bulletin de la Fac. des Lettres de Strasbourg (Nr. 48, 1969/70, S. 147 ff) herausbringt und dem er bei den Kor­rekturen, dreiviertel Jahr nach der Abfassung, ein N. B. bei­fügt, in dem er die Ausführungen aus inzwischen geänderter Perspektive erheblich relativieren muß.

Vorbetrachtung 15

zusteuert oder als unmittelbare Zielvorstellung des Struktu­ralismus5. In England und Amerika spricht man im allge­meinen bescheiden von "Literary Criticism" oder von "Literary Scholarship", wird höchstens einmal in avant-gar­distischen Kreisen, im Zusammenhang mit dem Struktura­lismus, die Möglichkeit eines "literary criticism as a science" erwogen6• Auch in Italien, Spanien und Portugal würde man vergeblich nach einer entsprechend anspruchsvollen offi­ziellen Bezeichnung für die Beschäftigung mit Literatur Um­schau halten. Gewiß kann man hie und da einem Terminus wie "ciencia de la literatura" begegnen, diskutiert Damaso Alonso in seinem Buch Poesfa espafiola die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft, schreibt er dieser den Wirklichkeitswert eines "lobenswerten Wunsches" (S. 402)7 zu; aber im großen und ganzen - im Grunde ja auch hier - verhält sich die Romania sehr renitent gegenüber diesem Terminus und die­sem Anspruch. Bezeichnend ist beispielsweise, daß weder die portugiesische noch die nach dieser modellierte spani­sche Übersetzung von Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk, das den Untertitel "Eine Einführung in die

5 Es ist hierbei allerdings zu bedenken, daß "science" im aktuel­len Gebrauch des angelsächsischen und romanischen Sprachbe­reichs fast ausschließlich auf die experimentellen Naturwissen­schaften beschränkt ist. Die historische Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften dürfte also bei der Vermeidung des Ter­minus "science de la litterature" eine große Rolle spielen. Wenn im Kreis von Barthes, der ja in seiner Semiotik analytische Methoden der Linguistik zu adaptieren sucht, der Begriff "science de la littchature" auftaucht, ist das sehr bezeichnend für seine Tendenz, die Grenzen zwischen den komplementär zu verstehenden analytischen und hermeneutischen Verfahrenswei­sen der Literaturwissenschaft zu verwischen. Weitere Literatur hierzu in: L. B. Zwickau, Relations of Literature and Science. Selected bibliography for 1959 and 1960, in Symposium 15, 1961, s. 311-319.

6 Vgl. etwa als konträre Meinungen Harry Levin, Why literary criticism is not an exact science, Cambridge Mass. 1966 und John V. Hagopian, Literary criticism as a science, Topic VI, 1966, XII, S. 50-57.

7 Seitenzahlen im Text verweisen stets auf die in der Bibliographie genannte Ausgabe.

16 Vorbetrachtung

Literaturwissenschafl:" trägt, den Versuch einer Einbürgerung des Begriffs Literaturwissenschafl: unternimmt; man faßte stattdessen das Ganze, Ober- und Untertitel, in einem neuen, synthetischen Titel zusammen als "An:Hisis y critica de la obra literaria". Und was die englische Übersetzung des Wer­kes anbetrifft, die ein New Yorker Verlag in Vorbereitung hat, so dürfl:e diese in dieser Hinsicht kaum entgegenkom­mender ausfallen8• Wir stehen hier also ganz offensichtlich nach einem guten Jahrhundert literaturwissenschafl:licher Ambitionen immer noch auf verlorenem Posten, betreiben eine Disziplin, deren Bezeichnung, abgesehen von der Schüt­zenhilfe des Strukturalismus, kaum Aussichten hat, auch nur als Exportartikel in Ländern romanischer oder angelsächsi­scher Sprachen geduldet zu werdenD.

Allerdings heißt das nicht, daß wir nun mit dieser Ambi­tion ganz allein auf der Welt stünden. Wir haben, soweit ich sehe, neben Damaso Alonso, der nur der Stilistik wissen­schafl:liche Ansprüche zubilligt (Poesfa espanola, S. 401), dem Strukturalismus, der mit Jakobsan die "etudes litteraires", eben die Beschäfl:igung mit allgemeinen linguistischen Aspek­ten der Literatur, nicht aber die dem Individuellen gewid­mete "critique" als "science" sieht10 und mit Roland Barthes, Tzvetan Todorov u. a. die Möglichkeit einer "poetique" als "science de la litterature" ins Auge faßt11, doch wenigstens

8 Das entnehme ich einer freundlichen Mitteilung von U. Weis­stein, der die Übersetzung durchführt.

9 Peter Szondi vermerkt zu dieser Zurückhaltung: "Daß sie ihr Geschäft nicht als Wissenschaft verstehen, zeugt vom Bewußt­sein, daß die Erkenntnis von Werken der Kunst ein anderes Wissen bedingt und ermöglicht, als es die übrigen Wissenschaf­ten kennen." In den angelsächsischen Ländern z. B., so erklärt er diesen Unterschied, habe man eben "im Gegensatz zur deut­schen Literaturwissenschaft, den hermeneutischen Problemen sich immer wieder zugewandt", I. A. Richards' The Philosophy of Rhetoric und William Empsons Seven Types of Ambiguity führt er als Beweise hierfür an (Über philologische Erkenntnis, s. 10 ff).

10 Vgl. S. 50 ff das zu Roman Jakobsan Gesagte. 11 Vgl. R. Barthes, Critique et verite, S. 56 ff; T. Todorov,

Poetique, in Qu'est-ce que le structuralisme?, S. 99-165 so-

Vorbetrachtung 17

einen, und zwar einen gewichtigen Verbündeten, die ruSSl­schen Formalisten.

Zwar verwenden die einschlägigen deutschen Obersetzungen recht großzügig den Begriff der Literaturwissenschaft ~ in vielen Fällen stellt sich bei Oberprüfung des russischen Ori­ginaltextes heraus, daß in Wirklichkeit nicht von Literatur­wissenschaft sondern etwa von Wissenschaftlichkeit der Beschäftigung mit der Literatur die Rede ist12 -, aber auf der anderen Seite kann man doch in einer Reihe von Fällen positiv feststellen, daß der Begriff Literaturwissenschaft (literaturnaja nauka) verwendet wird, mehr noch, daß die­ses Ziel einer wirklichen Literaturwissenschaft den russischen Formalisten tatsächlich vor Augen steht. Es ist im übrigen kaum anzunehmen, daß es sich dabei um eine sozusagen autochthon russische Ambition des Terminus handelt, da die russischen Formalisten die Entwicklung der deutschen Lite­raturwissenschaft aufmerksam verfolgt haben, jedenfalls nicht unabhängig von ihr sind. Aber es ist doch auch bezeichnend, daß gerade sie den Terminus aufgriffen und mit einem neuen Anspruch füllten, denn ihnen geht es - worin sie Vorläufer des Strukturalismus sind -vorwiegend um theo­retische, formalisierbare Aspekte der Literatur. Bedenken wir aber, daß dieser große Verbündete nur zwischen 1914 und 1930 seine Ambition entwickelte, er dann, teils aus Erlahmung der tragenden Impulse, teils unter Druck, ver­stummte bzw. sich anderen Gegenständen zuwandte, um im Strukturalismus neu aufzuleben, dann mag sich wohl der Eindruck des auf-verlorenem-Posten-Stehens erneut in den Vordergrund schiebenls.

Und wenn wir nun glauben, daß, sozusagen als Ausgleich hierfür, "die Nation" geschlossen hinter dieser Angelegen­heit stünde, sie zur ihren gemacht hätte, dann ist auch dies

wie generell die Tendenz der Zeitschrift Poetique. Bezeichnend ist auch, daß die Collection Pm\tique eine neue Reihe, Points­Seiences humaines, herausbringt.

12 Das gilt nicht für die sorgfältige zweisprachige Ausgabe Texte der russischen Formalisten im Fink-Verlag.

13 Zur Renaissance des Strukturalismus in Rußland, die nach 1962 einsetzt, vgl. T. Todorov, La poetique en U. R. S. S., in Poe­tique 9, 1972,5.102 ff.

18 Vorbetrachtung

eine Illusion. Ein Blick in einige heute gängige "Einführun­gen in das Studium der Romanistik" würde uns bald beleh­ren, daß nicht einmal dort die Existenz, geschweige denn der Ruhm dieser Disziplin und die Möglichkeit der Beschäf­tigung mit ihr überhaupt erwähnt werden. Sicher liegt das im Fall der Einführung in das Studium der Romanischen Philologie von Gerhard Rohlfs (2. Aufl. Heidelberg 1966) und der Einführung in das Studium der Romanistik von Rupprecht Rohr (2. Aufl. Berlin 1968) ein wenig daran, daß die Verfasser Linguisten sind: das macht sie vorsichtig und, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, mißtrauisch gegenüber ei­nem solchen Begriff. Aber auch die lntroduction aux hudes de philologie romane (3. Aufl. Frankfurt am Main 1965) von Erich Auerbach, einem Forscher, dem die Literatur wohl am Herzen lag, würde uns im Stich lassen; und wenn wir sein Vorwort zu Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung (Bern 19 51) hinzunehmen, dann er­fahren wir, warum das so ist. Wie schon der Titel - lntro­duction aux hudes de philologie romane - zu erkennen gibt, versucht Auerbach den Gesamtbereich der Romanistik von seiner Wurzel her zu fassen, der "philologie", der Beschäfti­gung mit dem· Text, in dem sich, Sprache und Literatur be­gegnen. " [ ... ] die Literaturforschung hat von alters her ihre eigenen Methoden, die philologischen, und das sind die ein­zigen, die ich für erforderlich halte. Man muß Grammatik und Lexikographie, Quellenbenutzung und Textkritik, Bi­bliographie und Sammeltechnik lernen; man muß lernen, sorgsam zu lesen. Alles übrige ist nicht Methode, denn es ist nicht lehrbar [ ... ] " (Vorwort, S. 9). Das ist ein ebenso har­tes wie entschiedenes Wort, das "alles übrige" nicht lehr­baren Forscherqualitäten überantwortet, und zwar der "Weite des Bildungshorizontes", dem "Reichtum der eigenen Erfahrung, zu deren Erwerb das Schicksal mitwirken muß" und schließlich dem "Blick für das, was Bergsan (und ihm folgendE. R. Curtius) faits significatifs" genannt hat (ebda). Verhielte es sich grundsätzlich und nicht nur in den Sonder­fällen elitärer, die Entwicklung vorantreibender Forschung nach dem Typ von Leo Spitzer und Erich Auerbach so, dann dürfte und könnte man Literaturwissenschaft nicht lehren, müßte die Disziplin, wie in Frankreich, Philologie lauten,

Vorbetrachtung 19

wäre die Aufgliederung der Philologen in Literaturwissen­schaft und Linguistik, die ein Faktum ist, zu revidieren.

Wenn man bedenkt, daß 1897 Ernst Elster schon soweit war, ein Werk Prinzipien der Literaturwissenschaft zu ver­öffentlichen, daß 1884 Gustav Körting in seiner Enzyklo­pädie und Methodologie der Romanischen Philologie die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Literatur auf eine Ebene mit der linguistischen stellte und August Boeckh gar 1877 schon seine Enzyklopädie und Methodologie der philo­logischen Wissenschaften veröffentlichte, könnten diese ent­täuschenden Erfahrungen deprimierend wirken. Aber sie ha­ben auch ihr Gutes: sie sollten uns mit einem nützlichen Quantum Skepsis gegenüber dem Begriff der Literaturwis­senschaft erfüllen und in dem Vorhaben bestärken, der Sache auf den Grund zu gehen.

Machen wir in diesem Sinne einmal die Gegenprobe, fra­gen wir uns, ob wir, abgesehen vom erwähnten Begriff "philologie", den wir als unzureichend empfanden, etwa "Literaturkritik" oder "Literaturgeschichte" an die Stelle setzen könnten, dann werden wir dies wohl auch verneinen müssen. Keiner der beiden Begriffe deckt sich mit dem, was wir mit Literaturwissenschaft meinen. Auch entfällt bei ih­nen etwas, von dem wir spüren, daß es im Begriff Litera­turwissenschaft nicht nur enthalten sondern auch angebracht war, ja auf das es im Zusammenhang unserer Frage nach den Methoden der Literaturwissenschaft sogar entscheidend ankam: es entfällt in ihnen der Anspruch auf Wissenschaft­lichkeit, und dieser Anspruch, der nicht mit demjenigen, eine Wissenschaft zu sein, einfach gleichzusetzen ist, besteht, das fühlen wir, irgendwie zu Recht. So würde uns denn auch in diesem Fall ein Blick über die Sprachgrenzen hinaus lehren, daß dieser Begriff, derjenige der Wissenschafl:lichkeit, nicht als suspekt gilt, wenn er für die Beschäftigung mit Literatur verwendet wird. Weder das französische noch das englische oder auch das spanische und portugiesische Sprachgefühl würden sich dagegen sperren, das Eigenschaftswort "wissen­schaftlich" auf eine entsprechend methodische, systematisch verfahrende Beschäftigung mit Literatur anzuwenden. Selbst Gustave Lanson, der in seiner Schrift Methodes de l'histoire litteraire mit der Ambition der "science" streng ins Gericht

20 Vorbetrachtung

geht, erhebt doch selbst Anspruch auf "esprit scientifique". Hier ist also der Consensus über die Grenzen des deutschen Sprachbereichs hinaus wieder möglich; und das ist bedeut­sam. Ist vielleicht das, was wir da betreiben, was uns als Studium, Forschung oder Lehre lockt, wissenschafUich zu nennen, ohne noch im eigentlichen eine Wissenschaft zu sein?

Die Berechtigung dieser Frage ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn Wissenschaft die Gesichertheit von methodisch gewonnenem und systematisch dargebotenem Wissen meint, dem Bedeutung zukommt für die menschliche Gesellschaft14

(und das ist der geltende Begriff von Wissenschaft, sofern man nicht gar so weit geht, die Mathematisierbarkeit als Kriterium für wissenschaiUiches Wissen anzusetzen), dann ragt das, was wir Literaturwissenschaft nennen, nur zu ei­nem Teil in Wissenschaft hinein, gibt es bei zahlreichen Stu­dien, die unter diesen Begriff fallen, nur hie und da einmal ein Körnchen Wahrheit, das als Wissenschaft in diesem Sinn gelten könnte. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die­ser Zustand ideal oder auch nur unabänderlich wäre, aber andererseits ist es doch sicher auch utopisch anzunehmen, daß die Literaturwissenschaft als Ganzes, als Disziplin, die­sen Aspekt ablegen und zu einer exakten, streng systemati­schen oder objektiven Wissenschaft werden könnte; wenn man auch andererseits einem Peter Szondi, der sagt, das philologische Wissen dürfe "gerade um seines Gegenstandes willen nicht zum Wissen gerinnen" (Über philologische Er­kenntnis, S. 12) wird entgegenhalten müssen, daß auch er nicht der Disziplin im Ganzen gerecht werde. Sie wird dies immer nur für Teilbereiche erreichen können.

Auf der anderen Seite wird man sich beim Einblick in eine dieser literaturwissenschaftliehen Studien, die so wenig objektiv zu nennende Ergebnisse zeitigen, schnell davon überzeugen können, daß es dem Autor sehr wohl um Wis­senschaft geht und er wissenschaftlich vorgeht oder doch vor-

14 Eine Wissenschaft am lächerlichen oder unbedeutenden Gegen­stand wäre zweifellos nicht denkbar. Die Wissenschaft ist da­her auch nicht denkbar ohne das Interesse, das sie trägt. Neue Interessen führen zu neuen Wissenschaftszweigen, so etwa im Augenblick zur Gerontologie (Altersforschung).

Vorbetrachtung 21

gehen möchte. Die Meinung, daß es sich dabei um ein bloßes Spiel, um die einzuhaltende Spielregel, eben der Wissen­schaftlichkeit, handle, ist wohl mit Sicherheit auszuschließen. Zwar ist hie und da ein gewisser Spielcharakter zu beobach­ten, sei er nun auf Vergnügen an der Sache, auf wissen­schaftlichen Eros sozusagen, zurückzuführen oder auf Selbst­ironie als verborgene Skepsis, aber bloßes Spiel ist das nicht. Es handelt sich eben um eine Wissenschaftlichkeit, die auf Wissen aus ist, sich aber - zum mindesten bis zur Stunde -nur zu einem Teil in tatsächliches Wissen umsetzen kann. Es handelt sich um ein Angespanntsein auf Wissen und Wissen­schaft - "Dem philologischen Wissen ist ein dynamisches Moment eigen", sagt Peter Szondi15 - das anteilmäßig überwiegt gegenüber dem, was wir im engeren Sinn als Wissenschaft bezeichnen.

Das ist zwar auch in anderen, sogar in experimentellen Naturwissenschaften, grundsätzlich der Fall, solange Wissen­schaft noch betrieben, sie nicht als abgeschlossen vorliegt18,

erreicht aber nirgends diesen Grad an Unsicherheit und Vor­läufigkeit, wird auch anderswo nicht so offenbar, weil dort Wissenschaft nur als abgeschlossenes Wissen, nicht aber als Prozeß, sich öffentlich deklariert. Hierin liegt die Erklärung dafür, daß der Begriff der Wissenschaft, auf die Beschäfti­gung mit Literatur angewandt, bisweilen suspekt erscheint, nicht jedoch der der Wissenschaftlichkeit als einer Haltung, die dem umschriebenen Bezogensein auf Wissenschaft eignet und wie wir sie auch in anderen Wissenschaften, in deren Stadium der Vorläufigkeit, vorfinden. Hierin liegt es somit auch begründet oder doch mitbegründet, daß in der Litera-·

15 über philologische Erkenntnis, S. 11. 16 Albert Einstein sagt hierzu (in Mein Weltbild, Frankfurt am

Main 1955): "Wissenschaft als etwas Bestehendes und Abge­schlossenes ist die objektivste Sache, die wir kennen. Aber Wissenschaft, wie sie betrieben wird, Wissenschaft als Ziel, das man verfolgt, ist genauso subjektiv und psychologisch bedingt wie jede andere Art menschlühen Strebens - so sehr sogar, daß auch die Frage "Was ist Sinn und Zweck der Wissen­schaft?" zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Leu­ten ganz verschieden beantwortet wird." (Zit. nach ]. D. Ber­nal, Wissenschaft, Reinbek bei Harnburg 1965, S. 36).

22 Vorbetrachtung

turwissenschaft den Methoden solch entscheidende, aus­schlaggebende Bedeutung zukommt, mehr noch als in ande­ren Disziplinen. Sie entscheiden darüber, ob das, was sich als ein Bezogensein präsentiert, die Chance einer Ankunft hat. Sie sind bis zu einem gewissen Grade Literaturwissen­schaft, sind ihr Vollzug als Bezogensein.

Sollten wir also den Begriff der Literaturwissenschaft als zu ambitiös aufgeben und den der Wissenschaftlichkeit zu­gleich zu erhalten suchen, etwa von "wissenschaftlicher Lite­raturkritik" und von "Methoden wissenschaftlicher Litera­turkritik" oder "Methoden wissenschaftlicher Beschäftigung mit Literatur" sprechen? Aber hieße das nicht den eigent­lichen Problemen ausweichen, denen wir uns so oder so stellen müssen, dem zum Beispiel, ob unser Tun, sei es nun Wissenschaft oder nicht, einen Sinn hat? Die relative Ver­selbständigung des Bezogenseins und die Frage nach dem, was dabei herauskommt, war es ja, was den Begriff Wissen­schaft suspekt machte17• Bedeutete eine solche Konsequenz nicht auch, allzu leichtfertig mit literaturwissenschaftliehen Leistungen umgehen, von denen man sagen kann, daß sie Wissenschaft im Sinne methodisch erworbenen, gesicherten Wissens sind? Der Fall ungesicherten Wissens ist ja nicht der Fall der Literaturwissenschaft schlechthin, sondern nur ein freilich häufig begegnender Aspekt derselben. Schließlich ist noch zu bedenken, daß eine weithin geltende Auffassung von Wissenschaft möglicherweise historisch geworden ist und sie auf das, was wir Literaturwissenschaft nennen, nicht un­bedingt, wenn überhaupt, Anwendung finden kann.

17 Wie naheliegend es ist, über diesen Fragen das Vertrauen in den Anspruch auf Wissenschaft zu verlieren, hebt etwa auch R. Escarpit hervor (La definition du terme "litttfrature"), der meint, der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erübrige sich, wenn der Begriff Literatur einmal konsequent aufgehellt werde (S. 89). Vgl. auch H. Weinrichs geistreich-skeptische Thesen zur Sache in Literatur für Leser, Stuttgart 1971, S. 7 ff.

I. THEORETISCHER TEIL

Ziel dieses einleitenden Teiles soll es sein, die in der Frage nach den Methoden der Literaturwissenschaft implizierten Grundgrößen "Literatur", "Literaturwissenschaft" und "Me­thoden der Literaturwissenschaft" auf allgemeiner Basis· ab­zuklären. Das geschieht einmal wegen der in der Vorbemer­kung erwähnten situationeil bedingten Notwendigkeit, diese zum Teil in Bedeutung, Wirksamkeit und Berechtigung um­strittenen Begriffe abzuklären, sodann, weil nur so die fol­genden methodenspezifischen Teile auf feste Vorstellungen zurückgreifen können, und schließlich aus grundsätzlichen methodischen Erwägungen heraus. Es soll nämlich in dieser Studie die systematische Darstellung und Durchleuchtung eines Sachbereiches und seiner Problematik erfolgen. Das aber ist nur möglich, wenn keine der maßgeblich beteiligten Größen im Dunkeln bleibt. Mit anderen Worten, hier schon, bei den Prämissen, muß und soll die Systematik beginnen. Naturgemäß wird dabei die Wirklichkeit, die zu oft als selbstverständlich und unproblematisch gegeben vorausge­setzt wird, die Literatur selbst, die Frage nach ihrer Seins­weise und Funktion, mit Abstand im Vordergrund stehen. Dies nicht nur, weil sie der faszinierende Gegenstand ist, um den es uns, auch bei der Frage nach Methoden der Literaturwissenschaft, zuerst und zuletzt zu tun ist, sondern weil Methoden nur dann sinnvoll und erfolgversprechend angesetzt werden können, wenn wir, in groben Umrissen, wissen, welchem Gegenstand sie gelten. Wir dürfen nicht von einer zu analysierenden Sache erwarten, daß sie sich nach der Methode richte, sich ihr sozusagen beuge, sondern die Methode muß sich, zum mindesten in ihrem Ansatz, nach der Sache richten. Wir werden noch sehen, daß es eine recht schwierige Kunst ist, diese erste methodische Faustregel

24 Theoretischer Teil

im Rahmen der Beschäftigung mit Literatur zu respektieren, werden sehen, wie sehr diese Schwierigkeiten in der Natur der Sache liegen, deren Erkenntnis literaturwissenschaftliche Methoden gelten, in der Literatur.

1 VON SEINSWEISE UND FUNKTION DER LITERATUR

Was ist Literatur?

Diese Frage, der Jean-Paul Sartre aus anderer Perspektive einen vorzüglichen Essay gewidmet hat, klingt einfach, ist aber nicht so leicht zu beantworten, wie es den Anschein hat. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns unter den Lösungsversuchen umschauen, die zu dieser Frage geboten wurden. So hat man vorgeschlagen, alles Gedruckte darun­ter zu verstehen, aber dann wäre selbst ein Vorlesungsver­zeichnis Literatur. Andere glaubten, den Wert als Maßstab zugrunde legen zu können, indem sie etwa nur "große Werke" als Literatur anerkannten. Aber auch das geht nicht an. Auch schlechte Literatur ist Literatur, so wie man einem schlechten Lehrer doch zugestehen muß, daß er Lehrer ist. Mit anderen Worten; die Definition kann nicht zugleich ein Werturteil zur Voraussetzung haben. Rene Wellek und Austin Warren kommen in Theorie der Literatur der Sache schon näher, wenn sie sagen: "Der Begriff ,Literatur' scheint am besten definiert, wenn man ihn auf die Kunst der Litera­tur, d. h. auf schöpferische Literatur beschränkt" (S. 16). Allerdings bleibt diese Definition unscharf, und bei den sich daran anschließenden Bemühungen, sie über eine Abgren­zung des literarischen vom alltäglichen und wissenschaft­lichen Sprachgebrauch zu erhellen, unterlaufen ein paar Mißgriffe, die den Ansatz fragwürdig machen. Die Sprache der Wissenschaft ist in der Tat nicht leicht von derjenigen der Literatur grundsätzlich zu unterscheiden. Es scheint mir je­denfalls vom Standpunkt der Literaturwissenschaft aus nicht unbedingt zu treffen, daß "die vorbildliche Sprache der Wissenschaft rein bezeichnend" sei (S. 17), ganz abgesehen da von, daß das Epitheton "vorbildlich" sich nicht sonder­lich gut in einer Definition ausnimmt. Vossler, Auerbach,

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 25

Curtius, Friedrich und selbst Leo Spitzer, um nur einige bedeutende Romanisten zu nennen, wären dann schlechte oder doch nicht vorbildliche Wissenschaftler, weil sie auch den gekonnten Stil, auch die Geschlossenheit eines Werks anstrebten, weil sie, im Unterschied zu anderen, als Wissen­schaftler lesbar bleiben wollten und ihre wissenschaftlichen Untersuchungen in die Dimension der Literatur hineinragen ließen. Fragwürdig ist auch, wenn dann im Zuge einer Ab­grenzung von der Alltagssprache herausgearbeitet wird, die Haupteigenschaft der Literatur liege in ihrem besonderen Bezug zur Wirklichkeit, der derjenige des "Scheins", des "Erdichteten", des "Erfundenen" sei (S. 20)1. Das gilt zwar für große Teile der Literatur (und da auch nur, sofern man unter Wirklichkeit die außerhalb des Bewußtseins liegende Realität versteht; von der inneren Wahrhaftigkeit her gese­hen, liegen die Dinge ganz anders); es gilt, so betrachtet, für den Roman, trifft aber, um nur ein besonders markantes Beispiel herauszugreifen, nicht zu für einen dokumentari­schen Recit wie Sirnone de Beauvoirs Une mort tres douce, in dem bis ins Detail hinein das Sterben der Mutter, so wie es sich zugetragen hat, berichtet wird, wo also das 11Satz·­getragene Bedeutungsgefüge" (G. Müller) mit seinen Bedeu­tungen aus dem Gefügeraum in die Realität hinausweist. Es gilt auch nicht für autobiographische Schriften, gilt ebenso­wenig für Tagebücher oder für die Geschichtsschreibung eines Augustirr Thierry; es gilt, um nur noch ein letztes Beispiel aufzuführen, nicht einmal für die Essais von Montaigne.

Mit den Begriffen Wahrheit und Schein ist also ebenso­wenig eine Begriffsbestimmung der Literatur zu erreichen wie über die Bemühung von Wertmaßstäben. Die Literatur muß als das, was sie positiv ist, definiert werden, und nicht durch bloße Abgrenzung gegenüber dem, was sie nicht ist.

In ähnlith.er Richtung bewegt sich Günther Müller in seinem grundlegenden Aufsatz "über die Seinsweise der Dichtung". Er definiert: "über das Sein von satzgetragenen Bedeutungs­gefügen kommt kein literarisches Werk hinaus" (S. 145). Hier ist das Gemeinte, die Fiktion, zu eng, das wirklich Gesagte zu weit für die Sache. Denn ein satzgetragenes Bedeutungsgefüge ist auch noch der Text eines Journalisten (vgl. auch weiter unten).

26 Theoretischer Teil

Mit anderen Worten, nur Wege, wie sie die russischen For­malisten, der Prager Kreis, der New Criticism, Northrop Frye und Roland Barthes auf je eigene Weise gingen, kön­nen hier zum Ziele führen.

Zur Geschichte des Begriffs Literatur

Fragen wir uns zunächst einmal, ob nicht das Wort "Litera­tur", seine Etymologie und Wortgeschichte, uns Hinweise geben können für eine solche Definition.

Das erste, was wir hier feststellen können, ist, daß das Wort Literatur als Sammelbegriff für das, was wir unter Literatur verstehen, recht späten Datums ist. Die Belege dafür reichen nicht vor das 18. Jhdt. zurück (und auch da ist noch streng zu unterscheiden zwischen dem deutschen und dem romanischen inklusive angelsächsischen Begriff Literatur). Da Begriffe meist die Funktion haben, Sachen zu bezeichnen, darf angenommen werden, daß Literatur auch als Sache, als Wirklichkeit, erst im 18. Jhdt. entdeckt wird. Tun wir einen kurzen Rückblick, um uns dessen zu vergewis­sern2.

Die Antike hat ganz offensichtlich den Begriff Literatur, wie wir ihn verstehen, nicht gekannt, weder die griechische noch die lateinische. Man verwendete dort einen noch all­gemeineren Begriff, litterae bzw. ta grammata, was zunächst ganz einfach der Plural von "Buchstabe" ist, sodann aber auch alles umfaßt, was in einer Buchstabenfolge Ausdruck finden kann: Dokumente, Protokolle, ganz allgemein Ge­schriebenes, aber auch Literatur und Wissenschaft. Auch Aristoteles verfügt somit in seiner Dichtkunst nicht über einen Begriff Literatur. Sein Begriff der Poiesis, der Dich­tung, umgreif!: nur jene Gattungen dessen, was wir Litera­tur nennen, in denen eine Mimesis vorliegt, eine Nach­ahmung, und zwar eine Nachahmung als Gestaltung han­delnder Personen; er schließt also beispielsweise das, was wir unter Lyrik verstehen, ebenso aus wie etwa die Mora-

2 Die folgenden Hinweise zur Antike nach K. Hamburger, Die Logik der Dichtung, S. 16 ff.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 27

listik. Das Etymon für Literatur, lat. litteratura, findet sich zwar schon bei Cicero, doch in der Bedeutung "Schrift", "Alphabet", und bei Quintilian, also im ersten nachchrist­lichen Jahrhundert, bedeutet es soviel wie "Grammatik" und "Kunst des Schreibens", grammatice, quam in latinum transferentes litteraturam vocaverunt (/nst. orat. II, 1, 4), ist es also nahezu ein Synonym für Linguistik. Im Mittel­alter sodann bezeichnet litteratura den Bereich der gramma­tica, der ersten Disziplin unter den Septern Artes liberales, welche der Einübung sprachlicher Formeln und stereotyper Wendungen dient3• Im Mittelalter auch, im 12. Jhdt., begeg­net das Wort erstmals in seiner altfranzösischen Entspre­chung; doch heißt es dort so viel wie "ecriture"; im 14. Jhdt. finden sich erste Belege für die Bedeutung "Bildung" - was wir als ersten Hinweis darauf ansehen könnten, daß der Begriff Literatur sich auf eine bestimmte Funktion von "ecriture" in der Gesellschaft hin orientiert; Ende des 17. Jhdts. wird es in Frankreich (Littre) auf "le corps des gens de lettres" angewendet, als Bezeichnung für all diejenigen, die mit Literatur beschäftigt sind, die sozusagen eine Kör­perschaft im Staat bilden. Im 18. Jhdt. dann findet dieses Heranreifen eines neuen Begriffs für eine neue Sache in der Geburt des modernen, heute noch geltenden Begriffs der Literatur im weiteren Sinn (vgl. S. 29) seinen Abschluß. Die­ser Begriff löst zwar nicht die bis dahin geltenden einschlä­gigen Begriffe, wie beispielsweise "poesie", ab, sondern er überwölbt die bis dahin üblichen, engeren, zumeist mit der Hierarchie der Gattungen verbundenen Termini, verkündet sozusagen über ihre Köpfe hinweg die Mündigkeit der Lite­ratur als einer neuen, von Wertmaßstäben freien, gesell­schaftlich relevanten Wirklichkeit. Die Zeit der klerikalen und höfischen Instanzen und der damit verbundenen doktri­nären Einordnung in ein normatives Gefüge ist in diesem Begriff zwar nicht überwunden aber doch überspielt durch eine neue, aus einem anderen Blickwinkel erfolgende, die normativen Wertmaßstäbe einebnende Sicht. (Daß bei die­ser "Revolution", die der politischen um ein gutes Stück

3 Dazu E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mit­telalter, S. 52 ff.

28 Theoretischer Teil

vorangeht, die Verlagerung des für die Literatur maßgeb­lichen Publikums vom Hof zu den Salons und zu interes­sierten Privatleuten, gesellschaftliche Bewegungen also, eine entscheidende Rolle gespielt haben, ist selbstverständlich\ aber auch die geistigen, hierdurch dialektisch herausgeforder­ten Initiativen des "Siede des lumieres" und des ausgehen­den 17. Jhdts. dürften maßgeblich dazu beigetragen haben.)

Beachten wir aber, um uns dem Begriff "litterature" wieder unmittelbar zuzuwenden, daß dieser nicht mit dem entsprechenden deutschen Begriff deckungsgleich ist. Robert formuliert ihn folgendermaßen in seinem Dictionnaire:

litterature. Les reuvres ecrites, dans Ia mesure ou elles portent Ia marque de preoccupations esthetiques; !es connaissances, !es acti­vites qui s'y rapportent5•

Unter den Begriff "litterature" fallen hier auch das Stu­dium der Literatur und literarische Bildung bzw.literarisches Können, die Handhabung der entsprechenden "Kunst". Das ist beim französischen Begriff "litterature" (und Analoges gilt für die anderen romanischen Sprachen, für das Spa­nische, das Italienische und' das Portugiesische, um nur die wichtigsten zu nennen, aber auch für das Englische) mit zu bedenken. Im Petit Larousse lesen wir ganz entsprechend:

Litterature n. f. Connaissance des ouvrages et des regles litteraires: avoir une vaste litterature. La carriere des lettres. Ensemble des productions litteraires d'un pays, d'une epoque.

Der romanische Begriff Literatur hat also das Erbe der Grammatica - Erlernbarkeit, Regeln, Normen - wie es

4 Das betont mit Recht D. Harth (Philologie und praktische Phi­losophie. Zum Sprach- und Traditionsverständnis des Erasmus von Rotterdam, München 1970, Kap. V.), wobei er auf Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 4. Auf!. Berlin 1969, S. 48 f, verweist.

5 Belege nach Paul Robert, Dict. alphabhique et analogique de la Iangue francaise. Weitere Belege zur Sache in FEW (Dict. etym. de la Iangue fram;aise, hg. von W. v. Wartburg und 0. Bloch), im Französischen etymol. Wörterbuch, hg. v. W. v. Wart­buch sowie im Littre (Dict. de la Iangue franr;aise, 7 Bde, Paris 1956-58) und bei Robert Escarpit (La definition du terme "lit­terature").

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 29

mit dem Begriff litteratura verbunden war6, nie verloren. Und darin liegt ein entscheidender Unterschied zwischen der deutschen und der romanischen Konzeption dessen, was wir heute Literatur nennen, mit begründet7• Der deutsche Begriff. "Literatur" hat dieses für Frankreich so wichtige Erbe zum Nutzen der begrifflichen Klarheit, vielleicht aber auch, weil es für deutsche Literatur tatsächlich nicht so ent­scheidende Bedeutung gewinnt, abgeworfen8• Er vermengt nicht den subjektiven und den objektiven Aspekt der Sache, faßt nicht Beschäftigung mit dem Gegenstand und Gegen­stand in eines, sondern bezeichnet nur letzteren. Er ist daher im Vergleich zum französischen Begriff "litterature" (dem die Termini literatura, letteratura etc., auch englisch Iitera­ture entsprechen) sinnvoller für die Grundlegung einer Lite­raturwissenschaft9.

Die im Begriff Literatur bedeutete Wirklichkeit

Was nun dieses deutsche Wort "Literatur", das wir zu­grundelegen wollen, anbetrifft, so sind bei ihm zunächst zwei Grundanwendungsmöglichkeiten zu unterscheiden, eine selbständige und eine unselbständige.

Unselbständig und damit uneigentlich ist der Begriff Lite­ratur verwendet, wenn ich von Fachliteratur, Sekundär­literatur, Literatur zum Fall X etc. spreche. Literatur in diesem weitesten Sinn des Wortes ist beispielsweise eine rein zweckdienliche Abhandlung, ist Fachliteratur, die keine Am­bition entwickelt außer derjenigen der Sachlichkeit. Fach-

6 Dazu auch A. Buck, Der Renaissance-Humanismus und die Wissenschaften, Zs. f. Pädagogik 1, 1955, S. 215 ff.

7 Der angelsächsische Sprachbereich kann zwar, wie gesagt, im Begriff "literature" auch den Aspekt der Lehre umschließen, ist aber hierbei weniger für normatives Denken anfällig als etwa der französische.

8 Und zwar in dem für die Konstituierung von Begriff und Wirk­lichkeit der Literatur so entscheidenden 18. Jhdt.

9 Vielleicht liegt es sogar in der Unschärfe dieser Begriffe mit be­gründet, wenn sie nicht zu einer dem Begriff Literaturwissen­schaft analogen Wortverbindung führten. (Vgl. auch das in der "Vorbemerkung" Gesagte.)

30 Theoretischer Teil

literatur wird eine solche Abhandlung allerdings erst - und auch das ist zu beachten - wenn sie vom Autor oder son­stigen Urheber-Medium losgekoppelt erscheint - was heute vorzugsweise durch die Drucklegung geschieht10 -, wenn sie eine öffentliche, die menschliche Gesellschaft betreffende Angelegenheit geworden ist. Definieren wir:

Literatur im weitesten und unselbständigen Sinn des Wor­tes ist alles fixierte W ortwerk.

Selbständig und eigentlich hingegen ist der Begriff Litera­tur verwendet, wenn er sich selbst genügt, so beispielsweise in dem Satz "Das ist Literatur", wenn dieser im Hinblick auf ein Werk ausgesagt wird. Dieser selbständige Begriff Literatur besagt, um es mit einem Ausdruck der russischen Formalisten zu sagen, daß in einem fixierten Wortwerk über die bloße Sachdienlichkeit hinaus die Sprache als Ei­genwert "spürbar" wird11• Als Beispiel mag hier Joachim du Bellays · Deffence et Illustration de la Iangue francoyse gelten, eine zweckdienliche Abhandlung, die unverkennbar "andere" als nur zweckdienliche Qualitäten sucht. Es genügt, den ersten Satz der Deffence zu lesen, um sich davon zu überzeugen: "Si la Nature (dont quelque personnaige de grand' renommee non sans rayson a doute si on la devoit appeller mere ou maratre) eust donne aux hommes un com­mun vouloir & consentement, outre les innumerables com­moditez qui en feussent procedees, l'inconstance humaine n'eust eu besoing de se forger tant de manieres de parler"12•

Allein der kunstvoll gespannte Satzbau, aber auch die Per­sonifizierung der Natur, die gezierte Umschreibung von Pli­nius dem Xlteren durch "quelque personnaige de grand' renommee", die angeführte auctoritas selbst, rhetorische Figu­ren wie ein ~v a~!X 8uoi:v (vouloir & consentement), eine Metapher (forger) und eine Litotes (non sans rayson) zei­gen das Bemühen um eine der Würde des Gegenstandes angemessene, aber auch als solche die Überzeugungskraft anstrebende, eben rhetorische Sprache. Es liegt hier ein Text vor, in dem, mit Roland Barthes gesprochen, zum "message

10 Diese Bedingung der Loskoppelung und Verfügbarmachung gilt auch für Literatur im selbständigen Sinn des Wortes.

11 Vgl. dazu auch die Ausführungen aufS. 131 ff. 12 Zit. nach Ed. H. Chamard, STFM, Paris 1948, S. 11 f.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 31

denote" ein "message connote" hinzutritt: ersterer besteht in der sachdienlichen Mitteilung, letzterer hingegen liegt im Selbstverweis der Sprache, in dessen Preziosität13• Definieren wir auch hier:

Literatur im eigentlichen und selbständigen Sinn des Wor­tes ist alles W ortwerk, in dem eine über die operative, d. h. unmittelbare Sachdienlichkeit hinausliegende Selbstzuord­nung der Sprache erfolgt14.

Neben diesen beiden Grundanwendungsmöglichkeiten des Begriffs Literatur besteht nun noch ein engerer Begriff der Literatur, der von Wolfgang Kayser, Northrop Frye, vom amerikanischen New Criticism, vom Prager Strukturalismus und anderen, wenn auch größtenteils unausgesprochen, für die Literaturwissenschaft zugrundegelegt wurde, derjenige der schönen Literatur. Literatur in diesem engeren Sinne ist ein Text, in dem die Selbstzuordnung der Sprache die ope­rative Sachdienlichkeit "aufhebt" (Hegel) und an deren Stelle eine Zuordnung auf der Ebene des Textes treten läßt15•

13 Roland Barthes, L'Analyse rhetorique, Litterature et socihe, Bruxelles 1967, S. 31 ff.

14 Roland Barthes, L'Express n° 9,85, Mai 1970, läßt bei diesem Kriterium den "ecrivain" den "ecrivant" ablösen.

15 Northrop Frye formuliert ( Anatomy of Criticism, S. 74): "In literature, questions of fact or truth are subordinated to the primary literary aim of producing a structure of words for its own sake, and the sign-values of symbols are subordinated to their importance as a structure of interconnected motifs. Wher­ever we have an autonomaus verbal structure of this kind, we have literature." Weiter oben heißt es (ebda.): "In descriptive or assertive writing the final direction is outward. [ ... ] In all Ii terary verbal structures the final direction of meaning is inward." Jan Mukarovsky schreibt (Kapitel aus der Poetik, S. 47): "Die Abnahme der unmittelbaren Beziehung zur Re­alität macht aus der Benennung ein poetisches Verfahren." Weiter unten heißt es: "Der Wert der poetischen Benennung besteht allein in der Aufgabe, die sie im semantischen Gesamt­aufbau des Werks erfüllt." Irreführend sind dabei die Wen­dungen "structure of words for its own sake", "autonomous structure", "final direction" und "besteht allein" (Zum Ganzen jetzt auch S. J. Schmidt, Ästhetische Prozesse, Thesen 32, 45, 47; s. 14 ff).

32 Theoretischer Teil

Diese Zuordnung auf der Ebene des Textes schließt keines­wegs unmittelbar operative Sachdienlichkeit im Detail oder auch im Globaleffekt aus, ordnet diese jedoch im Wortwerk selbst einer spezifisch literarischen Struktur und Aussage­weise ein und unter. So kann es beispielsweise in einem modernen Theaterstück oder auch in einem modernen Ge­dicht durchaus der Fall sein, daß der Autor mit einem kon­kreten Satz oder Vers oder auch mit einer ganzen Rede, schließlich auch über den Globaleffekt, operative Sachdien­lichkeit und Wirkung, etwa im politischen oder sozialen Sinne, anstrebt. Aber wenn sein Werk oder sein Text schöne Literatur sein soll, kann es sich hierbei nur um, strukturell betrachtet, untergeordnete Aspekte handeln, die im Zusam­menhang einer zunächst selbstzugeordneten, eine andere Form der Wirksamkeit anzielenden Sprache und Textur ste­hen. Bezeichnend ist es daher, wenn Hans Magnus Enzens­berger in seinem Essay "Gemeinplätze, die Neuere Literatur betreffend" feststellt: "Die bisherigen Versuche, gleichsam mit Gewalt aus dem Ghetto des Kulturlebens auszubrechen und "die Massen zu erreichen", etwa mit den Mitteln des Agitprop-Songs oder des Straßentheaters, sind gescheitert.

·Sie haben sich als literarisch irrelevant und politisch unwirk­sam erwiesen. [ ... ] Die Adressaten durchschauen, auch wenn sie sich keine Rechenschaft davon abgeben, mühelos die schlechte Unmittelbarkeit, das hilflos Kurzschlüssige, den Selbstbetrug solcher Versuche und fassen sie als Anbiederung auf." (S. 192) Solche Versuche mußten sich als literarisch irrelevant erweisen und werden mit Recht von Publikum als schlechte Unmittelbarkeit abgelehnt, denn sie gehen an der Eigenart schöner Literatur vorbei, geben deren Möglichkeit einer noch zu präzisierenden eigenen Weise der Kommuni­kation und Wirkung preis, um (eine die schöne Literatur pervertierende) Unmittelbarkeit zu erreichen. Definieren wir auch hier:

Literatur im engeren Sinn des Wortes, auch schöne Litera­tur genannt, ist alles fixierte Wortwerk, das dank einer den Zweck der operativen Sachdienlichkeit "aufhebenden" (He­gel) Selbstzuordnung der Sprache16 und einer auf der sol­cherart gewonnenen Aussagebasis neu aufbauenden Zuord-

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 33

nung17 eine Gegenständlichkeit und eine Aussagehafl:igkeit eigener Art18 konstituiert.

Es ist im übrigen offenkundig, daß sich mit diesem Begriff der schönen Literatur das Wertdenken im Rahmen des ein­ebnenden neuzeitlichen Literaturbegriffs wieder zu Wort meldet. Der Literaturbegriff im eigentlichen und selbständi-

16 B. Liebrucks (Sprache und Bewußtsein, Frankfurt am Main 1964 f, Bd. 1, S. 228) formuliert in ähnlichem Sinn: "Dem Dichter ist die Sprache wohl auch Mittel, aber zugleich Zweck seines Tuns. Das Gedicht hat seinen Zweck nicht außerhalb seiner selbst, sondern in sich. So ist es aufgehobene Handlung." Einzuwenden wäre nur, daß die hier vorliegende alternative Sicht der Dinge (nicht ... sondern), vor allem wenn wir über den Rahmen der Dichtung hinaus Literatur betrachten, unan­gemessen ist. "Aufgehobene Handlung" ist Dichtung höchstens im Hegelschen Sinn. Vgl. zum Ganzen auch S. J. Schrnidt, der, von W. Preisendanz und M. Irndahl angeregt, den "Ding­charakter", den über die Zeichenhafl:igkeit hinausgehenden Ei­genwert der Gedidltsprache hervorhebt (Alltagssprache und GedichtsSprache, Poetica 2, 1968, S. 291). Wenn ich weiter unten im Text von Gegenständlichkeit eigener Art spreche, meine ich etwas ähnliches: "Dingcharakter" schiene mir als Ausdruck insofern mißverständlich, als Dichtung, aber auch Literatur im engeren Sinne, nicht en-soi ist, sondern objekti­viertes pour-soi (vgl. die folgenden Ausführungen).

17 Wie im Begriff der Selbstzuordnung wohl schon faßbar wurde und die Hinzufügung des Epitheton "aufbauend" erneut un­terstreicht, soll der Terminus "Zuordnung" nicht die Frage nach der Gegebenheit von Harmonie präjudizieren. Der Be­griff der Zuordnung soll vorbehaltlos und irnplikationslos von sich her das in den Blick nehmen, was die russischen Forma­listen, ohne zwischen Selbstzuordnung und aufbauender Zu­ordnung ZU unterscheiden, Verfahren nennen (Victor Schklovs­kij, Texte der russischen Formalisten I, S. 5, während Jurij Tynjanov von "Formung" und "Anwendung eines Konstruk­tionsfaktors auf ein Material" spricht) und was Heinz Otto Burger, ebenfalls ohne in unserem Sinne zu differenzieren, mit .Konjunktion" bezeichnet (Methodische Problerne der Inter­pretation, GRM, N. F. 1, 1950/51).

18 Hier scheint in der Formulierung Wolfgang Kaysers Definition der schönen Literatur als .eigene Gegenständlichkeit" durch (Das sprachliche Kunstwerk, S. 141 f).

34 Theoretischer Teil

gen Sinn des Wortes, wie wir ihn weiter oben definiert haben, vermochte zwar die Wirklichkeit der schönen Litera­tur als Rahmen zu umfassen, konnte es aber andererseits nicht verhindern, daß diese Wirklichkeit kraft ihrer ästhe­tischen Eigengesetzlichkeit1D eine eigene Kategorie bildete, die ihre eigene Definition erheischt. Khnlich verhält es sich ja mit dem Begriff der Dichtung, der auch die Revolution durchaus überlebte und gegenüber der Literatur im engeren Sinne noch eine Rangstufe höher führt. Hier könnte man folgendermaßen definieren: Dichtung ist Literatur, in der Selbstzuordnung der Sprache, neu aufbauende Zuordnung und Aussagehaftigkeit eigener Art bis ins Gewebe des Tex­tes hinein als Dichte spürbar sind20. Dichtung ist Idealfall von Literatur im engeren Sinn des Wortes.

Von den definierten vier Kategorien sind die letzten drei Gegenstände der Literaturwissenschaft. Mit anderen Worten: Gegenstand der Literaturwissenschaft ist Literatur im selb­ständigen und eigentlichen Sinn des Wortes, Und zwar, wie ich betonen möchte, auf allen drei Ebenen, die dieser Begriff umschließt. Man kann sogar sagen, daß ein gewisses Nachhol­bedürfnis hinsichtlich der Basis dieser Literatur im eigent-

19 Dazu Jan Mukafovsky, der hier eine vierte Grundfunktion der Sprache, die ästhetische, ansetzt (Kapitel aus der Poetik, S. 47 f; K. Bühler, Sprachtheorie, Jena 1934, S. 24 ff hatte drei Grundfunktionen unterschieden, die darstellende, die expres­sive und die appellative).

20 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf Paul Valerys treff­liches Wort: "Toutes les parties d'une reuvre doivent ,travail­ler'. Les parties d'un ouvrage doivent ~tre liees les unes aux autres par plus d'un fil" (Litterature, Paris 1930, S. 52). Man könnte hier auch an Marcel Proust denken, der vom Kunst­werk sagt: " ... chaque partie tour a tour re~oit des autres sa raison d'hre comme elle leur impose la sienne" ( A La re­therche du temps perdu, II, Bibl. de la Pleiade, S. 537). - Deut­liches Zeugnis für diese zunehmende Dichte von Literatur im weiteren über Literatur im engeren Sinn bis hin zur Dichtung

_ legen die Tabellen ab, die Jean Cohen (Structure du Langage pohique, Paris 1966) für das Vorkommen von "epithetes im­pertinentes" (S. 121), "epithetes redondantes" (S. 148), "epi­thetes inversees" (S. 189) und "epithetes non evaluatives in­versees" aufstellt.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 35

liehen Sinn des Wortes besteht, da sich die Literaturwissen­schaft bisher überwiegend, ja nahezu ausschließlich der Dichtung und der schönen Literatur gewidmet hat.

Mit dieser einseitigen Beachtung schöner Literatur hängt es auch zusammen, wenn in der traditionellen Gattungs­poetik, bis hin zu Emil Staiger und Wolfgang Kayser, nur drei Grundbegriffe - Lyrik, Epik, Dramatik - begegnen, denen gegenüber W. V. Ruttkowski kürzlich mit Recht die Notwendigkeit einer Erweiterung auf vier postulierte (Die literarischen Gattungen. Reflexionen über eine modifizierte Fundamentalpoetik, Bern und München 1968), mag auch der dabei vorgeschlagene Terminus "Artistik" unglücklich gewählt sein. In der Tat ist das, was Ruttkowski im Sinne hat, weitgehend identisch mit dem, was man die Basis von Literatur nennen könnte, und die man sich bei Annahme von konzentrischen Kreisen als äußersten Ring von Litera­tur (im eigentlichen Sinn) vorstellen kann, dem zum Zen­trum hin die Ringe von schöner Literatur und Dichtung folgen:

Durchgehendes Kennzeichen dieser Basis, die Rhetorik, "aktuelle Literatur", didaktische Literatur (Sprüche z. B.) aber auch Essays, Moralistik im engeren Sinn und politische Chansons umfaßt (soweit die weiter oben definierte Bedin­gung einer Selbstzuordnung der Sprache gegeben ist), ist die Reflexion, das überzeugenwollen, das Sprechen aus eben

36 Theoretischer Teil

dem Abstand, den das Verweilen bei einer bewußtseinstrans­zendenten Sache mit sich bringt21, und es ist unschwer zu erkennen, daß sich dahinter eine vierte Grundhaltung von Literatur überhaupt, auch schöner Literatur und Dichtung, birgt. Gerade die Analyse dieser vernachlässigten Basis des­sen, was Literatur ist22, die Analyse der Peripherie, an der Literatur Literatur zu sein beginnt oder die etwa von Essays oder literarischen Dialogen, die sich ihrer Literarität nach weit über die Basis verstreuen, denen darüberhinaus aber durchaus auch der Zugang zur schönen Literatur, wenn nicht zur Dichtung, offensteht, verspräche Aufschluß über gene­relle Fragen der Literatur. Hier freilich ist nicht der Ort, auf solche Perspektiven, die eine eigene Untersuchung ver­langten, einzugehen. In unserem Zusammenhang ist es dring­licher, die noch anstehende Frage aufzugreifen, was es denn mit der erwähnten Gegenständlichkeit und Aussagehaftig­keit eigener Art von schöner Literatur auf sich habe.

Zur Aussagehafligkeit von Literatur im engeren Sinn

Da Literatur im engeren Sinn zustandekommt über eine "Aufhebung" der bewußtseinstranszendenten Sachdienlich­keit und eine sich auf der solcherart gewonnenen selbstbe­zogenen Aussagebasis neu erhebende Zuordnung, ergibt sich, daß sie keineswegs bestimmten Themen und Sachgebieten

21 Der Grad der Literarität kann dabei recht unterschiedlich sein, was man in der eingefügten Skizze durch entsprechend periphäre bzw. dem Übergang zur schönen Literatur nahe Po­sition symbolisieren könnte.

22 Einen interessanten Sonderfall bietet dabei der Trivialroman, der Fiktion ist, aber dennoch unmittelbar konsumbezogen bleibt (dazu H.-J. Neuschäfer in Poetica 4, 1971, S. 478-514 sowie in Kürze Verf.). Ein völlig anders gelagerter Fall wären die "Einfachen Formen", denen sich Andre ]olles gewidmet hat (Einfache Formen, 2. Aufl. Halle/Saale 1956). Wollte man diesem Fall in der Zeichnung auf S. 33 gerecht werden, so müßte man sie dreidimensional anlegen, zur Walze ergänzen, und die Einfachen Formen unterhalb des Ringes schöner Lite­ratur anbringen.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 37

vorbehalten sein kann. Es genügt, wenn "Aufhebung" und Neuzuordnung von innen her erfolgen. Disziplinen wie Philosophie, Theologie, Rhetorik, Geschichtsschreibung und auch Kritik steht also der Obergang zur schönen Literatur unter den genannten Bedingungen offen. So wählt, um ein besonders einprägsames Beispiel für diesen Vorgang zu bringen, der Geschichtsschreiber Augustin Thierry in seinen Recits des temps merovingiens, nachdem er in einem ersten Teil die Aussageform von Literatur im weiteren Sinn des Wortes gewählt, er hier die operative, unmittelbare Sach­dienlichkeit angezielt hatte, in einem zweiten Teil die spe­zifisch literarische Form des "recit", der Erzählung. Er tut dies bewußt, weil er diese Form für geeigneter hält, gewisse Aspekte der merovingiscben GesellscbaA: zum Aufscheinen zu bringen23 • Er verfolgt also auch hier einen denotativen, histo­riographischen Zweck, glaubt aber diesen Zweck wirksamer erreichen zu können, indem er - von unserem Erkenntnis­stand aus gesprochen - die Sprache sich selbst zuordnet, ihr das unmittelbar Operative nimmt, sie interiorisiert, sie be­reit macht, den Gegenstand vorläufig nicht mehr als bewußt­seinstranszendenten, sondern als bewußtseinsimmanenten zu meinen, als Vorgestelltes, Erinnertes, Erzähltes, kurz, als "im" Bewußtsein Vorgefundenes. Die Aussage wird so auf die Ebene der Bewußtseinsimmanenz und der Sprache ver­lagert, etwas zeitgemäßer ausgedrückt, auf die der Phäno­menologie und gewinnt sowohl gegenüber der Sache als auch gegenüber dem Leser eine neue Position. Einmal trifft sie den Leser nunmehr unmittelbar als im Leseakt voll­zogene, bewußtseinsimmanente oder sagen wir lieber rein phänomenologische Wirklichkeit24 ; sodann hat sie sich auch insofern in Vorteil gesetzt, als sie im Hinblick auf den

23 Vgl. die "Preface" ZU den Recits des temps merovingiens. Zum Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung vgl. jetzt auch Klaus Heitmann, Das Verhältnis von Dichtung und Ge­schichtsschreibung in älterer Theorie, Archiv für Kulturge­schichte 52, 1970, S. 244-279.

24 Hierzu könnte man auch die Überlegungen heranziehen, die Marcel (Proust) im Garten von Combray über die "lecture" anstellt (Du cote de chez Swann, zit. Ausg. S. 82 ff).

38 Theoretischer Teil

zu sagenden Sachverhalt den Abstand des denotativen Be­zeichnens und die damit notwendigerweise verbundene Ein­seitigkeit der Perspektive überwunden hat. Die schöne Li­teratur kann, da sie ihren Gegenstand buchstäblich "vor Augen" hat, diesen von allen Seiten beleuchten, während Theorie und Reflexion ihn naturgemäß nur je von einer Seite treffen25• Ein Traktat über "Wahlverwandtschaften" z. B. vermöchte sein Objekt nur je operativ in einem Aspekt und erst durch Häufung der Ansätze in mehreren Aspekten zu treffen, Goethes W ahlverwandtschafien aber setzen die­sen Gegenstand als Ganzes, ja als Lebendiges gegenwärtig.

Die schöne Literatur kann so eine bedeutende Darstel­lungs- und damit indirekt auch Erkenntnisfunktion26 aus­üben, die beispielsweise ein C. G. Jung im Sinn hat, wenn er seinem Buch Erinnerungen Träume Gedanken die Gestalt eines literarischen Werks gibt und hierzu im Prolog ver­merkt: "Was man der inneren Anschauung nach ist, und was der Mensch sub specie aeternitatis zu sein scheint, kann man nur durch einen Mythus ausdrücken. Er ist individueller und drückt das Leben genauer aus als Wissenschaft"27• Auch Pla­ton kann uns ein wertvolles Zeugnis liefern für Literatur als Medium einer Aussage, die in der operativ bezeichnen­den Sprache, wie sie der Wissenschaft vornehmlich zukommt, nicht mehr austragbar ist. Platon läßt nämlich Phaidon als Augenzeugen des Sterbens von Sokrates berichten, daß die­ser sich im Gefängnis, in unmittelbarer Erwartung des Todes

25 Dazu meinen Aufsatz Roman und Perzeption, GRM XXI, 1971, S. 306-316. - Zum Verhältnis von Logos und Mythos vgl. auch aus allgemeiner Sicht A. Huxley, Literature and Science sowie H. v. Hentig, Spielraum und Ernstfall.

26 Diese Erkenntnisfunktion wird von den Vertretern des New Criticism immer wieder mit Recbt betont (vgl. Ausführungen S. 158 f), wenn diese auch andererseits sicher zu Unrecht -wohl durcb den Gegenstand der Dichtung im engeren Sinn, aber auch durch den geistesgeschichtlichen Standort hierzu ver­leitet - die historische "irrelevance" solcher Erkenntnis be­haupten.

27 Erinnerungen Träume Gedanken von C. G. jung, aufgezeic~­net und herausgegeben von A. Jaffe, Zürich und Stuttgart, 4. Aufl. 1967, S. 10.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 39

und der letzten Dinge ein Schreibtäfelchen geben ließ und seine ersten Verse schrieb, er sich so der schönen Literatur zuwandte. Auf die Frage, warum er dies tue, habe Sokrates geantwortet, es sei ihm im Traum nahegelegt worden, sich der Musik zu widmen. Ursprünglich habe er angenommen, daß ihm durch dieses Traumgesicht bedeutet werde, sich noch eifriger der ihm so vertrauten Musenkunst der Philo­sophie zu widmen, aber nachdem nun sein Todesurteil fest­stehe, habe er erwogen, ob nicht der Traum doch "diese gewöhnliche Musik", d. h. die Dichtung meine, und so habe er begonnen, die Fabeln des Äsop in Verse zu setzen28•

Diese Episode stellt Platon nicht ohne Grund an den Anfang eines Dialogs, in dessen Verlauf Sokrates wiederholt zum Mythos greifen muß, um über Tod, Unsterblichkeit und ewiges Leben sprechen zu können. Die Dimension der Dich­tung gestattet ihm, Wahrheiten im Wort als Mythos anzu­gehen, die sich dem Wort als Logos versagen. Sie bringt ihm dafür allerdings auch den Nachteil der Unsicherheit ein, das "schöne Wagnis", wie es Platon nennt.

Die schöne Literatur als »monologische" Kommunikation

Vorteil und Eigenart schöner Literatur liegen aber nicht nur auf Seiten des Autors und der ihm gebotenen Aussage­und Erkenntnismöglichkeiten, sondern sie betreffen vor allem dessen Verhältnis zum Leser, die Wirkungsweise von Literatur. Schöne Literatur hat auf Grund der Selbstzuord­nung der Sprache immer etwas Narzißtisches, wie denn Gide nicht ganz zu Unrecht einmal den Narziß zum Symbol des Dichters erhob (Traite du Narcisse) und N. Frye sagen konnte: "In all literary verbal structures the final direction of meaning is inward" 29 ; sie hat etwas Monologisches, selbst­bezogen in sich Kreisendes, insofern der operative Zweck aufgefangen, über das Werk gefaltet erscheint. Diese "mono­logische" Strukturso, die, wie weiter oben ausgeführt, im

28 Phaidon 60d-61b. 29 Anatomy of Criticism, S. 74. 30 Dies gilt selbstredend auch bei einem Bühnenstück, allein schon

aus technischen Gründen, insofern die Sprache des Bühnen-

40 Theoretischer Teil

Detail durchbrachen werden kann, verfolgt jedoch den Zweck, umso unmittelbarer, unter Ausschluß des "zerstreu­enden", die Aufmerksamkeit nach außen lenkenden und sie damit teilweise neutralisierenden denotativen Bezeichnens, von Bewußtsein zu Bewußtsein mit dem Leser und gegebe­nenfalls Zuhörer zu kommunizieren. Es gilt hier entspre­chend dem, was Eugenio Coseriu zur dichterischen Sprache ausgeführt hat, daß Schöne Literatur nicht reduzierte Kom­munikation ist, sondern "Ort der Entfaltung, der funktio­nellen Vollkommenheit"31 der Kommunikation. Hier teilt sich ein im Werk objektiviertes komplexes geschichtliches Be­wußtsein dem Bewußtsein des Lesers mit. Wenn beispiels­weise Camus seinen Etranger mit dem Absatz beginnen läßt,

AUJOURD'HUI, maman est morte. Ou peut-@tre hier, je ne sais pas. J'ai re~;u un telegramme de l'asile: "Mere decedee. Enterre­ment demain. Sentiments distingues." Cele ne veut rien dire. C'etait peut-hre hier.,

dann kommt die Kompelixität darin zum Ausdruck, daß man den Sinn dieser Sätze nicht endgültig arretieren kann, sie ein lebendiges Gegenüber darstellen. Es handelt sich hier eben um Schöne Literatur, d. h. um Literatur, die nicht nur etwas sagt, sondern zugleich etwas in sich darstellt (objek­tiviertes geschichtliches Bewußtsein nämlich). Dank einer polyfunktionalen Sprache und einer wechselseitigen Bindung der Sprache und Verfahrensweisen auf der Ebene des Textes erstellt diese in sich einen mehrdimensionalen Raum, der als buchstäbliche Schöpfung ad infinitum interpretierbar und er­forschbar ist.

stücks immer für sich bleibt, auch etwa wenn "bestellte Zuhö­rer" in das Stück eingreifen sollten: diese sind dann ja seitens der "für sich" geplanten Sprache des Stücks vorgesehen und eingeplant. Und was das Mitmachen anbetrifft, zu dem manche Autoren aufrufen, so liegt es per definitionem außerhalb des Bereiches der schönen Literatur, ja sogar der Literatur schlecht­hin, weil es nicht als Wortwerk fixiert wird, nicht Literatur ist (Vgl. Definitionen aufS. 28 ff; H. v. Hentig hat sich hier von seiner im übrigen recht brauchbaren Definition der Lite­ratur als Spielraum - Spielraum und Ernstfall, S. 202 f -als Pädagoge zu weit führen lassen).

31 E. Coseriu, Thesen zum Thema "Sprache und Dichtung", S. 185.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 41

Wohl gibt es daneben auch schöne Literatur, die durchaus über denotative Bezüge verfügt, aber als schöne Literatur baut sie nicht auf diesen auf, sucht sie diese höchstens einmal um des desillusionierenden Effektes willen. Wenn beispiels­weise Sirnone de Beauvoir den Recit Une mort tres douce mit dem Satz beginnen läßt: "Le jeudi 24 octobre 1963, a quatre heures de l'apres-midi, je me trouvais a Rome, dans ma chambre de l'h8tel Minerva; je devais rentrer chez moi le lendemain par avion et je rangeais des papiers quand le telephone a sonne.", dann kann man zwar die Aussage als ein denotatives Bezeichnen auffassen, spürt aber zugleich, daß es darauf nicht ankommt, daß hier diese Wirkung "en suspens" gehalten wird, sie gegenüber einer erzählten Wirk­lichkeit zurücktritt, die als erzähltes, als unmittelbar über die Imagination kommuniziertes, sich im Erzählen darstellendes Bewußtsein wirken soll. Wer sich beim Lesen dieses Buches überprüft, wird sicher feststellen können, daß er sich biswei­len geradezu Gewalt antun müßte, um bei den einzelnen Geschehnissen nachzuvollziehen, daß es sich um wirklich Ge­schehenes handelt, während in anderen Fällen die Erinne­rung an die bewußtseinstranszendente Alltagsgegebenheit, etwa der Person Sartre, je nach Temperament des Lesers als exotischer Kitzel oder als störendes Durchbrechen der Illu­sion empfunden wird: der Modus der Interiorität als der Grundmodus von schöner Literatur wird hier erschüttert.

Es wäre im übrigen falsch anzunehmen, daß der Autor nur durch ein solches Durchbrechen des Modus von schöner Litera­tur auf den Leser einwirken könnte, ganz im Gegenteil ist ge­rade die von Bewußtsein unzerstreut zu Bewußtsein fließende Kommunikation als die spezifische Kommunikationsweise schöner Literatur von äußerster Intensität. Sie zwingt nicht nur den Leser zur zeitweisen Identifikation (was beim be­wußtseinstranszendenten Denkakt nicht der Fall ist), son­dern sie wirkt dank ihrer Ungerichtetheit und Polyvalenz in unkontrollierbar vielfältiger Weise auf den Leser ein32• (An diese Wirkung, die dem Schriftsteller eine große Verantwor­tung in die Hand gibt, dachte wohl Joao Guimaraes Rosa,

32 Zur Wirkweise schöner Literatur, vgl. auch Jan Mukarovsky, Kapitel aus der Poetik, S. 13 f.

42 Theoretischer Teil

als er in der ihm eigenen paradoxen Art formulierte: "Wenn die Schriftsteller ihre Verpflichtung ernst nehmen, wird die Politik überflüssig")SS. Diese vielfältige Wirkweise hat den Nachteil, nur zum Teil vorausgesehen werden zu können34•

Sie hat einen weiteren Nachteil, insofern sie nicht, außer als Globaleffekt, einem konkreten Zweck vorgespannt werden kann; sie ist eben, um es noch einmal mit Platon zu sagen, schönes Wagnis. Aber dieser Wagnischarakter nimmt der Sa­che nichts von ihrer hohen Verantwortung und ihren großen Möglichkeiten. Diese großen, allerdings nicht im Sinne einer konkreten Zielsetzung dirigierbaren Möglichkeiten liegen, zusammenfassend gesagt, einmal in der spezifischen, durch die mitteilend sachbezogene Literatur nicht zu ersetzenden Wirkweise, sodann in der besprochenen Fij.higkeit, auszusa­gen oder doch im Wort anzugehen, was in der rein mittei­lenden Sprache nicht mehr gesagt werden kann.

Die Konstituierung der schönen Literatur

Wir sind damit auf einen entscheidenden Funktionsbe­reich der schönen Literatur gestoßen. Dieser llegt jenseits dessen, was unmittelbar ausgesagt werden kann und begrün­det sich in dem, was ich mythische Aussage nennen möchte.

Die Wahl dieses Terminus wurde durch die aristotelische Dichtkunst angeregt, in der Mythos "die Zusammensetzung der Handlungen" meint {1449b), ist aber auch Platon ver­pflichtet, dem Mythos die Sprache im Bild ist. Im übrigen aber soll Mythos für uns, wohlgemerkt als Terminus der Poetik, eine allgemeine, beides umfassende Bedeutung haben: Mythos ist (uns) die Aussageweise schöner Literatur, wie diese sich artikuliert in Handlung, Bild und Selbstzuord­nung der Sprache. Diese mythische Aussage kommt zu­stande aufgrund eines Vorgangs, bei dem wir aus heuri-

33 Nach G. W. Lorenz, Dialog mit Lateinamerika, Tübingen und Basel 1970, S. 486. Wörtlich genommen ist freilich der Ausspruch von Guimaraes Rosa unhaltbar.

34 Klassisch geradezu ist der Fall von Sartres Les Mains sales, von dem der Autor nicht voraussah, daß es als antikommu­nistisches Stück gefeiert werden würde.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 43

stischen Gründen drei in der Praxis zumeist untrennbare, Stufen unterscheiden wollen. Da ist einmal die Aufhebung des operativen Gebrauchs der Sprache, positiv ausgedrückt die Selbstzuordnung der Sprache. Sie setzt neue, konnota­tive, "symbolische", durch Polyvalenz gekennzeichnete35,

evokative Aussagehafl:igkeit36 frei und verlagert die Aus­sagebasis auf die Ebene der "bewußtseinsimmanenten", d. h. phänomenologischen Sprache. Da ist sodann die Neuzuord­nung auf der Ebene des Textes, in der diese immanente Aus­sagehafl:igkeit als mehr oder weniger gelingende Kunst zum Ganzen einer Aussage gestaltet wird. Und da ist drittens, als Bestätigung des Gelingens - eine Bestätigung, die freilich sehr unterschiedlich ausfallen kann - das aus dem Ganzen zurückflutende, als Konnotation des Ganzen alles durch­dringende, vom Autor selbst weitgehend unabhängige und doch von ihm gestifl:ete, den Vollzug einer echten Schöpfung,

35 Roland Barthes (Critique et verite, S. 53): "la Iangue sym­bolique a laquelle appartiennent les reuvres litteraires est par structure une Iangue plurielle, dont le code est fait de teile sorte que toute parole (toute reuvre), par lui engendree, a des sens multiples." Vgl. auch ders., S/Z, S. 11 ff sowie Ph. Wheelwright, der hier von Plurizeichen spricht (The Seman­tics of Poetry, in The Kenyon Review II, 1940, S. 263 ff; vgl. auch ders. in Revista de Occidente IV, 1966, S. 37 ff).

36 Hierzu Siegfried J. Schmidt (a.a.O., S. 299), der zwischen linearem Informationsaufbau (der Alltagssprache) und poly­funktionaler, flächenhafter Sprachentfaltung (der Gedicht­sprache) unterscheidet: "die Denotationsleistung des Wortes, die auf relativ hohe, durch Rekurrenz abgesicherte begriffliche Eindeutigkeit abzielt, wird gelockert, zugleich nimmt die Kon­notationsdichte zu, die zur Entfaltung von "Anmutungserleb­nissen" und Assoziationen anregt". Roland Barthes unterschei­det zwischen operativ und symbolisch (vgl. sein Interview in L'Express n° 985, Mai 1970, S. 70 ff). Wenn ich im Text symbolisch in Anführungsstriche gesetzt habe, so deswegen, weil der Begriff zuviel historische Bedeutungen zu implizieren droht. Ginge man von der Etymologie aus (crv!J.ß&.l..l..e~u = "zusammenwerfen"), so käme andererseits der Terminus dem sehr nahe, was ich mit Selbstzuordnung sagen will, enthielte er sogar beide Momente, das Aufheben wie auch das Frei­werden neuer Potenz.

44 Theoretischer Teil

neuen Lebens, kündende Geschenk einer gebannten, unter der Befragung sich stets mit neuer Bedeutung füllenden my­thischen Aussage. Mit dieser dritten Stufe hängt es zusam­men, daß die mythische Aussage letztlich nur aus dem Gan­zen der jeweiligen Einheit (des Werkes oder Textes) ermessen werden kann.

Die schöne Literatur zwischen Besonderem und Allgemeinem

Diese mythische Aussage hält eine privilegierte Stellung inne zwischen Besonderem und Allgemeinem. Um diese Stel­lung zu beschreiben, müssen wir wieder den dialektischen Dreischritt der Konstitution mythischer Aussage betrachten.

Literatur nimmt je von einem Bewußtsein, dem des Au­tors, das in einer bestimmten Zeit und unter besonderen geographischen und sozialen Bedingungen lebt, seinen Aus­gang, objektiviert dieses Bewußtsein, das zwar die Möglich­keit der Imagination und der reinen Theorie hat, aber für die mythische Gestaltung in hohem Maße auf historische Vor­würfe angewiesen ist, seien dies nun vorgegebene künstleri­sche Leistungen, sei es historische Kunde oder eigenes Erleben. Dank der Selbstzuordnung der Sprache und der hiermit ver­bundenen Reduktion auf die phänomenologische Aussage­basis wird nun dieses Besondere in seiner bewußtseinstrans­zendenten Besonderheit suspendiert, es wird als Besonderes "aufgehoben" (Hegel) und im physiologischen, allen Men­schen gemeinsamen Spiegel des Lebens reflektiert; wobei "Leben" natürlich keineswegs im biographischen Sinne zu deuten ist, sondern als biologisch-kosmologischer Quellgrund des Lebens37• Das Besondere wird hierdurch zum Besonde­ren-im-Allgemeinen, es wird allgemein zugänglich und auf verschiedenen historischen Ebenen erlebbar. Wenn beispiels­weise im 17. Jhdt. ein Zeitkritiker die Gesellschaft charak-

37 C. C. Jung sieht diesen Aspekt, verabsolutiert ihn aber zu­gleich, sieht nicht seine dialektische Gebundenheit: "Das Wie­dereintauchen in den Urzustand der "participation mystique" ist das Geheimnis des Kunstschaffens und der Kunstwirkung" (Psychologie und Dichtung, in: Philosophie der Literaturwis­senschaft, hrsg. von E. Ermatinger, Berlin 1930, S. 330).

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 45

terisiert, dann ist das eine historisch gebundene Aussage, die kein Leser des 20. Jhdts. als ihn selbst betreffend auf­nehmen wird. Anders ist es aber, wenn er die Phedre von Racine erlebt, anders auch, wenn er die erwähnten Re­cits des temps merovingiens, ich meine die "Recits" selbst, liest: hier wird über den Mythos die ins Allgemeine rei­chende Wurzel seiner selbst berührt, das allen gemeinsame Leben, bei Racine freilich ungleich mehr als bei Thierry -Racine ist literaturhafter als Thierry, er ist Dichter.

Zu diesem "Aufheben" des Besonderen im Allgemeinen tritt aber, entsprechend dem dialektischen Dreischritt der Konstitution mythischer Aussage, noch ein Drittes. Die schöne Literatur macht nicht halt bei einer solchen Spiege­lung des Besonderen im Allgemeinen: sie ist zugleich Ent­wurf dieses Besonderen-im-Allgemeinen auf Totalität hin, sie ist status transcendendi, ist ein Oberschreiten des Beson­deren-im-Allgemeinen auf den Horizont möglichen Sinns überhaupt hin. Dieser status transcendendi kann, sofern Literatur im engeren Sinn gegeben sein soll, weder in der einen noch in der anderen Richtung, weder im Hinblick auf das Besondere noch im Hinblick auf den Sinn, auf den hin es sich entwirft, entschieden werden: schöne Literatur ist ebenso an das Besondere gebunden wie über es hinaus, ist auf Sinn hin entworfen, kann diesen Sinn aber nie fassen außer im Entwurf.

Die schöne Literatur in ihrem Verhältnis zur außerliterarischen Wirklichkeit

Hiermit wiederum hängt das Verhältnis der Literatur zur außerliterarischen Wirklichkeit zusammen, die in ihr aufscheint. Die Literatur darf, wenn sie "schöne Literatur" bleiben will, zu außerliterarischen Größen nicht im Verhält­nis des Dienens stehen. Sie darf sich, trotz des berühmten Wortes aus Le rouge et le noir ("un roman est un miroir qui se promene sur une grande route") und auch der Wider­spiegelungsästethik von Lukacs zum Trotz (Ästhetik, Teil I: Die Eigenart des Ästhetischen), nicht mit der Funktion des Spiegelns zufriedengeben. Ganz abgesehen davon, daß

46 Theoretischer Teil

schöne Literatur ein sich von unten her aus eigenen Mitteln, aus Lauten, Wörtern, Sätzen, Sinnzusammenhängen und Zuordnungen aufbauender Verband ist38, dem es nicht ei­gentlich zukommen kann zu "spiegeln", sondern der eine Eigenwirklichkeit in der Gesellschaft, einen konkurrierenden Teil derselben darstellt, liegt es in der Funktionsweise der schönen Literatur, daß das in ihr Aufscheinende im oben umschriebenen Sinne überschritten wird. Die schöne Litera­tur übernimmt also je als Werk und Text eine erkenntnis­kritische Funktion gegenüber dem Beschriebenen, sie redu­ziert es auf sein Allgemeines und hält es ins Licht der Tota­lität, sie wird so zum dialektischen Gewissen des Allgemei­nen im Besonderen3D.

Tragender Grund dieses Gewissens ist naturgemäß das je­weilige Selbstverständnis des Autors, seine Weise, die Welt und sich in ihr zu sehen, ein Selbstverständnis, das, wenn es glaubwürdig sein soll, das tatsächliche, historisch bedingte und vom Lebensgrund gespeiste des Autors sein muß, nicht

38 Dazu auch Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 3. Auf!. Tübingen 1965 (Erstauflage 1931 ). Dieser unterscheidet im literarischen Kunstwerk vier notwendige Schichten, 1. die Schicht der Wortlaute und der sich auf ihnen aufbauenden Lautgebilde höherer Stufe, 2. die Schicht der Bedeutungsein­heiten verschiedener Stufen, 3. die Schicht der mannigfachen schematisierten Ansichten und Ansichtkontinuen und -reihen und endlich 4. die Schicht der dargestellten Gegenständlichkei­teil und ihrer Schicksale. Wobei Ingarden hinsichtlich der letz­ten Schicht noch vermerkt, daß diese sozusagen "doppelsei­tig" sei, insofern "einerseits die ,Seite' der darstellenden inten­tionalen Satzkorrelate (und insbesondere der Sachverhalte), andererseits die ,Seite' der in ihnen zur Darstellung gelangen­den Gegenständlichkeiteil und deren Schicksale" zu unterschei­den sei (ebda., S. 26 f). - So bedeutsam diese Schichtentheorie auch sein mag, bietet sie allerdings die große Gefahr, daß man auf Grund des Terminus "Schicht" am eigentlichen des litera­rischen Kunstwerks, am Geheimnis der Polyphonie, an der funktionalen Zuordnung, welche sie bewirkt, vorbeigeht.

39 Entfällt diese Reduktion, so haben wir entweder Literatur im weiteren Sinn vor uns, eine Literatur die ihre eigene, bewußt­seinstranszendente Wirkung anzielende Bedeutung hat, oder es handelt sich um pervertierte schöne Literatur.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 47

aber ein bloß angenommenes oder übernommenes. Die Histo­rizität des Stoffes, von dem der Autor ausgeht, spielt dabei natürlich keine Rolle - Thierrys Stoff beispielsweise liegt in der Merowingischen Zeit - entscheidend ist die Welt­sicht40, die sich über dessen Gestaltung und Zuordnung, die sich im Mythos äußert.

So geht beispielsweise Andre Malraux in La Condition humaine (1933 erschienen) von einer historischen Handlung aus, die nur um wenige Jahre zurückliegt, ins Jahr 1927 führt und Schanghai zum Schauplatz hat. Eine Handvoll Kommunisten haben dort die Sache der Revolution zur ihren gemacht, haben Einsatzgruppen herangebildet und ideologisch geschult, und als sie den Augenblick für gekom­men sehen, schlagen sie los. Doch wird nun dieser histori­sche Vorwurf unaufhaltsam vom Mythos aufgehoben und ins Universale überführt, wobei Revolution und Ideologie buchstäblich liquidiert werden im Allgemeinen der Conditio humana und zuguterletzt nur noch als aufgelöste, nicht mehr maßgebliche, durchscheinen. Die Revolution schlägt nicht nur fehl, wird nicht nur im Rhythmus des mit klassischer Regel­mäßigkeit durchgeführten Aufbaus als Besonderes ad absur­dum geführt und auf sein reines menschliches Maß reduziert, sondern am Ende begegnen uns ihre Helden mit den Pfiffen der Lokomotive, in die man sie werfen wird, in den Ohren, als im Mythos sich deklarierendes reines Sein zum Tod. Malraux hat so die Eigengesetzlichkeit dichterischen Schaf­fens zu einer mythischen Wahrhaftigkeit geführt, die viel­leicht dem Ideologen Malraux gar nicht einmal recht war41 •

Eben diese Wahrhaftigkeit aber, dieses bewußte oder unbe­wußte Ausgehen vom tatsächlichen, weder durch Ideologien

40 Mit Weltsicht (vue du monde) meine ich den objektiven, phä­nomenologischen Aspekt der Weltanschauung (vision du monde).

41 Dazu meine Studie Der französische Roman im 20. fhdt. Ent­wurf einer Geschichte des mythischen Selbstverständnis unserer Zeit, Stuttgart 1970, S. 91 ff. - Schklovski, der Theoretiker unter den russischen Formalisten, betont diese Eigengesetzlich­keit der Werkstruktur und der künstlerischen Verfahren und ihr Vermögen, sich gegen die ideologische Konzeption des Au­tors durchzusetzen (vgl. Texte der russischen Formalisten !, Einleitung von]. Striedter, S. XXXIV f).

48 Theoretischer Teil

noch durch sonstiges willentliches Vorhaben entstellten oder korrigierten, im Lebensgrund wurzelnden Selbstverständ­nisses42 ist neben der überzeugenden Dichte der Zuordnung das entscheidende Kriterium für den Kunstwerkcharakter von Literatur im engeren Sinne. Rezeptionsästhetisch gespro­chen läßt es sich mit H.-R. Jauss als ein Durchbrechen und Ausweiten des Erwartungshorizontes - als "Horizontwan­del" - beschreiben43, wobei im Sinne der Ausführungen zu beachten ist, daß dieses übersteigen des Erwartungshorizon­tes im literarischen Kunstwerk sich als menschheitsgeschicht­licher Entwurf aus der Perspektive eines partikulären Be­wußtseins versteht. Eine Vorbedingung hierfür ist, wie ge­sagt, der Anschluß an das vitale Selbstverständnis des Au­genblicks.

Von der W ahrhafiigkeit der schönen Literatur

Die schöne Literatur hat also eine andere Wahrhafligkeit zu suchen als die der Mitteilung. Ihre Wahrhafligkeit ist eine zutiefst menschliche, ist eine des Menschen sich selbst gegenüber: der Autor hat sein tatsächliches Selbstverständ-

42 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei betont, daß Selbst­verständnis nicht Ernst impliziert. Selbstverständnis kann sich sehr wohl, vielleicht sogar vorzugsweise, im Spiel äußern, wie denn auch H. v. Hentig in "Spielraum und Ernstfall" dem Spiel durchaus eine ernstzunehmende Funktion zuweist.

43 H.-R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation, ed. suhr­kamp 418, S. 177 f. - Die Gefahr von Mißverständnis und Mißbrauch scheint mir indes vorzuliegen, wenn wir· im Sinne von Bertolt Brecht und mit H. J. Neuschäfer (Mit Rücksicht auf das Publikum ... , S. 487) hierfür den Begriff der eman­zipatorischen Literatur ansetzen. Denn Emanzipation wird oft nicht menschheitsgeschichtlich gesehen, sondern konkret histo­risch und ideologisch und kann somit zur Erwartung des Ho­rizontes werden, die es gerade zu durchbrechen gilt. Im Be­griff der emanzipatorischen Literatur liegt die Gefahr der Bindung von Literatur an bestimmte Vorstellungen von Eman­zipation.

Von Seinsweise und Funktion der Literawr 49

nis, seine Weise, sich und die Welt und sich in der Welt zu sehen, zugrundezulegen als Boden und Lebensquell seines Werks, dann nur kann (vorausgesetzt daß die Überschrei­tung des Besonderen und die gelungene Zuordnung hinzu­treten) jenes Leben geschaffen werden, das die Zeit über­dauert.

Nun ist es aber nicht so, daß sich diese Wahrhaftigkeit in der strengen Alternative zur Unwahrhaftigkeit entschiede, daß ein Werk als Ganzes entweder wahrhaft oder unwahr­haft wäre. So kann es durchaus sein, daß ein Werk seinem thematischen Ansatz nach der Weise entspricht, wie sich der Autor in der Welt sieht, aber die Mittel der Verwirklichung eine andere Sprache sprechen, unwahrhaftig sind. So geht beispielsweise Gide in L'Immoraliste, was die thematische Wirklichkeit des Erzählten, die "Geschichte" anbetrifft, von einem analogen Selbstverständnis aus wie im Promethee mal enchaine, aber diesmal entsprechen dieser erzählerisch-the­matischen Aussage der Absurdität und der Isoliertheit des Individiums weder der Aufbau der Fabel noch der Stil hin­reichend, so daß der erzählerisch-thematischen Wahrhaftig­keit hier, grob gesagt, eine formale "mauvaise foi" zur Seite steht44• Zwar wäre es falsch, daraus nun schließen zu wollen, daß in solch einem Fall keine schöne Literatur gege­ben sei, aber der schöner Literatur konnaturale Anspruch darauf, durch und durch Literatur zu sein, ihre Berufung, sich zur Kategorie der Dichtung hin zu öffnen, wird hier preisgegeben.

Die Unzulänglichkeiten können aber auch auf der Ebene des Selbstverständnisses selbst liegen. Es kann beispielsweise ein theoretisches, nur in der logischen Oberschicht des Be­wußtseins verhaftetes, konstruiertes Selbstverständnis zu­grundegelegt werden. Torquato Tasso mag hierfür als Mu­sterfall gelten; er erschrickt über seine Gerusalemme liberata und versucht sie hernach aus einem historischen Selbstver­ständnis, dem des theologischen Erwartungshorizontes seiner Zeit heraus, zu überarbeiten. Denkbar ist aber hier wohl auch der Fall eines von vornherein verkümmerten oder per­vertierten Bewußtseins und Gewissens, der eines Autors,

44 Näheres in der in Anmerkung 41 zitierten Studie, S. 81 ff.

50 Theoretischer Teil

dessen ideologisches45 Vorverständnis so dicht geworden ist, daß er selbst es als vital empfindet, während es nur ein historisches ist. Trotzdem wird sich im Normalfall auch hier noch das geschichtliche Gewissen, dem Autor unbewußt, zu Wort zu melden wissen, aber es kann nicht mehr alles durch­dringen und zuordnen, hat es schwer, jenen Mehrwert an mythischer Erkenntnis zu erbringen, den Literatur im enge­ren Sinn erbringen muß, wenn sie auf überhistorischer Ebene überzeugen soll.

Denkbar und keineswegs selten sogar ist schließlich auch der Fall einer von Absatzmarkt und Lesererwartung dik­tierten Unwahrhaftigkeit. Dieser Gefahr erliegt nicht nur die sogenannte Trivialliteratur, sie ist vielmehr eine Bedin­gung, mit der die Literatur lebt46 und vor .der kein noch so gewagtes Experimentieren einen sicheren Schutz zu bieten vermag, weil dieses Experimentieren oft selbst längst einer etablierten. Leser- und Publikumserwartung nachkommt47 •

Von der Geschichtlichkeit schöner Literatur

Wir müssen also, was in der Praxis nicht immer leicht durchzuführen ist, unterscheiden, zwischen einem seiner­seits historischen Selbstverständnis, dem sich beispielsweise der späte Torquato Tasso überantwortet, und der Ge­schichtlichkeit48 des Selbstverständnisses, in dem schöne Li­teratur sich begründet, müssen, allgemeiner ausgedrückt, unterscheiden zwischen einer äußeren, von außen zukom­menden Historizität der Literatur bzw. literarischer Phä­nomene und der ihr selbst zukommenden, ihr eignenden Historizität, die wir Geschichtlichkeit nennen wollen. Wäh­rend sich im Werk die verschiedensten historischen Schichten

45 Ideologie verstanden als falsches Bewußtsein. 46 Dazu Dieter Wellershoff, Literatur, Markt, Kulturindustrie. -

Zum Trivialroman die in Anm. 43 erwähnten Studien von H.-J. Neuschäfer und Verf.

47 Vgl. H. M. Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, S. 193 f.

48 In der Unterscheidung zwischen Historie und Geschichtlichkeit folge ich Martin Heidegger, Sein und Zeit.

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 51

und Momente treffen, die Historizität seines stofflichen Vor­wurfs, die des Erwartungshorizontes, für den es geschrieben ist, die eventueller früherer Bearbeitungen des gleichen Stof­fes, die eines bloß angewandten Stiles oder auch die von Topoi oder erneuerten Mythen, ist diese Geschichtlichkeit des Werkes selbst die des reinen Augenblicks, die des status transcendendi, die der Übersteigung des Besonderen-im-All­gemeinen auf Totalität hin. Es ist dies die unnachahmlich einmalige Geschichtlichkeit von Dasein49, das, historisch Ge­gebenes erinnernd, sich in der Freiheit des Augen-blicks auf Zukunft hin entwirft und so im Darüberhinausgehen jenen Mehrwert erbringt, der mit der Funktion der Literatur (nicht nur schöner Literatur) eng zusammenhängt.

Diese Geschichtlichkeit leuchtet natürlich in den einzelnen Gattungen und auch Werken recht unterschiedlich intensiv auf (zum mindesten für die derzeitige Geschultheit unseres Auges). In den Kleingattungen beispielsweise ist sie wesent­lich schwerer interpretierend zu fassen als etwa im Roman, aber sie ist auch dort grundsätzlich gegeben, sofern nicht die Literatur zu reinem Epigonenturn pervertiert. Wenn wir uns noch schwer tun, sie zu sehen, so liegt dies zum Teil aber auch daran, daß uns eine stark ausgeprägte historische Denk­tradition, die, um nur einige wichtige Stationen zu nennen, von Schopenhauer über Dilthey, Gide, Voßler, die Symbo­listen bis, hin zu Proust und Leo Spitzer reicht50, ein gutes halbes Jahrhundert lang in der Vorstellung gewogen hat, daß Literatur und Kunst "reiner Wille" (Schopenhauer), "Geist" (Dilthey), entwicklungslose Schöpfung (Voßler), "idee" (Gide), kurz, eine transzendente, jenseits des prak­tischen Lebens liegende Welt ist:· die werkimmanente Me­thode war im Grunde nur der methodische Ausdruck dieser Überzeugung von einer monadischen Wirklichkeit Literatur. Und wenn Gaston Bachelard in seiner Poetique de l'espace wenigstens für einige Exemplare, die besten natürlich, die absolute Sublimierung, das gänzliche Aufgelöstsein des Be­sonderen im Allgemeinen annimmt, wenn Damaso Alonso

49 Szondi sagt. im erwähnten Beitrag: "Denn die Texte geben sich als Individuen, nidJ.t als Exemplare."

50 Vgl. auch die Ausführungen des historischen Teils, S. 107 ff.

52 Theoretischer Teil

den Gedanken hegt, daß Poesie ahistorisch sei, dann recht­fertigt beide bis zu einem gewissen Grad die Einschränkung und Besonderheit der Anwendung (bei Poesie ist der Anteil des Oberzeitlichen größer als in anderen Gattungen), dann haben wir hier "letzte" Bastionen eines Denkens vor uns, das uns allen noch ein wenig im Blute liegt als Nostalgie nach der Vorstellung von wenigstens einem Bereich, in dem der Mensch das überzeitlich Ewige erreichen kann, die ver­meintlich den Bedingungen des Daseins enthobene Kunst. So ehrwürdig dieses Denken sein mag, es ist zu überwinden oder - besser - zu korrigieren, auf ein dem Dasein ange­messenes Maß zu erbringen, hier ist statt der Transzendenz der status transcendendi und das heißt, die Geschichtlichkeit zu sehen.

Die Erkenntnis und Auswertung dieser Geschichtlichkeit von Literatur ist jedenfalls u. a. geeignet, die schöne Litera­tur gerade mit jener Seite hervortreten zu lassen, die über die rein ästhetische, ihr letztlich unangemessene Betrachtung hin­auszuführen vermag und sie begreifen lehrt als erkenntnis­bildende Macht der menschlichen Gesellschaft, als eine Wirk­lichkeit, welche die Probleme des Lebens und des in-Welt-Seins vom geschichtlichen Augenblick aus zu durchdenken ver­sucht und so zum Gewissen des Fortschritts, des Oberschrei­tens der gegebenen Umstände wird; die das für den Teil der schönen Literatur im Mythos tut und damit Möglichkeiten der Aussage und der Reflexion erschließt, die der unmittel­bar operativen Sprache verschlossen bleiben. Schöne Literatur nimmt kraft dieser Geschichtlichkeit jene gesellschaftspolitisch und menschheitsgeschichtlich so wichtige Sonderstellung in Staat und Gesellschaft ein, die sie dem Zugriff der etablier­ten Instanzen entzieht, ihr gestattet, "Hefe" zu sein, der niemand habhaft werden kann, es sei denn, er bemächtigt sich aller existierenden Exemplare eines Werkes. Und wie schwer das ist, zeigen komplizierte Vorgeschichten von Tex­ten wie die von Diderots N eveu de Rameau51•

51 Das Werk wurde wohl aus Rücksicht auf die herrschende Zen­sur 1798 von Naiglon nicht in die Gesamtausgabe der Werke aufgenommen. 1821 erschien es in einer Rückübersetzung der Goetheschen Version, bis endlich 1890 Georges Monval durch

Von Seinsweise und Funktion der Literatur 53

Die Funktion der Basis von Literatur

Es war im voraufgehenden viel von schöner Literatur die Rede. Diese erhöhte Aufmerksamkeit war notwendig, nicht nur weil schöne Literatur von jeher der bevorzugte,wenn auch zu einseitige Gegenstand der Literaturwissenschafl war und dies sicher mit einem gewissen Recht, wenn auch weni­ger ausschließlich, in Zukunfl bleiben wird, sondern weil hier viel von der Problematik der Literaturwissenschafl, viel auch von ihren besonderen Möglichkeiten begründet liegt. Dies sollte aber nicht dazu führen, in ihr den Gegenstand der Literaturwissenschafl und die Wirklichkeit Literatur schlecht­hin zu sehen. Denn auch eine Ciceronianisehe Rede, auch ein Werk wie Descartes' Traite des Passions de I' Ame, auch Sar­tres Qu'est-ce que Ia litterature, auch Brechtgesänge, mit an­deren Worten auch Werke, die denotativ sind, sei es als Theorie, sei es als sogenannte engagierte Literatur, als poli­tisches Chanson oder als philosophische Reflexion, sind Li­teratur und damit Gegenstand der Literaturwissenschafl, so­fern nur die weiter oben angeführte Bedingung einer Selbst­zuordnung der Sprache gegeben ist. Es erübrigt sich wohl zu betonen, daß auch diese Basis dess.en, was Literatur ist, ihre geschichtliche Funktion hat. Hier an der Basis wird ausge­sagt und gestaltet, was mitteilbar ist, wird vorzugsweise in Angriff genommen, was unmittelbar zweckdienliche Besin­nung verlangt (wobei die Inanspruchnahme mythischer Aus­sage ebensowenig ausgeschlossen bleibt wie schöne Literatur sich grundsätzlich des denotativen Bezeichnens enthält). Hier stellt man sich auf diese Weise nicht weniger der Auf­gabe, über die bloße Akzeptation der Gegebenheit darstel­lend und. reflektierend hinauszugehen, jenen Mehrwert an Erkenntnis und Erfahrung zu erstellen, der die geschichtliche Einmaligkeit des Werkes und Textes ebenso sichert wie sei­nen Dienst im Sinne des Fortschreitens menschlicher Gesell­schafl. (Ein Dienst, der sich freilich, wie ofl echter Dienst,

Zufall das vermutliche Autograph entdeckte, das den moder­nen Ausgaben zugrundeliegt (vgl. zum ganzen Fragenkomplex N. Hermann - Mascard, La censure des livres a Paris a Ia finde l'Ancien Regime, Paris 1968).

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in Tragweite und Wirkweise schlecht, wenn überhaupt, mes­sen läßt.) Wie die Grundformen schöner Literatur, Lyrik, Epik und Dramatik, das menschliche Selbstverständnis er­innernd (Lyrik), erzählend (Epik) und darstellend (Dra­matik) aussagen und damit immer auch schon eine Art von wenn auch nicht ausdrücklicher Reflexion bedeuten, so hat diese Basis von Literatur, diese lange vernachlässigte vierte Grundform von Literatur ihre Funktion darin, das Selbst­verständnis reflektierend auszusagen, reflektierend über die bloße Akzeptation der Umstände hinauszugehen.

Die Literatur ist also in mehr als einem Punkt geeignet, den mit ihr Beschäftigten auch über sie hinausschauen zu lassen, auf den sie produzierenden Autor und dessen gesell­schaftlich-geschichtlichen Kontext ebenso wie auf den sie re­zipierenden Leser und dessen gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext; nur sollte man dabei nicht vergessen, was wir nun in einem ersten Schritt kurz zu ermessen versucht haben: was nämlich Literatur ist und daß Literaturwissenschaft sich nur dann treu bleiben kann, wenn sie über dem Zeichen-Geber (dem Autor) und dem Zeichenempfänger (dem Leser) nicht

· das buchstäblich zentrale Phänomen, das Zeichen selbst und die in ihm liegende Kommunikation außer acht läßt.

2 WAS IST UND WOZU DIENT LITERATURWISSENSCHAFT?

Vom Nutzen der Literaturwissenschaft

Unsere Überlegungen zur Seins- und Funktionsweise der Literatur haben gezeigt, daß diese in vielfältiger Weise, von Genese, Bedingtheit, Sinn, Funktion und Wirkung her gese­hen:, mit der Welt und dem Menschen insbesondere in Ver­bindung steht, und dies sowohl auf der Ebene des Beson­deren, Historischen als auch auf der überhistorischen Ebene des Allgemeinen, insofern nämlich das literarische Kunst­werk gerade darin besteht, das Besondere im Mythos auf­hebend zu bewahren und es zu übersteigen auf Totalität hin. Wir haben gesehen, daß die Literatur somit eine wichtige Funktion in der menschlichen Gesellschaft ausübt, selbst einen wichtigen Bestandteil derselben darstellt. Die menschliche

Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft 55

Gesellschaft ist ohne Literatur (im weiteren Sinn) gar nicht mehr zu denken, sie wäre ohne sie nur als träge, der Dialek­tik des Denkens beraubte Masse vorstellbar. Wenn es nach Le rouge et le noir in dem Provinzstädtchen Verrieres schon als verdächtig galt, eine Buchhandlung zu betreten, dann steht dahinter die Erkenntnis der kaum zu überschätzenden Macht, die im geschriebenen Wort liegt, einer Macht, die, selbst wenn es sich um das "schwarze" Latein handelt, wel­ches Julien Sorel lernt, zum Sichbewußtwerden drängt oder doch drängen kann, zur Überschreitung des etablierten Den­kens. Karl Marx las jedes Jahr den Äschylus durch, wohl­gemerkt griechisch, und ohne Shakespeare wollte er gar nicht sein1, obwohl beide Autoren keineswegs unmittelbar zum Handeln drängen, sie die schöne Literatur pflegen; Marxens Antriebe wurzelten eben tiefer, in jenem vitalen Bereich, den engagierte und allgemeiner gesprochen operativ mitteilende Literatur oft nicht zu treffen vermag. - Womit im übrigen nicht gesagt sein soll, daß die literaturspezifische operative Mittelbarkeit, die, anders betrachtet, eine umso größere in­nere Unmittelbarkeit der Wirkung anstrebt (vgl. S. 37 ff.), immer im Vorteil sein müßte gegenüber operative Unmittel­barkeit der Wirkung anstrebender "rhetorischer" Literatur oder theoretisch operierender Literatur, also gegenüber For­men der Literatur im weiteren Sinn. Einmal kann vieles begrifflich und theoretisch besser und vor allem eindeutiger ausgeklärt werden2, sodann gibt es Augenblicke, die es ge­bieten, den Weg der unmittelbaren Wirkung zu wählen, ei­nen Weg, der allerdings immer in der Gefahr des Miß­brauchs steht.

Doch warum brauchen wir nun über diese in der Lektüre am besten und am tiefsten wirksame Literatur hinaus noch eine Literaturwissenschafi? Das Beispiel von Zarathustra, Faust und Bibel, die sich in so manchem Tornister von

Ich zitiere unter leichter, syntaktisch bedingter Abwandlung W. Killy, Wozu eigentlich Literaturwissenschaft? Die Zeit, 20. Febr. 1970.

2 Vgl. mein Buch Der französische Roman im 20. Jhdt, wo ich versucht habe aufzuzeigen, daß in Zeiten der Krise (Jahrhun­dertwende und Zeit des Zweiten Weltkriegs) dem theoretischen Denken besondere Bedeutung zukommt.

56 Theoretischer Teil

Frontsoldaten der letzten Kriege befanden, mag uns hier schon Hinweis auf eine Antwort sein. Denn diese Werke hätten bei besserem Verständnis sicher wirksamer, hier und da vermutlich sogar in unerwünschter Richtung, ihre Dienste getan. Die Förderung des Einblicks in die Literatur und die Hebung3 ihrer bildenden und bewußtseinsförderlichen Wirk­samkeit ist in der Tat eine grundlegende Aufgabe der Lite­raturwissenschaft. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe hat ihrerseits das zur Voraussetzung, was man die Philologie im engeren Sinn nennt, und zwar erstens die Erstellung und Reinerhaltung der textlichen Grundlage (für eben diese För­derung der Wirksamkeit von Literatur), sodann die Aus­räumung von sprachlich-stilistischen Schwierigkeiten, die sich für den Leseprozeß ergeben können4 • Diese Textphilologie wiederum steht notwendigerweise in engem Kontakt mit der Sprachwissenschaft, aus der sie sich als aus ihrer Grundlage löst. Sie ist das gleitende, je nach Anteil der Sprachbeschrei­bung vor der Deutung bald mehr zur Linguistik bald mehr zur Literaturwissenschaft hin tendierende vermittelnde Glied zwischen der eigentlichen Linguistik und der eigentlichen Literaturwissenschaft. Das Kriterium der Unterscheidung ist dabei, inwieweit die Förderung der Wirksamkeit des Lese­prozesses sich auf die Ebene der Sprache (langue) und ihrer Mittel oder auf den Bereich des Literaturspezifischen, d. h. auf die Zuordnung dieser Sprache im Zusammenhang des Werks oder Textes bezieht, auf das, was man, eine Kategorie von Ferdinand de Saussure zugrundelegend, die parole lit-

3 Hebung im zweifachen Sinn des Wortes, einmal als Steigerung, sodann als Bergung, so wie man etwa von der Hebung eines Schatzes spricht.

4 Ich lege den geltenden Sprachgebrauch von "philologisch" und "Philologie" im einengenden Sinn zugrunde, wobei die Etymo­logie des Wortes "Liebe zum Wort" (griech. philos = Freund; Logos = Wort) mich stützt. Daneben wird "Philologie" durch­aus noch als umfassender Begriff für Literatur- und Sprach­wissenschaft einer Disziplin verwendet: man promoviert und habilitiert sich ja beispielsweise auch heute noch etwa in Roma­nischer Philologie. Der Begriff hat allerdings in dieser Verwen­dung kaum noch mehr als wissenschaftspraktische und hoch­schulpraktische Bedeutung.

Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft 57

teraire nennen könnte5. Im übrigen soll der Begriff Förde­rung nichts über den tatsächlichen Erfolg aussagen, sondern lediglich eine Zielvorstellung charakterisieren. Es kann hier im Einzelfall durchaus Fehlleistungen geben. Das ist zum Beispiel der Fall einer Literaturwissenschaft, die sich einer etablierten Ideologie vorspannen läßt und aus ihr die Rich­tung ableitet, in die zu fördern ist, die den Mut zur Beja­hung des dialektischen Prinzips nicht aufbringt und so den Förderungsprozeß in einen Entschärfungsprozeß umwandelt: die Literatur wird dann in ihren spezifisch literarischen und das heißt vorbehaltlos bewußtseinsfördernden, das Esta­blishment übersteigenden Elementen neutralisiert, an die Kette buchstäblich vor-geschriebener Bedeutungen gelegt. Man könnte hier weiterhin, ganz abgesehen vom Fall der Fehlleistung aus Unvermögen, an eine literaturwissenschaft­liehe Praxis denken, die, anstatt sich mit Literatur zu be­fassen, nur noch mittelbar von ihr spricht, sich weitgehend in einem gespenstischen, weil nur mit Strohgegnern operie­renden Spiegelgefecht mit den bisherigen Meinungen zur Sache erschöpft. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß die Besprechung von Sekundärliteratur sinnlos, ihre Benut­zung zu verschmähen sei6, aber sie sollte nicht den Weg zum eigentlichen verstellen sondern freilegen, sollte nicht zum Selbstzweck werden sondern dienen, sonst treiben wir eine narzißtische Meta-Literaturwissenschaft, die schwerlich als sinnvoll gelten kann. Das wiederum soll nicht heißen, daß Meta-Literaturwissenschaft sinnlos sei (ich betreibe sie ja im Augenblick selbst), aber diese ist ihrerseits einem anderen Ziel zuzuordnen als die Literaturwissenschaft, nämlich dem der Wirksamerhaltung und Grundlagenbesinnung der Lite­raturwissenschaft selbst. Die Meta-Literaturwissenschaft ist insofern Ausdruck einer Krise der Literaturwissenschaft, die

5 So auch schon Hugo Friedrich in Strukturalismus und Struktur in literaturwissenschaftlicher Hinsicht, in Europäische Aufklä­rung, Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, München 1967, s. 77-86.

6 Ganz im Gegenteil kann diese, wenn man sich echt mit ihr aus­einandersetzt, sie nitht nur "berücksichtigt", wie man so be­zeichnend sagt, ein wertvolles Korrektiv sein, kann sie darüber­hinaus auch Anregungen im Sinne der eigenen These liefern.

58 Theoretischer Teil

sie erst notwendig macht und auf den Plan ruft. Genauso kann das Heranreifen der Literaturwissenschaft im 19. Jhdt. als Ausdruck einer Krise der Literatur und ihrer Funktion in der Gesellschaft gesehen werden. Denn dieses Heranreifen geht nicht von ungefähr überein mit dem des Positivismus und mit dem der Früchte "modernen" wissenschaftlichen Denkens, dem der Industrialisierung. Dieses Zusammentref­fen, das zunächst paradoxal erscheint, bezeugt vielmehr das Bedingtsein des einen durch das andere (ein Bedingtsein, das man sich natürlich nicht streng kausal vorstellen darf): das Eingespanntwerden des Menschen in einen Prozeß, der ihn sich selbst und seinen Quellgründen, der ihn seiner die Ge­gebenheiten auf ihr Allgemeines und ihren Sinn transzendie­renden Dialektik zu berauben droht, verlangt nach einem Gegengewicht, verlangt nach einer Intensivierung der Wirk­samkeit der Literatur, macht Literaturwissenschaft erforder­lich, damit die menschliche Gesellschaft sich als sie selbst, als geistleibliche dialektische Wirklichkeit weiterentwickeln könne und nicht dem Mechanismus eines Prozesses ausgeliefert sei, der sie in ihrem eigentlichen bedroht. Es ist auch unschwer zu erkennen, daß in unseren Tagen diese Gefahren noch erheblich gewachsen sind: die Anonymisierung und Mecha­nisierung droht heutzutage die Literaturwissenschaft selbst, die im 19. Jhdt. zunächst noch echtes Bemühen um Quellen sein konnte, in ihrer Wirksamkeit zu ersticken, das Mittel, als das Lanson im frühen 20. Jhdt. noch ·den Anmerkungs­apparat lobte7, droht wegen der versäumten Methodenre­flexion zum Selbstzweck einer nur noch funktionierenden, leer laufenden, sich ihrer Zielsetzung nicht mehr bewußten

7 Ich beziehe mich auf seine 1904 gehaltene Antrittsrede, in der er seinen Amtsvorgänger, Larroumet, lobt. Larroumet hatte es 1882 gewagt, der Fakultät ein 640 Oktavo-Seiten zählendes Opus über Marivaux vorzulegen, in dem er nicht von Ideen, sondern von Marivaux selbst und seinem Werk ausging und in zahlrei­chen Anmerkungen die bestehenden Stellungnahmen zur Sache, seien es nun die von Philologen, von Journalisten oder Litera­turliebhabern, aufführte. Ein Mitglied der Jury hatte wegen dieser vielen Anmerkungen eingeworfen, das Buch sei sach­unangemessen, es verhalte sich zu seinem Gegenstand wie ein Elefant zum Schmetterling.

Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft 59

Wissenschaft zu werden8• Und das wiederum ruft, etwa seit den vierziger Jahren, die Meta-Literaturwissenschaft auf den Plan: sie ist, von hierher gesehen, ein Rettungsversuch zwei­ten Grades für die Literatur, dem auf der Seite der Litera­tur selbst ein unerhörter Verfeinerungs- und Vergröberungs­prozeß der Mittel entspricht mit Hermetisierung und Schock­wirkung. Es wird eben immer schwerer, die Wirksamkeit der Literatur gegenüber dem übermächtigen Potential der etab­lierten Leser und der etablierten Kritik in ihrem Sinne funk­

. tionsfähig zu erhalten. (Nathalie Sarraute gestaltet diese Problematik in Les Fruits d'or, 1964 mit großer Eindring-lichkeit.) Ja vielleicht dürfen wir sogar sagen, daß das Auftreten des Begriffs Literatur im modernen Sinne selbst schon eine erste Stufe in diesem Prozeß darstellte, denn die­ser bedeutete das Sichbewußtwerden einer bis dahin offen­kundig unbezeichneten Eigenwirklichkeit, und dieses Be­wußtwerden erfolgt bezeichnenderweise am Eingang der "Neuesten Zeit", im 18. Jhdt.

Gefahren für die Wirksamkeit der Literaturwissenschaft

Es würde zu weit führen, wollten wir nach den genannten alle weiteren Gefahren für die Wirksamkeit der Literatur­wissenschaft im oben umschriebenen Sinne nennen. Dies wäre schon deswegen unmöglich, weil laufend neue Gefahren ent­stehen, ja jeder noch so gute Weg in eine Gefahr umschla­gen kann, dann nämlich, wenn er uns nur noch dazu dient, die literarische Wirklichkeit zu überfahren anstatt in sie ein­zudringen. Aber das eine oder andere besonders Augen­fällige sei doch angeführt, so z. B. die Gefahr der Über­betonung des fachwissenschaftliehen Prinzips, die zur begriff-

8 Fälle wie Auerbachs Mimesis, aber auch Leo Spitzers erfrischende Initiativen (vgl. auch Ausführungen S. 151 ff u. 145) zeigen, wie befreiend es für die Literaturwissenschaft wirken kann, diesen Apparat nicht zur Verfügung zu haben oder ihn bewußt nicht in Bewegung zu setzen. Allerdings sollte man hieraus nicht eine Regel ableiten, ganz abgesehen davon, daß sich die Literatur­wissenschaft auf diesem Wege selbst die Berechtigung entziehen würde.

60 Theoretischer Teil

liehen · Hermetik führen kann, so daß nur noch wenige Eingeweihte Einblick haben (was bedauerlicherweise immer noch weitgehend als Idealvorstellung des Wissenschaftlichen gilt). Andererseits darf natürlich das Bemühen um Wirk­samkeit auch nicht zu einer Preisgabe des eigentlichen füh­ren, zu Vulgarisierungen, die dazu angetan sind, den litera­turwissenschaftlichen Leser in seiner Weise, Literatur zu sehen, zu beruhigen und zu bestätigen, die sich so nach dem literaturwissenschaftliehen Erwartungshorizont richtet an­statt ihn mitzubilden, und bilden heißt immer auch ein wenig korrigieren. Eine kaum ganz zu meidende Gefahr besteht sodann darin, daß man durch seine Deutung den Leser auf eine bestimmte Sehweise festlegt oder ihn doch mit ihr belastet und so die Wirksamkeit des Leseprozesses nur eingleisig fördert, sie fördert und zugleich einengt. Diese Gefahr können das Bewußtsein und das ehrliche Eingeständ­nis der Standortbedingtheit der eigenen Deutung9, der un­umgänglichen historischen, geschichtlichen wie auch indivi­duellen Perspektive meiden helfen. Es sollte allerdings auch die methodische Konsequenz hieraus gezogen werden, eine Konsequenz, auf deren praktische Ausprägung wir noch zu­rückkommen werden, die dialektischer Offenheit, privativ ausgedrückt, die der Meidung von Thesen mit dem Anspruch auf starre Gültigkeit. Der Literaturwissenschaftler und Kri­tiker kann unter dieser Voraussetzung den Leser förmlich in die Wirklichkeit der Literatur hineinführen und ihn dann als mündigen Leser und Interpreten zum weiteren Vollzug oder besser noch zum Neuansatz sich selbst über­lassen.

Literaturwissenschafi und Literaturunterricht

Das Ziel der Förderung des Leseprozesses ist aber nun nicht nur der Literaturwissenschaft eigen, sondern auch etwa dem Literaturunterricht, wie er in der Oberstufe unserer Höheren Schule in den einzelnen geisteswissenschaftlichen

9 Diesen Gedanken entwickelt H.-G. Gadamer in Wahrheit und Methode, S. 250 ff.

Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft 61

Fächern, vor allem im Deutschen, durchgeführt wird, aber auch als selbständiges Unterrichtsfach denkbar wäre. Das gleiche gilt darüberhinaus für private Lesezirkel, von denen manche sicher recht intensiv in diesem Sinne wirksam wer­den, es gilt auch für Feuilletonisten. Hier spätestens sollte uns daher bewußt werden, daß das spezifisch Wissenschaft­liche der Literaturwissenschaft weder in diesem Ziel noch überhaupt in dieser Funktion liegt. Ja wir können sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen: dieses Ziel muß zurücktreten, muß zu einem nur implizite gemeinten wer­den, wenn Wissenschaftlichkeit vorliegen soll; Literatur­wissenschaft muß, um Wissenschaft zu sein, im Hinblick auf ihr Publikum eine ähnliche operative Mittelbarkeit entwik­keln wie die Literatur selbst. Ein Feuilletonist beispielsweise schreibt im Hinblick auf die je nach Publikum und Feder unterschiedlich konzipierte Bildung der Leser; ein Oberstu­fenlehrer hat, wenn er sich· richtig verhält, seine Schüler im Sinn, d. h. er sieht den zu behandelnden Gegenstand für seine Schüler, wird höchstens einmal vorübergehend diesen Gegenstand ausschließlich im Hinblick auf eine Frage an­sehen, die er an ihn richtet. Das spezifisch Literaturwissen­schaftliche aber liegt in der strengen Systematik einer Un­tersuchung oder Darstellung, die aus einer Frage an Litera­tur (bzw. deren Bedingtheit, Voraussetzungen, Funktion oder Wirkung) erfolgt und methodisch eine Antwort auf diese Frage anstrebt. (Die gesellschaftspolitische Wirksam­keit tritt also zurück, ist nur mittelbar beteiligt als etwas im Vorher und Nachher Liegendes, als Voraussetzung, die sich mittelbar erfüllt). Es ist dabei unerheblich, ob diese Frage starr ist oder sich vom Gegenstand korrigieren oder sogar erst inspirieren läßt, denn der unbeweglichen Frage­stellung wird man trotz aller Bedenken hinsichtlich ihrer Literaturangemessenheit doch Wissenschaftlichkeit bescheini­gen müssen, weil sich diese im Grundsätzlichen entscheidet, nicht aber in der praktischen Ausprägung; ebenso wie an­dererseits das Eruieren und Korrigieren der Fragestellung aus dem Text heraus nicht grundsätzlich die Systematik des Vorgehens zu beeinträchtigen braucht9". Alles andere würde

9a Die von Wolfgang Wieland vorgeschlagene Formulierung,

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uns in Gefahr bringen, aus historischer oder individueller Sicht heraus den Begriff der Literaturwissenschaft ungebüh­rend einzuengen. Das gleiche gilt daher auch für die kon­krete Beurteilungsgrundlage, die sich der Literaturwissen­schaftler für das Ansetzen seiner Frage wählt: es ist grund­sätzlich unerheblich für die reine Tatsache der Wissenschaft­lichkeit des Literaturwissenschaftlers, welche Basis von Gege­benheiten dieser als Gegenstand und Grundlage der Beur­teilung wählt, seien es nun Normen oder sei es das kon­krete Werk, wie es geschrieben vorliegt, sei es dessen Stil oder dessen Vollzug im Lesen, sei es dessen Verhältnis zum Erwartungshorizont, seine Historizität oder seine Geschicht­lichkeit oder auch mehrere dieser Aspekte in ihrem Ver­hältnis zueinander.

Von Sinn und Problematik der Wissenschafilich~eit der Literaturwissenschaft

Wozu dient aber nun dieses spezifisch wissenschaftliche Vorgehen der Literaturwissenschaft? Welche Zielsetzungen rechtfertigen es, abgesehen von der bereits erwähnten even­tuellen Notwendigkeit, die gefährdete Lesbarkeit zu erhalten und zu fördern? Wir stellen damit die Frage nach dem ei­gentlichen der Literaturwissenschaft. Dieses eigentliche liegt in methodischer Erkenntnis und Deutung von Sachverhalten, die, eben als Literatur, im Zusammenhang der menschlichen Gesellschaft von Bedeutung sind. Diese Sachverhalte reichen zum Teil, insbesondere hinsichtlich der mythischen Aussage, über das hinaus, was sich mit Sicherheit wissen läßt. Denn wenn Literatur im engeren Sinne, und erst recht Dichtung, auf Grund ihrer mythischen Aussagehaftigkeit über den Bereich dessen vorstößt, was sich in Begriffe fassen läßt, wenn sie durch konnotative Polyvalenz und durch Unaus-

,.Zum Wesen der Wissenschaft gehört eine planmäßige Unter­suchung von Sachverhalten unter Voraussetzungen• (Möglich­keiten der Wissenschaftstheorie, Hermeneutik und Dialektik I, S. 31 ff), wird hierdurch nicht berührt, denn daß auch in einem solchen Fall nicht voraussetzungslos untersucht wird, ist selbst­verständlich.

Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft 63

schöpfbarkeit der Bedeutung gekennzeichnet ist10, wenn my­thische Erkenntnis sich dadurch auszeichnet, daß sie ihr Objekt von allen Seiten gleichzeitig hat, sie auch hinter es leuchten kann, während der "lineare Informationsaufbau" (S. J. Schmidt) begrifflicher Explikation den Sachverhalt im­mer nur "einsinnig", von einer Seite her treffen und fassen kann, dann können wir mit unseren Begriffen diesen eigent­lichen Bereich wohl angehen, können wir mit Aussicht auf Erfolg versuchen, den Vorteil mythischer Aussage durch Pluralität der Perspektive wettzumachen, aber wir können diesen eigentlichen Bereich eben doch nicht restlos in Wissen umsetzen und fi.xieren11• Hinzu tritt, daß die Literatur zu ihrer Aktualisierung im Leseprozeß, auf dessen konstitutive Bedeutung für die Literatur Jean-Paul Sartre in Qu'est-ce que Ia litterature? aufmerksam gemacht hat, immer vom Be­wußtsein eines seinerseits durch die historische Jeweiligkeit und durch Tradition bedingten Lesers abhängig ist. Sie bie­tet sich so mit jeder Deutung, aus neuer Perspektive be­trachtet mit neuer Bedeutung dar12 ; ihre Bedeutung kommt also nie an ein Ende, sie ist eine Art sich immer weiter hinausdehnender Horizont, dem der Horizont der Sekundär­literatur, sich als Parallele hierzu ebenfalls hinausdehnend, folgt, den er beschreibt, aber den er niemals definitiv an­halten kann, ebensowenig wie es ihm gegeben ist, sich selbst

10 Roland Barthes spricht im Zusammenhang mit Racine vom "art inegale de la disponibilite" und vermerkt dazu allgemein: "Cette disponibilite n'est pas une vertu mineure; elle est bien au COntraire l'hre m~me de la litterature, porte a son pa­roxysme. Ecrire, c'est ebranler le sens du monde, y disposer une interrogation indirecte, a laquelle l'ecrivain, par un dernier suspens, s'abstient de repondre." (Sur Racine, S. 11).

11 Um noch einmal Roland Barthes zu Wort kommen zu lassen: "La reponse, c'est chacun de nous qui la donne, y apportant son histoire, son langage, sa liberte; mais comme histoire, langage et liberte changent infiniment, la reponse du monde a l'ecrivain est infinie: on ne cesse jamais de repondre a ce qui a c\te ecrit hors de toute reponse: affirmes, puis mis en rivalite, puis remplaces, les sens passent, la question demeure". (Ebda)

12 So machte ich mit Gruppenreferaten die Erfahrung, daß hier­bei trotz gemeinsamer Erarbeitung der Fakten bei der indi­viduellen Ausarbeitung doch verschiedene und auch unter-

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aus der Bewegung auszunehmen. Wohl ist es möglich, den Bereich des Transzendierenden durch Wissen einzuengen; aber die Tragweite schöner Literatur wird nie in solchem Wissen aufgehen können13. Hier, in der zu analysierenden Sache, liegt somit jene Problematik der Literaturwissenschaft begründet, von der wir in der "Vorbemerkung" gesprochen haben und die im Grunde, im weitaus geringerem Maße allerdings, auch schon für die Basis von Literatur gilt, für Rhetorik, "aktuelle" Literatur, für den Essay, kurz, für alle Literatur, die bei einer bewußtseinstranszendenten Sache ist (vgl. S. 32 ff.). Denn auch diese Basis, der selbstverständlich der "Aufstieg" zur schönen Literatur offensteht, ist ja nur Literatur, wenn in ihr eine über den operativen Zweck hin­ausgehende Selbstzuordnung der Sprache vorliegt; und diese Selbstzuordnung bringt unausweislich konnotative, polyva­lente, nicht mehr oder doch nur sehr schwer14 ausmeßbare Bedeutung und Wirkung ins Spiel. Literaturwissenschaft ist in der Tat eine Illusion, wenn sie besagen soll, daß Litera­tur in der Fülle dessen, was sie als begegnende ist, durch systematisches Wissen definitiv erfaßt und als solche "archi­viert" werden könnte.

Das Gesagte soll aber keineswegs bedeuten, daß die Lite­raturwissenschaft überhaupt nicht systematisch gewonnenes

schiedlich zu bewertende Thesen formuliert wurden, während umgekehrt eine gemeinsame Ausarbeitung unbefriedigend blieb, weil sie in sich unstimmig war. (Das ist allerdings nur für den Fall der zu leistenden Ausdeutung gültig. Ein Gruppenreferat, dem nur Feststellungsakte obliegen, könnte selbstverständlich auch in zufriedenstellender Weise gemeinsam redigiert werden.)

13 "Das philosophische Wissen darf also gerade um seines Gegen­stands willen nicht zum Wissen gerinnen", formuliert Peter Szondi (Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissen­schaft).

14 Wie schwer das ist, illustriert jetzt recht eindrucksvoll Roland Barthes, mit S/Z, wo der Autor aufmerksam dem "pluriel" von Balzacs Sarrasine zu folgen bestrebt ist.

14a Ich denke etwa an E. Staiger, Grundbegriffe der Poetik, W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, E. Lämmert, Baufor­men des Erzählens, an Volker Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama, München 1969, an Formalismus und Struk­turalismus.

Was ist und wozu diellt Literaturwissenschall 65

definitives Wissen zu erreichen vermöchte. Sie kann dies u. a. auf dem Gebiet der Aussage zur Literatur im allgemeinen, zu ihrer Sprache, ihren Gattungen und Aufbauformen14",

kann es auf dem Gebiet der individuellen Gestalt des jewei­ligen oder, vergleichend, der jeweiligen Texte, kann es auch in Bezug auf deren groben Inhalt. Eine Untersuchung zu den Vergleichen ln Balzacs Romanen kann, um nur ein grobes Beispiel anzuführen, Definitives zur Sache sagen (was hin­sichtlich der Ausdeutung dieser Fakten allerdings schon we­sentlich schwieriger ist), ebenso eine Untersuchung, sagen wir, zur Erzähltechnik von Robbe-Grillet. Weitere Möglich­keiten, definitives Wissen zu erreichen, stehen der Literatur­wissenschaft offen über die Frage nach dem Bedingtsein der Literatur durch Autor, Epoche, Gesellschaft sowie über die Frage nach dem Erwartungshorizont, an den sich die Lite­ratur wendet, nach der Tradition, die Literatur fortsetzt, nach der Eiuwicklung, die sie beschreibt, nach der Wirkung, die sie in einem gröberen, materialisierbaren Sinn, ausübt.

Das alles ist freilich nicht dazu angetan, die Literatur­wissenschaft auch nur in den Verdacht einer exakten Wis­senschaft im Sinne der Naturwissenschaften zu bringen. Die Literaturwissenschaft hat es abgesehen von der reinen Theorie nicht mit unwandelbar gesetzmäßig sich verhaltenden Ge­genständen zu tun, sie kann folglich nicht, wie die Natur­wissenschaft, nomothetisch sein (nach griechisch nomos "Ge­setz"), kann nicht Gesetze feststellen und in ihnen die Frage endgültig zur Ruhe bringen. Auch da, wo sie, im theoreti­schen Bereich nämlich, Gesetzmäßigkeiten und überzeitlich Gültiges feststellt oder feststellen zu können glaubt, bleibt sie zur "Verifikation" auf eine Wirklichkeit angewiesen, die dieser Theorie im Einzelfall nur zu leicht spottet. Sie ist in ihrem Eigentlichen idiographisch (nach gr. idios "eigentlich", "individuell")16, ist letztlich auf individuelle, dem histori­schen Wandel unterworfene Erscheinungen angewiesen. Un­beschadet der Möglichkeit einer Befruchtung durch natur­wissenschaftliche Methoden und der berechtigten Hoffnung, über eine allgemeine, theoretische Literaturwissenschaft die

15 Diese vielzitierte Auffassung erarbeitet der Heidelberger Phi­losoph Wilhelm Windelband gegen Ende des 19. Jhdts.

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historische Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überbrücken zu können, entscheidet sich daher ihr Geschick wesentlich im Zusammenhang der sogenannten Geisteswis­senschaften, für deren Problematik sie überdies mit einem beachtlichen Teil der ihr anvertrauten Aufgaben noch einen besonders prekären Sonderfall bietet, eben den des Beschäf­tigtseins mit mythischer Aussage. Lediglich die Theologie kann für sich in Anspruch nehmen, sich für einen Teilbereich, die Bibelexegese, einer ähnlich zugespitzten Problematik gegenüberzusehen. Wir werden also die Problematik der Geisteswissenschaften als Ganzes ein wenig mit einbeziehen müssen, wenn wir uns nun der Gretchenfrage der Literatur­wissenschaft stellen, uns fragen, ob LiteraturwissensChaft oder, besser gesagt, das, was vorgibt, eine solche Wissenschaft zu sein, in diesem ihren problematischen Kern wirklich Wissen­schaft zu sein vermag. Ein Rückblick auf die Geschichte des Wissenschaftsbegriffs soll uns hierbei, ähnlich wie im Falle des Begriffs Literatur, "erste Hilfe leisten".

Ein Exkurs (Zur Geschichte des Wissenschafisbegriffs)

Das abendländische Wissenschaftsdenken hat seine Ur­sprünge bei den Griechen, deren Begriff der Wissenschaft (Episteme) ein geordnetes, systematisch gewonnenes Wissen im Verband des Ganzen als allumfassenden Vorwurf des Erkennens meinte, der also auch den Bereich des nur durch den Glauben Erreichbaren intentional mit umfaßte. Aristo­teles unternahm im Rahmen dieser Allzugeordnetheit der Wissenschaften eine Scheidung in theoretische, am unverän­derlichen Kosmos orientierte und praktische, mit den wech­selnden Umständen des menschlichen Zusammenlebens be­faßte Wissenschaften. Diese Unterscheidung bedeutet einen Ansatz zur Verselbständigung von Wissenschaftszweigen, doch blieb die Oberwölbung durch das Ganze als Horizont des Erkennens. Das Mittelalter mit seinem System der Artes liberales trieb auf der einen Seite diese Verselbstän­digung der Einzeldisziplinen ein gutes Stück voran, blieb aber andererseits hinter dem aristotelischen Ansatz zurück. Weiter trieb es die Entwicklung, insofern nun die Einzel-

Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft 67

wissenschaften als Stufen große Selbständigkeit erhielten (Gradualismus). Es blieb hinter Aristoteles zurück, weil nun diese Wissenschaften als Trivium (das sind die praktischen Wissenschaften) miteinander einen gestuften Weg (daher auch Trivium, Quadrivium) bildeten. Dieser Weg führt von der untersten "praktischen" Wissenschaft, der Grammatica, hin­auf bis zur höchsten, dem Himmel und dem göttlichen Nous nahen "theoretischen" Wissenschaft, der Astronomie16• Die Selbständigkeit der einzelnen Stufe ist also, anders betrach­tet, relativ. Im übrigen blieb die Offenheit für den Bereich mythischer17 Erkenntnis erhalten, wenn sie sich nicht gar verstärkte, denn nicht nur bieten sich eine ganze Reihe be­deutender "wissenschaftlicher" Werke des Mittelalters, etwa De Mundi Universitate von Bernardus Silvestris und der Anticlaudianus von Alanus von Lille als Dichtungen, im Prosimetron, dar, sondern der Begriff der Ars, der die lite­rarische Erkenntnis und das Sichverstehen auf sie umfaßte, unterstrich noch diese Offenheit. Der Humanismus sodann greift auf die aristotelische Unterscheidung zurück und wen­det sich hierbei vor allem den praktischen Wissenschaften zu, welche das Mittelalter gegenüber den theoretischen un­terbewertet hatte; auch hier bleibt selbstredend, wie es von einem Humanismus nicht anders erwartet werden kann, die t:lffnung zum Ganzen und zum Mythos hin erhalten. Erst seit der kopernikanischen Wende, seit dem Beginn der ei­gentlichen Renaissance und d. h. seit der Loslösung des Menschen aus einem ihn haltenden, ihn im Zentrum haben­den metaphysischen Rahmen reift dann unaufhaltsam, über Galilei, Descartes und Leibniz, eine Entwicklung heran, die wohl auch noch das Ganze im Blick behalten möchte, jedoch den theoretischen Aspekt desselben verabsolviert, als einzig maßgeblich und zum Ganzen führend ansieht. Leibniz glaubt daraus die Konsequenz ziehen zu müssen, daß Wis-

16 Dazu E. R. Curtius, Europäische Literatur ... , S. 49 ff; bei Curtius kommt allerdings der Blick für das Ganze zu kurz. -Zum folgenden auch A. Buck, Humanismus und Wissen­schaften.

17 "Mythisch" hier in beiderlei Sinn, also als Aussagehaftigkeit der Literatur und als Mythus im Sinne von Mythologie.

68 Theoretischer Teil

senschaft sich an der Mathematisierbarkeit messe; eine Posi­tion, die Kant noch verstärkt und für allgemeinverbindlich erklärt18• Es war dies eine Entwicklung, die als solche gut und - abgesehen von den gezogenen Konsequenzen - nütz­lich, ja notwendig war im Interesse des menschheitsgeschicht­lichen Fortschritts, doch mußte sie, wenn sie nicht zur unge­bührenden Verabsolutierung eines Aspektes des Ganzen und damit letztlich zu einer Frustrierung der menschheitsge­schichtlichen Entwicklung führen sollte, die sie im Prinzip zu fördern angetan war, ihr komplementär zu denkendes Gegengewicht finden in entsprechend stark ausgeprägten Wissenschaften jener anderen, hier nicht berücksichtigten Seite des Ganzen, der Geschichte, des Staates, der Gesell­schaft, der Religion, der Literatur. So erfolgte später, im deutschen Idealismus, in der sogenannten historischen Schule, im Entwurf einer universalen Hermeneutik durch Schleier­macher, in Romantik und Neuhumanismus eine entscheiden­de Erneuerung dieses bedrohten Zweiges des Wissenschafts­ganzen, der praktischen Wissenschaften. Bedeutende deutsche Universitäten, darunter die jetzt nach dem führenden Neu­humanisten benannte Humboldt-Universität in Berlin, ver­danken dieser Erneuerung ihre Entstehung. Die Romanistik schuldet ihr indirekt ihren ideellen Gründungsakt, die Ent­deckung der Einheit der Romanischen Sprachen durch Fried­rich Diez (1836-43 erschien seine Grammatik der romani­schen Sprachen). Die so notwendige theoretische Begründung dieser praktischen Wissenschaften sollte jedoch erst Wilhelm Dilthey gegen Ende des 19. Jhdts. vollziehen.

Mag diese Begründung in manchem noch so unvollkom­men ausgefallen sein, sie hat unbestreitbaren epochemachen­den Rang. Dilthey versucht Kants Kritik der reinen Vernunft eine "Kritik der historischen Vernunft" entgegenzusetzen und vollzieht so die offizielle Grundlegung jener Geisteswissen­schaften, die seit dem deutschen Idealismus als notwendiges Gegenstück zu den Monopolanspruch erhebenden Naturwis­senschaften als Sache heranreifte. Zwar ist dieser Terminus,

18 Das Heranreifen des Monopolanspruchs naturwissenschaftlichen Denkens liegt unverkennbar parallel zu dem des Terminus Literatur.

Was ist und wozu dient Literaturwissenschaft 69

Geisteswissenschaften, für den sich Dilthey auf die Logik von J. St. Mill19 berufen konnte, nicht besonders glücklich, liegt ihm doch die Vorstellung zugrunde, daß es die Geistes­wissenschaften mit der inneren, eben geistigen Erfahrung zu tun haben, die Naturwissenschaften hingegen mit einer äu­ßeren Erfahrung, aber die Alternative "Gesellschaftswissen­schaften" ist nach der anderen Seite hin zu eng. Geht der Terminus Geisteswissenschaften zu sehr vom sich in den wandelnden Umständen objektivierenden Geist aus, bringt er der Tendenz nach eine Oberbetonung dieses Poles der un­trennbaren Gesamterscheinung historischen Lebens mit sich20,

so geht der Terminus Gesellschaftswissenschaften zu sehr vom anderen Pol aus, bedeutet er der Tendenz nach eine Oberbetonung der (dialektischen) Materie als des allbestim­mend Ersten und Ausschlaggebenden, was genauso unsach­lich ist. Mir scheint daher der Terminus praktische Wissen­schaften --'- auch gegenüber dem im übrigen recht brauchba­ren Begriff der Humanwissenschaften - vorzuziehen.

Zur augenblicklichen Situation der praktischen Wissen­schaften und der Literaturwissenschaft insbesondere

Der Terminus praktische Wissenschaften scheint mir auch deswegen günstig, weil er einmal eine epistemologisch klarer zu fassende Trennung gegenüber den theoretischen Wissen­schaften ermöglicht, zum anderen aber gerade deshalb auch offenbar werden läßt, daß die Literaturwissenschaft es gar nicht so eindeutig nur mit Wandelbarem zu tun hat, sie auch

19 Der Terminus "Geisteswissenschaften" wurde höchstwahrschein­lich durch J. Schieis Übersetzung von Mills Logik eingebür­gert: System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Dar­legung der Prinzipien wiss. Forschung, insbesondere des Natur­forschers von J ohn Stuart Mill. Ins Deutsche übertragen von J. Schiel, 1849. (Vgl. zur Terminologie E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1948, S. 5 ff).

20 Diese ist zweifellos eine direkte Folgeerscheinung des deut­schen Idealismus, wie es denn auch bezeichnend ist, daß die Bezeichnung Geisteswissenschaft über die Grenzen des deut­schen Sprachbereiches hinaus keine Verbreitung fand.

70 Theoretischer Teil

theoretische Aspekte hat (was in noch höherem Maße etwa von der Soziologie gilt). Russische Formalisten und Struk­turalisten haben unter anderem gezeigt, daß man unter Vor­aussetzungen die Wirklichkeit Literatur auch theoretisch fas­sen und analysieren kann, daß man sie als Erkenntnisgegen­stand von der praktischen Wirklichkeit ablösen und solcher­art zu theoretischen Erkenntnissen kommen kann. Damit scheint eine Öffnung zu den theoretischen Wissenschaften durchaus möglich, allerdings - und das muß betont wer­den - unter der Voraussetzung der Abstraktion, des Sich­wegbewegens vom Individuellen ins Allgemeine von Lite­ratur. Diese unter der genannten Voraussetzung bestehende Möglichkeit, die heute im Zuge einer auch in anderen prak­tischen Disziplinen spürbaren Annäherung zwischen theore­tischen und praktischen Wissenschaften von vielen enthusia­stisch begrüßt wird und die in der Lage ist, auch die erken­nende und deutende Hinwendung zur praktischen Textwirk­lichkeit beträchtlich zu befruchten und abzusichern, sollte da~ her nicht dazu führen, daß man nun "das Kind mit dem Bade ausschüttet". Eine der Hauptaufgaben der Literaturwissen­schaft, die der Analyse von Literatur als praktischer, indi­viduell begegnender Texte, liegt unzweideutig im Bereich der praktischen Wissenschaften.

Die beiden Hauptcharakteristika dieser praktischen Wis­senschaften, wie wir sie unter Rückgriff auf Aristoteles und die humanistische Tradition nennen wollen, erklären sich aus der Besonderheit ihres Erkenntnisgegenstandes und der sich hieraus ergebenden methodischen Grundhaltung. Diesen Ge­genstand bilden nämlich kraft der Selbstdefinition dieser Wissenschaften die wechselnden Umstände des menschlichen Zusammenlebens. Da aber diese wechselnden Umstände erst nach dem Wechsel als Wechsel evident werden, ergibt sich daraus, daß die praktischen Wissenschaften ihren Gegenstand nie unmittelbar haben, sondern als Zeugnis; sie sind also mittelbare Erfahrungswissenschaften, die an die historische Dimension, an das Vergangensein gebunden sind - wobei allerdings im Unterschied zu gängigen Meinungen der mini­malste Abstand, eben das grundsätzliche Vergangensein ge­nügt21. Hierin liegt nun der Grund für das zweite, das me­thodische Grundcharakteristikum der praktischen Wissen-

Was ist und wozu dient Literaturwissenscbafl 71

schaften, auf dessen Bedeutung für die sogenannten "Geistes­wissenschaften" Dilthey aufmerksam gemacht hat, das An­gewiesensein auf die Hermeneutik, die Kunst des Ausdeutens.

Mit diesen beiden Grundcharakteristika ist zugleich die Aufgabe der praktischen Wissenschaften und die Grundvor­aussetzung für deren Erfüllung als Wissenschaft umrissen. Sie stellen einem Denken, das die Unbewegtheit von Ge­setzen sieht, ein nicht antinomisches, sondern komplementä­res, bei manchen in Vergessenheit geratenes Wissen an die Seite, ein Wissen, das dem Sichwandelnden gilt und folglich über sich hinausweist, letztlich nie an ein Ende kommen kann. Es ist dies, für den Fall der Literaturwissenschaft gesehen, ein Wissen, das mit dem Kern der ihm zugrundeliegenden Fragestellung nur als Unterwegs, als methodos denkbar ist, als Wissenper approximationem22 • Die Literaturwissenschaft ist, von hierher betrachtet, in einem ganz tiefen Sinne "science humaine", "human science", menschliche und d. h. teleologische, über sich hinausreichende Wissenschaft. Sie ist, mit diesem ihrem Schwergewicht, Wissensch:rfl: von dem, was ohne Zweifel ist und zu wissen ansteht, das wir aber doch nur annähernd, im Annähern, zu wissen vermögen.

Literaturwissenschaft und Forschung

Mit diesen Voraussetzungen eines beweglichen Erkenntnis­gegenstandes und der Beweglichkeit des Erkenntnisaktes selbst hängt es zusammen, daß Literaturwissenschaft da, wo sie sich dem Kernbereich der ihr zu wissen anvertrauten Sache widmet, eine dynamische Wissenschaft ist oder doch

21 Vgl. meinen Aufsatz "Etappen des französischen Romans im 20. Jhdt", NM 1970, S. 73 ff.

22 H. Albert (Probleme der Theoriebildung, Theorie und Reali­tät, hrsg. v. H. Albert, Tübingen 1964, S. 3-70) formuliert im Hinblick auf die Gesellschaftswissenschaften: "An die Stelle einer Manifestationstheorie tritt also eine Approximations­theorie der Erkenntnis, verbunden mit einer kritischen Metho­dologie" (S. 17). Ähnlich äußert sich H. Friedrich in "Struk­turalismus und Struktur in literaturwissenschaftlicher Hin­sicht".

72 Theoretischer Teil

sein sollte, eine Wissenschaft, die sich auch im fixierten Zu­stand nahezu als Forschung darbietet. Man braucht nur ein­mal die Probe aufs Exempel zu machen und sich literatur­wissenschaftliche Werke daraufhin anzuschauen: man wird feststellen, daß diese zum weitaus größten Teil aus Darstel­lungen bestehen, die zwar auch Wissen vermitteln - wenn auch kein eqdgültiges -, aber mehr noch dieses Wissen erst heraufführen und entwickeln. Eine bloße Darstellung des Wissens würde man hier sogar oft als "unwissenschaftlich", zum mindesten nicht spezifisch literaturwissenschaftlich emp­finden. Man erwartet geradezu von einem literaturwissen­schaftliehen Werk hermeneutischer Prägung, daß in ihm die Forschung, das methodische Sichbemühen um Erkenntnis als Antwort auf eine Frage an den Gegenstand, durchscheine. Natürlich ist es andererseits nicht so, daß das, was wir da lesen, Forschung wäre. Die Forschung, als Offenheit in der Frage, liegt zurück, wenn es zur Wissenschaft kommt. Man hat sich zuvor vergewissert, daß sie zu Ergebnissen, zu Wis­sen, wenn auch in einem vorläufigen Sinne, führt. Aber man weiß auch oder spürt, daß dieses Wissen nicht ohne weiteres von sich her einzuleuchten geeignet ist, daß ihm der Weg beigegeben werden muß, auf dem man es fand. Der Leser verlangt Beweise, und von diesem Beibringen der methodo­logischen und sachlichen Beweise wird es zu einem großen Teil abhängen, ob er die Arbeit als wissenschaftlich aner­kennt oder nicht. Ja es ist nicht ausgeschlossen, sogar nicht selten der Fall, daß man einem Werk nachsagt, es überzeuge als gründliche wissenschaftliche Leistung, komme aber zu falschen oder doch unhaltbaren Ergebnissen, wobei dieser be­dauernde Nachsatz ganz offensichtlich kein Hinderungs­grund ist für die Anerkennung des Werkes als Wissenschaft. Diese völlige Verlagerung des entscheidenden Kriteriums der Wissenschaft vom positiven Wissen auf den Nachweis der Erkenntnisbildung überspannt allerdings den Bogen der Mög­lichkeiten, sobald hierin das für diesen Bereich geltende Grundprinzip literaturwissenschaftlicher Relevanz, das der Approximation, durchbrochen wird.

Dies läßt erneut bewußt werden, daß die Literaturwissen­schaft mehr noch als andere praktische Wissenschaften, hierin vielleicht nur der Theologie vergleichbar, in der Gefahr steht,

Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft 73

nach der Seite des bloßen Meinens oder der selbstgenügsamen Wissenschaftlichkeit hin ihre spezifische Aufgabe als prak­tische Wissenschaft zu vergessen. Wie jedoch dies vermieden werden kann, ist eine Frage der Methode, so daß nunmehr der Augenblick gekommen ist, uns unmittelbar dem für die Literaturwissenschaft so entscheidenden Problem ihrer Me­thoden zuzuwenden und so vom einleitenden Teil die Brücke zu schlagen zum ersten methodenspezifischen Teil.

3 METHODISCHE GRUNDBEDINGUNGEN

DER LITERATURWISSENSCHAFT

Hermeneutik und Empirie

Die erste methodische Grundbedingung der praktischen Literaturwissenschaft liegt darin, daß in ihr zwei methodische Grundhaltungen, die man in der Methodendiskussion oft als unvereinbar ansieht1, untrennbar aufeinander angewiesen sind, Hermeneutik und Empirie, genauer gesagt, literatur­bezogene Hermeneutik und eine mittelbare Form der Em­pirie. Diese mittelbare Empirie entspricht etwa dem, was Jürgen Habermas in Zur Logik der Sozialwissenschaften "Er­fahrungen zweiter Stufe" nennt (S. 28) und er als charakte­ristisch für die Geisteswissenschaften herausarbeitet, insofern nämlich diese Sachverhalte analysieren, die "das komplexe Verhältnis von Aussagen zu Sachverhalten selber schon ent-

So auch noch H.-G. Gadamer, der den Begriff der Empirie aus dem Bereich der Geisteswissenschaften ausschließen möchte als unangemessene Übertragung naturwissenschaftlichen Denkens. Vgl. auch ]. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, der unter anderem H. Schelskys kühnen, sicher unzutreffenden Entwurf bespricht (Einsamkeit und Freiheit, Harnburg 1963), nach dem in der modernen Gesellschaft die historische Dimen­sion zum Erliegen gekommen sei, eine nomologische Erfassung also nicht nur möglich, sondern angemessen sei. Man sieht hier, wie wichtig die praktischen Wissenschaften, unter ihnen die Li­teraturwissenschafl: in besonders verantwortungsvoller Weise, heute sind, wenn noch das Gleichgewicht des Erkennens als Ganzem bewahrt bleiben soll.

74 Theoretischer Teil

halten" (ebda). Habermas hat dabei insbesondere den Fall der Soziologie vor Augen, für die die Frage, ob Empirie oder nicht, im Streit über den mit zu falsifizierenden Thesen arbeitenden, methodologisch und "auch inhaltlich an die no­mologischen Realwissenschaften" anschließenden kritischen Rationalismus (Popper, Albert) und eine hermeneutische bzw. marxistische kritische Theorie (Habermas)2 entscheiden könnte. In der Literaturwissenschaft ist die Lage zugleich komplizierter und einfacher. Sie ist eii).facher, insofern wohl niemand ernsthaft auf den Gedanken kommen könnte, die Beschäftigung mit Literatur in der Falsifikation von Hypo­thesen aufgehen zu lassen, so bedeutsam dieser Aspekt auch bei Formalisten und Strukturalisten sein mag, so erfolgver­sprechend er auch grundsätzlich ist. Die Lage ist in der Lite­raturwissenschaft komplizierter, insofern der zu analysie­rende Gegenstand hier nicht einmal immer als Aussage zu Sachverhalten gegeben ist, sondern oft - im Falle schöner Literatur in der Regel -nur als eine potentielle, im erleben­den Lesen erst zu aktualisierende, die reine Aussagehaftig­keit transzendierende Erlebniswirklichkeit. Wir können also das Modell soziologischer Methodenreflexion, die der lite­raturwissenschaftliehen um etliches voraus ist, nicht überneh­men. Es kann uns im einen oder anderen helfen, doch unsere Schwierigkeiten nicht lösen.

In der Tat verfolgt die literaturspezifische, der schönen Li­teratur zugewandte Hermeneutik (ohne die Literaturwissen­schaft nun einmal nicht zu denken ist), hierin, soweit ich sehe, nur noch der Bibelexegese vergleichbar, kein geringeres Ziel als jenen Sinn aufzuspüren, zu verdeutlichen und, so gut wie möglich, ins Begriffliche zu übertragen, den Zuordnung und Mythos dem unmittelbaren Zugriff des denkerischen Ver­stehens__entzogen haben. Sie verdient also vollauf ihren Na­men, nicht nur etymologisch (hermeneuein = "ausdeuten", 11Zum Verstehen bringen"); sondern auch mythologisch be­trachtet, denn Hermes ist der Vermittler zwischen Göttern und Menschen; ganz entsprechend soll hier die in statu transcendendi befindliche, sozusagen den Blicken enthobene

2 Dazu J. Hauff u. a., Methodendiskussion I, S. 4 ff, 17 f, 29 ff, 36 f, 56 ff.

Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft 75

Wirklichkeit des Textsinnes dem begrifflichen Verstehen wie­der entgegengeführt werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß hierzu auch andere Organe eingesetzt werden müssen als die reine Vernunft, denn wie sollte sonst eine solche Vermittlung zustandekommen können? Die "raison du cceur", wie man es mit Pascal nennen könnte3, muß beteiligt werden, um dies zu bewerkstelligen, Intuition und künst­lerisches Einfühlungsvermögen4 müssen ihre Dienste leihen, sensus communis und Geschmack müssen die Urteilsbildung mit tragen5• Das Risiko des Irrtums ist also ungleich größer als bei einem historischen oder soziologischen Dokument.

Hermeneutik als wissenschafiliche Grundhaltung vertraut sich aber diesen Kräften der praktischen Vernunft nicht ein­fach an, sie muß diese zügeln und lenken, muß den Deut­akt, ihr Kernstück, mit der genannten zweiten Grundhal­tung, mit einer mittelbaren Form der Erfahrung verbinden. Solche Möglichkeiten einer mittelbaren Erfahrung bieten ein­mal der Text selbst, sodann andere Texte, über die man im Vergleich das Jeweilige des zu analysierenden Textes ermit­teln, aber auch das den Texten Gemeine ableiten und so zum überindividuellen und Allgemeinen von Literatur vorstoßen kann, und, schließlich, außerliterarische Wirklichkeit in Form von Dokumenten und anderen Zeugnissen, die uns beispiels­weise gestatten, den terminus ante quem eines Werkes fest-

3 So E. Betti, Ausdeutungsl.; B. ordnet diese "raison du creur" unter Berufung auf Nicolai Hartmann einem "Kosmos der Werte, der jenseits der phänomenalen Realität und des subjektiven Be­wußtseins liegt", zu. Es fällt mir schwer, diesen "idealistischen" Vorstellungen zu folgen. Im übrigen scheint mir Betti voraus­zusetzen, daß die allgemeine Auslegungslehre die Methodik der Geisteswissenschaften sei, was ich vom Standpunkt der Litera­turwissenschaft aus, und zwar nicht nur für diese allein, für fragwürdig halte.

4 Hermann Helmholtz versuchte bekanntlich 1862 in einer in­zwischen berühmt gewordenen Rede, die Geisteswissenschaften dadurch von den Naturwissenschaften abzuheben, daß ersteren eine "künstlerisch-instinktive Induktion" zugrundeliege. Er ver­sucht so begrifflich zu vereinbaren, was man der Klarheit halber getrennt sehen sollte: Hermeneutik und Erfahrung.

5 Dazu H.-G. Gadamer, a. a. 0., S. 7 ff.

76 Theoretischer Teil

zustellen aber auch, Feststellungen zu treffen über Wirk­radius, Voraussetzungen, Tradition, Erwartungshorizont und das im Werk "aufgehobene" Besondere. Diese mittelbare Er­fahrung, die eine ganz echte, kontraHierbare Form der Er­fahrung ist, muß die Deutung ausweisen als wissenschaftlich und die Möglichkeit der Kontrolle liefern. Wohl erlaubt sie im Falle schöner Literatur keine echte Verifikation im Hin­blick auf den Inhalt der Deutung selbst, denn deren Gegen­stand ist der Erfahrung im empirischen Sinn unerreichbar, aber sie bietet doch die Möglichkeit einer Art von Verifika­tion, eben die einer mittelbaren Verifikation, die jene me­thodische Selbstdisziplin garantiert, ohne die Wissenschaft nicht denkbar ist. Diese Möglichkeit wächst im allgemeinen erheblich bei der Beschäftigung mit der - vernachlässigten -Basis von Literatur, etwa im Umgang mit Werken überwie­gend kennzeichnenden Charakters, mit Essays, Traktaten, Dialogen, Poetiken etc.6• Die mittelbare Erfahrung kann im übrigen beim einzelnen wissenschaftlichen Werk vom Zweck des dienend zugeordneten Moments zu ausschlaggebender Be­deutung aufrücken, doch muß sie in irgendeiner Form an die literaturbezogene Hermeneutik gebunden bleiben, sonst han­delt es sich nicht mehr um Literaturwissenschaft.

Deutakt und Feststellungsakt

Bedenken wir aber wohl, daß diese mittelbare Empirie nicht nur mittelbar ist im Hinblick auf die literaturbezogene Deutung, der sie mehr oder weniger eng zugeordnet er­scheint, sondern daß sie selbst in sich mittelbar ist, insofern sie auf einem hermeneutischen Akt aufruht. Denn der Text und das Dokument sind keine unmittelbare Wirklichkeit, sondern sie haben Zeugnischarakter. Die hier mitbeteiligte

6 Sie wächst im allgemeinen und nicht etwa grundsätzlich, weil die Basis von Literatur grundsätzlich die Möglichkeit hat, das Schwergewicht ihrer Aussage in den Bereich von schöner Lite­ratur und gar Dichtung hineinzutragen. (Vgl. meine Ausfüh­rungen im Kap. III von Helene Harth - Leo Pollmann, Paul Valery, Frankfurt a. M. 1972.)

Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft 77

Hermeneutik ist aber nun nicht mehr eine literaturspezi­fische, sondern sie ist sozusagen eine Hermeneutik ersten Grades, eine Hermeneutik, wie sie auch die Soziologie oder die Geschichtswissenschaft als methodische Grundhaltung kennen und wie sie zu Feststellungen führt oder doch füh­ren kann. Welchen Wortlaut ein Text hat, was ihn unter­scheidet von einem anderen, welches seine Charakteristika sind, welche thematischen und semantischen Zuordnungen in ihm spielen und welcher Aufbau ihn auszeichnet, all das kann ich objektiv feststellen. Wohlgemerkt ist dieses Fest­stellen noch nicht ein Erklären, erst recht nicht eines im wis­senschaftstheoretischen Sinn. (Man unterscheidet hier nämlich die Naturwissenschaften als erklärende von den Geistes­wissenschaften; erklären bedeutet so in diesem Fall mehr als ein ,bloßes Erklären', es besagt erklären als nomothetisches, Gesetze feststellendes Erklären.) Aber dieses Feststellen ist als solches auch kein Deuten mehr, sondern es liegt in einem neutralen Zwischenbereich zwischen Deuten und Erklären, ist eine Objektivationsbasis, über die die Literaturwissen­schaft Anschluß findet an die übrigen praktischen Wissen­schaften, eine Objektivationsbasis, deren Möglichkeiten weit mehr und konsequenter ausgeschöpft werden sollten, als das bisher geschieht.

Es mehren sich sogar die Anzeichen, daß über diese Ob­jektivationsbasis zwar nicht die Literaturwissenschaft selbst eine Naturwissenschaft zu werden beanspruchen könnte (eine solche "Hoffnung" hegen, hieße die spezifische Aufgabe der Literaturwissenschaft verkennen), ihr abet doch hie und da der Brückenschlag zum Ufer nornethetischer Wissenschaften gelingt. Die erfolgreiche Anwendung statistischer Methoden, im Bereich der metrischen Redundanz etwa, das Experiment einschlägiger semiotischer Analysen und manch andere Ver­suche, über deren Spektrum man sich im Band Mathematik und Dichtung (3. Aufl. München 1969) bequem orientieren kann, zeigen, daß hier manch ermutigende Initiative ergrif­fen wird, um die als Antinomie mißdeutete Komplemen­tarität von theoretischen und praktischen \Vissenschaften wieder im rechten Licht erscheinen zu lassen7. 7 K. 0. Apel (Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik) betont

mit Recht diese Komplementarität.

78 Theoretischer Teil

Subjektivität und Objektivität

Die obligatorische, selbstdefinitorisch bedingte Bindung an eine Form des literaturspezifischen Deutaktes, und in gerin­gerem Maße auch die im Feststellungsakt implizierte Herme­neutik bringen es mit sich, daß der literaturwissenschaft­liehen Objektivität im Bereich des Deutens von schöner Lite­ratur klare Grenzen gesetzt sind (ein Umstand, der schon manche Resignation und Flucht in die Faktizität zur Folge hatte8). Es ist dies, so paradox sich das anhört, eine Objek­tivität, die Subjektivität zur Voraussetzung hat. Sie ist nur erreichbar unter Beteiligung von Akten, die vom partiku­lären Bewußtsein und von dessen Stand in der Zeit, die von der individuellen Subjektivität und von dem, was H. G. Gadamer Überlieferungsgeschichte nennt, entscheidend ab­hängen und mitgeprägt werden. Diese unumgängliche Grundbedingung, den subjektiven Aspekt des sogenannten hermeneutischen Zirkels, den Zirkel der Geschichtlichkeit des Verstehens selbst, gilt es nüchtern zu sehen. Wenn Ga­damer in seinem grundlegenden Werk zur Hermeneutik als Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften von den Geisteswis­senschaften allgemein sagt, daß in ihnen "trotz aller Metho­dik ihres Verfahrens ein Einschlag von Tradition wirksam ist, der ihr eigentliches Wesen ist" (S. 267), dann gilt das nicht nur auch von der Literaturwissenschaft, sondern es nimmt hier einen besonders hohen Aktualitätsgrad an we­gen der umschriebenen literaturspezifischen Hermeneutik; wobei noch hinzukommt, daß hier die Gefahr individueller Subjektivität viel größer ist, ja diese Subjektivität nicht ein­mal nur als Gefahr gesehen werden darf, denn sie kann hier zur Linse werden, die erst zu sehen gestattet. Wir kön­nen die Literatur, vor allem die schöne Literatur, nicht frei schauen wie eine Zahl, eine Formel oder eine Naturgege­benheit. Wir sind unausweichlich mit unserem Geschma<k beteiligt. Dieser Geschmack beruht auf Wertvorstellungen, die historisch geworden sind, die Tradition haben und selbst

8 Nicht zuletzt in Fällen, wo es mit Rücksicht auf ein zu beste­hendes Examen (These, Dissertation} galt, "auf Sicherheit" zu gehen.

Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft 79

Tradition darstellen, die aber allzuleicht auch eine persönliche Einfärbung annehmen, welche ihrerseits in den Grund des Lebens, ins Archetypische führt. Hinzu tritt, daß Literatur­wissenschaft, wenn auch im geringeren Maße als ihr Gegen­stand, die Literatur, selbst eine geschichtliche Wirklichkeit darstellt. Zwar ist hier, eher als in der Literatur, eine Reni­tenz gegenüber dem Wandel d!.!nkbar, können hier metho­dische Positionen einfach nachvollzogen werden, kann man hier bisweilen den Eindruck des Anachronismus oder gar den des Stillstandes gewinnen, eines Stillstandes - und darin liegt das Entscheidende - der die wissenschaftliche Qualität nicht beeinträchtigt. Man braucht dabei nur etwa an die universitäre "philologie" zu denken, wie sie in der Zeit­schrift Romania seit nunmehr einem Jahrhundert mit be­wundernswerter Konstanz und Ergiebigkeit betrieben wird. Aber diese Möglichkeit des Stillstandes und des ungestraften "anachronistischen" Verhaltens darf nicht darüber hinweg­täuschen, daß die Literaturwissenschaft in ihren über diesen Alltag hinausreichenden Erzeugnissen geschichtlich ist oder doch ein gewisses Maß an Geschichtlichkeit verrät, daß sie jedenfalls nicht in der Tradition aufgeht, sondern als Bewäl­tigung und Obersteigung des Augenblicks zugleich über sie hinaus ist, daß sie auch als Entwurf auf Zukunft hin ver­standen werden muß. Wir werden noch ausgiebig Gelegen­heit haben, dies im Teil II, der einen historischen Rückblick gibt, zu sehen: Bediers Les F abliaux beispielsweise, um nur das Beispiel eines großen Philologen anzuführen, sind ganz gewiß nur zu einem Teil aus der Tradition zu verstehen, sie sind auch selbsttätige Geschichtlichkeit, Vorwärtsdrängen ei­nes Denkens, das aus dem Augenblick heraus über die Ver­gangenheit hinaus ist, hier ähnlich wie die Literatur selbst, eine Art Mehrwert schafft, der Fortschritt im evolutionären Sinn bedeutet.

Literaturwissenschaftliches Deuten ist daher nicht nur Weg, insofern es sich auf einen Gegenstand zubewegt, dem es sich im letzten nur annähern kann, sondern es ist auch Mani­festation eines Weges, der von weiterher kommt und wei­ter führt, des Weges, den der Mensch nimmt. Es genügt sich bewußt zu machen, daß noch vor vielleicht fünf­zehn Jahren die Beschäftigung mit der Romantik in maß-

80 Theoretischer Teil

geblichen Kreisen deutscher Romanistik ein Tabu war; heute kann "man" wieder über sie sprechen und schreiben. Vor dreißig Jahren galt werkimmanentes Forschen als der Iitera­turwissenschaftlichen Weisheit letzter Schluß; heute glaubt "man" mit guten Gründen über das Werk hinausschauen zu müssen in die Gesellschaft, in die Historie, in die Exi­stenz. Und wenn ich "man" sage, dann ist das ein Anzei­chen dafür, daß es sich hier um Positionen handelt, die in der Zeit liegen, die der einzelne sich nicht für sich persönlich erringt, sondern an denen er beteiligt ist; dann ist das ein Anzeichen dafür, daß auch für die Literaturwissenschaft gilt, daß sie von der geschichtlichen Bewegung, in der das Leben selbst steht, getragen und "durch die jeweilige Gegenwart und ihre Interessen in besonderer Weise motiviert wird9•

Das soll aber nun nicht heißen, daß es unmöglich wäre, in der literaturspezifischen Hermeneutik Objektivität und blei­bende Ergebnisse, wissenschaftswürdiges Wissen zu erreichen. Sie wäre dann keine Wissenschaft. Die Geschichtlichkeit ist vielmehr nur der wandernde Standort, der Blickwinkel, von dem aus wir schauen und analysieren, und ganz entspre­chend ist die individuelle Subje~tivität eine Art Linse, die zwar mehr oder weniger stark das Gesehene deformiert, aber es doch auch erst zu sehen gestattet. Deformation des Bildes und Standortbedingtheit des Schauens kann man kor­rigierend ausgleichen, zwar nicht derart, daß man eine Linse herstellte, die nicht deformiert - das liegt nicht im Bereich der Möglichkeiten -aber so, daß man das Maß von Defor­mation und Standortbedingtheit vergleichend erschließt und von ihm absieht. Wichtig ist also vor allem hermeneutisches Bewußtsein: "Die wahre Strenge der Erkenntnis ist in den Geisteswissenschaften jedoch allein in der Vollkommenheit eines hermeneutischen Bewußtseins erreichbar, welches als die Reflexion auf das, was in jedem Verstehensvorgang immer schon geschieht, auch das methodische Verfahren umgreift"10.

Dabei gilt es den erläuterten subjektiven Aspekt des herme-

9 Wahrheit und Methode, S. 269 10 U. Ricklefs, Art. "Hermeneutik", a. a. 0., S. 281. Nach Rick­

lefs auch die Unterscheidung zwischen subjektivem und objekti­vem Aspekt des hermeneutischen Zirkels.

Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft 81

neutischen Zirkels (die Geschichtlichkeit des Verstehens), aber auch dessen objektiven Aspekt zu beachten, den philologi­schen Zirkel nämlich. Letzterer besteht darin, daß ein Ver­stehen des einzelnen nicht ohne Vorverständnis des Ganzen möglich ist: wenn ich einen Text interpretiere, so kann ich erst mit der Interpretation ansetzen, wenn ich bereits das Ganze irgendwie vorverstanden habe, und dieses Verständ­nis präjudiziert bis zu einem gewissen Grade die Deutung.

Verfahren zur Kompensation der Subjektivität

Eine erste Voraussetzung für eine wirksame Kompensa­tion der Subjektivität wird darin liegen, im Prinzip zwi­schen Auslegung und Erkenntnis zu unterscheiden11 • Mag diese Trennung im Hinblick auf die Praxis der Interpreta­tion auch problematisch sein, mögen viele Erkenntnisakte der Strukturanalyse, und nicht nur ihr, ihrerseits untrenn­bar mit Deutakten verbunden sein, so ist es doch wichtig, sich dieses Unterschiedes immer bewußt zu bleiben, damit nicht unzulässige methodische Mischformen die so wertvollen Erkenntnisakte kompromittieren. Es gibt eben doch vieles am Werk, namentlich seiner Struktur, was erkannt werden kann und geeignet ist, die Auslegung bis zu einem gewissen Grade in kontrollierbare Bahnen zu lenken, sie auf sicheren Boden zu stellen oder aber sie durch entsprechende Fest­stellungskarte rückzubinden. Diese Möglichkeiten der ein­leuchtenden Erkenntnis, die im Hinblick auf Sprache, Ge­genstand (auf der Ebene des Wortsinns), mikrokosmische und makrokosmische Zuordnung durchaus gegeben sind, sei es nun, daß man sie systematisch für die verschiedenen Schichten des Werks beschreibt und dann synthetisiert (wie

11 So Clemens Heselhaus in seinem aufschlußreichen Aufsatz Aus­legung und Erkenntnis, in Gestaltprobleme der Dichtung, hg. von R. Alewyn, H.-E. Hass, Cl. Heselhaus, Bonn 1957, S. 259 ff. Im Grunde nimmt schon Schleiermacher diese Tren­nung ein wenig vorweg, indem er zwischen "interpn\tation grammaticale" und "interpretation tedmique et/ou psychologi­que" unterscheidet (nach P. Szondi, L'hermeneutique de Schleier­macher, S. 147).

82 Theoretischer Teil

es Roman Jakobsan und Claude Levi-Strauss für Baudelai­res Sonett Les Chats unternommen haben12) oder aber eine mehr traditionelle Form der Strukturanalyse wählt, sind weit entfernt davon, bisher in wünschenswerter Weise ent­wickelt und eingesetzt worden zu sein, mag auch ihre Inte­gration in die Ausdeutung (deren sich die strukturale Ana­lyse enthalten will) nicht immer leicht sein.

Was sodann die Ausdeutung selbst anbetrifft, so kann der bei ihr beteiligten individuellen Subjektivität dadurch ge­steuert werden, daß man sich, sei es den eigenen, sei es den Deutakten anderer gegenüber, auf Dialektik einläßt, etwa zur eigenen These eine Gegenthese entwirf\: und dann ab­wägt (wobei es gleichgültig ist, ob dies vor der Fixierung der Forschung als Wissenschafl: geschieht oder in deren Dar­stellung mit aufgenommen wird) oder aber den Thesen an­derer gegenüber, sei es im Umgang mit Sekundärliteratur, sei es in Diskussionen, in Seminaren oder in Vorlesungen, in die Freiheit dialektischer Haltung tritt. Diese Haltung ist schon von den russischen Formalisten praktiziert und metho­disch begründet worden. Sie setzt voraus, daß man die weit­hin übliche defensive Praxis, die des Errichtens von festen Lehrmeinungen und ihre Verteidigung, aufgibt, sich des hy­pothetischen Charakters literaturwissenschaftlicher Erkennt­nis bewußt wird und die Konsequenz zieht, nur Arbeitshy­pothesen zu entwerfen, die der indirekten Verifikation d.h. der Erprobung durch die Falsifikation, bedürfen. Was sodann die historisiehe Subjektivität anbetrifft, die der Bedingtheit durch die "überlieferungsgeschichte" (Gadamer)13, durch

12 Les chats de Charles Baudelaire, in L'Homme, Il, 1/1962 (Dt. Fassung jetzt in alternative 62/63, Dez. 1968, S. 156 ff).

13 Gadamer versteht im übrigen diese Überlieferungsgeschichte nicht als Subjektivität (a. a. 0., S. 274 f), doch soll mein Aus­druck "historische Subjektivität" nicht etwas Individuelles, son­dern etwas Allgemeines, Kollektives bezeichnen, eine im Ge­gensatz zur Objektivität gemeinte Standortgebundenheit. Was Gadamer mit Überlieferungsgeschichte meint, sei kurz durch zwei Zitate erhellt: "Eine jede Zeit wird einen überlieferten Text auf ihre Weise verstehen müssen, denn er gehört in das Ganze der Überlieferung, an der sie ein sachliches Interesse nimmt und in der sie sich selbst zu verstehen sucht." (S. 280)

Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft 83

den einmaligen historischen Querschnitt menschheitsgeschicht­licher Wirklichkeit, in dem der einzelne mit seiner Ausdeu­tung steht, so kann man diese zu kompensieren suchen, in­dem man historische Deutungen hinzuzieht, im Vergleich deren und die eigene historische Bedingtheit erschließt und dann die Deutung von diesen historisch bedingten Perspek­tiven so weit wie möglich freilegt durch Deduktion des spezifisch Historischen14• Historischer und individueller Sub­jektivität kann man schließlich gleichermaßen entgegenzu­wirken versuchen, indem man von seinem Standort abzuse­hen versucht, der zu erkennenden Sache die "Initiative" des vorbehaltlosen Gesehenwerdens einräumt, die Losung Hus­serls, ad res, "zu den Sachen", bedenkt. So kann man etwa die Fragestellung selbst, mit der man an die Sache heran­gehen will, au.s der Sache herausentwickeln, von ihr bezie­hen15, kann das historisch individuelle Ich in seiner Wirk­samkeit reduzieren, es zum nahezu unbeteiligten, sachlichen, phänomenologischen Reflektor machen. Man kann auch, um eiern zu erkennenden und auszudeutenden Objekt in seiner Sach-lichkeit noch näher zu sein, es noch mehr als es selbst auf einen einwirken zu lassen, auf seine mythische Aussage­weise eingehen, in die Dialektik mit ihr treten, um der Lite­ratur sozusagen unter die Haut vorzustoßen, aus dem wie-

Und weiter unten (S. 283): "Eine sachangemessene Herme­neutik hätte im Verstehen selbst die Wirklichkeit der Ge­schichte aufzuweisen. Ich nenne das damit Geforderte ,Wir­kungsgeschichte'. Verstehen ist seinem Wesen nach ein wir­kungsgeschichtlicher Vorgang".

14 Einen anderen Weg geht die ideologiekritische Hermeneutik, die sich "im Kontext einer Geschichtsperspektive ansiedelt" (]. Hauff, Methodendiskussion II, S. 33), also ihre eigene Ge­schichtlichkeit bewußt sucht als eine Art Wissenschaftshandeln, die so eine engagierte Wissenschaft betreibt. Die Frage ist nur, ob (ganz abgesehen von den Gefahren für die Objektivität) ein solch gewolltes Engagement nicht zwangsläufig den Augen­blick preisgibt und sich den überlieferten Denkmustern einer Ideologie anheimstellt, mag diese im betreffenden Augenblick auch noch so aktuell sein (vgl. die hier analog anwendbaren Überlegungen zur Literatur; S. 45 ff).

15 Dazu H.-G. Gadamer, a.a.O., S. 252 ff, wo er von der Not­wendigkeit der Offenheit für die Meinung der anderen spricht.

84 Theoretischer Teil

der gewonnenen Abstand die Ergebnisse zu formulieren und sich dann erneut überprüfend und immer wieder dem Text und dem, was er aufscheinen läßt, zu nähern. Die erkennt­nistheoretische Problematik wird dadurch nicht aufgehoben, doch kann auf diesem Wege der Anteil der Unsicherheit ent­scheidend vermindert werden.

Was aber nicht angetastet werden kann und auch nicht angetastet werden sollte, ist die relative Geschichtlichkeit der Ausdeutung, die immer dann sich einstellt, wenn Litera­turwissenschaft mehr ist als ein Begehen und Ausschöpfen bereits bestehender Pfade. Diese Geschichtlichkeit kompen­sieren zu wollen, hieße der Zeit (und dem Fortschritt) den Rücken kehren; das .ist im Falle der Hermeneutik nicht nur unmöglich, es ist auch sinnwidrig, es hieße dem Auftrag aus­weichen, den die Literaturwissenschaft auf diesem Gebiet wahrzunehmen hat.

Folgerungen für das weitere V erfahren

Fragen wir uns, welche Folgerungen sich aus diesen me­thodischen Grundbedingungen von Literaturwissenschaft für das in dieser Abhandlung anzuwendende Verfahren erge­ben. Wenn Methoden der Literaturwissenschaft auf der ei­nen Seite durchaus als mehreren Forschern und Lernenden verfügbarer Weg des wissenschaftlichen Arbeitens überge­schichtlich sind, es beispielsweise Methoden der Textedition, aber auch etwa der Textinterpretation gibt, für die man sich aus objektiven Gründen der Rentabilität oder Sachange­messenheit entscheiden kann, und wenn Methoden der Lite­raturwissenschaft auf der anderen Seite auch als geschicht­liche und individuelle Wirklichkeit begegnen, als Methode von Leo Spitzer beispielsweise, die dann als "Methode­Spitzer" durchaus auch als relativ übergeschichtliche, für eine gewisse Zeit noch wählbare Methode bestehen bleibt, dann werden wir dem Gesamtkomplex von Methoden der Literaturwissenschaft wohl nur gerecht, wenn wir diesen beiden Aspekten Aufmerksamkeit widmen. Wir wollen da­her zunächst im nunmehr folgenden zweiten Teil einen ohnedies der Obersicht halber wichtigen historischen Abriß

Methodische Grundbedingungen der Literaturwissenschaft 85

der Entwicklung geben und hierbei insbesondere die von Jost Hermand unbeachtete Frage prüfen, inwieweit hier die erwähnte relative Geschichtlichkeit mit im Spiele ist, inwie­weit sich diese Methoden auch aus der Zeit erklären. Dann sollen in einem dritten, systematisch gegenwartsbezogenen Teil in Kenntnis der Sache die hauptsächlichen der im Au­genblick als aktuell und durchaus wählbar zu bezeich­nenden Methoden geprüft. werden. Wir werden daher bei dem nun folgenden historischen Teil die jüngste Etappe der Entwicklung, die unmittelbare Gegenwart und d. h. die Zeit nach 1950, aussparen. Es wird eingangs des dritten Teils noch Gelegenheit sein, überleitend die relative Geschichtlich­keit auch dieser unserer Gegenwart zu erläutern, so daß die Prüfung der zur Diskussion stehenden Methoden bei Ein­blick in diese Bedingtheit erfolgen kann.

Im übrigen versteht es sich für eine Studie, die vornehm­lich im Hinblick auf Studenten der Romanistik verfaßt wurde, daß bei diesem historischen Rückblick, ebenso wie im gegenwartsbezogenen kritischen Teil, die Belange der Romania und Frankreichs insbesondere im Vordergrund stehen werden.

II METHODENGESCHICHTLICHER RÜCKBLICK (1800 - 1950)

1 ZUR VORGESCHICHTE LITERATURWISSENSCHAFTLICHER

METHODEN IM 19. JHDT.

Anfänge oder Vorspiel?

Die erste Schwierigkeit, der wir bei unserem methoden­geschichtlichen Rückblick begegnen, ist die festzustellen, wo nun eigentlich die Literaturwissenschaft im strengen Sinn beginne, wo man folglich literaturwissenschaftliche Methoden antreffen und besprechen könne. Es gäbe da schon diskutable Vorläufer im 18. Jhdt., die parallel zum Aufkommen des modernen Begriffs von Literatur die Initiative ergriffen. Ab­gesehen von dem, was sich diesbezüglich in Deutschland tut!, abgesehen auch von Giambattista Vico, dem große Bedeutung zukommt für die Vorgeschichte der Literatur­wissenschaft, bei dem man aber wohl vergebens Methoden der Literaturwissenschaft suchen würde, wäre hier zu nen­nen das unter der Leitung von A. Rivet von den Benedik­tinermönchen der Abtei Saint-Maur begründete Unternehmen einer Histoire litteraire de la France, von der in den Jahren 1733-1763 zwölf umfangreiche Bände erschienen. Die Dar­stellung beginnt mit den griechischen und lateinischen Schrift­stellern des alten Galliens und war 17 63 bis zur altfranzö­sischen Literatur des 12. Jhdts. gediehen. Im Jahre 1941 erschien der 38. Band,· mit dem das Werk beim 15. Jhdt. angelangt war. Zu erwähnen wäre weiterhin eine Geschichte der italienischen Literatur von Girolamo 1'iraboschi (1772).

Kar! Tober, Urteile und Vorurteile über Literatur, Stuttgart 1970, S. 12, entdeckt hier sogar schon "das erste mit logischer Konsequenz durchgebildete System der Literaturwissenschaft".

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. ]hdt. 87

Diese frühen Unternehmen verfuhren entsprechend der frisch entdeckten Wirklichkeit Literatur, der man sich widmete, unterschiedslos beschreibend, wobei das voluminöse Werk der Benediktiner eine Vorstellung davon gibt, wie sehr ein solch rein stoffliches Erfassen ins Uferlose führt. Außer­ordentlich wertvoll ist solch ein Unterfangen (wer Vollstän­digkeit literarischen Materials im weitesten Sinn des Wortes wünscht, kann sie hier finden), aber handelt es sich schon um Literaturwissenschaft? Was schließlich ein Werk wie Jean Fran~ois de La Harpe, Cours de Litterature ancienne et moderne, Paris 1799 ff anbetrifft, so gibt sein Verfasser schon in der Einleitung klar zu verstehen, daß er die Litera­tur rein normativ sieht und nicht gewillt ist, hierzu auch nur Ausnahmen gelten zu lassen. Ganz entsprechend ist ihm die Dichtung eine ideale, an unwandelbaren Normen zu messende Wirklichkeit, der gegenüber er mehr als einmal in panegyrische Bewunderung ausbricht. Eine Methode liegt also wohl vor, eben die normative, doch ist ihr Ausschließ­lichkeitsanspruch so unangemessen, daß man Bedenken hat, überhaupt schon von Literaturwissenschaft zu sprechen.

Aber auch wenn wir, mit dem Blick auf die französische Literatur, zum 19. Jhdt. übergehen, begegnen wir keines­wegs einer eindeutigen Situation. Ist Villemains Cours de Litterature franr;aise, den er in den Jahren 1816-1830 an der Sorbonne hielt und der seinerzeit immerhin zwei Aufla­gen erlebte, Literaturwissenschaft oder Kritik? Sollte man die Histoire poetique de Charlemagne von Gaston Paris (1865) als Literaturwissenschaft bezeichnen oder als "bloße" Philologie? Sind die bekannten theoretischen Kußerungen zur Literaturanalyse, wie sie Hippolyte Taine in der Ein­leitung zu seiner Histoire de la Litterature anglaise (1864 bis 1869), Ferdinand Brunetiere in der "Introduction" zur Evolution des genres litteraires vornimmt, Literaturwissen­schaft oder gar schon Methodenreflexion, bevor noch das, was als Literaturwissenschaft )m strengen Sinn gelten könnte, geboren war? Das sind Fragen, die uns bei näherer Prüfung zu dem Ergebnis führen könnten, daß die Literaturwissen­schaft, streng genommen, nicht vor das 20. Jhdt. zurück­reicht, oder gar. daß sie bis zur Stunde noch nicht aus den Anfängen herausgekommen, ja im Grunde noch gar nicht

88 Methodengeschichtlicher Rückblick

geboren ist - eine extreme Position, von der wir gesehen haben, daß sie gar nicht einmal so fernliegend ist, daß sie ein Forscher wie Damaso Alonso oder auch Vertreter der "Nouvelle Critique" beziehen. Es handelt sich eben bei der 1

Herauskristallisierung der Literaturwissenschaft um einen geschichtlichen Prozeß, in dem naturgemäß alles im Fluß ist, bei dem es folglich schwer fällt, von Anfang zu sprechen, wo die Meinung, Literaturwissenschaft sei unverwirklichtes Fernziel, mit ebenso guten Gründen zu vertreten ist wie die, es habe sie immer schon oder doch wenigstens etwa seit Humanismus und Renaissance oder, wenn dann nicht, dann doch spätestens seit dem 19. Jhdt. gegeben.

Dennoch lassen sich recht deutlich Etappen unterscheiden2,

ja man könnte sogar umgekehrt die Auffassung vertreten, daß die Etappe, das Verweilen beim erreichten Stand, weit­aus überwiegt gegenüber dem Fluß und der Entwicklung. So könnte man als erste Etappe jene Vorphase der Litera­turwissenschaft unterscheiden, die mit Humanismus und Renaissance einsetzt und bis gegen Ende des 18. Jhdts., also gut drei Jahrhunderte anhält. In der Tat ist die Kritik die­ser Zeit weitgehend durch die normative Methode gekenn­zeichnet. Man könnte sodann, als auslösenden Obergang zur nächsten Etappe, eine Zwischenphase der großen erneuern­den Impulse unterscheiden. Sie setzt zum letzten Drittel des 18. Jhdts. hin mit Herder und Hamann ein und entwickelt auf der Schwelle zum 19. Jhdt. in Historismus, Hermeneu­tik, deutschem Idealismus und Neuhumanismus vier mäch­tige Initiativen. Sie ist die Initialphase für das, was man die zweite Etappe nennen könnte und sich über das ganze 19. Jhdt. hin hält, die Etappe der national-historischen und objektivistischen Forschung. Letztere Neigung, zumeist auch als Positivismus bezeichnet, wird dabei vornehmlich in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. bestimmend, während erstere,

2 Zum Ganzen auch den vorzüglichen überblick von ]. Her­mand, Synthetisches Interpretieren, S. 17 ff. Seine Darstellung ist eine gute Ergänzung zu meinen Ausführungen dieses Tei­les, allein schon, weil sich seine Untersuchung weitgehend auf den Bereich der Germanistik beschränkt, während ich die Ro­manistik zur Ausgangsbasis habe.

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. Jhdt. 89

von Herder her, die entscheidende Auflösung der norma­tiven Perspektive besorgt und in verschiedenen Ausgestal­tungen (Hegel, Historismus etc.) die innere Dynamik des Denkens in der ersten Hälfl:e des 19. Jhdts. bestimmt.

Der Eindruck solcher groben Zäsuren täuscht aber. Im Grunde ruht die Entwicklung nie. Es handelt sich bei die­sen scheinbar ruhenden Etappen, im Vergleich gesprochen, um Staustufen einer Entwicklung, die unaufhörlich weiter­drängt, sich aber nur stufen- und damit ruckweise dekla­riert, dann nämlich, wenn das überschreiten einer "Stau­mauer" herangereifl: ist3• Schult man nämlich seinen Blick, betrachtet man solch eine "Staustufe" näher, dann kann man feststellen, daß sie in sich mehrere Stufen unterschiedlichen Niveaus bildet, daß die Entwicklung auch hier sehr wohl objektivierbar ist. So können wir für die Etappe, in der n~tional-historische und objektivistische Methode führend sind, fünf Phasen, wie wir sie nennen wollen, unterscheiden. Die scheinbar entwicklungslose Gültigkeit eines methodischen Grundprinzips enthüllt sich dann als eine Folge von Schritten, in denen sich die Ablösung durch ein anderes methodisches Grundprinzip vorbereitet.

3 Man könnte hier versucb.t sein, die von H. R. Jauss im An­schluß an Th. S. Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Revo­lutionen, Frankfurt am Main 1967, amerikan. Originalausgabe 1962) entwickelte Vorstellung eines Paradigmawechsels zu he­gen (Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft, Lingu­istische Berichte, 3, 1969, S. 44 ff), doch würde diese Übernahme einer an der Geschichte der Physik entwickelten Theorie falsche Vorstellungen wecken. In der Literaturwissenschaft gibt es keine evidenten experimentellen Entdeckungen, die in der Lage wä­ren, ein geltendes "Paradigma" außer Kraft zu setzen. Folg­lich bleiben hier die "abgelösten" Paradigmata weiter beste­hen (wie sie übrigens auch in der Physik nicht restlos abgelöst werden). Man könnte also höchstens entsprechend der Vorstel­lung vorn geltenden methodischen Paradigma, das für eine be­stimmte Zeit den Forschern einen Rahmen für die Forschung bietet, von einer schrittmachenden Richtung sprechen, der ge­genüber die "normale WissensdJ.aft" (Kuhn) skeptisch bleibt, die sidJ. dann aber nadJ. und nach durdJ.setzt und ihrerseits "normal" wird.

90 Methodengeschichtlicher Rückblick

Die erste Phase (Kritik als Sache der Dichter)

Die Zeit des Empire (1804-1815) läßt sich in diesem Sinne als eine erste Phase abgrenzen. Sie ist durch eine naiv geist- und geschichtsgläubige, sehr stark vom deutschen Idealismus geprägte Beschäftigung mit Literatur charakte­risiert. Die Kritik ist in dieser Zeitspanne noch zu Ganz­heits-bezogen, als daß sie sich der konkreten Wirklichkeit der Literatur, den Texten etwa oder der Ausdeutung von Literatur, wirklich widmen könnte, sie hat den Charakter literarischer Manifeste. Mme de Staels De la Iitterature con­sideree dans ses rapports avec les institutions sociales (1800) und De l'Allemagne (1810) sowie Chateaubriands Genie du Christianisme (1802) sind repräsentativ für diese Zeitspanne. Es sind alles drei gattungsmäßig schwer einzuordnende Werke, Abhandlungen, in denen die "critique litteraire" nur unter anderem ansatzartig enthalten ist. Bei Mme de Stael wird diese "critique" vom neu erwachten Interesse für das Mittelalter und für die deutsche Literatur getragen, ·aber auch vom Sinn für die gesellschaftspolitische Relevanz der Literatur, für ihren engen Zusammenhang mit den staat­lichen, gesellschaftlichen und religiösen Einrichtungen, also auch vom Blick für die aktuelle Bedeutung, die der Litera­tur zukommt. Die französische Aufklärung hatte diesen Sinn in ihr geschärft, während erstere Interessen durch den per­sönlichen Kontakt mit Deutschland geweckt worden waren __:_ die Gehrüder Schlegel, von denen ihr August Wilhelm besonders nahe stand, nennt sie die "critiques les plus renom­mes de 1' Allemagne" und für Herders Geschichtsphilosphie findet sie einen weiteren Superlativ, den des "livre allemand ecrit avec le plus de charme". Chateaubriand seinerseits be­wegt das Interesse an einer Erneuerung christlichen Denkens und· der dam.it verbundenen Hinwendung zum Mittelalter. Die Erkenntnis selbst wird in beiden Fällen diesen Inter­'essen vorgespannt, hat dienende Funktion, ist oft alles an­dere als objektiv. Bezeichnend ist auch für diese Zeitspanne, daß Kritik und sonstige Ansätze zu einer sekundären Be­schäftigung mit Literatur weitgehend in den Händen der Schriftsteller bleiben. (So war es auch im 17. Jhdt., bei Boi­leau etwa, und im 18. Jhdt. bei Voltaire und Marmontel.)

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. ]hdt. 91

Das ist nicht nur bei Mme de Stael und Chateaubriand der Fall, sondern auch etwa bei Ludwig Uhland, der 1813 eme Abhandlung "über das altfranzösische Epos" verfaßt.

Die Herausdifferenzierung der Sekundärliteratur

Da ist sodann die Phase der Restauration (1815-1830), in der die genannten Einzeldisziplinen sich aus der Literatur herauszudifferenzieren beginnen. Hier geht die vierfache Saat der Jahrhundertwende auf, entgleitet die Kompetenz für die Literatur den Dichtern, beginnt sich jener zweite Horizont herauszubilden, der künftig wie ein Schatten der Literatur mitwandert, die Sekundärliteratur4 •

Da ist einmal die zuständige Ordnungshüterin für Lite­ratur, die Textphilologie, die sich vorerst mit einer ihrer vornehmsten und nützlichsten Aufgabe vorstellt, dem Sam­meln und Edieren von Texten, der Rettung und Wahrung des Literaturgutes. Angeregt durch den Freiherrn vom Stein beginnt Pertz mit der Herausgabe der M onumenta Germa­niae historica; Raynouard veröffentlicht in den Jahren 1816-21 eine umfangreiche Sammlung altprovenzalischer Gedichte, Choix des poesies originales des troubadours; Roquefort schenkt uns 1819 die erste Ausgabe der Dichtun­gen von Marie de France, deren Identität allerdings kürzlich angefochten wurde5 ; Jakob Grimm liefert 1815 eine Aus­gabe altspanischer Romanzen; Immanuel Bekker publiziert 1829 das altprovenzalische Epos Fierabras, während August Wilhelm Schlegel 1818 in Paris seine Observations sur la Langue et la Litterature proven~ales veröffentlicht, die Ox­forder Rolandhandschrift allerdings noch ein paar Jahre war-

4 Soziologische Gründe haben bei dieser Konstitution der Se­kundärliteratur sicher eine bedeutende Rolle gespielt. Das Bür­gertum ist dabei, seine Methoden auszubauen, sich als "der eigentlich lebenskräftige und zur Führung bestimmte Kern der Nation" herauszubilden (Hans Herzfeld, Die moderne Welt, 1. Teil: Die Epoche der bürgerlichen Nationalstaaten, Braunschweig 1969, S. 78).

5 Dazu R. Baum, Recherehes sur les ceuvres attribuees a Marie de France, Annales Univ. Sarav., Heidelberg 1968.

92 Methodengeschichtlicher Rückblick

ten mußte, bevor sie 1837 Francisque Michel entdeckte. In diese Phase fällt auch Villemains Unterfangen, für die

Kritik, als "Kritik vom Katheder", literaturwissenschaft­liehe Ambitionen zu entwickeln. Er behandelt dabei die Literatur des 18. Jhdts. und die des Mittelalters. Er widmet sich damit zwei Grundorientierungen der Epoche, der zu den fernen Quellen nationalen Lebens und der zu jenem so aktuellen Geschehen der Aufklärung, das nun nach seinen Konsequenzen verlangt, und in dem die Literatur so offen­sichtlich eine auch von Mme de Stael hervorgehobene be­deutende Rolle gespielt hat6• Beide Vorlesungen erheben sich allerdings, vom Standpunkt der Literaturwissenschaft aus betrachtet, noch kaum über das Niveau von charmant dargebotenen "curiosites litteraires", bei denen mit Abstand das anekdotische Interesse für das Leben der Dichter domi­niert. Im übrigen scheint sich Villemain selbst klar darüber zu sein, daß er mit seiner "Kritik vom Katheder" nur einen Anfang macht. Seine Vorlesung zum Mittealter beginnt er mit dem rührenden, sicher nicht nur als captatio benevolen­tiae gedachten Bekenntnis: "Maintenant je vais parler de choses que je sais a peine, que j'apprends a mesure que je !es dis". Zu seiner Vorlesung über die Literatur des 18. Jhdts. vermerkt er einleitend, daß die Wahrheit allerdings erst durch eine "precision de details" erreicht werden könnte; und darin liegt etwas Wahres. In der Tat fehlt seinen Aus­führungen jeder Ansatz zu einer konsequenten Abstützung des Gesagten durch detaillierte Feststellungsakte7• Friedrich

6 Hier wie auch im Falle von Mme de Stael zeigt sich also, daß die Sekundärliteratur keineswegs als Institution der Restaura­tion zu verstehen ist, vielmehr verrät sie als Kritik, zum min­desten in diesen hervorragenden Vertretern, eher eine etablisse­mentfeindliche, vorwärtsdrängende Haltung, das Gefühl für eine der Literatur selbst analoge Berufung (vgl. auch die Aus­führungen aufS. 56).

7 Stendhal bezeichnet Villemain - womit allerdings weniger die Person als die Institution getroffen werden sollte - als "le premier homme de France ... dans l'art de parler pour ne rien dire." (Nach R. Fayolle, La Critique litteraire, S. 90, der Vil­lemains Vorzüge als Kritiker mit Recht weitgehend als Rhe­torik kennzeichnet.)

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. jhdt. 93

Diezens Schriften zu den Troubadours (Die Poesie der Trou­badours und Leben und Werke der Troubadours, 1829) könnte man das nicht nachsagen. Man spürt, daß hier ein Wissenschaftler am Werk ist, der sich bemüht, zu den Tex­ten hinzuführen und seine Aussagen durch den Hinweis auf kontrollierbare Dokumente abzusichern. Die literaturbezo­gene Hermeneutik bleibt dabei allerdings ausgespart. Diez beläßt es auf diesem Sektor bei einer "curiosite" für das, was ihm die Gedichte, die er auf der Ebene direkter Aussage sieht, zu sagen haben über Lebensumstände, Liebschaften und Temperament des Autors. Kein Wunder, daß eine solche "Wissenschaft" einen Friedrich Dietz trotz der Anstöße, die aus deutschem Idealismus, Historismus und romantischer Schule nachwirkten, nicht lange zu halten vermochte. Sein spezifisch wissenschaftliches Temperament wendet sich daher in der Folgezeit mehr und mehr der Sprache zu, womit er der romanischen Philologie in Deutschland auf lange Zeit ihren absoluten Schwerpunkt gab: 1833 erhielt Halle, 1836 Marburg, 1844 Tübingen, 1862 Leipzig, 1869 München, 1870 Berlin einen ordentlichen Lehrstuhl für romanische Sprachen.

Sainte-Beuve zwischen Theorie und Praxis

So ist der bedeutendste Kritiker dieser Zeit, Sainte-Beuve, eine merkwürdige Mischung von subjektiver, die "com­prehension" von (Literaten-) Seele zu Seele suchender Kritik als Praxis und von naturwissenschaftlichen Ambitionen in der Kritik als Theorie. Der Theoretiker Sainte-Beuve, der frei­lich auch die Notwendigkeit der "comprehension " (L'esprit critique est de sa nature facile, insinuant, mobile et com­prehensif8) und die der lebendigen Biographie betont, mit­tels der das Bild eines Dichters aus der "existence reelle" ent­wickelt wird, der vor allem auch große Stücke hält auf die

8 Pensees de foseph Delorme, § XVII; zit. nach R. Molho, La Critique litteraire en France au XJX• siecle, S. 74. - Zur Be­tonung der Beweglichkeit vgl. auch Portraits litteraires, art. du 1-12-1835, R. Fayolle, La Critique litteraire, texte 42.

94 Methodengeschichtlicher Rückblick

Funktion des Kritikers, neue Talente zu entdecken9, läßt sich im übrigen ganz offensichtlich weitgehend vom Leitbild einer "methode naturelle" führen, wie sie Geoffroy-Saint" Hilaire (1772-1844) und Cuvier (1769-1832) entwickelt hatten. Im Unterschied zu Balzac, der in seiner Comedie humaine nach dem Vorbild Geoffroy-Saint-Hilaires eine Art Studie der menschlichen Gesellschaft, ihrer Auffächerung und ihrer Gruppen liefern will, richtet Sainte-Beuve sein Augenmerk nicht auf Arten, Typen, gesellschaftliche Kasten und Kategorien, sondern auf den Menschen als Individuum; wozu ihn sein anfängliches Medizinstudium, aber auch sein Kritikertemperament angeregt haben mag. Er will über die. Analyse von "genie", Erziehung und Lebensumständen die­ses "esprit" des Autors, die Kausalität jenes Augenblicks aufspüren und aufschlüsseln, in dem das "chef-d'ceuvre" entstand: "Saisir, embrasser et analyser tout l'homme au moment ou, par un concours plus ou moins lent ou facile, son genie, son education et !es circonstances se sont accor­des de telle sorte qu'il ait enfante son premier chef-d'ceuv­re1'. Er macht sich dabei große Hoffnungen: "Si vous . com­prenez le poete a ce moment critique, ... alors on peut dire de vous que vous possedez a fond et que vous savez votre poete". (Portraits litteraires) Träume von einem plötzlichen literarischen Erfolg, wie Sainte-Beuve sie für sich vergeb­lich hegte - er schrieb einige Gedichtsammlungen und einen Roman, Volupte -, vielleicht auch die romantische Schule, in der er groß wurde, mögen diese Vorstellungen von einem "moment critique", in dem aus dem bloßen Schriftsteller der gottbegnadete, vom Publikum bewunderte Dichter wird, ge­weckt haben. Seine Kritik selbst allerdings, das Tableau de la poesie franr;aise au XVI" siecle (1828) und die Portraits, verraten wenig von diesen theoretischen Ambitionen. Hier finden wir jenen einfühlsamen Portraitisten und Literaten Sainte-Beuve am Werk, der sich um den Autor als Men­schen, um seine Lebensumstände und Individualität bemüht, den das Werk selbst allerdings nur mittelbar, als Auswir­kung dieser Umstände und Emanation dieses "esprit" inter-

9 Vgl. Portraits contemporainj: Victor Hugo 1831; R. Molho, a. a. 0., S. 81.

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. Jhdt. 95

essiert. Sie zeigen einen Kritiker, der alles andere als exakt wissenschaftlich verfährt, den Rancune und Eifersucht, aber auch der unangemessene Maßstab des Lebens, manch krasses Fehlurteil fällen ließen - Balzac und Baudelaire verkannte er, schob dafür völlig unbedeutende Gestalten in den Vordergrund -; der durch seinen Stil und seine litera­rische Portraitkunst zu erkennen gibt, daß wir es hier mit einer Sekundärliteratur zu tun haben, die noch im Bann­kreis der Literatur bleibt. So formuliert er denn auch die Aufgabe des Kritikers in betonter Analogie zu der des Dich­ters: "Le poete trouve la region ou son genie peut vivre et se dcployer desormais; le critique trouve l'instinct et la loi de ce genie". Die Termini "loi~' und "instinct" zeigen dabei die beiden unvereinbarenden Wunschpole der Ambi­tion an, zwischen denen der Kritiker Sainte-Beuve sich be­wegt: "Gesetz" steht für seine Ambition, nomothetisch zu sein, mittels der "methode naturelle" exakt wissenschaftlich zu verfahren, Gesetze aufzudecken; "instinct" steht für je­nen anderen, dichterisch-intuitiven Erkenntnisbereich, der ihn beseelt.

Die ersten Vorzeichen einer Literaturwissenschafl (1850-1870)

Diese Spannung zwischen Theorie und Praxis der Kritik wächst zunächst noch im Zeitraum des Second Empire, be­ginnt sich aber gleichzeitig untergründig abzuschwächen und auszugleichen, führt so, auch in den Bereich der Philologie hineinstrahlend, zu den ersten Zeichen literaturwissenschaft­licher Relevanz. So wird zwar Sainte-Beuve in den Nou­veaux Lundis (1863-1870), wohl auch durch Taine in die Enge getrieben, in seiner Theorie noch positivistischer als er es bis dahin gewesen war, bezeichnet er sich als "partisan de la methode naturelle", spricht er von einer "m~me science", "que nous (d. i. Sainte-Beuve und Taine) eherehans a rendre aussi exacte que possible". Aber abgesehen davon, daß ihn dies nicht hindert, an der Bedeutung der "indivi­dualite du talent, du genie" gegenüber den Umständen fest-

96 Methodengeschichtlicher Rückblick

zuhalten, gewinnt doch nun seine Kritik an Objektivität, sieht man Sainte-Beuve bemüht, über das Individuum hin­aus die Physiognomie des jeweiligen Zeitabschnitts zu erar­beiten, den Autor im Zusammenhang zu sehen.

Mehr noch gilt dieses Miteinander von sich steigernden theoretischen Ansprüchen und beginnender Objektivierung der Betrachtung der Literatur für Taine selbst, den Angrei­fer, gegen dessen mächtige Konkurrenz sich Sainte-Beuve zur Wehr setzt. Dieser Gegner, der 1851 vergebens versucht hatte, mit einer deterministischen These die Agregation in Philosophie zu bestehen, hatte sich mit seinem Sinn für sy­stematische Analyse und seiner Auffassung, daß im Bereich des Geistes und der Moral genauso die Gesetze der Kausa­lität gelten wie in der Physik, an die Fabeln von Lafontai­ne, dann. an die Geschichte der englischen Literatur, an Balzac, Stendhal und andere gemacht. Man muß sagen, daß dabei trotz falscher methodologischer Voraussetzungen viel für die künftige Literaturwissenschaft gewonnen wurde. Die methodischen Grundsätze, die er in der berühmten lntro­duction zu seiner Histoire de la Iitterature anglaise (1864-1869) niederlegte, mögen noch so sehr die Eigengesetzlichkeit der Literatur verkennen, indem sie davon ausgehen, daß ein Werk über seinen Autor mit der "structure morale d'un peuple et d'un Age" in einer Weise verflochten sei, die "aussi particuliere et aussi distincte que la structure physique d'une famillie de plantes ou d'un ordre d'animaux" sei. Aber ab­gesehen davon, daß die Anwendung dieser Theorie notwen­digerweise den, wenn auch voreingenommenen, forschenden Blick auf die Literatur mit sich brachte, waren einige der methodischen Grundsätze und Konsequenzen, die er aus die­ser Prämisse zog, doch nützlich, führten sie hier und da zu literaturwissenschaftlich relevanten, methodisch gewonnenen Einsichten. Die Dinge verhielten siü~ in manchem eben doch analog zu der Auffassung, von der er ausging; auch war es wichtig, daß zunächst einmal überhaupt die Möglichkeit und Notwendigkeit der methodisChen Einkreisung des "fait mo­ral" durch Daten, Statistik, Geographie, Text und Doku­mente erkannt wurde. Denn Methode ist Weg als Verfah­ren, und was tut es, daß dieses Verfahren bei Taine be­stimmten Vorstellungen von determinierenden Faktoren wie

Literaturwissenschaflliche Methoden im 19. jhdt. 97

"Race, milieu, moment"10 vorgespannt wurde, die nach sei­ner Meinung das Werk produzieren. Es war hiermit doch ein großer Schritt getan in Richtung auf jene Feststellungs­akte, ohne die Literaturwissenschaß: nicht denkbar ist; aller­dings kam dabei die literaturspezifische Hermeneutik ent­schieden zu kurz. Wir belächeln es heute, wenn Taine sein Werk La Fontaine et ses fables mit einem ausführlichen Ka­pitel über den "esprit gaulois" beginnt, aus dem er dann den Menschen und den Schriß:steller Lafontaine erklärt, um die Spuren dieses Esprit in den einzelnen Gestalten und Tie­ren der Fabeln und schließlich noch in die Sprache hinein zu verfolgen. Und doch scheinen dabei Ergebnisse auf, die heute noch gültig sind, so etwa die Beobachtung zur Bedeu­tung des "mot propre". Noch deutlicher wird diese partielle Ergiebigkeit des systematisch methodischen Vorgehens in ei­nem Essay über Balzac, dem Taine allerdings auch insofern gerechter zu werden vermochte, als er die physiologische Weltsicht Balzacs teilte. (Hier zeigt sich, wie immer wieder festzustellen sein wird, daß im Umgang mit Literatur Inter­esse und Neigung ganz echte Triebkräß:e der Erkenntnis sein können; die Subjektivität ist hier oß: Voraussetzung der Objektivität.) Wenn Taine hier auf Balzacs Verpflichtetsein gegenüber Geoffroy-Saint-Hilaire hinweist, wenn er die Be­deutung der "multitude innombrable de toutes les circon­stances infiniment ramifiees et entrecroisees qui viennent fa~tonner et nuancer la surface et le fond de la nature et de la vie humaine" betont, neben dem "observateur" Bal­zac auch den "philosophe" sieht, "11 voit, avec les details, les lois qui les encha~nent. Ses maisons et ses physionomies sont des coquilles sur lesquelles se moule l'ame de ses per­sonnages"11, dann haben diese Beobachtungen heute noch ihre Gültigkeit, bleiben sie literaturwissenschaß:lich relevant.

Aber auch in der Philologie regt sich um diese Zeit erstes literaturwissenschaftlich relevantes Leben. Sie entdeckt nun, mit Gaston Paris' Histoire pohique de Charternage (1865),

10 Verwandt ist Wilhelm Scherers berühmte Formel vom "Er­erbten, Erlebten und Erlernten".

11 Nouveaux essais de critique et d'histoire par H. Taine, 12. Auf!. Paris 1923, S. 21; voraufgehendes Zitat ebda, S. 17.

98 M e thod enge schich tlicher Rückblick

eine große literarische Liebe, der sie bis zur Stunde die Treue gehalten hat, die zu den Chansons de geste und zur Frage ihres Ursprungs. Gaston Paris untersucht in diesem Werk die Chansons de geste und späteren Ritterromane des Karls­kreises systematisch auf vier Sachbereiche hin: "faits", "idee", "personnages" und "forme" (vgl. die "Introduction"). "Faits" und "personnages" (Handlung und Personen, könnte man sagen) scheinen ihm dabei auf die "tradition nationale" zurückzuweisen, während er im Bereich von "idee" und "forme" der lnventio des Autors Spielraum zubilligt (aller­dings zur "forme" nicht viel mehr vermerkt als daß sie oft stereotyp ist, was wiederum nicht gerade für eine ausge­prägte lnventio spricht). Man spürt so die von Herder her­reichende, durch Sainte-Beuve ins Statische umgedeutete Tra­dition der "Literatur als Ausdruck des nationalen Geistes", spürt in der Systematik, mit der Gaston Paris an den Ge­genstand herangeht, die noch frische Tradition eines Taine. Ganz entsprechend dieser Vorstellung vom Wurzeln der Literatur in der Seele der Nation baut Gaston Paris denn auch seine Kantilenentheorie aus. Die Chansons de geste ge­hen auf Kurzgesänge (Kantilenen) zurück, die parallel zu den in ihnen geschilderten Ereignissen entstanden (oder wenig später), die also nationale Wirklichkeit und nationale Selbstbehauptung unmittelbar zum Ausdruck brachten. Diese Kantilenen werden dann seit dem Ende des 10. Jhdts. von Epen absorbiert und abgelöst, die sich ihrerseits bis zum Ende des 11. Jhdts. voll herausgebildet haben.

Es ist unverkennbar, daß diese Konstruktion aus dem überindividuellen Denkhorizont erfolgt, in dem Gaston Pa­ris steht, daß es sich um eine Konstruktion handelt, zu der in einem weiten Sinn Interesse und Gout (national-histori­sches Denken und Vorliebe für vertikale Ableitungen) als den Augenblick bestimmende Traditionsmomente den Autor beflügelten. Und doch ist die Arbeit, die Gaston Paris im Rahmen dieser so zeitbedingten Perspektive und These lei­stete, höchst wertvoll gewesen. Die spätere Epenforschung ist ohne dieses fundamentale Werk und seine zuverlässige Erar­beitung der textlichen Fakten nicht denkbar.

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. jhdt. 99

Die Gründerjahre oder die Einleitung der Wende (1870-1890)

Man kann nach dem Gesagten Flaubert gut verstehen, der in einem Brief an G. Sand (vom 2. Februar 1869) der Kri­tik vorwirft, sie ginge am eigentlichen der Literatur vorbei, und der im Gegensatz zu G. Sand der Auffassung ist, daß die Kritik erst ganz am Anfang ihrer Aufgabe stehe: "Ou connaissez-vous une critique qui s'inquiete de l'ceuvre en soi, d'une fa~on intense? On analyse tres finement le milieu ou eile s'est produite et les causes qui :l'ont amenee; mais la poetique inconsciente? d'ou eile resulte? sa composition, son style? le point de vue de l'auteur? Jamais. Il faudrait pour cette critique-la. une grande imagination et une grande honte, je veux dire une faculte d'enthousiasme toujours pr&te, et puis du gout, qualite rare, m&me dans les meilleurs, si bien qu'on n'en parle plus du tout". Der Augenblick, in dem Flaubert dies schreibt, ist nahezu der gleiche, in dem auch De Sanctis jenseits der Alpen mit "forma" und "fan­tasia" ähnliche Wunschkategorien für die angemessene Be­schäftigung mit Literatur entwirft. De Sanctis bleibt aber in seiner eigenen Kritik bei allem Fortschritt noch weit entfernt davon, wirklich die konkrete "Form" des Werks als innige Einheit von Empfinden und Ausdruck zu betrachten. Er verwendet sein Zauberwort "fantasia" mehr als einmal zu recht oberflächlichen und verfehlten Pauschalurteilen, wie etwa Boiardo und Pulci gegenüber, von denen er dem einen, Boiardo, die "alta immaginazione artistica ehe si chiama fantasia" einfach aberkennt, während er dem anderen, Pulci, nur eine "immaginazione volgare" zubilligt12• Flau­berts Wunsch wird also hier sicher nicht erfüllt. Wie berech­tigt es im übrigen war, wenn G. Sand und Flaubert solch konträre Ansichten zur Literaturkritik äußern, die eine deren Ende, der andere ihren Anfang zu erkennen glaubt, ergibt sich aus einem flüchtigen überblick über die Entwick­lung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhdts. Man könnte dabei zunächst den Eindruck bekommen, daß der Traum

12 Storia della letteratura italiana a cura di B. Croce, nuova ed. riveduta da A. Parente, Bari 1939, S. 369, 372.

100 Methodengeschichtlicher Rückblick

von einer Literaturwissenschaa und einer literaturgerechten Kritik nun ausgeträumt ist. Denn die Philologie entwickelt in dieser Zeit eine imponierende szientistische Aktivität, bei der die Beschäaigung mit Literatur in den Hintergrund ge­drängt wird. Texteditionen erscheinen in großer Zahl. Zeit­schriaen werden gegründet: 1870 die Revue des langues ro­manes, 1872 die Romania, 1877 die Zeitschrift für Romani­sche Philologie, 1883 die Romanischen Forschungen. Die Zeitschrift für Romanische Philologie erklärt sich zwar im Geleitwort des ersten Bandes auch für die Literatur zustän­dig, hält sich aber in der Praxis ausschließlich an die For­schungsgegenstände Sprache, Texte, Dokumente und Quel­lenfragen, zum mindesten für den Zeitraum bis 1890. Die Romanischen Forschungen nennen sich zu dieser Zeit und noch lange 11Ürgan für romanische Sprachen und Mittel­latein", machen also keinen Hehl aus ihren Interessen, und tatsächlich findet man in den Bänden von 1883 bis 1890 höchstens einmal einen Aufsatz "über die Wiederholungen in den altfranzösischen Chansons de geste", während die Zeitschria Romania von vornherein ihren bis auf den heu­tigen Tag gültigen Kurs der reinen "philologie", einschließ­lich deren "literarischer" Komponenten (Abhängigkeit, Quel­len, Texte) wählt, sie nie in Gefahr kam, sich zu einer ausgesprochenen Linguistik oder Literaturwissenschaa hin zu öffnen13. Zum anderen erfolgen aber gerade in dieser Zeit auch die Gründungsakte der Literaturwissenschaa, wie man es nennen könnte. 1877 erscheint August Boeckhs Enzyklo­pädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, in der die Aufgabe der Philologie als "die Nachkonstruk­tion der Konstruktionen des menschlichen Geistes in ihrer Gesamtheit" definiert wird. 1883 legt Wilhelm Dilthey seine Einleitung in die Geisteswissenschaften vor, und in das glei­che Jahr fällt auch Wilhelm Scherers "Gründungsakt", seine fundamentale Geschichte der deutschen Literatur. 1884 ver­öffentlicht Gustav Körting eine Encyklopädie und Metho-

13 Zum Unterschied zwischen literaturwissenschaftlieber Entwidi­lung in Deutschland und Frankreich vgl. jetzt auch G. Sieben­mann, Vber das problematische Verhältnis von Literatur und Wissenschaft, GRM N. F. XX 1970, S. 121 ff.

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. ]hdt. 101

dologie der Romanischen Philologie, in der, im Unterschied zu jüngsten Einführungen in die Romanische Philologie, die Literaturwissenschaft nicht nur ausdrücklich erwähnt sondern sogar in ihrem Aufgabenbereich umrissen wird14• Gustav Gröber beginnt wenige Jahre später mit der Herausgabe des Grundriß der Romanischen Philologie (seit 1888), in dem die Literaturgeschichte, wenn auch in rein positivistisch die Fakten verzeichnender Form, einen nicht unerheblichen Platz einnimmt15• In beiden Fällen wird so die Beschäftigung mit der Literatur, im Falle Körtings sogar als Literaturwissen­schaft, als offizieller Bestandteil der Romanischen Philologie, eingeführt, und wenn nicht alles "Fluß" wäre und jede Grenzziehung etwas Willkürliches hätte, könnte man in die­sen Jahren die offizielle Geburtsstunde der Literaturwissen­schaft im Kreise der Romanistik ansetzen16. Interessant ist in unserem Zusammenhang vor allem Körtings "Methodolo­gie", wenn sie auch weniger Methodologie ist als eine Auf­zählung und Charakteristik der Sachbereiche der Literatur­wissenschaft. Es werden da aufgeführt: Kategorien, Herstel­lung, Entstehung und Geschichte der "Literaturwerke", Hö­here Kritik - Fragen von Verfasserschaft und Abfassungs-

14 1. Teil Heilbronn 1884, S. 92 f. . 15 Auch hier äußert sich so das, was ]. Hermand für die zweite

Hälfte des 19. Jhdts generell betont (a. a. 0., S 21 ff), doch sollte man nicht übersehen, daß neben dieser positivistischen Faktenhuberei, teilweise durch sie hindurch, eine neue Frage­stellung vernehmbar wird. Hermancis vereinfachende Sicht der Entwicklung im 19. Jhdt mit einer Zäsur im Jahre 1848, nach der die historische Perspektive ins Szientistische pervertiert wird, läßt außerdem den trotz aller Faktenbezogenheit in re­präsentativen Werken wie Gaston Paris' Histoire poetique de Charlemagne, Wilhelm Scherers und Gustav Lansons Litera­turgeschichten immer doch noch lebendigen, aber sich irgend­wie isolierenden historischen Sinn zu wenig beachtet. Die Schizophrenie, von der Hermand mit Recht im Hinblick auf das, was ich Wende nach Innen nenne, spricht, hat hier ihre Vorgeschichte: Geist und Faktenbezogenheit leben sich aus­einander.

16 Karl Tober scheint für die Germanistik dem Jahr 1883, dem Jahr der "ersten zünftigen Literaturgeschichte", durch Scherer nämlich, die gleiche Bedeutung zuzuschreiben (a. a. 0., S. 13).

102 Methodengeschichtlicher Rückblick

zeit-, Niedere Kritik (Textkritik), Herausgabe der Texte und als letztes schließlich die Hermeneutik, wobei noch die gewissenhafte Berücksichtigung des biographischen Momentes empfohlen wird17• Sonderlichen Grund zum Feiern scheint also der "Geburtstag" der Literaturwissenschaft, abgesehen vom oben angeführten Bedenken, auch nicht gerade zu bie­ten: was hier auf "Literaturwissenschaft" getauft wird, ist kaum mehr als der Sachbereich der Philologie. Aber darf man, um im Bild zu bleiben, von einem Neugeborenen mehr erwarten?

Eine Offnung zur Literatur hin findet im Rahmen der Philologie aber auch noch im Bereich dessen statt, was wir die große Liebe der Philologie nannten, der Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Epos. Manuel MiLi y Fontanals weist nämlich in seinem Werk De la poesfa her6ico-popular castellana (1874) die Existenz einer mittelalterlichen kasti­lischen Epik nach, die in der zeitgenössischen kastilischen Aristokratie wurzelt. Diese Sicht der Epik auf dem synchro­nen Niveau ihrer Entstehung und Ausformulierung führt ihn zu einer wesentlich differenzierteren Wertung der ästheti­schen Qualitäten, als dies bei Gaston Paris der Fall gewesen war, hatte dieser doch sein Hauptaugenmerk der Kon­struktion einer diachronischen Filiation und den Quellen ge­widmet. Marcelino Menendez y Pelayo setzt diese Tra­dition des Blicks für die ästhetischen Gegebenheiten dann fort, baut sie, seinerseits von Kritik und Asthetik herkom­mend, noch beträchtlich aus. In der Einleitung zu seiner Vorlesung über spanische Literaturgeschichte (1878) legt er dar, daß es ihm ausschließlich um "Literatur im eigentlichen Sinne", um Schöne Literatur zu tun sei. Er rückt so das ästhetische Prinzip als maßgebend in den Vordergrund, und fordert gut zwanzig Jahre vor Benedetto Croce, eine Kritik, die den sprachlichen Kunstcharakter des literarischen Werkes ausdrücklich berücksichtigt. Ganz folgerichtig weist er das bis dahin gültige Prinzip der geographischen, sprachlichen oder völkisd1en Nationalität als der Literatur unangemessen ab und setzt an seine Stelle den Begriff der 11 nacionalidad literaria", die eine des Geistes und der Form ist. Daß die

17 2. Teil, Heilbronn 1884, S. 359 ff.

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. jhdt. 103

spezifische Aufgabe einer Geschichte spanischer Literatur ihm geholfen hat, diese der Zeit vorauseilenden Gedanken zu entwickeln, liegt nahe anzunehmen, galt es doch hier bei der hispanischen Literatur die tiefe Einheit von portugiesischer, kastilischer und katalanischer Literatur zu fassen oder aber einer recht engen, der Freiheit literarischer Nationalität un­angemessenen Sicht Raum zu geben, etwa "spanisch" auf "kastilisch" einzuengen. Das Interesse und die besonderen Umstände sind also auch hier wieder für die Erkenntnis mit verantwortlich, und man darf sagen, daß das nicht zum Schaden der Erkenntnis ausfiel. Es ist überraschend, mit wel­cher Entschiedenheit Menendez y Pelayo beispielsweise dem Stil als dem Eigentlichen den Vorrang gibt: "Ni lo sustan­cial ni lo formal lo da la lengua sino el estilo, compren­diendo bajo esta palabra todo el desarrollo m6rfico necesario para que la concepci6n artfstica deje de ser idea pura"18•

(Weder das Substantielle noch das Formale verleiht die Sprache sondern der Stil, worunter ich den ganzen gestalt­mäßigen Ablauf verstehe, den die künstlerische Konzeption benötigt, um nicht länger reine Idee zu sein.) Menendez y Pelayo setzt sich ausdrücklich und scharf von der "crhica puramente formalista", der formalistischen, d. h. rein fak­tenbezogenen, historisch philologischen Kritik ab, aber nicht weniger von der "cr[tica trascendental", der transzendentalen, unkoutrolliert geistesgeschichtlichen Kritik: 11Man darf nicht die Geschichte der Literatur in einen sterilen Index von Au­toren und Büchern verwandeln, die man nur ihrer äußer­lichen, formalen Seite nach berücksichtigt (formal im oben umschriebenen Sinn), man darf auch nicht launisch und will­kürlim mit der literarischen Materie verfahren. Es ist zwar nicht sinnvoll, den Autor unabhängig von seiner Epoche zu betrachten, aber gefährlicher noch ist es, seine Persönlichkeit zu annullieren, sie zum Echo, Reflex und Spiegel einer Zivi­lisation zu machen. Das vom Empfinden getragene Urteil (el juicio-sentimiento) über das Schöne und die historische Ana­lyse (la apreciaci6n hist6rica) müssen miteinander gehen"19,

18 Estudios y discursos de critica hist6rica y literaria, Santander 1951, S. 9.

19 Ebda., S. 12.

104 Methodengeschichtlicher Rückblick

In der Verteidigung dieser, gemessen am Zeitpunkt, revo­lutionären "Einleitung", die Menendez y Pelayo als An­trittsrede (oposici6n) hielt, wird er noch deutlicher. Paul Meyer, Gaston Paris, Comparetti und anderen wirfl: er hier vor, das Xsthetische dem Historischen geopfert zu haben; der sogenannten Hohen Kritik (alta cntica), der "critique universitaire", sagt er nach, sie sei ein bloßes Kompendium von Gemeinplätzen. Er bringt dafür ein drastisches Beispiel aus der Prüfungspraxis: Würde man, so führt er aus, einem nach der Hohen Kritik ausgebildeten Studenten im Examen einen Cancionero des 15. Jhdts. vorlegen, dann könnte er ihn nicht lesen, weil er nicht paleographisch geschult ist, könnte ihn nicht verstehen, weil er keine Ahnung von Lin­guistik hat, könnte ihn nicht beurteilen, weil er sich nie mit dem befaßt hat, was Literatur ist, er würde eben stattdes­sen, und das nennt man "Hohe Kritik", ein paar Gemein­plätze über Cancioneros und Dichtung des 15. Jhdts. zum besten geben2o.

Allerdings bleibt die Kritik von Menendez y Pelayo selbst hinter diesen theoretisch so klar erkannten Zielen noch zu­rück. Er bleibt in der Praxis noch zu ausschließlich fakten­bezogen (Orf.genes de la novela), um das in der Theorie gegebene Versprechen einer wirklichen Kontaktnahme mit Literatur als Stil überzeugend einlösen zu können. Wenn man ·diesbezüglich in dieser Zeitspanne Ansätze finden wollte, müßte man zu einer Disziplin hinüberschauen, die auf Grund ihres Gegenstandes, der Bildenden Kunst und der Architektur insbesondere, mehr und handgreiflicher auf die Beobachtung des Stils angewiesen war, zu Heinrich Wölfflin, dessen wegweisende Untersuchung Renaissance und Barock 1888 in Erstauflage erschien. Der Augenblick für eine der Literatur angemessene Kritik war eben einfach noch nicht gekommen, obwohl sich nun die Anzeichen für sein Heran­reifen häufen.

Auch Ferdinand Brunetieres Theorie der Kritik und Paul Bourgets seelenkundliehe Durchdringung der naturalistischen Methode (Essais de Psychologie contemporaine, 1883) sind zu diesen Anzeichen zu rechnen, obwohl Brunetiere in der

20 Ebda., S. 69 ff.

Literaturwissenschaftliche Methoden im 19. ]hdt. 105

lntroduction zu L'Evolution des genres (1890) gegenüber Taine und dem späten Sainte-Beuve noch einen Schritt wei­ter in der offenkundig im Prinzip falschen Richtung einer Übertragung naturwissenschaftlich-positivistischer Methoden . auf die Literaturkritik zu tun scheint. Er will seinerseits von Darwin und Haeckel, also von der Evolutionstheorie, ausgehen, nimmt sich vor, entsprechend Darwins On the Ori­gins of Species (1859), die Evolution der literarischen Gat­tungen zu untersuchen. Aber Brunetiere ist dabei wesentlich vorsichtiger als seine "naturalistischen" Vorgänger. Er ist kritisch gegenüber der Kritik, beginnt bezeichnenderweise mit einem überblick über die Geschichte der Kritik. Er spricht nur von einer Analogie zwischen zoologischer und literarischer Evolution, lehnt ausdrücklich für die Kritik den Begriff der "science", den Sainte-Beuve und Taine verwen­det haben, ab und trifft in diesem Zusammenhang eine kluge Unterscheidung: 11Pour n'~tre pas une science, la critique n'en a pas moins ses methodes". Ähnlich mußten wir in der "Vorbemerkung" feststellen, daß die Literaturwissenschaft: in anderen Ländern zwar kaum als Wissenschaft:, doch wohl als wissenschafl:lich akzeptiert wird21 • Wir sind damit in der Theorie dem Konzept einer Literaturwissenschaft: im moder­nen Sinn recht nahe gerückt. Brunetiere stellt, ähnlich wie Menendez y Pelayo, die Perspektive in der Theorie tatsäch­lich auf das ein, was Literatur ist. Er geht nicht mehr von der Nation oder vom Milieu oder vom Menschen aus, son­dern von einem literaturimmanenten Phänomen, dem der Gattungen. "Determiner les rapports d'une reuvre avec l'histoire generale de la litterature, avec les lois propres de son genre, avec le milieu dans lequel elle a paru, et enfin avec son auteur"22, das ist sein Programm, das er in der Grande Encyclopedie mit der Formel 11 juger, classer, expli-

21 Im übrigen ist zu beobachten, daß auch Menendez y Pelayo den Begriff der "ciencia" noch für Aufgaben der Kritik ver­wendet, ähnlich Joseph Bedier in der Einleitung zu seiner Studie zu den Fabliaux den Begriff "science" für die Aufgabe der Philologie. "Science" und "ciencia" schwanken hier ganz of­fensichtlich in der Bedeutung, werden einmal großzügig ge­braucht, dann finden sie auch auf Geisteswissenschaften An­wendung, ein andermal· streng im Sinne von "exakt".

106 Methodengeschichtlicher Rückblick

quer" umrissen hat. Er möchte z. B. an Hand der franzö­sischen Tragödie dartun, "comment un genre nah, grandit, atteint sa perfection, decline, et enfin meurt", möchte an Hand eines zweiten Beispiels die 11 transformation de l'elo­quence de la chaire en poesie lyrique" aufzeigen und sich sodann noch der Differenzierung der Gattungen widmen. Das war ein schönes, anspruchsvolles, spezifisch literaturwis­senschaftliches Programm.

Auch E. Hennequin und Paul Bourget, die beide von Taine herkommen, aber sich beide, wie Brunetiere, auch kri­tisch mit dem Meister auseinandersetzen, stellen auf ihre Weise die Perspektive mehr auf die Literatur selbst ein. Der eine - Paul Bourget - faßt die Werke einer Periode als Zeichenverband auf ( Avant-Propos zu den Essais de Psy­chologie contemporaine, 1883), über den der Kritiker die Psychologie einer Epoche betreiben kann. Er geht also von den Werken -und nicht, wie Taine, von "race, milieu, mo­ment" aus. Der andere, Hennequin, verwirft des Meisters Kausalitätstheorie: er hält das Verhältnis zwischen Werk und Umwelt - mit Recht - für komplizierter. Nach ihm liegt im Werk wohl sozialer Einfluß vor, doch muß man, um ihn bestimmen zu können, die Pole beachten, zwischen denen das Werk, das seinerseits den Autor "enthält", steht, d. h. es gilt einmal den im Werk erkennbaren Autor zu sehen (zu dem nicht erst die Biographie zu führen braucht), sodann die "groupe d'hommes", die das Werk bewegt23 •

Das Programm des letzteren verrät also ein erstaunlich rei­fes Konzept wissenschaftlicher Kritik, das in manchem schon neueste Methodenmodelle - wie Rezeptionsforschung und N ouvelle Critique - vorwegnimmt, sich im iibrigen schon im Titel offen zum Ziel der Wissenschaftlichkeit bekennt: La critique scientifique, Etudes de critique scientifique (beide 1888).

22 Nach J.-C. Carloni et J.-C. Filloux, La Critique litteraire, s. 44.

23 Ebda., S. 48.

107

2 DIE JAHRHUNDERTWENDE ODER DIE WENDE NACH INNEN

Die Notwendigkeit der Wende

Das 19. Jahrhundert hatte, aufs Ganze gesehen, die Lite­ratur aus übergeordneten und anders gearteten Wirklich­keiten geistiger oder materieller Art, von Nation, Gesell­schaft, Milieu, Leben des Dichters und Historie aus, in den Blick genommen und sie demnach nur von außen gesehen. Es war vom Außerliterarischen ausgegangen und hatte von die­sem aus die Literatur zu bestimmen versucht als dessen direkte Spiegelung. Mit anderen Worten, es war positivi­stisch verfahren, hatte die Literatur gesehen als positive Ent­sprechung zu außerliterarisch gegebener Wirklichkeit. Wohl häuften sich, etwa seit 1869, Stimmen, die diesen Positivis­mus dämpfen (Brunetiere, Bourget), ihn als der Literatur unangemessen bekämpfen (Menendez y Pelayo), die einer Beurteilung der Literatur aus dem Geschmack (Flaubert), aus der ästhetischen Intuition (Menendez y Pelayo und Fran­cesco De Sanctis) das Wort reden. Aber das sind Wunsch­vorstellungen, wie man ihnen in Ansätzen auch vorher schon begegnen kann. Sie zeigen eine Tendenz an, mit der das Leben noch nicht Schritt hält. Hier mußte die ganze Weise, wie sich der Mensch im Gegenüber mit Welt begreift, um­gekehrt werden, bevor ein solches Denken nicht nur als Zer­brechen des Positivismus, sondern auch als ein Neubeginn von innen her denkbar war, als ein Blick, der nicht von außen an die Literatur herangetragen wird, sondern die Wirklichkeit der Literatur als solche sieht. Es mußte also etwas ähnliches geschehen wie in der Malerei, wo im Impres­sionismus das objektivistische, von außen her konzipierte Weltbild zerbricht, förmlich zerflattert und sich in Impres­sionen auflöst, um dann nach der Jahrhundertwende im Expressionismus einem umgekehrten, von innen her in die Welt fallenden Blick zu weichen. Es mußte etwas ähnliches geschehen wie in Psychologie und Philosophie, wo Nietzsche, Freud, Bergson und Busserl die Perspektive umkehren, sie nun von innen her, aus dem "Leben", jener "dunklen, trei-

108 Methodengeschichtlicher Rückblick

benden unersättlich sich selbst begehrenden Macht"1 aus den Tiefen der Psyche, aus dem "elan vital" und aus der Inten­tionalität heraus die Welt neu konstituieren; es mußte- um nur noch einen letzten analogen Fall anzuführen, der das Stehen im gleichen Traditionshorizont illustriert - etwas ähnliches geschehen wie es Karl Vietor nun für die Didak­tik des Unterrichts vollzieht, indem er das lanciert, was wir die direkte Methode nennen, die darin besteht, die Sachen aus sich selbst zu entwickeln. Und diese notwendige "Um­wertung aller Werte"2 erfolgt nun in der Tat auch in dem, was dabei ist, die Literaturwissenschaft zu werden. Mit an­deren Worten: es folgt nun, entsprechend der Initialphase des Historismus, aus der die Entwicklung im 19. Jhdt. ent­scheidende Impulse erhielt, eine weitere Initialphase, die ihrerseits die Entwicklung im 20. Jhdt. entscheidend vor­prägt.

Dilthey

Wilhelm Dilthey ist dabei derjenige, der im Hinblick auf die Literaturwissenschaft und weiter gesehen auf die Geistes­wissenschaften allgemein die Wende einleitet, die sich bei ihm mit merkwürdig zwiespältigen Aspekten darbietet. Da ist einmal seine Poetik. Sie bedeutet Abkehr vom Positivismus, ein Begreifen der Dichtung von innen her, Subjektivierung und zugleich Psychologisierung des 2\sthetischen, damit aber auch nolens volens eine fatalerweise epochemachende Los-

1 Fr. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in Werke, Leipzig 1899 ff, I, S. 308. Der Titel ist symptomatisch für die antipositivistische Stellung, die Nietz­sche dabei einnimmt. Positivistisch verfahrende Wissenschaftler werden von ihm "als historisch denkende Eunuchen, neutrali­tätssüchtige Objektivisten oder ausgehöhlte Bildungsmenschen angeprangert, die mit krankhafter Lust ,selbst den Staub biblio­graphischer Quisquilien' verzehren" (nach J. Hermand, a. a. 0., s. 30).

2 Ich spiele auf Nietzsche an, der in dieser Zeit als sein Haupt­werk ein Buch mit dem Titel "Der Wille zur Macht - Ver­such einer Umwertung aller Werte" plant und Notizen hierzu sammelt.

Die fahrhundertwende oder die Wende nach Innen 109

koppelung der Literatur aus dem Historischen. Geist, Phan­tasie und das aus der Phantasie und dem Lebensverständnis ge­speiste Erlebnis nehmen den Charakter von Urphänomenen und nur aus sich selbst erklärbaren, inkommensurablen Er­scheinungen an. "Dem Traum, dem Wahnsinn und anderen Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abwei­chen", verwandt, erhebt sich die Einbildungskraft des Dich­ters "über die Zeit und die in ihr gegebenen Relationen" 3,

"frei, uneingeschränkt von Bedingungen der Wirklichkeit"4

wandelt das Schaffen des Dichters "die Bilder des Wirkli­chen" um. Diese "idealistischen" Vorstellungen, die ganz offensichtlich dem Gout der Jahrhundertwende entsprachen, haben sich über die erste Jahrhunderthälfte bis in unsere Tage hinein gehalten. In den zwanziger Jahren, von denen noch die Rede sein wird, erreichten sie, vor allem in der Ger­manistik, eine auffällige Dichte, denke man nur an Fritz Strich, der die höchste Aufgabe der Literaturwissenschaft darin sah, "die ewige Substanz des Menschentums zu fassen zu suchen, die zeitlos durch die Zeiten geht", an Werner Mahrholz, der im Poetischen die Offenbarung des "Ewigen" und "immer Gültigen" sieht oder an Emil Ermatinger, nach dem sich der "wahre" Geisteswissenschaftler nur noch mit dem beschäftigen soll, was "göttlich in den ewigen und fruchtbaren Gründen des Weltschoßes webt" 5•

Auf der anderen Seite steht der in hohem Maße geschicht­lich denkende Dilthey der Hermeneutik, der in jüngster Zeit, im Zuge der Hermeneutikdiskussion, wieder höchst aktuell geworden ist6• Er ordnet den Geisteswissenschafl:en das V er­stehen zu (im Unterschied zum Erklären der Naturwissen­schaften) und erkennt dieses Verstehen als das eines ge­schichtlichen Wesens, das "in ein vorwissenschaftliches Lebens­und Weltverhältnis eingebettet" versteht7•

J Die geistige Welt, Ges. Schriften VI, Leipzig und Berlin 1927, s. 138.

4 Ebda., S. 165. 5 Zitate nach ]. Hermand, Synthetisches Interpretieren, S. 43 und

s. 60. 6 So etwa bei Gadamer, Wahrheit und Methode, passim. 7 ]. Hauff, u. a., Methodendiskussion II, S. 11.

110 Methodengeschichtlicher Rückblick

Dilthey erscheint so als eine janusköpfige Figur, in deren Gesichtern sich zwei dominierende Aspekte der geisteswissen­schaftlichen Entwicklung im 20. Jhdt. spiegeln, die für die erste Hälfte des Jhdts. so bedeutsame Loskoppelung der Dichtung aus der Geschichte und die für die zweite Hälfte des Jhdts. neue Bedeutung gewinnende Besinnung auf die Geschichtlichkeit des Verstehens.

Benedetto Croce

Da ist erstens die Ästhetik der "espressione", des Aus­drucks, die nun Benedetto Croce als geistiger Grundleger einer Literaturwissenschaft entwickelt. Auf Giambattista Vico und Francesco De Sanctis aufbauend, fordert er Anerken­nung für eine "scienza della conoscenza intuitiva", für eine Wissenschaft der intuitiven Erkenntnis, die Croce als eben­bürtig, wenn nicht überlegen, der "conoscenza logica" zur Seite stellt. Croce greift so eine alte Diskussion wieder auf, der wir schon wiederholt begegnet sind und der Wilhelm Dilthey sich kurz zuvor zugewandt hatte8, treibt diese je­doch nun erheblich voran im Hinblick auf eine Erkenntnis der Eigenwirklichkeit der Literatur. Die intuitive Erkennt­nis, der Croce das Wort redet, ist nämlich die der Literatur und der Kunst im allgemeinen. Sie ist eine Erkenntnis mit­tels der "fantasia", ist eine Erkenntnis des Individuellen, die Bilder (immagini) hervorbringt, während die "conoscenza logica" Begriffe (concetti) produziert. Croce zieht somit eine scharfe Trennungslinie zwischen diesen beiden Erkenntnis­formen, die intuitive Erkenntnis ist ihm autonom, sie braucht keine Herren (non ha bisogno di padroni), ja die intellek­tuelle Erkenntnis hat gar keinen Zugang zu ihr, während sie ihrerseits sehr wohl intellektuelle Erkenntnisse bereiten kann. Wenn in der Literatur, etwa in einem Roman wie den Pro­messi sposi, dennoch concetti, Begriffe, vorkommen, dann sind sie dort nicht mehr als Begriffe verwendet, sondern als Elemente der Erzählung, die eine Intuition und nicht einen logischen Akt darstellen. Diese Intuition, die charakteristisch

8 Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883.

Die fahrhundertwende oder die Wende nach Innen 111

ist für die "conoscenza intuitiva", ist undifferenzierte Ein­heit der Perzeption9 • Diese Intuition als Perzeption nun de­klariert sich in der Kunst als "espressione", sie ist hier "espressione". Und dies als ein Ausdruck, der nicht quali­tativ von der Intuition des Lebens unterschieden ist, sondern nur quantitativ, insofern er sie festhält, dehnt, entfaltet, zum Werk werden läßt, zum "bello fisico", das der Dichter gestiftet hat.

Croce begreift so die Kunst als unmittelbaren Ausdruck des menschlichen Lebens (wobei Leben freilich ebensowenig wie bei Dilthey, Nietzsche oder Bergson biographisch ge­meint ist). Er schafft so eine wichtige ästhetologische Voraus­setzung dafür, die Kunst als das zu analysieren, was sie in sich ist10, erreicht dies aber nur, indem er gleichzeitig von einer weiteren, nicht minder wichtigen Voraussetzung, der jenigen der Geschichtlichkeit, absieht. Croce wird dies spä­ter, in Poesia e non Poesia (1923) ganz deutlich machen, insofern er hier den höchsten Ausdruck des künstlerischen Schaffens in Einzelwerken verwirklicht sieht, in denen sich das Absolute, das der Zeit Entrückte, als Unmittelbarkeit des Geistes ausprägt, während er alle zeitgebundene Litera­tur abwertet als "non poesia", als bloße Rhetorik oder ten­denziöse Literatur 11 •

9 "L'intuizione e l'unit:l indifferenziata della percezione del reale" (Estetica, 11. Aufl., Bari 1965, S. 6).

10 In diesem Zusammenhang wäre freilich auch Edmund Husserl zu erwähnen, der nun die Intentionalität der Sprache entde<kt und damit an eine Grundbedingung der Literatur rührt, der dank seiner "totalen Umstellung der Erkenntnisaufgabe" im Rahmen seiner phänomenologischen Zielsetzung der Literatur als Fiktion neue Chancen einräumt; der aber auch für die Hermeneutik Bahnbrechendes leistet, die Hermeneutik vom An­spruch auf positivistische Objektivität freisetzt, indem er sie in den Horizont der Lebenswelt stellt (dazu H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 230 ff).

11 Was nur zutrifft, wenn man zeitgebunden ganz wörtlich ver­steht, als wirkliche Bindung, als Vorgespanntwerden, entspre­chend den Ausführungen auf S. 33 ff.

112 Methodengeschichtlicher Rückblick

Der Voßlersche Idealismus

Ein zweiter, parallel hierzu stehender Ausdruck der Wende nach Innen ist im Voßlerschen Idealismus zu sehen. Hier tritt die Jahrhundertwende, stärker noch als bei Croce, mit der Zweigleisigkeit ihres Denkens zutage, lassen sich gerade­zu mit paradigmatischer Helle das "gegabelte Denken" und das gespaltene wissenschaftliche Gewissen der Zeit aufzeigen. Schon der programmatische Titel seiner Schrift, Positivis­mus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (Heidelberg 1904 ), bringt diese Zweisinnigkeit zum Ausdruck. Auf der einen Seite mochte Voßler nicht den faktischen Positivismus aufgeben, von dem er wußte, daß er die Sprachwissenschaft und die Philologie allgemein in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. ein gehöriges Stück weitergebracht hatte; auf der anderen Seite ist es ihm, der von Croce herkommt, der unverkennbar Idealist ist und sich dazu bekennt, unmöglich, diesem positivistischen Verfahren "wirkliche", d. h. geistige Bedeutung beizumessen. So unterscheidet er denn scharf zwi­schen idealer und praktischer Wirklichkeit12, zwischen Theo­rie und Praxis. Während er dem metaphysischen Positivis­mus also, der vorgibt, in der Faktizität auch die erklären­den Ursachen gefunden zu haben, den Kampf ansagt, glaubt er den nur methodischen Positivismus beibehalten, einer idealistischen, von Vernunft und Geist aus die kausalen Zu­sammenhänge erklärenden Wissenschaft unterordnen zu kön­nen. Eine analoge Trennung nimmt er dann auch am zu untersuchenden Gegenstand vor. Er ist nämlich der Auffas­sung, daß der methodische Positivismus notwendig sei in den unteren Disziplinen wie Lautlehre, Flexionslehre, Wortbil­dung und Syntax, daß aber alle darin beschriebenen Er­scheinungen erst in der obersten Disziplin, in der Stilistik, ihre "letzte, einzige und wahre Erklärung" finden dürften. Wie ein zweiter Beitrag zur Sache, Sprache als Schöpfung und Entwicklung, klar macht, sieht Voßler diese Stilistik als

12 Hier setzt sich die "doppelte Buchführung" fort, die Leo Spitzer später der deutschen Literaturwissenschaft unter dem Dritten Reich vorwirft und die wir schon bei Dilthey beobach­ten konnten (vgl. S. 107).

Die jahrhundertwende oder die Wende nach Innen 113

eine ästhetische, "theoretische", mit der Schöpfung als ent­wicklungsloser spontaner Tätigkeit befaßte Wissenschaft, während die kunstferne, zum praktischen Verkehr der Indi­diduen untereinander dienende Sprache entwicklungsge­schichtlich zu betrachten, sie somit Gegenstand einer empirisch praktischen Wissenschaft sei. (Auch hier zeigt sich so wieder die charakteristische Zweigleisigkeit von Theorie und Praxis.)

Es ist schwer zu sagen, inwieweit sich diese scharfe Tren­nung zwischen einem entwicklungslos idealen Reich der "Theorie", in das wir über den Stil vorstoßen und geschicht­licher Welt, die lediglich dem positivistischen Beschreiben, nicht aber dem Erklären offensteht, in der Folgezeit ausge­wirkt hat (zumal hier, wie wir gesehen haben, ein ganzes Geflecht ähnlich wirkender Ursachen gegeben ist). Soviel ist jedenfalls festzustellen: Voßlers Idealismus nimmt ähn­lich wie Wilhelm Diltheys Position (vgl. S. 108 ff) im Keim eine Konstante der Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. voraus, die einer Trennung zwischen textbezo­gener Literaturbetrachtung und historischer Perspektive. Letztere bleibt der Betrachtung stoff-, geistes- und kulturge­schichtlicher Zusammenhänge vorbehalten, sie "rangiert" sozusagen für sich, tritt nicht in Wechselbeziehung zur kon­kreten Analyse von Literatur. Leo Spitzer, Schüler von Voßler, wird sich, vom Stil ausgehend, ebensowenig der hi­storischen Perspektive öffnen wie beispielsweise Voßler selbst auf den Gedanken gekommen wäre, in seinem zweibändigen Werk zur Divina Commedia, die geistesgeschichtlich im oben umschriebenen Sinne verfährt, die konkrete textliche Wirk­lichkeit der Divina Commedia auch nur einigermaßen mit­zusehen; und ähnliches ließe sich - mit Ausnahmen -auch vom frühen Curtius13 und von vielen anderen sagen.

Poetik, Rhetorik und Stil

Als eine Übertragung der Position von Voßler und Croce in die Praxis literaturwissenschaftliehen Handeins könnte man einen dritten Ausdruck der Wende nach Innen ansehen:

13 Eine Ausnahme ist beispielsweise sein Proust-Aufsatz.

114 Methodengeschichtlicher Rückblick

die Erneuerung der Beschäftigung mit Poetik und Rhetorik sowie die Hinwendung zum stilistischen Ausdruck. Indes wäre es, ausgenommen in Einzelfällen, unzulässig, hieraus einen kausalen Zusammenhang abzulesen. Die meisten der zu erwähnenden "Übertragungen in die Praxis" gingen nämlich den theoretischen Stellungnahmen voraus, sie sind sozusagen "vitaler" Ausdruck dessen, was dort theoretisch durchdacht wird. Karl Voßlers Poetische Theorien in der italienischen Frührenaissance (München 1900), Eduard Nor­dens Die antike Kunstprosa (2 Bde, Greifwald 1890) und Ernest Langlois' De artibus rhetoricae rhythmicae (Paris 1890) sowie sein Recueil d'arts de seconde rhhorique (Paris 1902) sind hier vor allem zu erwähnen, aber auch Alois Riegls Buch Stilfragen (1893), der frühe Wölfflin und Char­les Ballys L'Etude systematique des moyens d'expression (Paris 1910).

Letztere, den stilistischen Ausdruck in den Blick nehmen­den Initiativen sind es vor allem, die dann von der Wende nach Innen definitiv ins 20. Jhdt. hineinführen. Dienen er­stere noch mehr der Sammlung von Fakten, wenn auch im Hinblick auf einen nun neue Bedeutung gewinnenden lite­raturspezifischen Bereich, schließen sie somit einerseits das 19. Jhdt. ab und künden sie andererseits das 20. an, so erfolgt hier von der neu gewonnenen Position aus, von Innen her eine aktive Neuhinwendung zur Wirklichkeit Literatur als "Ausdruck".

Die Introduction a la mhhode de Uonard de Vinci

In diesem Zusammenhang muß auch ein Werk erwähnt werden, das zwar nicht unmittelbar mit Literaturkritik zu tun hat, das aber Gerard Genette mit Recht als Vorboten des Strukturalismus werten konnte 14, Valerys lntroduction a la mhhode de Uonard de Vinci (1894). Die Gestalt Leo­nardo da Vincis ist hierbei nur der Vorwand für die Ent­wicklung von Valerys Ideen zu einer Kritik, die sich zum Ziel setzte, das System des Denkens zu erarbeiten. Valery

14 Raisons de Ia critique pure, in Figures II, S. 7 ff.

Die jahrhundertwende oder die Wende nach Innen 115

geht davon aus, daß, je mehr wir vom Denken und Han­deln eines Menschen erfahren, es umso schwerer wird, uns das Universum der "pensee" dieses Menschen vorzustellen: "D'une extremite de cette etendue mentale a une autre, il y a de telles distances que nous n'avons jamais parcourues. La continuite de cet ensemble manque a notre connaissance, comme s'y derobent ces informes haillons d'espace qui sepa­rent des objets connus, et tra~nent au hasard des inter­valles"15 Die "imagination" erleidet so Schiffbruch. Der einzige Weg, der über diese Schwierigkeit hinwegführt, be­steht nun nach Valery in der Erstellung eines Systems, das als theoretische Wirklichkeit, als Hypothese, entwickelt wird und als solches seine eigene Folgerichtigkeit besitzt: "La pro­duction de cette hypothese est un phenomene qui. comporte des variations, mais point de hasard. Elle vaut ce que vau­dra l'analyse logique clont eile devra &tre l'objet. Elle est le fond de la methode qui va nous occuper et nous servir" (S. 1154 f). Diese solcherart grundgelegte Methode selbst, von der Valery sagt, sie sei "de toute fa~on preferable aux suites d'anecdotes douteuses, aux commentaires des catalo­gues de collections, aux dates" (S. 1156), verzichtet auf die in der Kritik so oft verwendeten "notions de gloire" und "epithetes laudatives", sie ist, mit anderen Worten, nicht wertend. Ihr geht es um Relationen und Relativität, um "succession", "frequence", "periodicite", "association", "ana­logie dans le monde dit materiel", aber auch um die Er­kenntnis, daß es nicht nur ein System gibt, sondern eine "foule de systemes", von denen keines dem anderen über­legen ist, und deren "usage, precieux, car il eclaircit tou­jours quelque chose, doit &tre a chaque instant surveille et restitue a son r8le purement verbal." (S. 1159) Vorausset­zung für die Anwendung dieser Methode ist es, die "cons­cience des pensees que l'on a" zu entwickeln, ist die Möglich­keit, die Gedanken als System sehen zu können, zwischen ihnen "cette sorte d'egalite ou d'homogeneite" zu erkennen, zu fühlen, "que toutes les combinaisons de la sorte sont legi­times, naturelles, et que la methode consiste a les exciter, a

15 CEuvres de Paul Valery, I, Bibi. de la Pleiade, S. 1153 ff, das Zitat daselbst, S. 1154.

116 Methodengeschichtlicher Rückblick

les voir avec precision, a ehereher ce qu'elles impliquent" (S. 1162).

Valerys Vorstellungen, die man über Ausführungen zu Mallarme und Descartes (V ariete I) sowie über L' Idee fixe ergänzen könnte 16, zielen also nicht auf eine idiographische, sondern auf eine spezifisch strukturalistische Kritik ab, mit anderen Worten: es geht ihm nicht um einen individuellen Autor, sondern um die Rekonstruktion des "fonctionnement de l'esprit" schlechthin. Wenn Valery hingegen aus prakti­schen Gründen (z. B. dem Publikum einen bestimmten Autor näher bringen zu müssen) einmal individuelle Kritik be­treibt, dann wählt er hierfür (im Falle von Mallarme z. B.) bezeichnenderweise eine ganz andere, sozusagen enttäu­schende Methode, die nämlich, seine Erinnerungen und Ein­drücke wiederzugeben 17 • Valerys strukturalistische Kritik "avant la lettre" bleibt somit der Theorie vorbehalten; und das ist eine Haltung, von deren Reife eine Methodenrefle­xion heute noch gewinnen kann.

Antipositivistische Kritik

Ein weiterer Ausdruck der Wende ist sodann in der Auf­hebung der positivistischen Kritik zu suchen. Emile Faguet, dessen Flaubert-Monographie (Paris 1899) uns als Beispiel dienen soll, kommt wohl nicht ganz von dem alten Schema des Blickens vom Außerliterarischen her los, aber es ist doch beachtlich, wenn nur drei von elf Kapiteln diesen Fragen gewidmet sind, während die übrigen tatsächlich der Litera­tur gelten, dem "Romantiker" Flaubert, wie er in Salammbo und La Yentation de Saint-Antoine begegnet, dem "Rea­listen" Flaubert in Madame Bovary, L'Education sentimen­tale und Bouvard et Pecuchet, der Romantik des Realisten und der Realistik des Romantikers, dem Schriftsteller und

16 In L'Idee fixe wird Valery in manchem deutlicher; vgl. mein Kapitel zu den Dialogen Valerys in H. Harth- L. Pollmann, Paul Valery.

17 Vgl. Etudes litteraires, zit. Ausg., S. 662, wo Valery ein sol­ches Verfahren die "meilleure methode" nennt, sowie S. 666, WO es heißt: "Je poursuis le recit de mes impressions."

Die Jahrhundertwende oder die Wende nach Innen 117

schließlich der Nachwirkung. Und wie sehr sich Faguet be­wußt war, daß er sich mit dieser seiner persönlichen, die Literatur als Literatur betrachtenden Kritik gegen den Posi­tivismus stellte, mag daraus ersichtlich werden, daß er schon auf der ersten Seite, wohl mit dem Blick auf Sainte-Beuve, feststellt: "Gustave Flaubert est donc Champenois par son pere et Normand par sa mere. Partant il n'y a a tirer de sa race aucune indication relativerneut a son caractere et a son tour d'esprit. On peut seulement remarquer que, par son aspect exterieur, il etait tout Normand"18• - Deutlicher noch wird die Auflösung der positivistischen Kritik bei den Impressionisten, bei Anatole France, Jules Lemaitre und Remy de Gourmont. Für Anatole France bleibt die Kritik stets in Ungewißheit, überläßt sich der Kritiker dem "desor­dre de son sacre delire" 19• Jules Lemaitre will in den zehn Bänden, die seine lmpressionsdetheatre (1888-1898)füllen, wie es der Titel verspricht, Impressionen aufzeichnen, die ihm von den Dingen kommen (noter avec candeur les im­pressions qui me viennent des objets). Die Kritik ist ihm "l'art de jouir des livres et d'enrichir et d'affiner par eux ses sensations"20• Remy de Gourmont schließlich vertritt eine relativierte Ästhetik (Nous devons admettre autant d'esthetiques qu'il y a d'esprits originaux et les juger d'apres ce qu'elles sont21), die zu einer entsprechend subjektiven Kri­tik führt: "Eriger en lois ses impressions personnelles, c'est le grand effort d'un homme, s'il est sincere" 22 •

Sind diese Impressionisten noch mehr Ausdruck der sich einleitenden Wende nach Innen, sind ihre Werke mehr Auf­lösung des sich-von-den-Dingen-her-Begreifensals Neuansatz, eine Auflösung, die im übrigen, gemessen an der zeitgenös-

18 Nouvelle Bibliotheque, Bd. 2, S. 233. 19 Nach H. Flasche, Die französische Literaturkritik von 1900

bis 1950, S. 133. 20 Nach H. Flasche, a. a. 0., S. 135, der hier A. Belis La critique

franfaise a la /in du XJX• siecle ... Paris 1926, S. 215, als Quelle angibt.

21 Le Livre des Masques, 1re serie, Preface, Mercure de France 1896.

22 Lettres a ['Amazone, nach R. Fayolle, La Critique litteraire, s. 136.

118 Methodengeschichtlicher Rückblick

sischen Literatur und Malerei, schon ein wenig verspätet er­scheint, so stellt uns ein anderes Werk, Marcel Prousts Contre Sainte-Beuve (1910), diesen Antipositivismus in einer seinerseits positiven, aufbauend ins 20. Jhdt. hineinführen­den Form vor. Hier wird der "methode de Sainte-Beuve" und mit ihr ganz allgemein der Vorstellung von einer "hi­stoire naturelle des esprits" der Prozeß gemacht, wird aber auch schon versucht, eine konstruktive Alternative zu bil­den. Diese Alternative stellt den Anfang einer subjektiven Literaturkritik dar, die wenig später von Ortega y Gasset weiterentwickelt wird und als Strömung eine Konstante der Literaturkritik im 20. Jhdt. darstellt. Proust (der sich hierin Dilthey verwandt zeigt) ist der Auffassung, das Buch - das literarische Werk -sei das "produit d'un autre moi que celui que nous manifestans dans nos habitudes, dans la societe, dans nos vices. Ce moi-B., si nous voulons essayerde le com­prendre, c'est au fond de nous-m~me, en essayant de le recreer en nous, que nous pouvons y parvenir".

Für Proust führt so der Weg zum Werk über die Lektüre, über den erneuernden Vollzug, in dem wir in die "pensee secrete" des moi eindringen, dem wir das Werk verdanken. Proust negiert dabei ebensosehr den Stand des Werks in der Zeit, wie auch dessen Selbständigkeit als Werk. Proust ist mit dieser Betonung des Ich als Einheit und Schlüssel des Gesamtwerks eines Autors unverkennbar der Autor von A la recherche du temps perdtt, den er nirgends verleugnen kann. Er ist hiermit aber auch Ausdruck eben des Zeitpunkts, in dem sich das Denken des 20. Jhdts nach der Wende nach Innen aus diesem Ich heraus begreifen möchte, ist somit -paradoxerweise - Beleg für die Geschichtlichkeit der An­sicht, daß keine Geschichtlichkeit vorliege.

Die Philologie

Ein fünfter, in sich zwiefältiger Ausdruck der Wende ist schließlich in der Philologie zu finden. Ich denke dabei nicht so sehr daran, daß in der ZrPh nun eine erste bedeutsame Untersuchung literaturwissenschaftlicher Orientierung in drei Folgen erscheint (1896-98), denn diese sehr gründliche Stu-

Die jahrhundertwende oder die Wende nach Innen 119

die zu den poetischen Vergleichen in Petrarcas Epos Africa gehört eher in den Zusammenhang des dritten, die Entdek­kung der poetischen Sprache betreffenden Ausdrucks der Wende. Ich denke auch nicht so sehr an die Gründung einer "Gesellschaft für romanische Literatur", die sich 1902 voll­zieht und sicher auch symptomatischer Ausdruck einer Wen­de im Schoße der Philologie ist, dieser Gesellschaft, die sich Wendelirr Foerster zum Vorsitzenden kürt, unter anderem Menendez y Pelayo, Menendez Pidal, Gaston Paris und Meyer-Lübke zu Beisitzern wählt und den Verlagsbuch­händler und kgl. bay. Hof- und Universitäts-Buchdrucke­reibesitzer aus Erlangen, Fr. Junge, zum Schatzmeister be­stellt. Ich denke vielmehr einmal an die erwähnte große literarische Liebe der Philologie, die nun, entsprechend der Wende, neue Umgangsformen entwickelte und denke zum anderen ganz konkret an ein fundamentales Werk, das 1892 das Licht der Welt erblickt und buchstäblich auf der geistigen Schneide zwischen den beiden Jahrhunderten steht, das, in manchem noch dem 19. Jhdt. verhaftet, weit über es hinaus­weist und kürzlich von Propp als früher Beitrag zur "theo­rie structuraliste" gewertet werden konnte23, während Gu­stave Lansons Histoire de la Litterature franfaise (1894)24

mehr im Sinne der erwähnten Gründungsakte die Entwick­lung im 19. Jhdt. erfüllt, mit dieser Synthese aber auf lange Zeit hin maßgeblich bleibt, ja bis in die Gegenwart hinein noch nicht überzeugend "überholt" wurde25 : Joseph Bediers Les Fabliaux.

23 Siehe Communications 8, 1966, S. 164 f. 24 Gustav Siebenmann (über das problematische Verhältnis von

Literatur und Wissenschaft, S. 126 f) weist mit Recht darauf­hin, daß ein nur auf der Histoire de la Litterature franfaise gründendes Bild des "lansonisme" einseitig sei, hier auch der von einigen Beiträgen in Essais de methode, de critique et d'histoire litteraire (rassembles et presentes par Henri Peyre, Paris 1965) zu berücksichtigen sei, ein sozusagen überraschender Lanson, dessen Art de la prose (1908) als bahnbrechend für eine neue Synthese zwischen Philologie und Lit.-Wissenschafl: gilt und unmittelbar ins 20. Jhdt hineinführt.

25 Jürgen v. Stackelberg (GRM N. F., 14, 1964, S. 349 ff) spricht in diesem Zusammenhang von der Misere der Literaturgeschichte.

120 Methodengeschichtlicher Rückblick

Joseph Bedier, Les Fabliaux (1892)

Dieses Werk, in dem die Philologie sich, entschiedener noch als mit Gaston Paris' Histoire poetique de Charlemagne, zur Literaturwissenschaft hin öffnet, war ein Wagnis. Mit Zittern und doch seiner Sache sicher legte es Bedier seinem verehrten Lehrer Gaston Paris als "these" auf den Tisch. Die Kon­struktion seines Meisters, nach der die Fabliaux (mittelalter­liche Verserzählungen burlesken Inhalts) dem Geschmack des 19. Jhdts. für historische Ableitungen gemäß, auf ferne indi­sche Quellen zurückzuführen waren, setzte er eine von den Texten ausgehende vorbehaltlose Analyse der Gattung ent­gegen. Wagnis, Umsturz und Programm begannen dabei schon mit dem Titel, denn es galt als unfein, die pikardische, so wenig puristischem Geschmack entsprechende und eben doch in der Texterfahrung dominierende Form fabliaux (und nicht fableau) zu verwenden. In einer zwingenden, die einzelnen Schritte konsequent durch Feststellungsakte absi­chernden Untersuchung werden die verschiedenen bis dahin angebotenen Theorien zum Ursprung der Fabliaux bespro­chen und auf ihre Wahrscheinlichkeit geprüft; Bedier, der sich bei dieser Arbeit übrigens nicht als "philologue", son­dern als "critique" versteht, wendet hierzu eine Methode an, die an naturwissenschaftlichen Verfahren orientiert ist, also noch ein wenig die Linie der "methode naturelle" fort­setzt, doch diesmal nicht nur in der Theorie sondern auch und vor allem in der Praxis. Er sagt sich, daß eine Erzäh­lung ein lebendiger Organismus sei, dessen Lebensfähigkeit von einem bestimmten Verband von erzählerischen Grund­gegebenheiten abhänge. Es sei hier wie bei einer Pflanze, an der man so lange Pfropfungen und Mutilationen vornehmen könne, wie keines der "organes essentiels" getroffen werde. Ganz entsprechend bestimmt er im Falle des Fabliau des

Die Aufgabe einer "Literaturgeschimte von Innen", neben der die positivistischen, offenbar immer nom vom Publikum geforder­ten Literaturgeschichten ihren Gebrauchswert behalten wür­den, hat in der Tat noch keinen Autor gefunden. Vielleicht wird dies erst möglich, wenn sim das 20. Jhdt seinerseits er­füllt.

Die fahrhundertwende oder die Wende nach Innen 121

Tresses, an dem er seine Demonstration u. a. durchführt, den lebensnotwendigen Kern eben dieses "Zopffabliau" folgender­maßen: "Ein Mann hat Ursache, seiner Frau zu mißtrauen. Diese entfernt sich aus dem Schlafzimmer und schickt eine Freundin hinein. Der Mann merkt in der Dunkelheit nicht den Tausch, bestraft die Freundin anstelle seiner Frau und fügt ihr eine Verletzung zu. Seine Frau kehrt hernach in das Schlafzimmer zurück, kann am Morgen ihrem Mann zeigen, daß sie unverletzt ist und macht ihn glauben, er habe geträumt oder, nach anderen Versionen, die Götter hät­ten den Schaden wieder gutgemacht, den er einer Unschul­digen zufügte." Bedier nennt diese Grundform der Erzäh­lung, die zu abstrakt ist, um als solche vorzukommen, w. Er unterscheidet hiervon die beweglichen Motivierungen und Erklärungen, die als Zutaten, als "traits accessoires", die individuelle Erzählung ausmachen und bezeichnet sie als a, b, c, d etc.: w ist die Substanz (substance), a, b, c, d usw. sind die Akzidentien (accidents) der Erzählung. Der Kreis von Fassungen, in denen eine bestimmte Kombination von Akzidentien gegeben ist, bildet eine Familie. Bedier ist sich im übrigen klar darüber, daß in diesem Verfahren bei der Bestimmung der Substanz gegenüber den Akzidentien eine Fehlerquelle liegt. In der Tat enthält seine Zusammenfas­sung der Substanz des Fabliau des Tresses einige Züge, die man als auswechselbar ansehen könnte. Bedier nimmt diese Unsicherheit aber in Kauf, und sie beeinträchtigt im Grunde auch nicht den methodischen Kern seiner Argumentation. Er bestimmt nämlich nun die Akzidentien der Sanskrit-Redak­tionen als a (der Bettelmönch), b (die Frau am Pfeiler), c (die abgeschnittene Nase), d (die Frau des Barbiers) usw. und kommt so zu der Formel Sanskritfassungen = w + a + b + c + d etc. Er verfährt entsprechend bei dem altfran­zösischen Zopffabliau, dessen stehende, namengebende Cha­rakteristik darauf beruht, daß der Freundin die Zöpfe ab­geschnitten werden, und kommt hier zu der Formel w + v + y + z etc. Mit anderen Worten: die Zutaten sind hier durchgehend gänzlich andere. Außerdem kann Bedier zeigen, daß Boccacio im Dekameron (VII, 8) und der Nürnberger Hans Sachs im 16. Jhdt., als das altfranzösische Fabliau noch als unbekanntes Manuskript in Bibliotheken ruhte,

122 Methodengeschichtlicher Rückblick

ebenfalls die Form des Fabliau, nicht der Sanskriterzählung, bringen. Es ergibt sich hieraus, daß die orale Tradition der europäischen Fassungen im Grundstock ihrer Akzidentien­kombinationen sehr homogen ist, einen unabhängigen Tradi­tionsstrang darstellt, der noch nach Jahrhunderten der gleiche ist. Sie können also nicht, so folgert Bedier, vom Pantcha­tantra abhängen, das um 300 nach Christus entstand und selbst im Verband der konstanten Sanskrittradition steht, die über Jahrhunderte hinweg nirgends eine tHfnung in Rich­tung auf die Eigenart europäischer Fassungen zeigt. Denk­bar wäre höchstens eine noch weit vor das Pantchatantra zurückreichende gemeinsame Wurzel.

Mag man auch im einen oder anderen Zweifel hegen, jedenfalls wird man sagen müssen, daß hier die bei Sainte­Beuve, Taine und Brunetiere angestrebte Übernahme der "methode naturelle", auf ein verträgliches, sozusagen dem Organismus Literatur angemessenes Maß reduziert, als Quel­len- und Gattungsforschung überzeugende Früchte in Form gesicherter Erkenntnis hervorbringt.

Bedier widmet sich darüberhinaus den Fabliaux aber auch auf synchroner Ebene, als ästhetischer und gesellschaftlicher Erscheinung. Er stellt ihre betonte Kunstlosigkeit fest - die Erzähler treten gegenüber dem Sujet zurück -, untersucht das Verhältnis zu angrenzenden Gattungen, bestimmt das Publikum, an das es sich wandte und die Klasse, der es ent­stammt, als "classe bourgeoise", gibt Gründe an, warum dieses Fabliau auch anderen Klassen gefallen konnte (es be­ruht auf einer Mischung der Genera) und schlägt so, kurz vor der Jahrhundertwende, in mehrfacher Hinsicht, und mit erstaunlicher Sicherheit, die Brücke zur Literaturwissenschaft als Praxis.

Neue Wege einer alten Liebe

Ins 20. Jhdt. hinein führen uns auch die neuen Wege, die nun die Philologie zu ihrer alten Liebe, zu den Chansons de geste, beschreitet. Philipp August Becker ist derjenige, der, wenn wir einmal von einer "rührenden" Untersuchung zu den "Tränen in der Epopöe" absehen, die 1903 in der ZrPh erscheint, die Wege weist. Zwischen 1896 und 1907 geht er

Die fahrhundertwende oder die Wende nach Innen 123

in einer Reihe von Studien zur altfranzösischen Literatur, namentlich zur Wilhelmsgeste, den Chansons de geste als individuellen Schöpfungen nach, zieht dabei Schlüsse auf Verfasserschaft, die bisweilen über das Ziel hinausschießen, eben zu sehr aus dem "Interesse" des Augenblicks erfolgen, aber so eben doch auch indirekt das Gebot der Stunde, die Entdeckung der Individualität, mit erfüllen. Joseph Bedier hingegen, dessen Fabliaux-Buch wir uns schon gewidmet ha­ben, geht diesen Weg zu den individuellen Chansons de geste konsequent weiter, macht sich buchstäblich auf die Spuren der alten Liebe, sucht in Abteien und Klosterkirchen nach Relikten ihrer historischen Existenz, findet Schwerter, findet Olifant, das berühmte Horn Rolands, findet Grab­stätten der Heroen, findet all dies, zusammen mit Dokumen­ten, die die Authentizität der Funde bestätigen, längs den Wegen, die fromme oder unternehmungslustige Pilger im Mittelalter nach Santiago de Compostela führten und kann so in Les legendes epiques ( 1906-13) das Gebäude seiner berühmten individualistischen These zur Entstehung der Chansons de geste errichten. Er führt hier Indiz um Indiz gegen die Kantilenentheorie seines 1903 verstorbenen Leh­rers Gaston Paris, richtet Stein um Stein das Gebäude seiner These auf und schien unwiderruflich zu beweisen, daß die Entstehung der Chansons de geste als individueller Werke aus Kulturverhältnissen und Umständen des 11.-13. Jhdts zu erklären sei.

Er schließt nämlich aus den erwähnten Indizien, daß die Chansons de geste ihre Entstehung diesen Pilgerstraßen nach Santiago verdanken: hier wären im 11. Jhdt. die Pilger auf Legenden gestoßen, die sich um die in den Klöstern auf­bewahrten Kostbarkeiten rankten, und die von den Mön­chen nur zu gern gefördert worden seien, um das Interesse aber auch die Freigiebigkeit der Pilger anzuregen, und diese Legenden hätten dann Dichter zur Abfassung von Chansons de geste veranlaßt.

Liebe macht blind, könnte man zu dieser brillanten These sagen. Sie hatte einiges für sich, war dazu angetan, den Blick für die Tatsachen zu fördern, brachte darüberhinaus viel Material zur Geschichte der Chansons de geste und ihrer kulturellen Hintergründe an den Tag, regte vor allem

124 Methodengeschichtlicher Rückblick

dazu an, die Chansons de geste nun als individuelle Schöp­fungen ernst zu nehmen, aber als solche sollte sie nicht lange Bestand haben. In den zwanziger Jahren, als der Antrieb des Interesses in andere Richtung drängte, ein Renouveau der historischen Perspektive zu verzeichnen ist, versetzt ihr Ferdinand Lot den Todesstoß. Er weist nach, daß die latei­nischen Quellen, auf die man sich in den Abteien stützte, apokryph sind, nicht vor die Entstehungszeit der Chansons de geste zurückreichen. Nicht die Interessen der Mönche wa­ren also die Ursache der Entstehung der Chansons de geste, sondern es spricht viel dafür, daß die Chansons de geste ihrerseits Interessen der Mönche geweckt haben, sie erst zu den erwähnten Legenden und sicher auch in mehr als einem Fall erst zur 11Entdeckung" der Kleinodien und der ihre Authentizität attestierenden Dokumente führte.

3 VOM ERSTEN ZUM ZWEITEN A V ANT-GUERRE

(19:11-1938)

Allgemeiner Oberblick über die Entwicklung

125

Es würde· zu weit führen, wollten wir mit der gleichen paradigmatischen Ausführlichkeit die weiteren Etappen der Entwicklung beschreiben. Doch sollen diese wenigstens an­deutungsweise aufgezeigt werden, um dann einige besonders wichtige, sozusagen schrittmachende Erscheinungen näher zu beleuchten.

In der Tat gilt auch für die Zeitspanne 1911-1938, daß sich hier eine stoßweise voranschreitende Entwicklung ab­zeichnet, die ihrerseits von den Ergebnissen der Wende nach Innen entscheidende Impulse erhält. Man kann hierbei drei Etappen unterscheiden, die sich jedoch z. T. beträchtlich überlappen: 1. die Etappe des Neuanfangs von Innen her, die von der Jahrhundertwende bis etwa 1918 reicht, 2. die Etappe des Ansetzens am sprachlich-stilistisch-gestalterischen Ausdruck (1914-24) und 3. eine Etappe, in der einerseits die Ansätze der zweiten Etappe weiterentwickelt werden, es hierbei zur Ausbildung des werkimmanenten Prinzips und zu den Anfängen strukturalistischer Literatur­theorie kommt, die aber andererseits und dem Umfang nach wohl mehr noch dadurch charakterisiert ist, daß die Litera­turwissenschaft als reine Geistes-Wissenschaft ins Kraut schießt (1924-1938).

Was die erste Etappe anbetrifft, die des Neuanfangs von Innen her, so stehen hier vier Ausprägungen im Vorder­grund1. Da ist einmal die von Dilthey her gespeiste Frage

Es versteht sich, daß dabei in erster Linie an die Beschäfl:igung mit französischer Literatur und das, was für sie relevant wird, gedacht ist. Jost Hermand (Synthetisches Interpretieren), der den Blick vornehmlich auf Deutschland richtet, unterscheidet sechs Tendenzen, die er als methodenpluralistisches Paradigma des 20. Jhdts ansieht. Seine jeweils historisch verfahrende, von der Jahrhundertwende herleitende Darstellung der einzelnen Tendenzen (geistesgeschicht!iche Betrachtung; nationale, völki­sche und rassische Aspekte; Psychoanalyse; soziologische und marxistische Literaturwissenschafl:; Dichtung als ethisch-meta-

126 Methodengeschichtlicher Rückblick

nach dem Verhältnis von Weltanschauung und Kunst. Von romanistischer Seite aus hat sich hier nur Eduard Wechßler stärker an der Diskussion beteiligt, während Hermann Nohl und der frühe Oskar Walze! neben anderen als die eigent­lichen Vertreter gelten können. Oskar Walze! selbst ist es, der dann 1923, in Gehalt und Gestalt, die Versuche, Kunst und Literatur aus der Weltanschauung zu begreifen, als ge­scheitert erklärt. Er hat damit sicher recht, wenn man unter Weltanschauung das versteht, was dieser Begriff nun einmal im Deutschen besagt, im Unterschied etwa zu dem wesent­lich neutraleren, phänomenologischen Begriff der "Weitsicht". Weltanschauung ist eben doch "der Inbegriff der Ergebnisse metaphysischen Denkens und Forschens"2, und wir haben weiter oben gesehen (S. 43 ff.), daß Literatur gerade als Kunst nicht oder doch nicht angemessen von solchen "Ergeb­nissen" und Vor-urteilen her verstanden werden kann, so sehr solche Vorgegebenheiten auch mit im Spiel sein mögen.

Etwas anderes ist es - und damit kommen wir zur zwei­ten, mit der ersten verwandten Ausprägung - wenn man, wie Georg Luk:ks es in seiner bedeutsamen Theorie des Ro­mans (geschrieben im Winter 1914/15) tut, die Literatur, genauer den Roman, als Suche nach der verlorenen Totali­tät versteht: auch hier fällt der Blick von Innen her, aus dem Selbstverständnis heraus, unmittelbar auf die Literatur, geht es um die in der "Welt-anschauung" (welche Literatur ist) sich stellende Frage nach dem Sinn; aber hier verbindet sich dieses Anliegen mit einer konsequent die strukturelle Wirklichkeit einer Gattung erfassenden Beobachtung, gelingt so die wegweisende Erkenntnis einer Gattungsgesetzlichkeit.

Eine dritte, recht bedeutsame Ausprägung des Schauens von Innen her stellt sodann die Erneuerung der Kritik dar, wie sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg im Umkreis der N ouvelle Revue Fran~aise erfolgt. Hier will man, in Oppo-

physischer Dienst am Sein; der formalistische Trend) erfaßt da­bei nicht das Gemeinsame des synchronischen Schnitts, so daß Hermand die relative Geschichtlichkeit des methodischen Ansat­zes in seinen verschiedenen Ausprägungen entgeht.

2 Ich beziehe mich auf den Artikel "Weltanschauung" in Philoso­phisches Wörter.buch (Kröner, Bd. 13).

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sition zur "Critique universitaire"3, eine "critique creatrice", eine von innen her die Literatur begreifende Kritik ins Le­ben rufen. "Criciquer, c'est partager, partager ce que j'aime" lautet eine Formel für diese Haltung, die bewußt keine Wissenschaftlichkeit sucht, "sentir et comprendre" ist ein weiteres Schlagwort, das diese Richtung charakterisiert'. Ortega y Gasset formuliert um die gleiche Zeit auf seine Weise ähnliche Gedanken, indem er sagt, er ziehe es vor, Liebhaber der Dichtung zu sein anstatt Richter, und er da­von spricht, daß die Kritik das Werk vervollständigen müsse (completar la obra5). Peguy, der sich schon 1904 in den Cahiers de la Quinzaine sehr polemisch über die text­ferne Kritik geäußert hatte (surtout gardons-nous bien de porter la main sur le texte6 ironisiert er die weiterhin noch geltende Praxis), Jacques Riviere, der allerdings als Kritiker weniger Methode als lyrische Ader verrät, Andre Suares, der eine "critique creatrice" fordert und praktiziert und mit einem "tout le mal vient de Taine" seinem Unmut Luft macht7, sind weitere Exponenten dieser schöpferischen Kritik, die später Charles du Bos mit seinem Stichwort der "ap­proximations" auf eine glückliche Formel bringt.

Die vierte Ausprägung schließlich mag auf den ersten Blick nicht als ein von-Innen-her-Kommen evident sein, ich meine die "explication fran~aise", wie sie seit dem Ende des 19. Jhdts. heranreift. 1882 schon hatte sie Lanson im Manuel general de l'instruction publique als Übung empfoh­len. Bei der Unterrichtsreform von 1902 wird sie dann in den Schulen eingeführt. 1911 erscheint M. Roustands Precis d'explication franfaise, hat sich die Übung einen festen Platz im Bereich der Beschäftigung mit Literatur erobert, den sie in Frankreich bis auf den heutigen Tag mit Erfolg innehält. In der Tat könnte man meinen, diese "explication fran­~aise" sei recht äußerlich, positivistisch. Aber eine solche

3 Vgl. auch Charles Peguy, M. Lanson tel qu'on le laue, 1913. 4 Nadt G. Siebenmann, a. a. 0., S. 129. 5 Meditaciones del Quijote, Obras completas I, 4. Auf!., Revista

de Occidente,_Madrid 1957, S. 324 :ff. 6 Nach R. Fayolle, La Critique, S. 145. 7 Nach Fayolle, S. 156.

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Meinung wäre doch recht leichtfertig gefaßt: erst die Wende nach Innen ermöglichte diese Übung, die ja gerade darin besteht, den Text unmittelbar als solchen zu sehen und aus­zulegen. Sie ist insofern ein früher Ausdruck dessen, was in der Folgezeit Charakteristikum der Etappe wird. Denn diese zweite Etappe verlegt ja, wie schon kurz ausgeführt, den Akzent der Literaturbetrachtung von der Weltanschau­ung, von dem, was die Literatur an Psyche und Bewußtsein rückbindet, mehr auf sie selbst, auf den Ausdruck.

Leo Spitzer und die russischen Formalisten sind zweifel­los die wichtigsten Vertreter dieser zweiten Etappe, aber auch ein I. A. Richards kann typisch für sie stehen. Mag sie noch so viel trennen, mag Leo Spitzer, von Voßler herkom­mend, noch so sehr nach dem seelischen Ausdruckswert fra­gen, während die russischen Formalisten vorbehaltloser die literarische Wirklichkeit als solche, und dies vorwiegend auf theoretischer Basis, sehen, mag I. A. Richards - in Princi­ples of Literary Criticism (1925) - die Literatur als "orga­nization and control of impulses" erkennen8, gemeinsam ist ihnen das Ansetzen an der Literatur selbst und die Isolie­rung dieses Untersuchungsobjektes gegenüber außerliterari­schen, historischen Zusammenhängen9.

Die dritte Etappe sodann ist aufs Ganze gesehen dadurch gekennzeichnet, daß hier verschiedene Ansätze, die sich aus der Wende nach Innen ergeben hatten, ihre Reife bzw. überreife und Mischung mit ungesunden ideologischen Wu­cherungen erleben. Kritiker wie Charles du Bos und Albert Thibaudet lösen jetzt die Versprechen der "critique crea­trice" ein, insofern sie deren Haltung gegenüber dem Text methodologisch untermauern. Der erstere entwickelt dabei das methodische Prinzip der "approximation" (seine Ap­proximations erschienen zwischen 1922 und 1937), einer

8 Nach W. Sutton, Modern American Criticism, S. 7. 9 Bekannt ist I. A. Richards' Unterscheidung zwischen Sprache

der Dichtung und Sprache der Wissenschaft: "A Statement may be used for the re/erence, true or false, which it causes. This is the scientific use of language. But it may also be used for the sake of the effects in emotion and attitude produced by the reference it occasions. This is the emotive use of language. • (Nach W. Sutton, a. a. 0., S. 9).

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Kritik der Einfühlung und Sympathie, die der Wahrheit eines jeden Autors in geduldiger Analyse und unter Beja­hung der Subjektivität gerecht werden will. Albert Thibaudet entwirft in Physiologie de Ia critique (1930) Vorstellungen von einer "geographie des lettres" 1o, in der "description" und "degustation", objektive Textbezogenheit und subjek­tives Vergnügen sich die Waage halten11, und die er deshalb auch "critique de nourritures" nennt12 • Oskar Walze! (Gehalt und Gestalt 1924), Ernst Cassirer (Philosophie der symbo­lischen Farmen, 1923 ff) und Hermann Pongs (Das Bild in der Dichtung, 1927 ff) gelangen ihrerseits in diesen Jahren zu reifen Synthesen, die u. a. auf Ansätzen von Dilthey aufbauen. Im Prager Strukturalismus schließlich werden die Vorstellungen der russischen Formalisten von einer Theorie der Literatur konsequent weiterentwickelt, gelangen diese nun als reine Theorie zur Reife. Im übrigen aber ist die Zeitspanne 1924-1938 - in Deutschland und Frankreich zum mindesten - mehr noch durch das gekennzeichnet, was man als üppige Blüte geisteswissenschaftlicher Betrachtung bezeichnen könnte. Entsprechend dem französischen Zyklen­roman der zwanziger und dreißiger Jahre, der sich, wie es scheint, nahezu unbekümmert um die Problematik seiner Existenz als äußerst konstruktionsfreudig darbietet13, schießt auch die Literaturwissenschaft dieser Zeit hie und da ein wenig ins Kraut, überwuchert sie zusehends die Selbstdiszi­plin des Ansetzens am gesicherten Detail, schwingt sie sich auf den anderen Ast der Voßlerschen Dichotomie und ent-

10 Dieser "geographe" vor allem ist es, der einen Gerard Genette als Strukturalisten an Thibaudet interessierte: ,;le geographe, insistons-y, non l'historien" (Figures II, S. 12).

11 Zum Ganzen R. Fayolle, a. a. 0., S. 152 ff. 12 Gemeint ist eine Kritik, die ständig auf der Suche nach Nah­

rung umherschweift Der Anklang an Gide (Nourritures terres­tres) ist dabei o:ffenkundig. Zum Ganzen auch F. Kurris, Albert Thibaudet et Ia critique litteraire, Neophilologus 43, 1959, s. 292 ff.

13 Vgl. mein Buch Der französische Roman im 20. Jhdt, S. 65ff.

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wickelt sie eine rein geistesgeschichtliche14 Scheinblüte (womit keineswegs das große Verdienst einzelner Studien dieser Zeitspanne angetastet werden soll). ·

Es ist sicher nicht reiner Zufall, wenn diese Scheinblüte, von deren rauschhafter Entwicklung sich nur wenige relativ frei halten konnten, etwa um das Jahr 1924 zu treiben be­ginnt, um eine Zeit also, als sich Rosenberg und Hitler daran machen, auf ihre Weise von Innen, von Blut und Rasse her kommend, über die Problematik der Existenz hin­weg üppige Treibhausideologien zu entwickeln, um eine Zeit, in der in Rußland die Stalin-Ara anbrach, nachdem Lenin, der 1903, knapp nach der Jahrhundertwende seinen Auftritt auf der politischen Bühne gemacht hatte, sich 1922 zurück­gezogen hatte. Nicht als wollte ich einen kausalen Zusam­menhang zwischen diesen Phänomenen herstellen (obwohl hie und da, jedoch weniger bei den großen Erscheinungen, die wir genannt haben; Kausalität im Spiel sein dürfte). Daß eine solche Beziehung nicht grundsätzlich besteht, ·geht schon daraus hervor, daß sich beispielsweise bei den russi­schen Formalisten, die in geistiger Opposition zum etablier­ten Regime standen, seit 1921 eine in die Richtung der neuen Etappe weisende Neigung zur Konstruktivität ankündigt, sie nun die bis dahin gemiedene historische, evolutionäre Perspektive aufnehmen. Und wenn in Deutschland mit dem Band 47 der ZrPh, dem Jahrgang 1927, diese bis dahin nahezu hermetisch gegenüber der Literaturwissenschaft ver­schlossene, streng philologische Zeitschrift ihre Tore weit dieser "neuen Disziplin" öffnet, gleich fünf Aufsätze litera­turwissenschaftlicher Ausrichtung Aufnahme finden, wenn im Jahre 1926 die Romanischen Forschungen, die zwischen 1919 und 1926 ihr Erscheinen 'eingestellt hatten, wieder auf den Plan treten und von nun an ein klares Obergewicht der literaturwissenschaftliehen Perspektive verraten, dann kann man das schon deswegen nicht im angedeuteten Sinn kausal deuten, weil einmal um diese Zeit noch kein politischer

14 Jost Hermand holt in diesem Zusammenhang das Diltheysche Erbe und dessen Wandlungen in den verschiedenen Ausprä­gungen (vor allem Weltanschauung und Kunst sowie struk­turpsychologische Typologien) sehr schön heraus.

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Druck ausgeübt wurde, sodann die Beiträge überhaupt nicht in irgendeiner inhaltlichen Analogie zu Politika stehen. Es wirken sich hier eben nur Gemeinsamkeit des Augenblicks und der Tradition aus, das, was man als Geschichtlichkeit fassen könnte. Nicht einmal die "explication fran~aise" blieb hier vor "Ansteckung" bewahrt: man stellte ihr nicht nur jetzt eine Rivalin zur Seite, die historisch erklärende "lecture suivie", sondern 1938 war es sogar so weit, daß sie ein ministerieller Erlaß ausdrücklich vor der Infiltration historisierenden Erklärens schützen mußte15.

Wenn aber eine kausale Erklärung der literaturwissen­schaftliehen durch die politische und ideologische Reihe nicht grundsätzlich möglich ist, so bleibt es doch bedeutsam, daß durchweg gerade diejenigen, die am konkreten Detail an­setzten, seien es nun textliche oder "soziologische" Konkreta, diejenigen, die sozusagen "redlich" blieben, die russischen Formalisten, Leo Spitzer, aber auch "die Soziologen", Erich Auerbach, der 1933 sein Buch Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts veröffentlicht hatte, weiterhin Schük­king, Mannheim, Alewyn und Hirsch, den Weg in die Emi­gration wählten oder, wie die russischen Formalisten (die mit Roman Jakobsan zur Gründung der Frager Phonolo­gischen Schule führten), verstummten, während mancher Vertreter des "reinen unwandelbaren Geistes" Parolen von 11Kunst aus Blut und Boden" entwickelte.

Es wäre sicher interessant und aufschlußreich für die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen den verschiede­nen Reihen der Wirklichkeit - Literatur, Literaturwissen­schaft, Gesellschaft, Politik - wenn man diese Vorgänge im einzelnen genauer durchleuchten würde. Im Zusammen­hang unserer Fragestellung scheint es mir allerdings ungleich wichtiger, kurz auf einige wichtige weiterführende Positio­nen dieser Zeitspanne, die russischen Formalisten, die Frager Strukturalisten und Leo Spitzer, im Kontrast dazu auch den frühen Curtius, näher einzugehen.

15 Dazu Wilhelm Blechmann, Probleme der Explication Fran­~aise, GRM 38, 1957, S. 383 ff.

132 Methodengeschichtlicher Rückblick

Die russischen Formalisten

Der offizielle Beginn der Tätigkeit der russischen Forma­listen liegt im Jahre 1916, dem Jahr, in dem die "Gesell­schaR: zur Erforschung der dichterischen Sprache" (Opajas) mit ihren Publikationen begann. Es ist dieses das Jahr, in dem Ferdinand de Saussure im Cours de linguistique gene­rate (Lausanne 1916) die wichtige Unterscheidung zwischen diachronischer und synchronischer Sprachbetrachtung sowie die zwischen Iangue und parole trifft. Hier wie dort werden so wichtige Initiativen ergriffen zur Erkenntnis der Funk­tionsweise des Wortes im System der Sprache. Bei den russi­schen Formalisten dominiert dabei zunächst die synchronische Betrachtung. Denn ein entscheidender spezifischer Ansatz der russischen Formalisten ist der bereits erwähnte, namentlich von Jurij Tynjanov entwickelte, nach dem die literarischen Reihen in sich ihre über das Literarische entscheidende Er­klärung finden und nicht in der Gesellschafl: - wobei aller­dings vor allem von Tynjanow betont wird, daß der Auf­bau dieser literarischen Reihe "immerzu auf die benach­barten kulturellen, milieuhafl:en und schlechthin sozialen Reihen"16 stoße. Gemessen an· der in Rußland besonders stark ausgeprägten positivistischen, d. h. vom Außerliterari­schen aufs Literarische schließenden Literaturhistorie, die allerdings um die Jahrhundertwende, mit Aleksandr Vese­lovskij vor allem, schon Auflösungserscheinungen gezeigt hatte17 (ganz analog zu dem, was wir in Frankreich und andernorts beobachten konnten), war diese Stellungnahme, die korrelativ zur formalen Methode steht, wahrhaft revo­lutionär. Sie wurde denn. auch von den Vertretern der dort und damals etablierten Ideologie, von den sogenannten Marxisten, von Trotzkij z. B. in Wort und Schrifl:, be­kämpfl:18, und 1930 verstummten dann die unerwünschten

16 über literarische Evolution, S. 3 f. 17 Vgl. Victor Erlich, Russischer Formalismus, S. 28 :ff. 18 Dazu B. Eichenbaum, Aufsätze zur Theorie und Geschichte

der Literatur, S. 60 ff. Trotzkij hatte gesagt: "Gäbe es nicht Veränderungen in der Psychik, die aus der Veränderung des gesellschaftlichen Milieus resultieren, so gäbe es keine Bewe­gung in der Kunst: die Menschen würden sich, von Genera-

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Stimmen, ließen die russischen Formalisten, halb freiwillig, halb gezwungen, von ihrer Methode und suchten sie sich andere, weniger explosive Betätigungsformen.

Versuchen wir kurz die methodologischen Positionen der Hauptvertreter dieser Richtung zu charakterisieren, die wohl deswegen so gefährlich erschien, weil sie auf das wahre W e­sen der Literatur, auf ihre unerreichbare und unlenkbare, lediglich zerstörbare Wirksamkeit aufmerksam machte.

Viktor Schklovskij ist unter ihnen der Bahnbrecher und Theoretiker der Frühzeit (1914-1921). Als sich die rus­sischen Formalisten aus dem Gegensatz zu den Ideen der Symbolisten heraus, mit denen sie groß geworden waren, zu formieren und zu definieren begannen, Jakubinskij den vom Sinn unabhängigen Eigenwert des Klangs der Verssprache entdeckte, ging er in seiner Broschüre Auferstehung des W or­tes (1914) daran, den Grund zu einer formalen Methode zu legen, indem er die "Spürbarkeit" der Form als das spezi­fische Merkmal der künstlerischen Wahrnehmung erklärte und damit die Form vor und eigenwenig gegenüber dem Sinn als das entscheidende Merkmal der Kunst auffaßte10•

In den Aufsätzen Die Kunst als Verfahren und Der Zusam­menhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren (beide 1916)20 wird von hier aus der erste Schritt zur Konkretisierung der formalen Analyse gemacht. Im ersteren Beitrag setzt sich Schklovskij polemisch von Potebnja ab, dem russischen Literaturtheoretiker des ausgehenden 19. Jhdts., der die Literatur als ein Denken in Bildern definiert hatte. Für Schklovskij hingegen ist die

tion zu Generation, mit der Poesie der Bibel oder der alten Griechen begnügen". Trotzkij hatte sich aber auch gefragt, wo­durch denn die Bewegung der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft dann noch bestimmt werde, in einer Gesellschaft, die vom Klassenkampf frei ist. Er hatte hier auf die mensch­liche Leidenschaft hingewiesen, die sich nicht mit Erreichtem zufriedengeben könne. Woraus B. Eichenbaum durchaus zu Recht schloß, daß die Kunst also doch eine eigene Funktion habe.

19 Nach B. Eichenbaum, Aufsätze, S. 22, dessen überblick über die Geschichte der formalen Methode ich folge.

20 Beide Beiträge in Texte der russischen Formalisten /.

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Literatur maßgeblich als ein Verfahren definiert, das sich in Verfremdung äußert und nur aus den Gesetzen der Litera­tur und der poetischen Sprache selbst erklärt werden kann. Im zweiten Aufsatz sodann geht es ihm im wesentlichen darum zu erweisen, daß es literaturimmanente Gesetze der Sujetfügung gibt, nach denen Motivierungen, Motivreihun­gen, Parallelsetzung, Stufenbau, Verlangsamung und andere Verfahren eingesetzt werden, und daß die Form des indivi­duellen Kunstwerks ihrerseits sich bestimmt "nach ihrem Verhältnis zu anderen, bereits vorhandenen Formen" (S. 51) und nicht nach einer außerliterarischen Wirklichkeit. Er un­terstreicht so die Herrschaft der Konstruktion, des Sujets, über den Stoff. Seit 1921 kündet sich dann bei Schklovskij die historische Perspektive an, stellt er Überlegungen zum Höhenkamm der Literatur an21, unter dem andere Rich­tungen unkanonisiert und dumpf existieren. Dies ist auch die Zeit, in der andere, Boris Eichenbaum und Jurij Tynjanov, zu maßgeblichen Sprechern der russischen Formalisten auf­rücken.

Jurij Tynjanov ist dabei derjenige, der sich vor allem über die Eigenwirklichkeit der Literatur und ihre synchro­nische wie diachronische Funktionsweise Gedanken macht und dabei die Forderung nach einer wirklichen Literatur­wissenschaft (literaturnaja nauke)22 erhebt. In Das lite­rarische Faktum (1924) hält er zunächst gegenüber der Illu­sion von einer "methode naturelle", die auch in Rußland reiche Blüten getrieben hatte, fest, daß "in der Literatur­theorie Definitionen keineswegs Grundlage sind, sondern ein sich stets veränderndes literarisches Faktum" (S. 7)23 • Mit anderen Worten: die Literatur ist nicht eine Naturgegeben­heit, die man ein für allemal definieren könnte, sondern sie ist eine historische, evolutionierende Wirklichkeit, für die es keine festen Definitionen, keine statischen Gattungsbestim­mungen geben kann, mit denen man, wie mit Zahlen in der Mathematik, operieren könnte. "Die Definition evolutio-

21 Höhenkamm wäre etwa für die französische Literatur des Zeit-raumes von 1830-1870 der realistische oder, wie H. Friedrich vorschlägt, aktualistische Roman.

22 Der Terminus begegnet in Texte der russischen Formalisten !, s. 437, 465, 471, 473, 481.

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niert: wie das literarische Faktum" (S. 36). Was diese Evolu­tion selbst anbetrifft, so beschreibt sie "keine Gerade, son­dern eine gebrochene Linie" (S. 9), verläufl sie nicht plan­mäßig, sondern als Sprung und Ablösung, ist sie "nicht Ent­wicklung, sondern Verschiebung" (S. 394). Zum im Westen weit verbreiteten Psychologismus schreibt Tynjanov in die­sem Zusammenhang: "Die Eigenart eines Phänomens und seinen Stellenwert innerhalb der literarischen Evolution von der persönlichen Psychologie des Schöpfers abzuleiten, ist ungefähr dasselbe, wie wenn man bei einer Untersuchung über Ursachen und Bedeutung der russischen Revolution die persönlichen Eigenschaflen der Führer der kämpfenden Par­teien für die Revolution verantwortlich machen würde" (S. 16). Allerdings ist demgegenüber zu bedenken, daß hier wie dort "die persönliche Psychologie des Schöpfers" auch nicht völlig "hors du jeu" ist, es nicht gleichgültig ist, ob eine Revolution nun von Stalin oder einem anderen durchgeführt wird, ob das Dichtertemperament eines Balzac oder das eines Sue hinter dem Werk steht. Tynjanov definiert dann diese Literatur als "Rede-Konstruktion, die als Konstruk­tion empfunden wird", als "dynamische Rede-Konstruktion" und beschreibt dann folgendermaßen die Eigenart eines Literaturwerks: "Die Eigenart eines Literaturwerks besteht in der Anwendung eines Konstruktionsfaktors auf ein Ma­terial, in der "Formung" (eigentlich: in der Deformation) dieses Materials. Der Konstruktionsfaktor geht im Material nicht etwa auf, er "entspricht" ihm auch nicht. Vielmehr ist er in exzentrischer Weise ans Material gebunden: er tritt am Material hervor".

In einem zweiten wichtigen Aufsatz, V ber literarische Evolution (1927) geht dann Tynjanov dazu über, aus dem gewonnenen Einblick in das, was Literatur ist, Konsequen­zen für die Methode zu ziehen. Als erstes wären einmal sämtliche Termini zu überprüfen, denn "die Literaturge­schichte muß, um endlich zu einer Wissenschafl werden zu können, Anspruch auf Zuverlässigkeit erheben" (S. 38; 434). Man muß sich darüber klar werden, "daß ein Werk der Literatur ein System ist - und die Gesamtliteratur eben­falls. Erst dann läßt sich eine Wissenschafl von der Litera­tur aufbauen" (S. 40). Wichtig ist hierbei die "analytische

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Arbeit an einzelnen Elementen eines Werkes, Sujet und Stil", doch muß mit dieser Analyse die Einsicht verbunden werden, "daß alle diese Elemente werkimmanent aufeinan­der einwirken". Darüberhinaus gilt aber, daß "das fragliche Element gleichzeitig in einem Verhältnis zu analogen Ele­menten anderer Werk-Systeme und sogar anderer Reihen -und andererseits zu anderen Elementen des gegebenen Sy­stems" (S. 41) steht: "Streng genommen gibt es außerhalb der Bezogenheit literarischer Phänomene überhaupt keine Betrachtung dieser Phänomene" (S. 48). Wer deshalb der Literatur gerecht werden will, darf nicht isoliert forschen, darf nicht "einzelne Elemente aus einem System herausgrei­fen und sie außerhalb dieses Systems, also: ohne Berück­sichtigung ihrer konstruktiven Funktion, auf die analoge Reihe eines anderen Systems beziehen" (S. 42), er darf nicht eine "Kausalbrücke von Milieu, Alltag und Klasse des Au­tors zu seinen Werken" (S. 56) bauen noch in ähnlicher Weise von der Psyche oder der Gesellschaft ausgehen (S. 60), er muß vielmehr die Funktion im System und in der dia­chronischen Reihe beachten.Hier wird so - und zu Recht -mit Biographismus, Psychologismus und Soziclogismus ab­gerechnet. Auch der Blick auf <;lie Absicht des Autors schließ­lich vermag die Analyse der literaturimmanenten Funktion nicht zu erübrigen: "Die konstruktive Funktion, die Wech­selbeziehungen der Elemente innerhalb eines Werks macht die Absicht des Autors zu einem Ferment: nicht weniger, aber auch nicht mehr. [ ... ] Die literarische Funktion, die Bezogenheit des Werks auf die literarische Reihe, besorgt den Rest" (S. 53).

Man kann verstehen, daß eine solche Position, die der etwaigen ideologischen Absicht des Autors nur die Bedeu­tung eines unkontrollierbaren Fermentes und den "Ein­flüssen der sozialen Hauptfaktoren" nur die Möglichkeit der Deformation literarischer Werke, nicht aber des bestimmen­den Einflusses auf die Evolution einräumte (S. 60), Anstoß erregte und Mißverständnissen ausgesetzt war.

Der späte Boris Eichenbaum ist derjenige, der sich der hierdurch notwendig werdenden Selbstdarstellung und des einordnenden Rückblicks angenommen hat. In der Zeit der ersten Schritte zur Konkretisierung der formalen Methode

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(1916-1919), hatte er sich vor allem dem Phänomen des skaz gewidmet als eines Verfahrens, welches das Erzähltsein des Erzählwerks vortäuscht, ihm Züge beigibt, die im Leser die Illusion wecken, er erlebe eine orale Wirklichkeit24. Der spätere Boris Eichenbaum aber, derjenige der mit historischen Perspektiven befaßten Formalisten, liefert uns nicht nur in Die Theorie der formalen Methode (1924) eine Selbstdar­stellung, in Das literarische Leben (1929)25 versucht er dar­überhinaus eine systematische Rückschau: "Die literarische Gegenwart hat eine Reihe von Fakten herausgestellt, die der Überlegung und der Aufnahme in ein System bedürfen" (S. 465). Und wenn dies 1929 geschieht, so wird offensichtlich, daß um diese Zeit die.formale Methode schon viel von ihrer ursprünglichen Stoßkraft verloren hatte. Der halboffizielle Druck, unter dem die Formalisten 1930 auf andere Gebiete auswichen, hätte während ihrer Sturm- und Drang-Periode wohl kaum so leichtes Spiel gehabt: der Zeitpunkt der Ab­lösung, der spürbaren Verschiebung, von der sie im Hinblick auf die Evolution der Literatur gesprochen hatten, und die nicht nur für die Literatur, sondern auch die die Sekun­därliteratur gilt, war unaufhaltbar gekommen.

Für uns, die wir gerade dabei sind, uns historischen über­blick zu verschaffen, sind natürlich solche Selbstdarstellungen, die man auch unter dem Blickwinkel der Dekadenz, des Verlustes der Selbstverwirklichung, sehen könnte, besonders wertvoll: wir erhalten hier aus erster Quelle Information.

Boris Eichenbaum betont zunächst, daß die sogenannte "formale Methode" kein methodologisches System und über­haupt keine dogmatische Systematisierung beabsichtige und darstelle. Das entscheidende Problem der Formalisten sei nicht "die Frage nach möglichen Methoden zur Erfor-

23 Die Seitenangaben beziehen sich auf die bequem erreichbare ed. Suhrkamp, 119. Bisweilen waren Präzisierungen nach der Übersetzung in Texte der russischen Formalisten I, angezeigt.

24 Vgl. die Beiträge Wie Gogol's "Mantel" gemacht ist und Die Illusion des 'skaz, in Texte der russ. Formalisten I, 5.123 ff; erster Beitrag findet sich auch in B. Eichenbaum, Aufsätze, s. 119 ff.

25 Erster Beitrag in B. Eichenbaum, Aufsätze, zweiter in Texte der russ. Formalisten I.

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schung der Literatur, sondern nach der Literatur als einem Gegenstand der Forschung" (S. 7). Die Formalisten wollten weder eine Doktrin noch eine feste Methode. Ganz im Ge­genteil spielt bei ihnen "die Theorie als bloße Arbeitshypo­these, mittels derer die Fakten entdeckt werden", eine ent­scheidende Rolle: "Wir stellen konkrete Grundsätze auf und halten uns daran, sofern sie vom Material verifiziert wer­den. Wenn das Material ihre Differenzierung oder Verän­derung erheischt, dann ändern und differenzieren wir die Grundsätze. In diesem Sinne sind wir unabhängig von unse­ren eigenen Theorien, wie . es sich für die Wissenschaft auch gehört: denn Theorie und Oberzeugung sind zweierlei. Fer­tige Wissenschaften gibt es nicht. Wissenschaft vollzieht sich nicht in der Aufstellung von Wahrheiten, sondern in der Oberwindung von Irrtümern." (S. 8) Nehmen wir zu die­sen Ausführungen, die ich wegen ihrer Aktualität "ausführ­lich" zitiert habe, noch das Ethos der erst zu begründenden Literaturwissenschaft als Wissenschaft hinzu sowie die Ober­zeugung, daß die Aufgabe der Literaturwissenschaft in der "Erforschung der spezifischen Besonderheiten des literari­schen Materials" (S. 13) liege, dann haben wir die Charak­teristika der formalen Methode beisammen: ihr Ziel ist die Begründung einer Literaturwissenschaft als verläßlicher Wis­senschaft, ihre Ausrichtung erfolgt auf die Erforschung der spezifischen Besonderheiten des literarischen Materials, ihre kennzeichnenden methodischen Schritte liegen in Theorie als bloßer Arbeitshypothese und Verifikation bzw. Falsifikation.

Der Prager Strukturalismus

Der russische Formalismus ist im großen und ganzen ein­mal dadurch gekennzeichnet, daß er, wie seine Bezeichnung besagt, am Formalen, am Verfahren, ansetzt, sodann,· daß er die Auffassung vertritt, die literarische Reihe sei nur aus sich selbst erklärbar. Das entscheidend Neue und Weiterführende des Prager Strukturalismus (aus literaturwissenschaftlicher Sicht) liegt darin, daß nun das Schwergewicht von der Form auf das Zeichen, auf die Semiotik (die Lehre vom Zeichen) verlagert wird und sich damit nahezu zwangsläufig auch

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der Blick für die Interrelation zwischen der Literatur und anderen Reihen einstellt. Wie im Falle des russischen For­malismus dominiert dabei die Neigung zur theoretischen Darstellung, der Wille .zur Wissenschaft im strengen Sinn des Wortes. Als offizieller Beginn gilt hier das Jahr 1926, in dem der Cercle linguistique de Prague gegründet wurde, dem Roman Jakobson, Nikolay Trubetzkoy, Rene Wellek und Bohuslav Havranek sowie der für unseren Zusammen­hang besonders wichtige Jan Mukarovsky angehörten. (Von Roman Jakobson wird wegen seiner unmittelbaren Aktua­lität bei der Besprechung des Strukturalismus im folgenden Teil die Rede sein.)

Entsprechend der Grundposition der Prager Struktura­listen nimmt für Mukarovsky die "Benennung" (ein semio­tisches Phänomen also) den Platz ein, der bei den russischen Formalisten etwa dem Begriff des Verfahrens zukommt. Und bei dieser Benennung wiederum interessiert die Beziehung zur Realität: "Die Abnahme der unmittelbaren Beziehung zur Realität macht aus der Benennung ein poetisches Ver­fahren." Das läßt ihn weiter folgern: "Der Wert der poeti­schen Benennung besteht allein in der Aufgabe, die sie im semantischen Gesamtaufbau des Werks erfüllt" (Kapitel aus der Poetik, S. 47). Nun liegt aber dem Werk als Ganzem ein Benennungsvorsatz zugrunde: 11das Werk erhält wegen dieses einheitlichen Benennungsvorsatzes den Charakter ei­ner summarischen Benennung (Potebnja). Und gerade diese Benennung höherer Ordnung, die durch das Werk insgesamt repräsentiert wird, tritt in eine starke Beziehung zur Reali­tät ein." (S. 52)

Die Position ist also, im Vergleich zu derjenigen der rus­sischen Formalisten, eine gewandelte, aber auch verwandte. Verwandt ist sie nicht nur wegen des "Glaubens an die Autonomie der Theorie", der ein erstes Kennzeichen des Strukturalismus ist, sondern auch, insofern die Prager Struk­turalisten die diachronische Reihe der Literaturwissenschaft im Sinne des neuen evolutionären Querschnitts fortsetzen26•

Galt bei den russischen Formalisten die Literatur als· von 26 "Die Definition evolutioniert: wie das literarische Faktum",

könnte man dazu mit Jurij Tynjanov sagen (Die literarischen Kunstmittel, S. 36).

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den anderen Reihen unabhängig, doch in sich vielfältig funktional verbunden, so bleibt auch jetzt eine relative theo­retische Autonomie des Modells Literatur erhalten, da die­ses nur als strukturelles Ganzes, als Globales, seinerseits Funktion weiterreichender Strukturen wird. So führt denn auch Mukarovsky - in "Das dichterische Werk als Gesamt­heit von Werten" - aus, daß der ästhetische und damit selbstreferente Wert der einzig zwingende und dominie­rende sei, dem die existentiellen (Realität oder Irrealität des Faktums), die intellektuellen und die ethischen usw. Werte untergeordnet seien. (S. 34)

Der frühe Leo Spitzer (1914-1930)

Spitzer ist ganz anders geartet als die russischen Forma­listen und auch die Prager Strukturalisten. Sind jene vor­wiegend Literaturtheoretiker, so ist Spitzer ein Meister kunsthandwerklicher Literaturwissenschaft, ist er ein Mann des deutenden Zugriffs, der interpretatorischen Filigran­arbeit. Höchst bezeichnend ist es, daß er "nur" Aufsätze und Interpretationen hinterlassen hat, sozusagen nur Klein­arbeit geleistet hat, aber dies in solch reicher Fülle, daß sich die kunstvollen Ergebnisse in zahlreichen Bänden sammeln, von den frühen Aufsätzen zur Romanischen Syntax und Stilistik (Halle an der Saale 1918) bis hin zu den späten Romanischen Literaturstudien (Tübingen 1959) und den po­stumen Interpretationen z. Gesch. d. französischen Lyrik (Hei­delberg 1961). Hier offenbart sich Spitzers Forschertempera­ment, teilweise auch schon seine Methode: es entzündet sich an einer ganz konkreten sprachlichen Erscheinung, deren in allgemeine Zusammenhänge hineinreichende Bedeutsamkeit ihm blitzartig aufleuchtet. Mag man auch hie und da den Eindruck gewonnen haben, daß Leo Spitzer aus allem, auch aus plumpen Backsteinen das Feuer seiner Interpretations­kunst schlagen kann, so beeinträchtigt dies doch die metho­dische Kunst, die, wie wir wissen, ein gut Teil der wissen­schaftlichen Leistung ausmacht, keineswegs, sondern höch­stens hier und da die Verläßlichkeit ihrer Ergebnisse.

Was nun den frühen Spitzer anbetrifft, den von Aufsätze

Vom ersten zum zweiten Avant-Guerre 141

zur Romanischen Syntax und Stilistik (1918) und Stilstudien (2 Bde, München 1928), so läßt sich hier, ähnlich wie bei den Formalisten, zunächst eine ganz frühe, der Sprache als Sprache gewidmete Phase unterscheiden, die etwa bis 1918 anhält. Erst am Ende dieser Zeitspanne, im Aufsatz Die syntaktischen Errungenschaften der französischen Symboli­sten (entstanden 1917 /18) löst sich in Form der stilistischen Methode die spezifisch literaturwissenschaftliche Analyse aus der Beobachtung rein sprachlicher Phänomene heraus. Leo Spitzer überwindet damit von innen her die Zweigleisigkeit des Denkens, die dem Voßlerschen Idealismus am Eingang des 20. Jhdts. eignet. Er versucht - ähnlich auf seine Weise auch der Voßler-Schüler Eugen Lerch - mit dem vom Mei­ster theoretisch Erkannten in der Praxis des literaturbezo­genen Forschens ernst zu machen. Er unternimmt es, um es mit einer Formulierung der zweiten Phase zu sagen, ganz konkret aufzuzeigen, daß "aus einer sprachlichen Abwei­chung vom Normalen auf ein seelisches Affektzentrum ge­schlossen werden darf, daß der eigentümliche sprachliche Ausdruck Spiegelung eines eigentümlichen Seelischen sein muß"27 • Der erwähnte Aufsatz zu den syntaktischen Errun­genschaften der französischen Symbolisten ist der erste Bei­trag, der diese Stoßrichtung zu erkennen gibt. Spitzer äußert dabei einleitend sein Unbehagen über die einschlägigen Posi­tionen der Forschung: auf der einen Seite, derjenigen der Linguistik, steht eine Abwertung moderner synthetischer Ausdrucksweisen, wie sie die Symbolisten verwendeten, sie werden dort als schwerfällig charakterisiert, am Ideal der "clarte" gemessen; auf der anderen, literaturwissenschaft­liehen Seite steht ein "liebevolles Studium", das ein Einge­hen auf die sprachliche Technik vermissen läßt28 • Leo Spitzer

27 Vgl. Romanische Stil- und Literaturstudien I (Marburg a. d. Lahn 1931), S. 4: .Die Art der Stilforschung, wie ich sie in praktischer Ausführung Voßlerscher Gedanken seit Jahren be­treibe." Vgl. auch Aufsätze zur romanischen Syntax und Sti­listik, S. 283.

28 Gemeint sind Elise Richter auf der Seite der Linguisten, Hanns Heiss und Karl Glaser auf derjenigen der Literaturwissen­schafHer (vgl. Au/sätze zur romanischen Syntax und Stilistik, S. 281 und 285).

142 Methodengeschichtlicher Rückblick

aber will sich zwischen Skylla und Charybdis bewegen, er will auf das zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft gespannte Seil der Stilistik treten, will sprachliche Phäno­mene analysieren im Hinblick auf ihre literarische und gei­stesgeschichtliche Relevanz. Der zündende Gedanke, der Spit­zer dabei bewegt, ist die Intuition, daß vielleicht "gerade diese synthetische Art der Periodenbildung ein Spiegelbild des aus der Kompliziertheit des modernen Lebens nach Le­bensbeherrschung, nach Bewältigung der auseinanderstreben­den Tendenzen sich sehnenden Fin-de-siede Menschen" (823) sei. Im Unte:,rschied zu Karl Voßler, der hieran die selbstän­dige Kette geistes- und kulturgeschichtliche Erklärungen geknüpft hätte, will Spitzer ganz konkret von der Sprache ausgehen und sich von seiner Intuition über kontrollierbare Erfahrung am Text zu dem, was man zur Sache feststellen kann, führen lassen.

So stellt er bei den Symbolisten eine ganze Anzahl von sprachlichen Abweichungen zur bis dahin geltenden Norm fest, die insgesamt zu folgenden Kriterien für die Dichter­schule der Symbolisten führen: 1. Der Ausdruck soll weniger deutlich, unbestimmter, verschwommener, 2. er soll verin­nerlicht, 3. er soll wohllautend werden, 4. er soll überra­schend wirken, 5. er soll abkürzen und so der Sprache neue Möglichkeiten eröffnen (285). Spitzer zeigt beispielsweise ganz konkret auf, wie bei den Symbolisten, bei R~gnier, Verhaeren, Mor~as, Maeterlinck und Rodenbach, die Präpo­sitionen belebt und vertieft, sie "aus dem Rein-Gegenständ­lichen ins Geistig-Moralische, aus der scharf belichteten Klar­heit in ein mystisches Halbdunkel gerichtet" werden. So be­kommt die Präposition a in Wendungen wie sombre a, se tordre a, immobile a "eine Datividee". Die Konjunktionen werden vergeistigt; ou ,wo' erhält etwas Vages, Verschwim­mendes (etwa in "Cendres ou fut jadis la flamme v~h~­mente"); ou ,oder' nimmt, ähnlich wie lat. vel, den Anstrich der Beliebigkeit an, ist nicht mehr Anzeichen klarer Alter­native; et ,und' verdrängt unterordnende Konjunktionen und hebt so das untergeordnete Glied auf eine Ebene mit dem übergeordneten. Adverbien werden Ausdruck einer sich vordrängenden Begleitempfindung; so etwa drängen sich in encore von "l'image exacte encore de levres fugitives" glei-

Vom ersten zum zweiten Avant-Guerre 143

ehermaßen das Staunen über das Nochgegebensein und das Bewußtsein des Verlassenmüssens in den Vordergrund, trop wird zu einer Art Verdammungsurteil über das Geschilderte (des soirs trop lourds de pourpre). Andere Adverbien er­halten neue Gefühlstönung: la-bas nimmt eine träumerische Schattierung an, Wendungen wie feuille a feuille, fleur a fleur, arbre a arbre u. a. m. fangen eine gradweise fort­schreitende, liebevoll in ihren Stufen betrachtete Entwick­lung ein. Und schließlich ist da die Poetisierung der Nominal­und Verbalformen, des Vokativs beispielsweise (8 voyageur), des Plurals (les argents, les lassitudes, des Sicilies), der Infi­nita ( quelque Armada), des Infinitivs ( ecoute-moi delacer lentement ma sandale), und die Belebung des Existential­verbs (il y a un oiseau; il y a une horloge qui ne sonne pas).

Der Aufsatz zu den "syntaktischen Errungenschaften der Symbolisten" ist also noch mehr Untersuchung zur Sprache als zum individuellen Stil, er steht, von der Entwicklung Spitzers her betrachtet, auf der Wende von den ,Sprachstil­studien' zu den ,Stilsprachestudien', wie sie Spitzer im zwei­ten Band seiner Stilstudien (1928) vorlegt. Ein Großteil der hierin enthaltenen Aufsätze, die zwischen 1918 und 1928 entstanden, dient dem Zweck, den je individuellen Stil eines Dichters, "die Sprache der Dichter in ihren Kunstabsichten zu erfassen, zu charakterisieren und auf das Seelische, das die Dichter sprachlich ausdrücken, zurückzuführen" (Bd. 2, S. 4). Er will das Eigene des Autors im Stil ablesen. Er rettet so Malherbes Consolation a Monsieur Du Perier vor dem leichtfertig erhobenen Vorwurf der mangelnden Origi­nalität, indem er durch ganz konkreten Vergleich mit der sogenannten Quelle den Stil als sprachliche Relevanz der Kunst herausarbeitet. Er untersucht den Unanimismus von Jules Romains im Spiegel seiner Sprache und erkennt hier die Sicht des Lebens "als ein fortwährendes Gebären und Sterben, als Auflösung und Wachstum, als Gruppenbildung und -umbildung, als wechselseitige Durchdringung von Seele und Körper" (S. 286); Beobachtungen zur Verwendung von Verben wie exister (Wendungen wie exister plus, davantage, . un peu, plus ardemment, en patois, il exista), creer, naitre usw., zum Ausdruck des Gebärens und anderer eruptiver

144 Methodengeschichtlicher Rückblick.

Vorgänge dienen ihm hierbei als Indizien, von denen er betont, daß sie zahlreich vorhanden sein müssen, um zu überzeugen. Den expressionistischen Stil Peguys deutet er, antithetisch an Voßler und Dornseif anknüpfend, als Stil "que Bergson devrait avoir et qu'il n'a pas"29• Dazu tritt ein Aufsatz zum Stil Prousts, wpbei Spitzer an Curtius' Buch Französischer Geist im neuen Europa (1925) anknüpfen kann. Und dieses Zusammentreffen zweier großer Romani­sten in einer Sache ist symptomatisch für eine Revolution, die sich in den zwanziger Jahren in der Literaturwissen­schaft vollzieht: das im Schoße der Philologie geltende Tabu der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Modernen wird durchbrochen, Werke, deren Erscheinen kaum zehn Jahre zu­rückliegt, werden analysiert, und mit Recht. Denn hier lie­gen Möglichkeiten der Erkenntnis, die bei größerem Abstand geringer werden und nie wieder ganz einzuholen sind, die der Kontrolle am historischen Leben, dessen Ausdruck wir hier vor uns haben und das wir noch in uns selbst spüren als frische Vergangenheit, als lebendige Erinnerung. Kein Wunder, wenn diese Möglichkeiten gerade in dieser von innen kommenden Zeit gesehen werden ...

Der frühe Curtius

Besonders deutlich werden diese Vorteile, aber auch die da­mit verbundenen Gefahren eines Obergewichtes von Sub­jektivität und lqteresse, wenn wir zum frühen Curtius hin­überschauen, den Leo Spitzer bewundert, weil er "vom Phi­lologen die Feinhörigkeit, die Akribie, die Sachlichkeit, den Respekt vor ,dem, was dasteht', hat, ohne die Schwerfällig­keit und Haarspalterei", die den Philologen verunzieren (S. 365). Aber dieses Bewundernswerte zeigt, gerade wenn man von Leo Spitzer herschaut, auch klar seine Begrenztheit. So ist es bezeichnend, daß ein Buch wie Maurice Barres und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus

29 Dieses Wort selbst stammt von Johannet (vgl. Stilstudien, 2 Bde, München 1928, Bd. 2, S. 311).

Vom ersten zum zweiten Avant-Guerre 145

(Bonn 1921) im Zeichen eines kulturpolitischen Interesses steht, desjenigen "klar und deutlich die unverrückbaren Trennungslinien zu ziehen gegen jenes Frankreich, das der Barres'sche Nationalismus darstellt" (S. VII). Es ist also nicht ein rein wissenschaftliches Interesse, das Curtius zu seinem Gegenstand führt. Das braucht zwar kein Nachteil zu sein­das Engagement kann erheblich dazu beitragen, die Augen für die Wirklichkeit zu öffnen -, aber hinzu tritt, daß sich dieses Interesse mit einer unkontrolliert geistesgeschichtlichen Methode verbindet (Curtius setzt sozusagen die eine, litera­turwissenschaftliche Hälfte des Voßlerschen Erbes fort, Spit­zer hingegen die sprachwissenschafHiche). Er sieht weder Sprache noch Stil, sondern ausschließlich die "geistige" Aus­sage in ihrem Verhältnis zu zeitgenössischen Bewegungen des kulturellen Lebens. Nur selten zitiert er einmal eine Text­stelle, und auch dann nur als Beleg für das Gesagte, eher schon bringt er einmal außerliterarische, moralische Prinzi­pien formulierende Aussprüche. Da er auf geistes- und kul­turgeschichtliche Erkenntnis aus ist, liegen eben hier die ent­scheidenden Feststellungsakte, bei denen allerdings der frühe Curtius recht unphilologisch, ja man muß schon sagen un­wissenschaftlich verfährt. Denn die Kontrolle, der er sein reiches Wissen anheimstellt, ist das Gedächtnis des Lesers; mit anderen Worten, nur ganz selten gibt er seine Quelle an. Die "literaturwissenschaftliche Jugendbewegung" verach. tet offenbar diese Pedanterie.

Ähnliches gilt auch für Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich (Potsdam 1923). Auch hier ist das Er­kenntnisinteresse geistes- und kulturgeschichtlicher Art, wobei allerdings diesmal nicht die Abwehrhaltung (gegenüber dem Nationalismus) dominiert, sondern die Sympathie für das neue Frankreich, das von Andre Gide, Romain Rolland, Paul Claudel, Andre Suares und Charles Peguy, mit anderen Worten, für das sich aus der Innerlichkeit heraus begreifende Neue Frankreich. Curtius hat später die unselige Trennung von Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg beklagt. Aber er betreibt sie hier maßgeb­lich mit, indem er die philologische Kontrolle preisgibt, den einen Arm Voßlerscher Orientierung verabsolutiert, während Spitzer jetzt schon warnt: "Romanisten, die nur die romani-

146 M cthodengeschichtlicher Rückblick

sehen Sprachen oder nur die romanischen Literaturen betrei­ben, sie arbeiten mit auseinandergerissenen Fach-Hälften" Stilstudien II, S. 3).

Die werkimmanente Methode von Leo Spitzer

Zu den dreißiger Jahren hin, als Roman Irrgarden sein Buch Das literarische Kunstwerk ( 1. Aufl. 19 31) heraus­bringt, in Amerika der New Criticism heranreift, entwik­kelt Leo Spitzer dann das, was man die werkimmanente Methode nennt und er in den vierziger Jahren (in Lingui­stics and literary history. Essays in stylistics, Princeton 1948 und A Method of interpreting Literature, Northampton, Mass. 1949) theoretisch formuliert. Er tut damit, von Spra­che und Stil herkommend, einen weiteren Schritt ins Reich der Literatur hinein. Der Begriff werkimmanent besagt da­bei, daß die Analyse im Werk bleibt (immanere), dies so­wohl hinsichtlich des Ziels, das in Erkenntnis und Ausdeu­tung des Werks liegt, als auch im Hinblick auf die Methode, insofern hier außerhalb des Werkes liegende Feststellungs­akte als Urteilsbasis ausgeschlossen bleiben. Die werkimma­nente Methode geht ausschließlich von dem aus, was sie im Werk, gegebenenfalls auch in mehreren Werken, doch im­mer in der konkreten textlichen Wirklichkeit vorfindet. Sie versagt sich jedes außerliterarische, an die Literatur heran­getragene Vor-Urteil und ist auch nicht auf ein außerlitera­risches Urteil hin angelegt. Sie blickt nicht, wie das im 19. Jhdt üblich war und immer noch gang ltnd gäbe ist, vom Leben des Autors, vom nationalen Geist, vom Stand und Milieu noch vom historischen Standort des Dichters aus. Sie versagt sich im Sinne dieses Prinzips sogar auch noch, von überliterarischen, aus Betrachtung von literarischem Material gewonnenen Ansichten allgemeiner oder doch umgreifender Art auszugehen und in ihrem Lichte den Text zu durch­leuchten. Sehr plastisch zeigt sich das in der scherzhaft-pole­mischen Auseinandersetzung mit Hugo Friedrich, die man in Leo Spitzers Heidelberger Gastvorlesungen zur franzö­sischen Lyrik findet. Es geht dabei um die Interpretation des Eventail de Mme Mallarme, den Hugo Friedrich auf

Vom ersten zum zweiten Avant-Guerre 147

Grund einer umfassenden Kenntnis Mallarmes als ontolo­gisch interpretiert, während Leo Spitzer nach bewährter Me­thode drauflosinterpretiert, die Individualität des Gedich­tes aufspürt, zu deren Charakteristik und Würdigung ihm freilich ein reiches Wissen zur Verfügung steht, doch nicht, und darin liegt das entscheidende, als irgend ein Vorgriff auf die zu beurteilende Sache. Auf die Spontaneitat der Er­kenntnis, auf das "Etymon", wie er es nennt, auf die blitz­artig sich einstellende, hernach zu verifizierende Erkenntnis des entscheidenden formalen Faktors kommt es Spitzer an. Ihr zuliebe verzichtet er auf eine vorherige gründliche Be­schäftigung mit der Sekundärliteratur und empfiehlt er an­deren, es ihm gleichzutun: "Ich glaube, unter unseren ge­lehrte Abhandlungen eröffnenden, bibliographischen Prolo­gen mit dem Titel ,Benutzte Sekundärliteratur' sollte von Zeit zu Zeit eine schlichte Null stehen"30• Wenn aber Spitzer wirklich einmal nicht darumhin kam, vorher etwas zur Sache zu lesen, diese Lektüre anderer vielleicht sogar den Anstoß zur Beschäftigung mit der Sache gab, dann baut Spitzer sel­ten auf dieser auf, sondern er geht zumeist spontan in eine Gegenposition, wahrt sich so die Freiheit des ganz neuen Schauens und damit die Chance, die Sache als das, was sie ist, zum Aufleuchten zu bringen, sie in ihrem Eigentlichen zu erkennen. Man soll "drauflos lesen, bis einem etwas Sprachliches auffällt". Solche sprachliche Beobachtungen wer­den dann gehäuft, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, und von ihnen her wird die Brücke geschlagen zum Kom­positionellen, zu Aufbau und Gliederung sowie zum welt­anschaulichen Gehaltst. So verfährt Leo Spitzer beispiels­weise mit den Quinze joyes de mariage, einer Novellen­sammlung des 15. Jhdt, "welche die Schlechtigkeit der Frau und die Instinktgebundenheit des Mannes an 15 paradigma­tischen Fällen zu beweisen sucht". Er liest [drauflos], beo­bachtet gleich in den ersten Sätzen des Prologs das Einsetzen einer Metaphernserie: das Bild des Gefängnisses, das der en­gen Grube, das des Fischnetzes und das des Gewahrsams,

30 Romanische Stil- und Literaturstudien !I, S. 47. 31 "Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken",

Romanische Stil- und Literaturstudien I, S. 5.

148 M etbodenp;eschichtlicher Rückblick

aus dem nur der Todeskopfsprung retten kann. Er erfährt dann als ausdrückliche Bestätigung der seelischen Relevanz dieser Spracheigentümlichkeit vom Dichter, daß dieser "die 15 Freuden der Ehe den 15 Freuden Mariae gegenüberge­stellt habe, weil er über die Ehe nachgedacht und erkannt habe, daß die Freuden, die die Eheleute haben, Qualen sind, es habe ihm, dem Unverheirateten, ein großes Ergötzen be­reitet, die vielen im Netz der Ehe Eingeschlossenen zu be­obachten" (S. 7). Bei den fünfzehn Beispielen, die nun fol­gen, erkennt Spitzer als werkeinendes kompositionelles Schema die Erwähnung der Fischreuse an Anfang und Ende jedes Beispiels, wodurch die einzelne Novelle formal "einge­kerkert" werde, sie noch einmal das Seelische reflektiere.

Nicht immer freilich läßt sich ein Werk so leicht und augenscheinlich von der Sprache her bis hin zur Komposi­tion und Tragweite aufschlüsseln, wie denn auch der Leo Spitzer dieser Jahre keineswegs immer der klassische V er­treter der werkimmanenten Methode ist, als der er im Falle der Interpretation der Quinze joyes de mariage begegnet. So kann Spitzer sich im Falle von Saint-Simons Porträt Lud­wigs XIV. (in Romanische Stil- und Literaturstudien I!) mit einer Grundzelle begnügen und an ihr die stilistische Schwelltechnik des Autors beschreiben32• Im Falle der "klas­sischen Dämpfung in Racines Stil" (in Romanische Stil- und Literaturstudien I) hingegen erübrigt das Ziel einer durch­gehenden Charakteristik des Racineschen Stils das Eingehen

32 Der Aufsatz ist insofern von der Entwicklungsgeschichte Spit­zers her gesehen aufschlußreich, als Spitzer sich hier ausdrück­lich zum Prinzip der Unterordnung der sprachlich-stilistischen Beobachtung unter die Literaturwissenschaft bekennt. Leo Spit­zer, der mit Aufsätze zur Syntax und Stilistik begann, also von der Sprache seinen Ausgang nahm, der in Stilstr~dien das Schwergewicht seiner Forschung von der Sprache als Sprache zur Sprache als Kunst hin verschob, ist nun, in Stil­und Literaturstudien, dabei, die "belle victoire" der Literatur­betrachtung über die Stilstudien vorzubereiten (II, S. 46), und nicht von ungefähr werden dann seine Aufsätze aus den Jah­ren 1936 bis 1956 unter dem Titel Romanische Literaturstudien erscheinen. In der Abfolge dieser Titel sind somit die Haupt­etappen in der Entwicklung Spitzers eingefangen.

Vom ersten zum zweiten Avant-Guerre 149

auf Werkkomposition. Bezeichnend ist hier die Weise, wie er an Vosslers Ergebnisse anschließt. Vossler hatte von "klas­sischer Dämpfung" bei Racine gesprochen und darin kaum mehr als eine Zutat gesehen im Vergleich zu den Elementen, die von Rotrou und Corneille hierherreichen, mit anderen Worten, er hatte Racine historisch gesehen und das Eigent­liche aus dieser Perspektive sozusagen überspielt. Spitzer aber, der das Wort von Vossler sicher mit leichter Ironie im Titel seines Aufsatzes aufgreift, legt es darauf an, dieses scheinbar so geringfügige Moment "in sich ruhend", für sich zu betrachten als das Ausschlaggebende. Zahlreich sind die Beobachtungen, die er in diesem Zusammenhang macht. Da ist einmal die Entindividualisierung durch den unbestimmten Artikel (quels charmes ont pour vous des yeux infortunes? Andr.; A de moindres faveurs des malheureux pretendent Andr.). Da ist der distanzierte Gebrauch des Demonstrativs (ou ce fils doit m'attendre Andr.; ce cceur, cette main statt "mon creur", "ma main"). Da ist das objektivierende Er (Sie) statt des Ich (Prh a suivre partout le deplorable Oreste - der selbst spricht), und da sind viele andere Erscheinun­gen mehr, denen Spitzer allerdings wohl kaum in ihrer Tragweite gerecht wird, indem er sie nur als Ursache der relativen Kühle und Distanziertheit deutet, mit der wir Racine aufnehmen.

Auch Spitzers Methode ist also nicht etwa ein Patentmit­tel das man nur anzuwenden brauchte, um zur "Wahrheit" zu gelangen. Spitzer selbst ist weit entfernt davon, einer sol­chen Illusion zu erliegen. Aber seine werkimmanente und seine stilistische Methode öffnen doch die Augen des Inter­preten ganz neu und mit objektivierbarem Gewinn für die konkrete Wirklichkeit der Literatur. Denjenigen, die ihm entgegenhalten, seine Deutungen verfielen der Gefahr der Subjektivität, gibt er im Scherz, doch durchaus zu Recht, zu bedenken (in Etude a-historique d'un texte)33, daß auch die Vertreter der reinen Erudition, der positivistischen Quellen­und Faktenforschung, der Philologie im engeren Sinne hin und wieder zu recht wenig objektiven Ergebnissen kommen; sie hätten beispielsweise in Villons Ballade des Dames du

33 Romanische Literaturstudien 1936-1956, Tübingen 1959.

150 Methodengeschichtlicher Rückblick

temps jadis einen Mann, Alchibiades, entdeckt, wo seine Methode, in diesem Fall ungleich objektiver, eine Frau, näm­lich Archipiada, zu erkennen vermochte.

4 IM BANNKREIS DES ZWEITEN WELTKRIEGS

(1936-1949)

Doppelte Buchführung?

Leo Spitzer, der, ähnlich wie Erich Auerbach, dem Dritten Reich den Weg ins Exil vorgezogen hat, gibt 1945, als das große Völkerringen sein Ende gefunden hat, seiner Verwun­derung Ausdruck, wie es wohl möglich war, daß in Deutsch­land unter dem Hitlerregime die Philologie weiterblühen konnte. Er glaubt, den Grund in jener spezifisch deutschen "Geistesfrömmigkeit" sehen zu müssen, die im wissenschaft­lichen Betrieb zu einer "dingbesessenen Anmerkungswjssen­schaft" einerseits und zu einer "gesinnungslosen Interpre­tationsvirtuosität" andererseits entartete, die sozusagen eine "doppelte Buchführung" unterhielt, eine wissenschaftliche der subtilen Einführung .ins Fremde und eine alltägliche des Eigenen, des "ressentimentbeladenen Nationalismus"1.

Wir haben in den voraufgehenden Kapiteln gesehen, daß diese "doppelte Buchführung" ihre lange Vorgeschichte hat und bis zu jener Isolierung des geistigen Prinzips zurück­reicht, die neben anderen schon Dilthey und Vossler betrie­ben und deren Auswirkungen sich beim werkimmanenten Spitzer selbst ebenso in etappenspezifischer Weise ausprägen wie, mit anderen Inhalten und anderer Orientierung, etwa bei Hermann Pongs2, Horst Oppel3 und Martin Heidegger4,

Leo Spitzer, "Das Eigene und das Fremde", in Die Wandlung (referiert nach H. R. Jauss, Paradigmawechsel in der Literatur­wissenschaft, Linguistische Berichte 3, 1969, S. 44 ff).

2 Der von "bildschaffender Ekstasis" als dem innersten Wesen einer jeden großen Dichtung spricht (Das Bild in der Dichtung, Marburg 21960, S. 453) und damit auf seine Weise die Werk­wirklichkeit aus dem historischen Zusammenhang herausnimmt.

3 Der in Die Literaturwissenschaft der Gegenwart (1939) von der "Schicksalhaftigkeit des Seins im Ganzen" spricht, in die die

Im Bannkreis des Zweiten Weltkrieges 151

die in diesen Jahren auf ihre Weise die Kunst aus der ge­schichtlichen Verantwortung herausnehmen5• Diese Haltung vertief\: sich teilweise noch in der in diesem Kapitel zu be­sprechenden Zeitspanne, wird von Horst Oppel in seiner Morphologischen Literaturwissenschaft (1947), von Martin Heidegger in Holzwege (1949) weiterentwickelt, nunmehr auch von Emil Staiger, Wolfgang Kayser und vielen ande­ren vertreten, während unterschwellig schon eine neue Sicht der Literatur und mit ihr ein neues methodisches Denken heranreifl. Und an diesem neuen Denken zeigt sich wiederum, daß diese epochalen Erscheinungen (sowohl das Beharren im werkimmanenten Denken als auch das überschreiten dieser stagnierenden Position) keine Grenzen kennen. Ebensowenig wie die Emigration Leo Spitzer dem Gesetz der Epochalität entzieht6, bleibt die Überwindung der Irrtümer, die das aus­schließliche sich-von-Innen-Begreifen mit sich gebracht hatte, ein Vorrecht der Emigranten. Vielmehr stehen hier der in Istanbul weilende Erich Auerbach und die in Deutschland verbliebenen Hugo Friedrich und Ernst Robert Curtius Seite an Seite, arbeiten sie - um nur einige besonders profilierte Romanisten dieser Zeit zu nennen, zusammen an der Erfül­lung und Überwindung des Augenblicks.

Hugo Friedrich, der 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, seine Drei Klassiker des französischen Romans veröffentlicht, ist unverkennbar Schüler des frühen Curtius, eines Curtius also, der Literaturwissenschafl in der Voßlernach­folge, Geistes- und Kulturgeschichte am Objekt der Literatur

Kunst den Einzelmenschen aufnehme (S. 169), so daß auch hier eine Art geistiger Ausnahmezustand in der Kunst gesehen, sie gegen das Draußen abgeschirmt wird.

4 Der in Hölderlin und das Wesen der Dichtung (1937) in der Dichtung die "Stiftung des Seins" mit di!r "Ursprache eines Volkes" zusammenfallen läßt, die Kunst so wiederum aus ihrer geschichtlichen Verantwortung entläßt.

5 Die Beispiele ließen sich vermehren. Weitere Belege bei ]. Her­mand, Synthetisches Interpretieren.

6 Problematisch mag aus dieser Sicht der Fall der ,.Soziologen" sein, scheint es doch, daß sie sich dem Gesetz der Epochalität entzogen haben.

152 Methodengeschichtlicher Rückblick

betreibt. Und doch setzt Friedeich neu an. Er durchbricht zwar nicht die Werkimmanenz in Richtung auf die Realität von Bezugsgruppen hin, stößt aber durch die beobachtete und analysierte Literatur hindurch, deren Wirklichkeitsbezug erfassend, sie phänomenologisch auslotend, auf jenen Hori­zont geistesgeschichtlicher und historischer Entwicklung, den man bis dahin dualistisch, in einer Art zweifachen Buch­führung, getrennt von Textphilologie und Stilistik, geführt hatte.

Friedrich beginnt so jene Zweigleisigkeit, die in der Lite­raturwissenschaft seit der Jahrhundertwende zu beobachten ist, in einer Sicht aufzuheben, tut so, nach dem frühen Spit­zer, der von der Sprache zum Stil fand, und nach dem reifen Spitzer, der vom Stil zur werkimmanenten Betrachtung überging, noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er führt dies an einem Objekt durch, das dem Impetus seines Er­kenntniswillens, dem Interesse, sozusagen auf halbem Wege entgegen kam, am sogenannten realistischen Roman, den er in "aktualistisch" umzutaufen vorschlägt. Diesem gleichen realistischen Roman wird Erich Auerbach im Exil, in Istan-

, bul, wenige Jahre später, wohl ohne Friedrichs Buch zu kennen, ein gewichtiges Kapitel seines zwischen 1942 und 1945 abgefaßten Buches Mimesis widmen. Und wenn dieses Buch im Untertitel Dargestellte Wirklichkeit in der abend­ländischen Literatur überschrieben ist, dann weiß man, daß Auerbach, mehr noch vom konkreten Stil, von paradig­matisch herausgegriffenen Textstellen nämlich, ausgehend, den gleichen Durchbruch sucht.

Und was Ernst Robert Curtius anbetrifft, so ist es auf­"fällig, daß er nun die großen geistesgeschichtlichen über­blicke in der Voßler-Nachfolge aufgibt und ganz neu an­setzt, er nun der nach 1918 rauschhaft aufgeblühten unkon­trollierten Literaturwissenschaft eine Absage erteilt, er die Vorstellung einer redlichen, historisch und philologisch vor­gehenden Wissenschaft entwickelt und nun, ähnlich wie Spitzer, am Detail ansetzt, jedoch nicht am stilistischen, son­dern am normativ sprachlichen. Gewiß kann man darin auch ganz einfach "den Rückzug der Philologie in die Kata­komben" sehen. Mir will es aber zugleich das redliche Be­mühen um eine praktikable und wissenschaftswürdige Lö-

Im Bannkreis des Zweiten Weltkrieges 153

sung scheinen. Wie sehr Ernst Robert Curtius damit auch grundsätzlich auf dem rechten, den Geist aus dem Dilemma herausführenden Weg war, mag daraus ersichtlich werden, daß er mit der philologischen "Katakombenarbeit", die er in diesen Jahren leistet, Steinehen um Steinehen zum großen Mosaik europäischer Einheit fügt, die hier im philologischen Detail aufleuchtet, er so, vielleicht ohne es zunächst zu wis­sen, die Überwindung des nationalen Denkens betreibt, auf den Frieden zuarbeitet und auf sein großes Werk Euro­päische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948). Curtius steht demnach mit Auerbach und Friedrich in einer Pha­lanx geistiger Entwicklung, die keine Grenzen kennt, die ihre Freiheit auch unter dem Druck schwieriger Umstände zu wahren weiß, seien diese nun weltanschaulich-politischer Art, wie im Falle der in Deutschland weilenden Curtius und Friedrich, oder materieller Art, wie im Falle Auerbachs, der in Istanbul ohne Fachbibliotheken arbeiten mußte, dabei aber- wie es scheint- gar nicht schlecht "beraten" war.

Ernst Robert Curtius und die Toposforschung

Ernst Robert Curtius gilt unter den Genannten immer noch als der maßgebliche Bahnbrecher, wenn auch in jüngster Zeit, nicht ganz zu Unrecht, viel Skepsis geäußert wird hin­sichtlich der Praktizierbarkeit des Weges, den er bahnte, man allerdings wohl ein wenig weit ging, indem man seine Position als "merkwürdige Hypostasierung der Tradition" und als bloße "Reaktion auf eine bestimmte politische Situa­tion" zu erklären versuchte7 • Die Frage nach seiner histori­schen Bedeutung wird sich uns daher, nachdem wir ohnedies der Gegenwart immer näherrücken, mit der Frage nach dem methodischen Nutzen für uns heute verbinden.

Curtius, den wir vom Gesamtbeitrag dieser Jahre, also von Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, nicht von dessen langsamer Genese aus sehen wollen, ging davon aus, daß über eine Verbindung von historischer und philo­logischer Analyse im Bereich der Topoi (damit meinte er tradierte Denk- und Ausdrucksschemata, Klischees) histo­rische Konstanten ermittelt und so Kontinuität und Zu-

154 Methodengeschichtlicher Rückblick

sammenhalt der europäischen Literatur aufgezeigt werden könnte. Curtius sah hierin eine Möglichkeit, seine Vorstel­lungen von analytischen Methoden der Literaturwissenschaft, "die den Stoff ,auflösen' (wie die Chemie mit ihren Reagen­tien) und seine Strukturen sichtbar machen" (S. 25), zu ver­wirklichen. Zu der nicht unberechtigten Hoffnung, auf diese Weise die Konstanten der europäischen Literatur nachweisen zu können, hatte ihn vor allem der Umgang mit mittelalter­licher, vornehmlich mittellateinischer Literatur geführt. Dort begegnen tatsächlich solcherart verstandene Topoi auf Schritt und Tritt, machen sie ein maßgebliches Konstituens der Lite­ratur aus. Der Begriff des Topos sollte sich aber zusehends als problematisch erweisen, als man dazu überging, den von Curtius gewiesenen Weg weiterzubeschreiten und über eine Geschichte der Topoi bzw. einzelner Topoi ein Stück Ge­schichte abendländischen Denkens und literarischer Entwick­lung aus der Literatur herauszulösen hoffte. Hierbei erwies sich der Curtiussche Begriff des Topos als schlechthin un­brauchbar. Einmal widersprach ihm der antike und spät­antike Sprachgebrauch, nach dem Topos nicht ein gedank­liches Klischee meint, sondern den mnemotechnischen Ort (daher die Bezeichnung), an dem man Argumente für die Rede finden konnte, mit anderen Worten, Topik meinte das Verfahren, Argumente zu finden, nicht aber die inhaltliche Summe der Argumente selbst8• Aber selbst wenn man über diese trügerische begriffsgeschichtliche Grundlage hinweg­sieht, bleibt der Begriff Topos methodisch unbrauchbar für historische Analysen, sofern man nur annähernd bei dem bleibt, was Topos, sei es nun bei Curtius oder in der Antike, meint. Folgen wir der antiken Vorstellung, dann können wir Topoi gar nicht in der Literatur finden, sondern nur in einem Handbuch der Rhetorik; nehmen wir hingegen den

7 So H. R. Jauss im erwähnten Aufsatz zum Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft.

8 Dazu E. Mertner, Topos und Commonplace, in Strena Angelica, Festschr. für 0. Ritter, Halle 1956, S. 178 ff, sowie W. Veit, Studien zur Geschichte des Topos der Goldenen Zeit, Diss. Köln 1961, S. 1 ff und ders.: Toposforschung. Ein Forschungs­bericht, Dvjs 37, 1963, S. 120 ff.

Im Bannkreis des Zweiten Weltkrieges 155

Topos mit Curtius als Klischee, so haben wir es mit einer abständigen, aus dem lebendigen Prozeß, der Literatur ist, herausgelösten Wirklichkeit zu tun, die wir streng genom­men auch nicht in der Literatur als parole antreffen können. Klischees gibt es in der Literatur nur in mehr oder weniger bedauerlichen Sonderfällen. Sehen wir auch davon ab, drük­ken wir sozusagen beide Augen zu, dann sind wir gezwun­gen, in der konkreten Analyse von Texten, entweder ad in­finitum zu differenzieren - weil in jeder Dichtung, die auf sich hält, der Topos ein anderes Gesicht und andere Funk­tion hat, er also ein neuer Topos ist9 - und so den Begriff selbst aufzuheben, oder aber wir beschränken uns auf ein paar mittellateinische und sonstige Schülerdichtungen sowie auf formelhaft Wendungen, die immer wieder vorkommen. Beides ist nicht sinnvoll10. Wenn man daher überhaupt die Toposforschung für literaturgeschichtliche Forschung frucht­bar machen will, scheint mir dies nur möglich, wenn man die Wirklichkeit des Topos entschieden transzendiert, das Au­genmerk von der abständigen Wirklichkeit einer rhetorischen Kategorie oder eines rhetorischen Klischees auf die jeweilige Wiederaufnahme des Klischees in den Kreislauf der Literatur, der parole litteraire, lenkt, auf die jeweilige Motivwerdung

9 E. U. Grosse, Sympathie der Natur, Geschichte eines Topos, München 1968, schlägt diesen Weg zur weiteren Differenzie­rung ein, hält aber hier, wie in vielem, ganz offensichtlich auf halbem Wege inne, auch durch die Auflage des Themas ge­hemmt.

10 Sinnvoll ist es aber wohl auch nicht, wenn man, wie W. Veit das tut, den Begriff des Topos so weit strapaziert, aus ihm so­viel von dem bei Curtius damit Gemeinten auslädt, bis er als bloße Denkform definierbar ist. Veit erklärt zu diesem Zweck Exordialtopos, Bescheidenheitstopos und Schlußtopos als bloße rhetorische Floskeln, Topoi wie "Naturanrufung", "verkehrte Welt", "Unsagbarkeit" sondert er als Motive aus, ohne aller­dings das Kriterium der Auswahl mitzuteilen (Studien S.13). Die verbleibende Definition als Denkform gestattet ihm dann, den Wandlungen seines "Topos" bis hin zu Kant und Saint­Sirnon nachzugehen. Ob Veit damit allerdings Toposforschung betreibt, scheint mir fraglich. (Vgl. auch noch M. Beller, Von der Stoffgeschichte zur Thematologie, Arcadia 5, 1970, S.114, insbesondere S. 26 ff).

156 Methodengeschichtlicher Rückblick

und Funktion, und wenn man zu diesem Zweck die Topos­forschung zur Motiv-, Themen- und Strukturforschung hin öffnet11• Was hingegen Toposforschung als solche zu leisten vermag, ist weitgehend durch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter abgesteckt: sie vermag Konstanten aufzudecken, vermag in ein Reservoir europäischen Denkens zu führen, kann aufzeigen, wann und von wem dieses Reser­voir benutzt und bereichert wurde. Auf diesem Wege könnte daher über das beispielhafte Werk von Curtius hinaus dem Forscher ein wertvolles Instrumentarium an die Hand gege­ben werden. Ob aber die Toposforschung je die Hoffnun­gen befriedigen kann, die man seit einem Vierteljahrhundert vergebens an sie knüpft, die, historische Entwicklung aufzu­zeigen, scheint mehr als fraglich. Wobei es mir aber doch wichtig scheint festzustellen, daß Curtius relativ unschuldig daran ist, wenn solche Hoffnungen an sein Werk geknüpft wurden: "unschuldig", weil er selbst nur an Konstanten gedacht hat, "relativ", weil er den Begriff des Historischen, ähnlich wie den des Topos, etwas ungewöhnlich verwendet hat, nämlich im Sinne des Unbeweglich-Konstanten, durch die Zeiten verbindend Gleichbleibenden.

Hugo Friedrich und Erich Auerbach

Wichtiger ist daher für uns jener andere Weg, den Hugo Friedrich und Erich Auerbach wählen, der, über die Literatur :zur in ihr dargestellten Wirklichkeit vorzustoßen. Hugo Friedrichs Drei Klassiker können uns dabei allerdings weit weniger Auskunft geben über die Methode als dies in Auer-

11 Grosses (vgl. Anm. 9) in manchem recht ansprechende und er­giebige Studie hält auch hier auf halbem Weg inne, vielleicht, weil der Autor sich an den Begriff des Topos gebunden fühlte. Konsequenter wäre es wohl gewesen, bei der Betrachtung von Lamartines Lac 'und auch schon im Umgang mit Ronsard den Begriff des Topos zu sprengen, um die Terminologie literar­historisch effizient zu erhalten. Es wäre schlecht um die Litera­tur bestellt, wenn ein an mittellateinischer Literatur gewonne­ner Begriff für. den Umgang mit Lamartine immer noch trag­fähig wäre.

Im Bannkreis des Zweiten Weltkrieges 157

bachs Mimesis der Fall ist. Friedrich gibt keinen Einblick in das Verfahren, er zeigt, wie er selbst in der "Vorbemer­kung" unter Hinweis auf die Erfordernisse eines Aufrisses angibt, kaum, wie die Ergebnisse "aus der Betrachtung der Texte hervorgehen". Wir erfahren lediglich einleitend, daß er von der Voraussetzung ausgeht, daß jeder Kunst der Sinn innewohne, eine Form der Weltauslegung zu sein und daß seiner Ansicht nach diese Weltauslegung für den Inter­preten greifbar werde in der Auswahl des Stoffes und daran, wie er ihn "gliedert, liebt oder haßt" (S. 14). Nur hie und da, etwa bei den feinsinnigen Beobachtungen zu Balzacs Stil, spüren wir durch die Ergebnisse hindurch, daß Friedrich tatsächlich so verfahren ist12,

Auerbach hingegen läßt uns, ähnlich wie dies bei Leo Spitzer der Fall war, an seinem Verfahren teilhaben. Er wählt mehr oder weniger beliebige Textstellen aus, von der "Narbe des Odysseus" über "Rolands Ernennung zum Füh­rer der Nachhut des fränkischen Heeres", "das unterbro­chene Abendessen" in Manon Lescaut, einen Ausschnitt aus

· Le rouge et le noir bis hin zum Vorwort zu Germinie Lacer­teux und zum "Braunen Strumpf" in Virginia Woolfs To the Lighthouse. Diese und andere Textstellen erstrecken sich über drei Jahrtausende Geschichte "dargestellter Wirklichkeit in der abendländischen Literatur", stehen jeweils repräsen-

12 Noch mehr würden wir in Verlegenheit geraten, wollten wir das Verfahren charakterisieren, das Hugo Friedrich in seinem 1949 in Erstauflage erschienenen M ontaigne anwendet. Das Verfahren beruht hier ganz offenkundig auf einer persönlichen Begabung, die nicht "methodologen" ist, nicht ins Allgemeine theoretischer Abhandlung überführt werden kann. Hugo Fried­rich gleicht sich hier gewissermaßen seinem Autor an, scheint selbst zum Moralisten zu werden, der lediglich feststellt und illusionslos reflektiert, und doch nimmt diese monumentale Analyse in strenger, jedoch schwer in Kategorien subsumier­barer Folge ihren Lauf. Wir stoßen so bei Hugo Friedrich in besonders stark ausgeprägter Form auf eine Grundmöglich­keit literaturwissenschaftlicher Methoden: individueller Weg eines Forschers zu sein. Ein anderer, methodologisch mitteilsa­mer und damit weniger individueller Friedrich wird uns m Die Struktur der modernen Lyrik begegnen (vgl. Bd. 2).

158 Methodengeschichtlicher Rückblick

tativ für eine kürzere oder längere Epoche, werden dabei synchronisch ergänzt und kontrastierend abgestützt durch eine Art Gegentext. Im Falle der "Narbe des Odysseus" beispielsweise ist dies "die Versuchung Abrahams" aus dem Alten Testament, im Falle des Rolandsliedes das Alexius­lied; mit dem "unterbrochenen Abendessen" kontrastiert Saint-Simons Beschreibung von Mme de Maintenons Tod; der Szene aus dem H&tel de la Mole wird ein Porträt Mme Vauquers aus dem Pere Goriot zugestellt, während zum Vorwort der Goncourt eine Szene aus Germinal tritt. Ein Nachwort hält sodann fest, warum Auerbach diesen Weg der paradigmatischen Textinterpretation im Licht der sehr allgemeinen Frage nach der Wirklichkeitsdarstellung vor­nimmt. Dieses Vorgehen erspart ihm nicht nur die müßige Diskussion des Begriffs Realismus und der Frage nach den epochalen Grenzen (S. 509), sondern es gibt ihm positiv die Möglichkeit, sich auf weite Strecken vom Text selbst führen zu lassen, dessen Sachlichkeit die Initiative zu überlassen, aus ihm - ähnlich wie Spitzer, doch mit weiterreichenden Zielen - sozusagen "absichtslos" die Grundmotive zu erar­beiten, denen er im weiteren Aufmerksamkeit schenken will. Es räumt ihm sodann die Freiheit ein, seine Akzente zu set­zen, großräumig zu verfahren. Schließlich verpflichtet ihn diese5 textnahe Vorgehen dazu, "das, was er behauptet, im Text zu finden", seine interpretatorischen Akte durch Fest­stellungsakte der Kontrolle zugängig zu machen.

Auerbach gelingt es so, am Muster eines dichten Textge­webes jeweils einen synchronischen Querschnitt aus der Ge­schichte abendländischer Literatur und zugleich abendlän­discher Geistesgeschichte zu fixieren, ihn interpretierend und seinem Leser einsichtig aus dem Mythos in die begriffliche Mitteilung zurückzuführen und dieser Mitteilung wiederum in sich soviel Zuordnung mitzugeben, daß sie als solche in die Kategorie der Literatur im weiteren Sinn einrückt. Scharf holt er dabei die jeweilige Position aus dem Text selbst heraus, handelt nur insofern mit einem methodischen Vor-Urteil, dessen Anwendung bisweilen verkrampft und unangebracht wirkt, als er an seine Texte unter anderem auch den Maßstab der Stiltrennungsregel anlegt. Diese Stil­trennungsregel, die bei Homer noch nicht ausgeprägt ist,

Im Bannkreis des Zweiten Weltkrieges 159

aber in jüngerer antiker Literatur gilt, besagt: "alles gemein Realistische, alles Alltägliche darf nur komisch, ohne proble­matische Vertiefung vorgeführt", es darf nur "im niederen Stil, komisch oder allenfalls idyllisch, geschichtslos und sta­tisch" (S. 35 ff) dargestellt werden. Auerbach versucht nun aufzuzeigen, daß vor allem der Bereich christlicher Literatur zur Aufhebung dieser Stiltrennung geführt hätte, war doch das Christentum von vornherein, durch die niedere Geburt Christi, auf eine Mischung von Erhabenem und Niederem angewiesen. Die Sicht hat vieles für sich, wirkt bisweilen aber doch als ein "tour de force" gegenüber dem Text.

Weitere Aspekte der Zeitspanne 1936-1949

Die Sekundärliteratur im Umkreis des Zweiten Welt­kriegs beschränkt sich in ihrer Bedeutung keineswegs auf die­ses noch verhaltene Durchbrechen der Werkimmanenz, dem man in der Literatur und Philosophie etwa Sartres Transcen­dance de l'ego und La Nausee parallel sehen könnte. Wir finden in ihr auch eine deutliche Entsprechung zur "Bilanz der Existenz", zur Besinnung, die in jenen Jahren von Sar­tre, Camus, Sirnone Weil, Merleau-Ponty und anderen vorgenommen wird. Es ist, als ob man hier, ähnlich wie um die Jahrhundertwende, innehielte, um sich nach der allzu raschen, rauschhaften Entwicklung der Literaturwissenschaft seit dem Ersten Weltkrieg, wieder auf das eigentliche zu besinnen. Schon der besprochene Versuch von Curtius, aber auch etwa seine Auseinandersetzung mit der Literaturwis­senschaft und die Forderung, doch schlicht zu einer Litera­turgeschichte zurückzukehren13, stehen in diesem Zusammen­hang. Auch den New Criticism, der 1938 in Ransoms The World's Body, 1941 in des gleichen Autors The New Criti­cism Manifeste erhält, könnte man ein wenig in dieser Rich­tung sehen. Zwar verfährt der New Criticism werkimma­nent, wie denn auch der in Amerika weilende Leo Spitzer dieser Jahre an seinem Prinzip der Werkimmanenz festhält, aber auf der anderen Seite begegnet man doch Akzenten,

13 E. R. Curtius in ZrPh 38 (1936), S. 129 ff.

160 Methodengeschichtlicher Rückblick

die das Prinzip der Werkimmanenz phänomenologisch moti­vieren, die also der Dichtung und ihrer Kritik weit größere Bedeutung im Hinblick auf Wirklichkeitserfahrung zumes­sen, als es die Werkimmanenz vermuten läßt. In "A Note on Ontology" definiert Ransom die Kunst als "means to reconstitute the world of perception", und The World's Body (1938) deutet schon im Titel an, daß hier Dichtung begriffen wird als Mittel "to realize the world [ ... ] the body and solid substance of the world", als "a kind of knowledge", mag er auch andererseits betonen: "The know­ledge attained there, and recorded, is a new kind of know­ledge, the world in which it is set, is a new world"14• Ein andermal sagt Ransom vom Dichter: "His poem celebrates the object which is real, individual, and qualitatively infi­nite. [ ... ] The poet wishes to defend his object's existence against its enemies [ ... ]"15• Wohl wird die "irrelevance" der Dichtung gegenüber der Außenwelt betont, ihre "super­fluity" und Eigenweltlichkeit und damit die Eitelkeit des Unterfangens, sie im Zusammenhang mit der Gesellschaft und der dargestellten Welt zu sehen, aber diese "irrele­vance" verfolgt als "post-scientific knowledge" das Ziel, die Existenz des Objektes zu verteidigen, es gegen den es nicht mehr sehenden wissenschafl:lichen Zugriff in Schutz zu neh­men. Daher kann Allen Tate auch sagen (in der Preface to Reactionary Essay on Poetry and Ideas, 1936): "The grea­ter poets give us knowledge, not of the new programs, but of ourselves"16. Und wenig später formuliert er noch einmal unmißverständlich: "Literature ist the complete knowledge of man's experience, and by knowledge I mean that uni­que and formed intelligence of the world of which man alone is capable"17• So ist es denn auch nicht zu verwundern,

14 John Crowe Ransom, The World's Body, Washington 1964, S. 45; ich hebe hervor.

15 Zitiert nach M. Blum, The Fugitive Particular, in: fohn Crowe Ransom. Critical Essays and a Bibliography, edited by Th. D. Young, Louisiana 1968, S. 104.

16 Allen Tate, On the Limits of Poetry. Selected Essays: 1928 - 1948, New York, 1948, S. XVI.

17 Ebda., S. 15.

Im Bannkreis des Zweiten Weltkrieges 161

wenn der gleiche Allen Tate 1952 zum Thema "The Man of Letters in the Modern World" Stellung nimmt, und er dabei nach der Unterscheidung zwischen "mere communication" und der "rediscovery of the human condition in the living arts" dem "man of letters" folgende Aufgabe zudenkt: "He must recreate for his age the image of man, and he must propagate Standards by which other men may test that image, and distinguish the false from the true"18• Eine kon­sequente Weiterentwicklung der ursprünglichen Position ist es auch, wenn Allen Tate bei anderer Gelegenheit (To Whom is the Poet Responsible? 1951) der Dichtung eine erhebliche bewußtseinsbildende und damit politische Aufgabe zuer­kennt: "If poetry makes us more c.onscious of the comple­xity and meaning of our experience, it may have an even­tual effect upon action, even political action"19• Hier zeigt sich offen, in einer der inzwischen vorliegenden neuen Etappe angemessenen Deutlichkeit, die von vornherein gegebene transzendente Sinngebung des immanenten Prinzips forma­ler Analyse.

Wenn ich von einer Besinnung auf das eigentliche sprach, dachte ich aber auch an jene Vielzahl von Veröffentlichun­gen, die sich nun aus grundsätzlicher Perspektive Fragen der Poetik zuwenden, so eine neuerliche Initialphase einleiten, an Werke und Aufsätze wie Emil Staiger Die Zeit als Ein­bildungskraft des Dichters (1939), Günther Müller Ober die Seinsweise von Dichtung (1939), Charles Du Bos Qu'est-ce que la Iitterature (1945),].-P. Sartre, Qu'est-ce que la Litterature (1948), G. Storz, Gedanken über die Dichtung (1941), Th. C. Pollock, The Nature of Literature (1942), E. G. Wolff, Ästhetik der Dichtkunst (1944), Attilio Momig­liano, Theory of Literature (1942), Emil Staiger, Grund­begriffe der Poetik (1946), Wolfgang Kayser, Das sprach­liche Kunstwerk (1948) und auch August Buck Dichtungs­lehren der italienischen Renaissance (HabiL-Schrift 1942, erschienen Tübingen 1952). Emil Staiger hatte in der Ein-

18 Allen Tate, The Man of Letters in the Modern World. Selec­ted Essays: 1928-1955, New York 1955 (3. Aufl. 1958), S. 11.

19 Ebda., S. 24. Zum Ganzen U. Halfmann, Der amerikanische N ew Criticism, Ffm 1971.

162 Methodengeschichtlicher Rückblick

leitung zu Die Zeit als Einbildungskraft in richtiger Ein­schätzung der Lage gesagt, daß die Literaturgeschichte "einer Erneuerung heute sehr bedürfe, daß sie in dem, was sie bis­her getan, gesättigt sei, und, um zu dauern, gleichsam von vorn beginnen müsse". Diese Forderung nach einem Neuan:­fang ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Einen Neu­anfang gibt es im Bereich des Geschichtlichen nicht, denn auch der Mensch, der Literaturgeschichte schreibt, ist ge­schichtlich. Aber tatsächlich erfolgt nun eine Neuorientierung der Perspektive, und mit ihr geht eine Besinnung auf das Objekt der Erkenntnis, die Literatur, aber auch eine begin­nende Orientierung in Richtung auf Fragen, die über das Werk hinausgreifen, überein. So fragt August Buck im erwähnten Werk nach dem Selbstverständnis des Dichters, nach der "Funktion, die der Dichter sich und seinem Werk in der menschlichen Gemeinschaft: zuschreibt" (S. 7), setzt er von hier aus zu einer heute noch maßgeblichen Geschichte (sie!) der italienischen Dichtungslehren an, die ihn mehr als einmal mit Aristoteles und folglich mit dem Prinzip der Mi­mesis und daher auch mit einer Auffassung von Dichtung in Berührung bringt, die über das Prinzip der Werkimmanenz hinausführt. Wie es denn auch sicher kein Zufall ist, wenn in diese Jahre die Anfänge der Chicagoer Neo-Aristoteliker fallen, man dort, vom aristotelischen Prinzip der Mimesis ausgehend, einen "newer Criticism" verlangt20• Bedeutsam ist es in diesem Zusammenhang schließlich auch, wenn Wer­ner Krauss buchstäblich im Zenit des Jahrhunderts seine Forderung erhebt, die gesellschafl:sbildende Funktion der Lite­raturgeschichte, ihre verleugnete Geschichtlichkeit zu sehen: Literaturgeschichte als geschichtlicher Aufl:rag (1950).

20 Dazu W. Sutton, Modern American Criticism, S. 152 ff. - Ich denke an Richard McKeon's "The Philosophie Bases of Art and Criticism" (1943-44). Der Höhepunkt beginnt mit Cri­tic and Criticism: Ancient and Modern (1952), mit Beiträ­gen von Ronald S. Crane, Richard McKeon, Elder Olson, Bernard Weinberg etc.

III. GEGENWARTSBEZOGENER SYSTEMATISCH-KRITISCHER TEIL

,p ARADIGMA WECHSEL> IN DER LITERATUR WISSENSCHAFT?

Der gegenwartsbezogene, systematisch-kritische Teil dieser Untersuchung soll naturgemäß synthetischen Charakter ha­ben. In ihm sollen der einleitende, die Grundlagen abklä­rende, und der historischen Oberblick schaffende zweite Teil, der uns bis an die Gegenwart herangeführt hat, ihre Erfül­lung finden, in die entscheidende Frage nach den Möglich­keiten, die sich uns heute für Literaturwissenschaft und Me­thode bieten, einmünden. Es hat sich im voraufgehenden ge­zeigt, daß literaturwissenschaftliche Methoden als schritt­machende Leistungen einzelner Forscher im allgemeinen ge­schichtlich sind, daß sie als solche mit dem Interessenhori­zont ihrer Zeit und mit der Oberlieferungsgeschichte zu­sammenhängen. Diese Geschichtlichkeit ist die einer ruck­weise voranschreitenden Entwicklung, die methodische Mo­delle abwirft, welche ihrerseits als nunmehr übergeschicht­liche, sozusagen theoretische Methoden von anderen benutzt werden können. Wohl werden dabei die Forscher einer be­stimmten Zeit, eben weil sie von deren Interessehorizont geprägt werden, überwiegend zu Methoden greifen, die ih­rer Zeit entsprechen, aber diese Notwendigkeit besteht nicht, ja es gilt nicht einmal, daß etwa junge Forscher zeitnahe Modelle bevorzugen müßten, während ältere notwendiger­weise überkommene Modelle weiterentwickeln. Einmal ent­wickelte Modelle sind eben, obwohl sie natürlich veralten können, grundsätzlich aus der Geschichtlichkeit herausge­nommen und künftig eine theoretische, wegen ihrer Renta­bilität wählbare, sich in der Benützung jedoch wieder mit Geschichtlichkeit füllende Methode. Es gibt hier nicht Revo­lutionen, die in der Lage wären, ein altes Modell ein für allemal als indiskutabel aus dem Spiel zu werfen. In den

164 <Paradigmawechsel> in der Literaturwissenschaft?

Naturwissenschaften wäre es beispielsweise undenkbar, nach der kopernikanischen Wende noch vom ptolemäischen Weh­bild ausgehen zu wollen, wäre es unsinnig, Newtons Gravi­tationsgesetze, Lavoisiers Entdeckung des Sauerstoffs, die Röntgenstrahlen, Einsteins Relativitätstheorie oder auch die Kernspaltung zu ignorieren und mit eindeutig überholten, als unzureichend erwiesenen Theorien und entsprechenden Methoden weiterzuarbeiten. (Obwohl andererseits auch in den Naturwissenschaften ein Paradigmawechsel naturgemäß nicht das ganze Paradigma erfaßt, die Entdeckung der Röntgenstrahlen beispielsweise ja nicht das vorherige Ver­fahren ablöst, sondern in Teilbereichen überholt.) Hier in den Naturwissenschaften gibt es, mit gewissen Abstrichen, das, was Thomas S. Kuhn, der von der Physik herkommt, Paradigmawechsel nennt. Er versteht unter Paradigma eine Leistung oder Leistungen, "die beispiellos genug sind, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen" und "noch offen genug, um der neubestimmten Gruppe von Fachleuten alle möglichen Probleme zur Lösung zu über­lassen"1. Die solcherart sich aus einem gegebenen Paradig­ma verstehende Wissenschaft nennt Kuhn "normale Wissen­schaft". Anomalien, Beobachtungen, die nicht im Paradigma aufgehen, führen nach Kuhn zu wissenschaftlichen Revolu­tionen und das heißt zu einem Paradigmawechsel, wie ihn beispielsweise die oben erwähnten, somit buchstäblich2 «epo­chemachenden», Entdeckungen mit sich brachten.

Es erscheint verlockend, so wie H. R. Jauss das unter­nommen hat, diese Vorstellungen auf die Geschichte der Li­teraturwissenschaft zu übertragen. Wenn Kuhn vom ersten Paradigma einer Disziplin sagt, daß es deren vorwissen­schaftliche Phase beende, dann könnte man etwa (ich refe­riere im folgenden Jauss) das erste Paradigma der Litera­turwissenschaft in der normativen Kritik und Poetik sehen, wie sie aus dem Humanismus der Renaissance entsprang

1 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Theorie 2, Frankfurt am Main 1967, S. 28.

2 Epoche heißt "Anhalten", und genau das bewirken diese Ent­deckungen oder scheinen sie zu bewirken, daß der Fluß der Entwicklung für eine Zeitlang angehalten wird.

<Paradigmawechsel> in der Literaturwissenschaft? 165

und von der Renaissance bis La Harpe getätigt wurde3 ;

man könnte weiter sagen, daß die wissenschaftliche Revo­lution des Historismus dieses Paradigma außer · Kraft ge­setzt und als zweites Paradigma die Methode historischer, genauer nationalhistorischer Erklärung heraufgeführt und im 19. Jhdt. ihre Früchte gezeitigt habe (die vergleichende Literaturwissenschaft wäre dann, wie Jauss konsequent vor­schlägt, als anachronistischer Rückgriff auf das erste, vor­wissenschaftliche Paradigma zu charakterisieren); man könn­te weiterhin in Stilistik und sogenannter werkimmanenter Methode ein drittes Paradigma sehen, das die ersten Jahr­zehnte unseres Jahrhunderts kennzeichnet und sich fragen, ob seit der Jahrhundertmitte ein viertes Paradigma gekom­men oder im Kommen sei, das sich auf allgemeiner Basis vorerst nur im Unbehagen an werkimmanenter Forschung zusammen sehen ließe, ein Paradigma (ich referiere nicht mehr Jauss) das in "Nouvelle Critique", Strukturalismus (der das Werk in Richtung auf eine allgemeine Typologie transzendiert), rezeptionsästhetischer Forschung, Durchbre­chen der Werkimmanenz auf Geschichte und Gesellschaft hin einige positive Stoßrichtungen entwickelt, und von dem man vielleicht sagen könnte, daß sein positiv Gemeinsames die werktranszendierende Methode sei4•

Man wird nicht leugnen können, daß diese Übertragung eines an der Physik entwickelten Modells der Wissenschafts­geschichte einiges für sich hat. Man müßte aber dann, um Mißverständnisse zu vermeiden, die Unterschiede betonen, die sich zwischen Paradigmawechsel in der Physik und so­genanntem Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft ergeben. Der erste Unterschied liegt darin, daß in der Li-

3 H. R. Jauss, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschafl:, a.a.O., S. 47. Wie schon weiter oben ausgeführt, neige ich mehr dazu, hierin ein vorwissenschafl:liches Paradigma zu sehen.

4 Ein Begriff, der keineswegs per viam negationis gewonnen wurde, etwa als bloßer Gegensatz zu "werkimmanent", son­dern der sein ganzes positives Gewicht haben soll: Werktrans­zendierend ist eine Methode, die am Werk ansetzt und über es hinausragt, in Richtung auf Geschichtlichkeit, Erwartungshori­zont, Leser, Gesellschafl:, Autor, Mensch, Bewußtsein, Vorbe­wußtsein, Gesellschafl:, Psyche, Leben etc.

166 <Paradigmawechsel> in der Literaturwissenschaft?

teraturwissenschaft ein <Paradigmawechsel> nie zwingend er­folgt, allein schon deswegen, weil es hier keine experimen­tellen Entdeckungen gibt, die sich mit denen der Naturwis­senschaften vergleichen ließen, die man einfach objektiv an­erkennen müßte, weil sie die Erfahrung bestätigt. Hier müs­sen vielmehr Zeit und langsame Überzeugungskraft der ge­zeitigten Früchte das ihre tun, um einen auch dann nie als definitive, klare Zäsur erkennbaren sogenannten Paradig­mawechsel herbeizuführen. Hiermit hängt ein zweiter Un­terschied zusammen, derjenige, daß in der Literaturwissen­schaft, von ihrer vorwissenschaftlichen, normativen Phase abgesehen, stets mehrere <Paradigmata> parallellaufen, und zwar mit fortschreitender Geschichte zunehmend mehr. Dies einmal, weil die alten <Paradigmata> nicht eindeutig abge­löst werden, sodann, weil die Literaturwissenschaft nicht mit einem <Paradigma> auskommt. Das <normative Paradigma> beispielsweise konnte schon aus sachlichen Gründen nicht durch das nationalhistorische abgelöst werden, weil dieses nicht in der Lage war, den von der normativen Poetik be­treuten und zu recht gesehenen Sachbereich der Literatur zu erforschen, denn mit Nationalhistorie haben die Poeti­ken wenig zu tun. Und wenn man meinen könnte, das <normative Paradigma> sei "abgelöst" worden, weil eben auf normativer Ebene eine Sättigung eingetreten war, so ist das nicht falsch, aber dieser subjektive Zustand der Sätti­gung besagt noch keineswegs, daß hinsichtlich des Objekts der normativen Seite von Literatur, die zweifelsohne be­steht, alles zufriedenstellend abgeklärt war. Ganz im Ge­genteil drängen sich zur Jahrhundertwende hin, zusammen mit der überreife nationalhistorischen Leistungsvermögens, Lansons Histoire de la Litterature fran~aise, Fragen der Poetik mit Recht wieder in den Vordergrund, gestattet die Wende nach Innen nun eine vertiefte Behandlung der Fra­gen, deren Erforschung auf rein normativer Ebene nicht weiter getrieben werden konnte. Jetzt wird Poetik nicht mehr als normative Wertung gesehen, sondern es wird an ihr jene Seite entdeckt, die mit ihren Normen für den Aus­druck im Werk verantwortlich ist. Bray und Faral ihrer­seits nehmen in den zwanziger und frühen dreißiger Jah­ren die Poetik in Angriff, soweit diese geeignet ist, den

<Paradigmawechsel• in der Literaturwissenschaft? 167

Blick für Stil und Werk zu schulen; Ernst Robert Curtius für seinen Teil geht von rhetorischen Normen und deren Ausprägung in der Literatur aus, um den Zusammenhalt des Kulturganzen vor Augen zu führen, bewegt sich damit insofern in Richtung auf das transzendierende "Paradigma", als er weit über das Werk hinausschaut; August Buck inter­essieren weniger die Normen selbst als die "gedankliche Auseinandersetzung des Dichters mit dem Problem der Dichtung im allgemeinen und seinem eigenen Schaffen im besonderen" (S. 7), ihn interessiert das, was er Dichtungs­lehre nennt; die Teilnehmer eines kürzlich abgehaltenen Kolloquiums über Fragen von "Poetik und Hermeneutik" schließlich, die es sicher nicht auf eine Erneuerung des <vor­wissenschaftlichen Paradigmas> abgesehen haben, versuchen teilweise über die Poetik zum jeweiligen Weltbild vorzu­stoßen, das sich in den somit relativierten Normen dekla­riert, machen sich, wie es programmatisch im Vorwort zu Die nicht mehr schönen Künste heißt, daran, den "vermeint­lich essentiellen Bestand am geschichtlichen Wandel der ästhetischen Normen" zu prüfen5•

Das <Paradigma> der normativen Poetik wandelt sich so mit der Zeit, legt seine richterlich normative Komponente soweit wie möglich ab, ohne deswegen ganz von der Be­schäftigung mit Normen abzulassen. Es ist als solches über­zeitlicher Rahmen eines sachlich bedingten Forschungsvor­wurfs, von dem Literaturwissenschaft nie absehen kann, 1 ist Ort einer historischen Bewegung, dank deren es sich dem Geist späterer <Paradigmata> anverwandeln, es sich mit de­ren Geschichtlichkeit füllen kann. Und wenn ich sage Ge­schichtlichkeit, dann ist damit u. a. ausgedrückt, daß diese Wandlung nicht etwa eine Abhängigkeit von den Leistungen des neuen <Paradigmas> voraussetzt. Was beispielsweise das nationalhistorische <Paradigma> anbetriffi:, so tritt es nach einem langen, von Voßler über den frühen Curtius, Auer­bach und Friedrich über die Jahrhundertmitte zum gegen­wärtigen Zeitpunkt reichenden Wandel, seines positivi~ti­schen und nationalen Aspektes beraubt, im Augenblick in gewandelter Form wieder auf den Plan als konkurrierender

5 Poetik und Hermeneutik I /1, München 1968, S. 11.

168 <Paradigmawechsel> in der Literaturwissenschaft?

Ausdruck eines neuen <Paradigmas>5•. Wie sich schon im Falle von Hugo Friedrich und Erich Auerbach zeigte, aber auch bei August Buck und bei Werner Kraussens um 1950 erho­bener Forderung nach einer Überschreitung der Grenzen werkimmanenter Betrachtung deutlich hervortritt, erweist sich dabei die Forschung im Rahmen des vermeintlich ver­alteten <Paradigmas> als Ort eines recht fortschrittlichen Geistes, entwickelt es den Geist des neuen <Paradigmas>, noch bevor dieses als solches erstellt ist. Selbst beim Emil Staiger dieser Jahre macht sich ein Wandel bemerkbar, mag dieser auch nicht sehr tiefgehend gewesen sein. In Die Kunst der lnterpretation6 vermerkt er ausdrücklich, es sei "ein barer Hochmut, sich beim Erklären von Sprachkunstwerken auf den Text beschränken zu wollen" (S. 153) und fragt sich recht suggestiv: "Wer wollte allen Ernstes solche gedie­gene Hilfe von seiten der Biographen und einer positivistisch gerichteten Philologie verschmähen?" (S. 154). Gewiß ist damit noch nicht ein werktranszendierendes Verfahren ge­meint, Emil Staiger ordnet den außerliterarischen Feststel­lungsakt deutlich als Hilfe der werkimmanenten Betrachtung unter, aber eine Offnung des Prinzips liegt hier doch schon vor. Und wenn Günther Müller etwa um die gleiche Zeit über "Das Zeitgerüst des Erzählens" handelt7, Eberhard Lämmert 1955 sein Buch Bauformen des Erzählens, Franz Stanze! im gleichen Jahr seine Typischen Erzählsituationen im Roman herausbringt, dann reichen all diese Abhandlun­gen, obwohl sie nicht explicite Ausdruck eines neuen <Para­digmas> sind, über das der Werkimmanenz hinaus, dringen sie über das Werk zur Erkenntnis überindividueller Struk-

5a Ich denke an August Buck und Werner Krauß, an Literatur­soziologie und Rezeptionsästhetik (vgl. S. 288 ff.) sowie an meine eigenen Versuche, die geschichtliche Perspektive zu revalutie­ren, insbesondere an das Buch, in dem diese V ersuche zu einer ersten Reife gelangen, an Der französische Roman im 20. ]hdt., Entwurf einer Geschichte des mythischen Selbstverständ­nisses unserer Zeit.

6 Neophilologus 35, 1951, S. 1-15. Jetzt in Die Werkinter­pretation, hg. von H. Enders, Wege der Forschung Bd. XXXV, Darmstadt 1967.

7 Auch dieser Beitrag in Wege der Forschung Bd. XXXV.

<Paradigmawechsel> in der Literaturwissenschaft? 169

turen vor8• Sie gehorchen so auf ihre Weise dem Impetus der Zeit, sprengen die alten <Paradigmata> in weniger spekta­kulärer, weniger revolutionärer, aber doch recht wirksamer Weise von innen her. Sie tun dies, mit Th. S. Kuhns Termi­nologie gesprochen, als "normale Wissenschaft", die sich ent­wickelt, die sozusagen organisch über sich hinauswächst9•

Es wäre im übrigen sachunangemessen, wollte man hier Leistungen in Form revolutionärer "Anomalien" und Lei­stungen der "normalen Wissenschaft", sei es nun zugunsten der einen oder der anderen Seite, gegeneinander ausspielen. Es hieße dies zudem Modellvorstellungen, die in Anwen­dung auf die Literaturwissenschaft kaum mehr als heuristi­sche Bedeutung haben, über Gebühr strapazieren. Es gibt hier wohl so etwas wie neue und alte <Paradigmata>, aber diese liegen und entscheiden sich mehr im historischen Vor­verständnis, aus dem heraus geforscht wird, als in der kon­kreten Weise des Ansatzes oder gar am Gegenstand, dem

8 Man wird mir vielleicht einwerfen, daß das, was ich hier als werktranszendierend kennzeichne, auch als Rückkehr zum nor­mativen Paradigma gesehen werden könnte. Ein entscheiden­der Unterschied gegenüber dem richterlich-normativen Para­digma liegt aber darin, daß man dort von der Norm, vom überliterarischen als einem Apriori ausging, während hier die Werkimmanenz konsequent auf empirischem Weg zur Er­kenntnis überindividueller Strukturen vorstößt, das Verhält­nis also geradezu umgekehrt worden ist: nicht mehr sind die Normen Richter über die Literatur, sondern die Literatur ent­scheidet als Wirklichkeit über die Möglichkeit und den Gel­tungsbereich von Normen, soweit überhaupt Normen und nicht vielmehr Strukturen und Aufbauformen gefragt sind. Ein weiterer entscheidender Unterschied liegt in der Überwin­dung der Dichotomie von Norm und Wirklichkeit, von über­literarischem und Innerliterarischem.

9 Man könnte hier auch an die Bedeutung denken, die in jüng­ster Zeit der Emblematik beigemessen wird (vgl. etwa R. Clements, Picta poesis, Rom 1960 und A. Schöne und A. Henkel, Emblemata. Hb. der Sinnbildkunst des 16. und 17. jhdts., 1967 sowie A. Buck in Hb. d. Lit. W., Bd. 8/9). Weiterhin wäre an jüngere Tendenzen der Humanismus-For­schung zu denken, die nach dem Verhältnis zur Gesellschaft, z.um Publikum und zur praktischen Philosophie fragt.

170 <Paradigmawechsel> in der Literaturwissenschaft?

man sich zuwendet. Man kann daher sehr wohl einen glei­chen Gegenstand, sagen wir das Rolandslied, aus der Per­spektive des richterlich-normativen,. des nationalhistorischen, des werkimmanenten und schließlich des werktranszendie­renden, die evolutionäre Reihe, die Geschichtlichkeit oder die Gesellschaft anvisierenden1o, <Paradigmas> untersuchen. Ja es bietet sich solch ein Gegenstand geradezu als das Nächstliegende an, weil hier die Forschung besonders gut präpariert ist für dieses, werkimmanentes Forschen voraus­setzende, überschreiten.

Nur wegen dieses heuristischen Wertes soll daher im fol­genden der Begriff "Paradigma" verwendet werden: Im Bewußtsein der letztliehen Unangemessenheit des Terminus (deshalb die Anführungsstriche) soll er den Horizont der in groben Etappen, in "Paradigmata" (normativ, national­historisch, werkimmanent, werktranszendierendes "Paradig­ma") voranschreitenden Entwicklung der Literaturwissen­schaft bezeichnen.

Wenn wir daher im folgenden eine Sondierung der augen­blicklichen Möglichkeiten sinnvollen Forschens unternehmen, so bleiben wir durch die zeitliche Abgrenzung dessen, was uns Augenblick sein soll, im Rahmen eines "Paradigmas", desjenigen, das ich werktranszendierend nennen möchte. Die­ser Umstand sowie die eingangs dieser Einleitung getroffene Feststellung über die theoretische, a-historische Natur ein­mal entwickelter Modelle berechtigen uns, aus der Sicht des Augenblicks eine systematische, Fragen der methodischen Schlüssigkeit und Rentabilität in den Vordergrund rückende, die historische Perspektive weitgehend ausklammernde Be­sprechung der hauptsächlichen zur Diskussion stehenden Methoden zu unternehmen. Die drei Grundorientierungen, die ich dabei unterscheide, sollen also in ihrer Anordnung keinerlei Priorität oder gar wertendes Urteil enthalten. Wenn

10 Ich denke etwa an Arbeiten wie K. H. Bender, König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de geste des XII. Jhdts., Studia romanica, Hefl: 13, Heidelberg 1967; Mathias Waltz, Rolandslied - Wilhelmslied - Alexiuslied, Studia romanica, Hefl: 9, Heidelberg 1965 und meine Studie Das Epos in den romanischen Literaturen, Stuttgart 1966.

<Paradigmawechsel> in der Literaturwissenschaft? 171

sich die erste, die auf überindividuelle Aspekte der Literatur, teilweise mit dem Zuständigkeitsbereich normativer Kritik triffi, die zweite mit dem der Werkimmanenz und die dritte mit dem des werktranszendierenden Paradigmas im engeren Sinn, dann ist dies lediglich als sachliche Charakterisierung gedacht, deren Anordnung den Vorteil bietet, uns vom überindividuellen der Literatur über die Werkwirklichkeit selbst ganz konsequent über das Werk hinauszuführen.

1. METHODEN MIT DER GRUNDORIENTIERUNG AUF OBERINDIVIDUELLE ASPEKTE DER LITERATUR

Unter überindividuellen Aspekten der Literatur soll das verstanden werden, was an der Literatur allen oder meh­reren Werken gemeinsam ist. Zu den überindividuellen Aspekten der Literatur gehören also Fragen der Poetik, der Literaturtheorie, der Literatursprache, der Struktur und des Aufbaus von literarischen Werken (sofern damit nicht nur ein Werk charakterisiert, sondern Gesetzmäßigkeiten aufge­wiesen werden sollen). Es gehören zu ihr auch Forschungen zu Topoi, Motiven, Themen, Stoffen und Mythen. All diese Forschungsrichtungen bewegen sich auf Grund ihrer Ausrichtung auf überindividuelle Aspekte zunächst vom individuellen Werk, das allein Literatur im empirischen Sinn des Wortes, Literatur als Wirk-lichkeit ist, weg, sie sind geradezu Musterfall dessen, was Emil Staiger einmal von der Literaturwissenschaft sagt: "Wer sie betreibt, verfehlt entweder die Wissenschaft oder die Literatur"1• In diesen Forschungsrichtungen hat man sich schwergewichtsmäßig für den einen Pol, für die Wissenschaft entschieden, für die Oberführung der Literatur ins Oberindividuelle, jenseits des Ereignisses Literatur Liegende. Es ist wichtig, sich dies klar zu machen, damit einen hier nicht falsche Hoffnungen nar­ren. So wichtig diese Forschungen sind, so grundlegend und ergiebig sie sein mögen, sind sie, sofern sie, ihrem Schwer­gewicht gehorchend, an zentrifugal ins Oberindividuelle führende Methoden gebunden bleiben, nicht in der Lage, einem individuellen Werk gerecht zu werden, können sie als solche nicht interpretatorische und auch nur beschränkt lite­rarhistorische Aufgaben erfüllen. Man darf daher nicht von ihnen erwarten, was sie unter diesen Voraussetzungen nicht zu leisten vermögen.

1 Wege der Forschung, Bd. XXXV, S. 149.

Poetik und Hermeneutik 173

Poetik und Hermeneutik

Poetik und Hermeneutik beispielsweise sind methodisch streng zu trennen, so sehr sie sich auch wechselseitig ergän­zen, ja einander Grundlage und Ausgangsbasis zu sein ver­mögen2. Poetik hat in jedem Fall ihr methodisches Ziel im überindividuellen, wenn nicht Allgemeinen von Literatur, in ihren über das Werkindividuelle hinausliegenden oder hinausreichenden Bedingungen, Lehren und Voraussetzungen. Die Hermeneutik dagegen hat ihr methodisches Ziel im Besonderen des Textes, den es auszudeuten gilt. Weder von der deduktiv-poetologischen Methode - wie man sie nen­nen könnte - d. h. von jenem Verfahren, nach dem Selbst­aussagen der Dichter oder offizielle Poetiken dargestellt, beschrieben, kommentiert oder für die Interpretation von Literatur herangezogen werden, noch von der induktiv­poetologischen Methode, die das Selbstverständnis des Dich­ters aus den Werken erarbeitet, darf man daher die Arbeit des Ausdeutens selbst erwarten oder hoffen, daß sie einem den Schlüssel zur individuellen Werkwirklichkeit liefert, als die Literatur uns begegnet. Dies im übrigen auch deswegen, weil zwischen Poetik und Werkwirklichkeit der ganze Ab­stand von Theorie und Praxis liegt.

Dieser Unterschied schaffi für die normative Poetik an­dere Bedingungen der Historizität als diese für die Literatur selbst gelten: Poetik kann wiederaufgenommen, kann wie­derholt und erneuert werden, entzieht sich dann als über­zeitliche Theorie dem Gesetz des unwiederbringlichen Wan­dels. Es genügt, diesbezüglich an die Bedeutung der aristotelischen Poetik für die Renaissance oder der neoari­stotelischen Poetik für den französischen Roman des 17. und 18. Jhdts. zu denken. Auf der anderen Seite ist es aber im

2 Vgl. etwa die Veröffentlichungen der Reihe Poetik und Her­meneutik im Fink-Verlag: Nachahmung und Illusion, hg. von H. R. Jauss, München 1964, Immanente Asthetik - Asthe­tische Reflexion: Lyrik als Paradigma der Moderne, hg. von W. Iser, München 1966 und Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Asthetischen, hg. von H. R. Jimss, Mün­chen 1968.

174 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Regelfall nun auch nicht so, daß diese übernommene Poetik einfach so wie sie ist übernommen würde; die Art ihrer Rezeption, die Weise, wie man sie appliziert und zuschnei­det, die Argumente, mit denen sie gestützt und gegenüber konkurrierenden Auffassungen verteidigt wird, all das ist historisch relevant3• Hinzu tritt, daß das Normengefüge und auch die Normen selbst, wenn man sie weiträumig genug, über Epochen hinweg, verfolgt, nicht unwandelbar bleiben, daß man hier epochale Zäsuren feststellen kann, wie etwa die Freisetzung der "nicht mehr schönen Künste"3" am Eingang der Epoche der Modernität. Der Wandel, den man hier zu fassen bekommt, ist aber nicht geschichtlich im stren­gen, weiter oben (S. 50 ff) umschriebenen Sinn, sondern er ist ein historischer, einer des sich zögernd im Wandel epochalen Denkens öffnenden normativen Oberbaus.

Etwas anderes ist es, wenn wir es nicht mit vorgefundener, tradierter, nur abgewandelter Poetik zu tun haben, sondern mit Poetik als unmittelbarer Reflexion (die freilich auch Auseinandersetzung mit der Tradition sein kann). Man könnte hier etwa an das Beispiel der Poetik des Nouveau Roman denken. Solche Theorie, die in diesem Fall keinen Anspruch auf Narrnativität ,erhebt, sondern nur für eine bestimmte Erscheinung gelten möchte, ist geschichtlich im strengen Sinne. Allerdings ist sie es, verglichen mit der Lite­ratur, in einseitiger Form. Während sie als Logos einsinnig das zu Sagende entwickelt, sie wegen mangelnder Einsicht des Autors und der Möglichkeit bloßer Wiederaufnahme von bereits Gesagtem Unschärfen in Kauf nehmen muß und vor allem dem Gesetz der Einsträngigkeit linearer Ent­wicklung unterworfen ist, hat und ist die Literatur unmit-

3 Vgl. etwa H. Dieckmann, Die Wandlung des Nachahmungs­begriffs in der frz. Asthetik des 18. Jhdts., Nachahmung und Illusion, S. 28 ff. sowie W. Krauss, Zur französischen Roman­theorie des 18. Jhdts., ebda., S. 60 ff. Gerade letzterer Auf­satz läßt dabei mit seinem Material, wohl unbeabsichtigt, be­wußt werden, wie überzeitlich die Positionen im Grunde sind.

3a In Die nicht mehr schönen Künste steht u. a. diese Zäsur im Vordergrund der Betrachtungen.

Poetik und Hermeneutik 175

telbar, was sie ist, kann sie sich nicht irren, kann sie auch nicht, in Bezug auf sich selbst, einseitig sein4•

Oskar Walzel warnt schon, nicht von Außerungen des Künstlers auszugehen, sondern vom Kunstwerk selbst5• Eine solche Alternative ist natürlich unangemessen. Selbstaussagen der Autoren sind höchst wertvoll, aber man muß ihnen gegenüber kritisch bleiben, es kann sonst geschehen, daß man der dürftigen Einsicht eines Autors aufsitzt und sich so den Weg zum besseren Verständnis des Werkes verbauen läßt. Die Poetik kann helfen, die Augen zu öffnen, sie ist vor allem geeignet, uns über die voluntas auctoris, über seine Vorstellungen und Zielsetzungen aber auch über den histo­rischen Horizont, in dem er steht, zu unterrichten. Aber die Ausdeutung eines Werkes darf nicht Verifikation der Poetik sein, sondern sie muß einen zweiten, methodisch hiervon im Prinzip streng getrennten Schritt darstellen. So wäre es, um nur ein paar Beispiele anzuführen, sachunangemessen, von der vulgäraristotelischen, weit hinter der Wirklichkeit der französischen Romane im 17. und 18. Jhdt. zurückfallenden Poetik auszugehen (deren Kenntnis für sich gesehen wert­voll ist6), wenn man einem Roman des 18. Jhdts., etwa der Vie de Marianne, ausdeutend gerecht werden will. Diderots Eloge de Richardson gibt im Vergleich dazu gewiß ungleich mehr her, aber auch sie vermag die Wirklichkeit von Jac­ques le fataliste nicht zu erschließen oder doch nur in eini­gen überindividuellen Aspekten. Balzacs Vorwort zur Co­medie humaine, Flauberts einschlägige Außerungen aus der Correspondance und Zolas Roman experimental helfen uns, den Vorstellungen auf die Spur zu kommen, die den Autor leiteten, aber die Arbeit des Ausdeutens vermögen sie nicht zu ersetzen; sie können, abgesehen von ihrem unbestrittenen Eigenwert -als Theorie und ihrem Untersuchungswert für

4 Vgl. meinen Aufsatz Roman und Perzeption, GRM N. F. XXI, 1971, in dem sowohl Geschichtlichkeit als auch Einseitig­keit der Poetik Robbe-Grillets erarbeitet werden.

5 Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, S. 76. 6 Ich denke an Werner Kraussens Beitrag in Nachahmung und

Illusion, aber auch an G. May, Le dilemme du roman au XVIII" siecle, Paris 1963.

176 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

historische Analyse, wertvolle Hilfen geben im Verband der Interpretation, nicht mehr und nicht weniger7•

Rhetorik und Hermeneutik

Ähnliches gilt für die Rhetorik und ihre Terminologie. Cur­tius hatte hier Hoffnungen geweckt, welche die Rhetorik nicht erfüllen kann. Von einer dieser Hoffnungen, der historiographischen, war schon unter dem Stichwort Topos­forschung die Rede. Eine zweite wird von Heinrich Laus­berg in seinem Handbuch der literarischen Rhetorik auf­gegriffen und von Wolfgang Babilas weiterentwickelt, die nämlich, mit der Rhetorik eine Terminologie an die Hand geben zu können, die es dem Interpreten gestattet, das Deu­ten von Dichtung in die begriffliche Kontrolle zu bekommen, die Ergebnisse auf Grund einer allgemein zugänglichen Ter­minologie zu objektivieren und einsichtig zu machen. So vorzüglich das Hilfsmittel auch ist, das Lausberg damit geschaffen hat, erwies sich die Hoffnung einer Grundlegung der Literaturwissenschaft aus der Rhetorik allein (vgl. den Untertitel seines Werks) doch als trügerisch. Die rhetorische Terminologie zu beherrschen is"t gewiß sehr nützlich, uner­läßlich ist es zu wissen, wo man ihre Nomenklatur zuver­lässig erklärt findet, aber sie ist nur in seltenen Fällen ge­eignet, die zu besprechenden Elemente eines literarischen Kunstwerks im Interesse einer sachangemessenen Deutung zu bezeichnen, denn ihr entspricht die Literatur im allge­meinen etwa in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Kunst­charakter: je mittelmäßiger und schülerhafter ein Werk ist, umso ergiebiger wird es für den Sammler rhetorischer Figu-

7 Im übrigen wäre einmal grundsätzlich das Verhältnis von Poetik, Dichtungslehre auf der einen und Dichtungs- bzw. Li­teraturtheorie auf der anderen Seite zu klären, und dies mög­lichst im Licht historischer und die gesellschaftlichen Gruppen als Träger einbeziehender Fragestellung. Soviel läßt sich wohl sagen, daß in der teilweisen Ablösung der Poetik durch die Theorie ein ähnlicher Prozeß in Gang kommt wie bei der teilweisen Ablösung des Begriffs Dichtung durch den Begriff Literatur.

Rhetorik und Hermeneutik 177

rens. Aber auch im Falle einer "poesie formelle", einer Dichtung also, die nur aus präfabrizierten Schablonen und prädeterminierten Verfahrensweisen zu bestehen scheint (in Wirklichkeit aber doch erst Literatur wird über eine werk­individuelle Zuordnung und Registratur9), im Falle einer Dichtung wie derjenigen der Trouveres also, der nordfran­zösischen Nachfolger der Troubadours, vermag die rheto­rische Terminologie des Eigentlichen, der werkindividuellen Zuordnung, nicht habhaft zu werden, geht sie am Ereignis der Chansons vorbei. Was eine Untersuchung zu rhetorischen Verfahrensweisen und Figuren sowie formelhaften Wendun­gen hier leisten könnte, wäre, die rhetorische Klaviatur ein­sichtig zu machen, auf der die Autoren spielen. Wenn sie

8 Bezeichnend ist die Ergiebigkeit von Wolfgang Babilas' Studie zu Claudels Personnalite de la France (Das Frankreichbild in Paul Claudels Personnalite de la France, Münster 1958), eine Ergiebigkeit, die allerdings noch dadurch erheblich gesteigert wird, daß Babilas auch ein Inventar der "Quellen" vornimmt. Er möchte so die "Strahlen" wissenschaftlich exakt zu fassen bekommen, die Claudel zum Gedicht zusammennahm. Das Er­gebnis ist nicht gerade überzeugend. überzeugender wäre es sicher ausgefallen, wenn der Anspruch auf einen Ausdeutungs­akt unterblieben wäre, wenn stattdessen das geboten worden wäre, was allerdings der Gegenstand kaum verdiente, und was etwa Kurt Reimenherger zur Sepmaine von Du Bartas (Beiheft zur ZrPh, Tübingen 1963) geliefert hat: "eine reich­lich kommentierte, über alle möglichen "Quellen" orientie­rende Ausgabe, die dem Interpreten als wertvolles Hilfsmittel zur Verfügung gestellt wird".

9 Ich beziehe mid:t auf Roger Dragonetti, La technique poetl­que des trouveres dans la chanson courtoise (Brügge 1960). Es ist dies eine sehr verdienstvolle Studie, der gegenüber Paul Zumthor (Langue et technique poetiques a l'epoque romane, S. 23 f.) mit Red:tt zu bedenken gibt, daß in der Rhetorik "des faits de langue universels" katalogisiert werden, die sehr wohl auch als "fonctionnement spontane" der Sprache begegnen könnten, und der zum Versud:t, die "poesie courtoise" als rhetorisch zu verstehen, zutreffend vermerkt: "Mais pour que cette conception nous perm~t d'approcher la nature m~me du "grand d:tant courtois", il faudrait qu'il y eih, a la source de celui-ci, et comme fait specifique, une volonte de composition rhetorique. Or rien n'est, finalement, moins assure."

178 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

aber vorgibt, das Spiel selbst zu beschreiben, wenn sie die ins Überindividuelle gerichtete, zentrifugale, vom Werk weg­führende methodische Orientierung mit der aufs Besondere der Literatur gerichteten, zentripetalen, hermeneutischen Richtung identifiziert, geht es ihr ähnlich wie der Poetik, die zugleich Hermeneutik sein möchte1o. Hinzu tritt, daß man, sei es, um der rhetorischen Interpretation Gewicht zu ver­leihen, sei es im wissenscha:A:lichen Eros des terminologischen Besitzergreifens von der Sache, nur zu leicht als rhetorisch erklärt, was es nicht ist, und diese Gefahr steigt propor­tional/ zum Abstand von der mittellateinischen Literatur einerseits und von der Poesie und Rhetorik andererseits. Wer bei Stendhal rhetorische Figuren suchen wollte, müßte sich wohl mit Geduld wappnen oder aber dem Autor Gewalt antun. Im Umgang mit Lyrik und Verssprache allgemein wird man hingegen auch heute noch manche Erscheinungen angemessen über rhetorische Terminologie bezeichnen kön­nen, und erst recht gilt dies für den Umgang mit Texten, die sich unmittelbar mitteilend an ein Publikum wenden, die rhetorischer Grundstruktur sind. Man sollte sich dabei aber nicht nur der genannten Gefahren bewußt sein, son­dern auch die Frage durchdacht haben, ob solehe rhe­torische Terminologie, vom Einzelfall abgesehen, überhaupt grundsätzlich geeignet sei, der "parole poetique" bzw. der "parole litteraire" gerecht zu werden. Die "parole poetique" ist ja von der "parole rhetorique" dadurch unterschieden, daß letztere als Gegenständlichkeit maßgeblich durch eine außerliterarische Beziehung, durch die des Operationellen Ein­wirkenwollens, definiert erscheint, in ihr also das rhetorische Mittel im wahrsten Sinn des Wortes als Mittel Bedeutung gewinnt. Kausales Einwirken auf außerliterarische, etwa ge­sellschaftliche Wirklichkeit, ist in der schönen Literatur hingegen nur mittelbar möglich, über die totale, unkontrol-

10 Roger Dragonetti hat sicher recht, wenn er (ebda., S. 544) "tradition et extr~me stylisation des themes" als hervorste­chendste Merkmale dieser Art von Dichtung bezeichnet, aber das Entscheidende, die Einmaligkeit der "poesie" Ausmachende liegt selbst da noch jenseits der verwendeten Formeln.

Rhetorik und Hermeneutik 179

lierbar operierende Wirkung des zunächst sich selbst zuge­ordneten Werk- oder Textganzen11• Wenn daher in der schönen Literatur rhetorische Figuren eingesetzt werden, dann werden diese notwendigerweise ihres rhetorischen Cha­rakters entkleidet, wird es fragwürdig, sie überhaupt noch als rhetorisch zu bezeichnen12•

Wohlgemerkt sollalldas nicht hindern, auch künftig colo­res rhetorici in der Dichtung, und nicht nur des Mittelalters, zu entdecken, doch dies nur sozusagen im Zuge einer Testung des Materials, eines Sammelns von Indizien, wovon das Eigentliche, die Ausdeutung, zu trennen ist.

11 Es wird sich hier mancher fragen, wie es sich dann mit Wer­ken wie Peter Handkes Publikumsbeschimpfung verhalte, ob ein solches Werk unter diesen Umständen als Literatur im en­geren Sinn, als schöne Literatur, gelten könne. Die Entschei­dung darüber, die einer eigenen Voruntersuchung bedürfte, fiele über die Frage nach Zuordnung und Gegenständlichkeit sowie Aussagehaftigkeit eigener Art. Ist letzteres nicht gege­ben, so handelt es sich um bloße Rhetorik und damit um Li­teratur im weiteren Sinn. - Ein Grenzfall wäre auch die propagandistische Literatur. Bertolt Brecht bringt es fertig, diese zur Literatur im engeren Sinn aufrücken zu lassen, in­dem er den propagandistischen Zweck durch Selbstzuordnung der Sprache und mythische Mittelbarkeit (die anders be­trachtet unmittelbarer und tiefer den Menschen triffi) "auf­hebt" (Hege!). Ihm ist der Mythos geradezu konnaturales Me­dium der Aussage, in das er jedes, auch propagandistische, Be­sondere aufnehmen kann.

12 Wolfgang Babilas, Tradition und Interpretation, München 1962, läßt diesen grundsätzlichen Unterschied unbeachtet. Wenn er voluntas auctoris mit Bedeutung des Textes gleich­setzt (S. 28 ff), die voluntas auctoris ihrerseits im Dienste ei­ner Partei-utilitas sieht, dann gilt das nur für die Basis der Literatur, beispielsweise auch für den Trivialroman, nicht aber für Literatur im engeren Sinne. Diese konstituiert sich erst im Transzendieren der unmittelbaren utilitas und im Hinausragen über die voluntas auctoris, ja in dem, was nicht Rhetorik ist, gewinnt sie ihre eigene Gegenständlichkeit. Im übrigen gilt natürlich für rhetorische Texte das gleiche wie für geschichtswissenschaftliche, theologische usw., daß sie nämlich in die Dimension der Literatur hineinragen können. (V gl. Aus­führungen S. 35 f).

180 Grund-orientierung auf überindividuelle Aspekte

Stoff-, Motiv-, Themen-, Mythen- und Sujetforschung (allgemein)

Liegt die Rhetorik, genau betrachtet, mit ihrer Terminologie außerhalb der Wirk-lichkeit schöner Literatur, so ist den Größen Stoff, Motiv, Thema, Mythos (bzw. Mythe) und Sujet gemeinsam, daß sie sowohl außerhalb des Werkes, die­sem vorausliegend, als potentieller Vorwurf nämlich, wie auch im Werk vorkommen können. Während eine Synek­doche, um nur dieses Beispiel zu bringen, eine Kategorie ist, auf die hin ich eine im Werk begegnende, als Werkwirk­lichkeit anders geartete Erscheinung verallgemeinernd ab­strahiere, kann beispielsweise die Bezeichnung als Motiv bedeuten "ein Motiv, das mir anderswo begegnet ist", die Denkbewegung kann also zentrifugal sein, in die Tradition entführen, aber sie kann ebensogut das ganz konkret hier im Werk wirksame Motiv meinen. Für die genannten Be­griffe gilt also nicht, daß sie notwendigerweise ins über­individuelle und damit vom Werk wegführen: sie haben eine zwischen überindividuellem und Besonderem vermit­telnde, bewegliche Basis. Gewissermaßen als Ausgleich für diesen Vorteil gegenüber der Terminologie der Rhetorik bie­ten sie aber eine Schwierigkeit, die dort nicht besteht (die Toposforschung ausgenommen), und zwar die schwimmen­der terminologischer Grenzen. Man kann beim Lesen ein­schlägiger Forschung sogar den allerdings trügerischen Ein­druck gewinnen, daß diese Begriffe auswechselbar seien; und die vorliegenden Versuche zur Klärung sind auch nicht im­mer überzeugend. So gibt Wolfgang Kayser einmal dem Hellmuth Petriconi von Die verführte Unschuld (Hamburg 1953) zu bedenken, man solle doch eigentlich zwischen Mo­tiv und Thema unterscheiden und vermerkt im gleichen Atemzug lobend zur Verführten Unschuld - was ich sinn­gemäß wiedergebe - daß solcherart an <Themen> durchge­führte <Motiv>forschung die Bedenken gegenüber <Stoff>­geschichten schwinden lasse18 ; so schlimm hatte es Hellmuth Petriconi nicht getrieben.

13 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, S. 62. - Eine verdienstvolle Klärung hat hier Elisabeth Frenzel, Stoff-, Mo-

Stoff-, Motiv-, Themen- und Sujetforschung 181

Dieser Eindruck der relativen Austauschbarkeit und Un­schärfe14 hat insofern in der Sache seinen Grund, als nicht nur drei terminologische Verwendungsreihen, eine auf der

tiv- und Symbolforschung Stuttgart 21966 unternommen, ver­dienstvoll vor allem im Hinblick auf Stoff und Motiv. Es überrascht, daß sie dem die Symbolforschung zugesellt und Themen- und Mythenforschung nur irgendwie mit aufgehen läßt, anstatt auch hier klare Grenzen zu ziehen. Die Symbol­forschung aber hat mit Stoff recht wenig zu tun. "Für den Dichter ist die Symbolschaffung ein Akt der künstlerischen Weltbewältigung" formuliert E. Frenzel trefflich (S. 35) und weiter .Symbolisieren ist ein Grundzug des Dichterischen über­haupt" (S. 36). Die Symbolforschung steht daher eher in Wechselbeziehung zu Fragen der Poetik und gehaltlicher, die Aussagehaftigkeit betreffender Vorgänge. Zur Stoffgeschichte vgl. noch Manfred Beller, Von der Stoffgeschichte zur Thema­tologie; R. Trousson, Le Theme de Promethee dans la litt. europeenne, Introduction; ders.: Un problerne de Iitterature comparee: les etudes de themes; zu Stoff- und Motivforschung noch E. Frenzel, Stoffgeschichte und Motivgeschichte, sowie U. Weisstein, Einführung in die vergleichende Literaturwissen­schaft, S. 163 ff.

14 Der noch dadurch erhöht wird, daß in anderen Sprachen die Begriffe nicht entsprechen. So setzt der Belgier Raymond Trousson das französische .thematologie" für "Stoffgeschichte" an, wird das deutsche "Stoff" in der französischen und eng­lischsprachigen Forschung im allgemeinen mit "theme" bzw . • theme" wiedergegeben (nach E. Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, S. 26), dem allerdings widerspricht, daß Falk (Types of thematic Structure, 1967, S. 2) gleich zwei Appli­kationen von "theme" vorlegt, die jedoch unscharf blei­ben, und Laurence Perrine (Story and Structure, 1959, S. 139) definiert: "The theme is a piece of fiction in its control­ling idea or its central insight [ ... ] Theme is the central and unifying concept of the story."); so setzt Pierre Albouy mit einer gewissen Berechtigung "theme" mit .mythe" gleich (Mythes et mythologies dans la Iitterature franfaise, Paris 1969, avant-propos). Aber andererseits unterscheidet Paul Zumthor in Langue et techniques poetiques a l'epoque romane und Recherehes sur !es topiques dans Ia poesie lyrique du XII" siede, CCM 1959, S. 409 ff. vorbildlich klar zwischen "theme" und "motif", klarer als man es von manchen deutschen Stu­dien her gewohnt ist. Ähnliches könnte man auch von B. To-

182 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Ebene des Vorwurfs15, eine auf derjenigen der Werkwirk­lichkeit und eine auf der Ebene der Psyche, vorliegen, son­dern auch, weil die Grenzen zwischen den Begriffen und den von ihnen gemeinten Wirklichkeiten fließend sind. Diese beiden Schwierigkeiten sind gleichermaßen zu sehen, wenn wir hier den Versuch einer im Zusammenhang unserer Me­thodenreflexion dringend notwendigen Klärung unterneh­men wollen.

Zunächst ist also klar zu unterscheiden zwischen der außerhalb der lebendigen, zur Deutung anstehenden, im en­geren Sinn literarischen Werkwirk-lichkeit anzusetzenden Verwendungsreihe und der innerwerklichen, wie wir sie nennen wollen16, man könnte auch verdeutlichend sagen,

machevski (Thematique) sagen, wenn dort nicht u. a. zu lesen wäre: "Le theme de cette partie indecomposable de l'reuvre s'appelle un motif." (S. 268).

15 Vorwurf als im Hinblick auf Gestaltung reflektierter Stoff, sei dies nun "Rohstoff" oder ein in irgendeiner Form vorgepräg­ter Stoff.

16 Wie sehr diese Notwendigkeit besteht, mögen ein paar Bei­spiele belegen. W. Kayser definiert (Das sprachliche Kunst­werk, S. 60): "Das Motiv ist eine sich wiederholende, typische und das heißt also menschlich bedeutungsvolle Situation"; ähnlich R. Barthes zum "theme" (vgl. Anm. 29): "le theme est existentiel", "le theme est iteratif". W. Kayser definiert weiter: "Das Motiv ist das Schema einer konkreten Situation; das Thema ist abstrakt und bezeichnet als Begriff den ideel­len Bereich, dem sich das Werk zuordnen läßt" (Ebda., S. 62). Es wird offensichtlich, daß Kayser im ersten Fall die Anwen­dungsreihen gar nicht trennt, im zweiten von der innerwerk­liehen Anwendungsreihe mit dem Begriff Thema ·in die außer­werkliehe hinüberwechselt. Trousson hingegen (Un probleme, S. 13) gleitet bewußt von einer Anwendungsreihe in die andere, wenn er vermerkt: " [ ... ] il y aura theme lorsqu'un motif, qui apparatt comme un concept, une vue de l'esprit, se fixe, se Iimite et se definit dans un ou plusieurs personnages agissant dans une situation particuliere, et lorsque ces personnages et cette situation au­ront donne naissance a une tradition litteraire." B. Toma­chevski (Thematique, S. 268 f) unterscheidet nützlicherweise zwischen Motiv "en etude comparative" und Motiv "en poe­tique theorique"

Stoff-, Motiv-, Themen- und Sujetforschung 183

zwischen der Ebene der Tradition, der Vorgegebenheit und derjenigen des ins-Werk-Setzens, der Aktualisierung. Da in dieser Tradition aber auch und vor allem ihrerseits litera­rische Werke stehen, ergibt sich hieraus der verwirrende Tatbestand, daß wir ein und dasselbe Werk, sagen wir den Diable boiteux von Lesage, einmal ausdeutend als Werk­wirk-lichkeit betrachten können und wir uns dann in der innerwerkliehen Verwendungsreihe der genannten Termini bewegen, wir sie zum anderen aber auch von späteren Gestaltungen der Stadtthematik, etwa von Victor Hugos Notre-Dame de Paris her17, als Tradition und damit auf der Ebene der außerwerkliehen terminologischen Verwen­dungsreihe betrachten können. Sodann ist noch die erwähnte dritte Verwendungsreihe zu unterscheiden, die im Begriff des Motivs ihre größte Problematik erreicht, nämlich die psychologische. Das Fehlen einer klaren Unterscheidung hat hier zu erheblicher Verwirrung geführt. Wenn wir bei­spielsweise folgenden Angriff auf die Stoffgeschichte lesen, "Nehme ich das hinter dem Stoff liegende Motiv, dann kann ich nicht mehr Literaturgeschichte, dann muß ich Menschheitsgeschichte schreiben"17", so wird hier der Be­griff Motiv ganz offensichtlich auf die Seite dieser dritten Verwendungsmöglichkeit gezogen, aber zur Argumentation gegen eine anders gemeinte Motivforschung verwendet17b •

. 17 Ich beziehe mich auf Volker Klotz, Die erzählte Stadt, Mün­chen 1969, der allerdings diese Frage nicht reflektiert.

17a E. Sauer, Die Verwertung stoffgeschichtlicher Methoden in der Literaturforschung, Euphorion XXIX, 1928; S. 223. Vgl. auch Anmerkung 16.

17b Bernhild Boie, möchte auch "theme" auf dieser Ebene des "Lebens" sehen (in Hauptmotive im Werke fulien Gracqs, München 1966, S. 11 f). Sie faßt das Motiv mit Wilhelm Dilthey und Josef Körner auf als "die geistig-seelische Dis­position", die den "Dichter bewegende Problemstellung", also mehr als das auf der Seite des Dichters bewußt Bewegende, während die "themes" (wobei sie sich auf Gracq selbst beru­fen kann) als "mouvements instinctifs", die ."ordonnent la ligne de la vie", verstanden werden. Die "themes" sind aber doch wohl eher nur Ausdruck dessen, können allerdings als solche wertvolle Indizien liefern(Vgl. auch S. 259 ff. die Aus­führungen zur "thematique").

184 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Die innerwerkliehe Verwendungsreihe ist nun dadurch charakterisiert, daß sie sich auf eine lebendig zugeordnete Wirk-lichkeit bezieht, die im Falle der schönen Literatur als literarischer Mythos eine eigene Gegenständlichkeit und ei­gene Aussagehaftigkeit hat. Angesichts des funktionalen Zusammenspiels der Elemente, das diese Aussagehaftigkeit in der Literatur besorgt, wäre es gegenstandslos, hier den Stoff als bloßen Stoff, die Mythe als einfache Form (]olles), erkennen zu wollen, weil beide "aufgehoben" werden, sie Medium jenes status transcendendi werden, als den wir schöne Literatur beschrieben haben. Wenn es aber unmög­lich ist, hier Stoff als Stoff anzutreffen, so ist es andererseits doch möglich, in einem zur Aktualisierung des Stoffs im Werk rückläufigen Verfahren den in ihm "aufgehobenen" Stoff wiederzugewinnen. (Darauf beruht die Möglichkeit, das Werk auf der Ebene der Tradition zu sehen.) Der trans­zendentale Mythos seinerseits (Mythos im strengen, theo­logischen Sinn) kann schon insofern nicht ohne Schaden in schöner Literatur vorkommen, weil diese als überschreiten definiert ist, sie also die Vorgegebenheit von Transzendenz ausschließt. In der Mythologie begegnen wir Mythen als transzendentaler Aussage in Bild und Fabel; die schöne Literatur hingegen, die das Besondere in den Spiegel des Lebensgrundes taucht und es im Licht möglichen Sinns schaut18, kennt keine fertigen transzendentalen Aussagen, es sei denn als Stilbruch und Selbstaufgabe der Literatur19• Der literarische Mythos20 überspielt unaufhaltsam die vorgege­bene Transzendenz, bewirkt, daß die Götter, bei Homer, mehr als einmal dem Lächeln preisgegeben werden, bewirkt,

18 Vgl. Ausführungen Bd. I, S. 42 ff. 19 Das gilt auch für "christliche" Literatur, zeigt sich etwa sehr

schön bei Huysmans (Vgl. Der französische Roman im 20. ]hdt., s. 28f.).

20 Pierre Albouy, a. a. 0., spricht auch von "mythe litteraire", versteht darunter aber die Variation des außerliterarischen Mythos in der Literatur, also einen sekundären Aspekt. Ich halte es für sinnvoller, den Begriff des "mythe litteraire" dem Fall des autochthon literarischen, eigene Gegenständlichkeit und eigene Aussagehaftigkeit meinenden Mythos vorzubehal­ten.

Stoff-, Motiv-, Themen- und Sujetforschung 185

daß sie, so Venus bei Racine, für eine bloße unerklärliche Macht stehen, die Phedre mit sich auseinandertreibt:

0 toi, qui vois la honte oa je suis descendue, Implacable Venus, suis-je assez confondue?

Ein andermal wiederum ordnet sich der literarische My­thos die entkräfl:eten, ehemals transzendentalen Mythen und Themen als bloßes Motiv oder gar als reine Stilfigur zu oder er macht sie, auf ihrer ursprünglichen Spannkrafl: aufbauend, zum Medium einer Aussage über des Menschen oder des Dichters Selbstverständnis im Lichte des Seins (so mehr als einmal am Mythos von Orpheus und Eurydike21).

Der Unterschied zwischen Vorgegebenheit und innerwerk­lieher Existenz22 ist also vor allem im Falle von Stoff und Mythos wichtig, wo man füglieh zwischen Stoff und - im Werk- "aufgehobenem" Stoff, Mythos und- im Werk­"aufgehobenem" Mythos unterscheiden könnte, während im Falle von Motiv, Thema und Sujet, von Begriffen, die der Werkwirklichkeit angemessen sind, der Unterschied nicht so tiefgreifend die Sache selbst berührt, etwa unterschieden werden könnte zwischen gegebenem und behandeltem Sujet (sujet donne und sujet traite23), gegebenem und wirkendem Motiv, gegebenem und aktualisiertem Thema24.

Was nun diese Termini anbetriffi, so sind sie, wie bereits

21 Dazu u. a. Leon Cellier, Le Romantisme et le mythe d'Orphee, Cahiers de l' Association Internationale des Etudes Franfaises, n° 10, mai 1958, Eva Kushner, Le Mythe d'Orpbee dans la Litterature franfaise contemporaine, Paris 1961; Klaus Heit­mann, Orpheus im Mittelalter, Archiv für Kulturgeschichte

Bd. XL V (1963), S. 253 ff.) sowie neuerdings Poetik und Hermeneutik IV, Terror und Spiel. Probleme der Mythen­rezeption, hrsg. v. M. Fuhrmann, München 1971.

22 Ich unterscheide absichtlich zwischen Vorkommen und Exi­stenz, insofern im Werk alles unter dem Gesetz der Daseins­gemäßheit steht: Stoff, Motiv, Thema und Mythos stehen hier unter dem Gesetz des überschreitens, sie sind .außer sich".

23 Nach Mireille Frauenrath, L'Influence d'un sujet donne, Diss. Erlangen 1970. Als Alternative wird .sujet virtuel" und .sujet actualise" angeboten.

24 Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei betont, daß die Epi-

186 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

angedeutet, als jeweilige Reihe untereinander bis zu einem gewissen Grade durchlässig. Ein materialiter identischer Vor­wurf, etwa der Vorwurf "Rom", kann nicht nur als dem individuellen Werk vorausliegende, in Literatur, Folklore oder sonstwie ausgeprägte Wirklichkeit, Stoff, Motiv, The­ma und Sujet sein, er kann im Werk wiederum als (aufge­hobener) Stoff, als (aktualisiertes) Thema, als (wirkendes) Motiv und (behandeltes) Sujet begegnen, ja auch als My­thos, doch dies nur in einem noch zu entwickelnden Sinn. Er kann zweifellos nicht mit dem literarischen Mythos wie wir ihn definiert haben, zusammenfallen, denn dieser lite­rarische Mythos ist Aussagehaftigkeit einer Gegenständlich­keit ganz eigener Art; er kann selbstverständlich auch nicht transzendentaler Mythos werden, denn dieser liegt als sol­cher jenseits der Wirklichkeit schöner Literatur; er kann es aber in einem dritten, die Kontamination mit transzenden­talen Mythen voraussetzenden Sinn werden, als dämonischer Mythos25 •

Indes besagt diese Durchlässigkeit nicht, daß es unmöglich wäre, definitorische Grenzen zu ziehen. So kann man, wenn man zwischen Stoff im weiteren Sinn oder auch Rohstoff und Stoff im engeren Sinn unterscheidet, mit Elisabeth Fren­zel, den Rohstoff folgendermaßen definieren: "Stoff im weitesten Sinne ist zunächst ein außerhalb des Kunstwerks stehendes Element, das erst durch den dichterischen Akt zum Bestandteil der Dichtung wird, und solcher Stoff kann alles sein, was Natur und Geschichte dem Dichter an Rohstoff liefern." Stoff im engeren Sinn ist dagegen "eine schon au­ßerhalb der Dichtung vorgeprägte Fabel, ein ,Plot', der als Erlebnis innerer oder äußerer Art, als Bericht über ein zeit­genössisches Ereignis, als historische, mythische, religiöse Fa-

theta "behandelt", "wirkend", "aktualisiert" nicht nur eine stilistische Variation darstellen. Das Sujet ist im Werk etwas relativ Passives, Eigengesetzliches, Be-handeltes; das Motiv hingegen durchwirkt das Werk, ist seine dynamische Grund­zelle, während das Thema wegen seiner existentiellen Natur (vgl. Definition weiter unten) im Werk aktualisiert wird.

25 Mythos in diesem Sinn ist der von Italien (Näheres bei W. Pabst, Venus und die mißverstandene Dido, Harnburg 1955) oder der von der lothringischen Seele bei Maurice Barres, auch

Stoff-, Motiv-, Themen- und Sujetforschung 187

bel, als ein bereits durch einen anderen Dichter gestaltetes Kunstwerk oder auch als selbsterfundene Handlung dich­terisch gestaltet wird26." Dieser Stoff im engeren Sinne ist der Gegenstand dessen, was man Stofforschung nennt. Der rohstoffliche Stoff hingegen, etwa "die Stadt" oder "das Geld", wird naturgemäß nicht um seinetwillen untersucht, sondern ausschließlich unter dem Aspekt der Gestaltung in der Literatur (die ihrerseits wieder Rückschlüsse auf extra­literarische Verhältnisse zuläßt), so daß solche Untersuchun­gen als Motivforschung oder Sujetforschung besser charak­terisiert sind.

Das Motiv sodann können wir definieren als das kleinste situationeile Grundelement der Literatur, das die Kraft hat, sich als stofflich abgelöstes in der Überlieferung zu halten27.

Als innerwerkliehe Wirklichkeit kommt dem Motiv, vor al­lem im Hinblick auf das Verhältnis zur außerwerkliehen Wirklichkeit, entscheidende Bedeutung zu, insofern es als Grundelement zugleich "element-limite" der Werkwirklich­keit ist. Es ist das Element, in dem die außerwerkliehen Größen von Stoff und Iangue in einer untrennbaren Einheit

der der "region" bei Giono. Dämonisierung verrät bezeich­nenderweise auch das Werk von Frano;:ois Mauriac.

26 E. Frenzel, Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, S. 22. - Es heißt dort "Stoff im engeren und wissenschaftlich fruchtbaren Sinn", eine Formulierung, die ich abgewandelt habe, da diese wertende Einengung nur für Stofforschung im eigentlichen Sinn gilt. Es wäre durchaus auch wissenschaftlich sinnvoll, von gesellschaftlich relevanten rohstoffliehen Vorwürfen, wie Geld und Stadt auszugehen. Anhand des Vorwurfs Geld beispiels­weise ließe sich manche literarhistorisch, sicher auch soziologisch sehr aufschlußreiche Studie schreiben.

27 Max Lüthi formuliert "das kleinste Element einer Erzäh­lung, das die Kraft hat, sich in der Überlieferung zu halten" (zitiert nach E. Frenzel, S. 28); indes mußten wir hier all­gemeiner im Hinblick auf Literatur definieren. Elisabeth Frenzels Definition (Im Deutschen bezeichnet das Wort Motiv eine kleinere stoffliche Einheit, die zwar noch nicht einen ganzen Plot, eine Fabel, umfaßt, aber doch bereits ein in­haltliches, situationsmäßiges Element darstellt; ebda., S. 27) scheint mir in diesem Fall zu sehr im Hinblick auf Stoff­forschung zu erfolgen ("stofflich", "inhaltlich"). (V gl. auch

188 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

zusammenfließen27". Es ist "le plus petit tout autonome", in dem die Literatur als lebendige parole sich entscheidend von Stoff und Langue löst und ihre Eigenwirklichkeit aufzu­bauen beginnt. Die Motivwerdung des Stoffes (der sich sei­nerseits in Motive, Themen und Sujets auffaltet) ist daher der Weg, der vom Stoff zur in sich bewegten Werkwirk­lichkeit schöner Literatur führt.

Wird dieses Motiv nun seinerseits entwickelt, rückt es vom Element zur eigenen Folge auf, so ist diese Einheit einer Folge, die einen Interessekern bildet2B, die dadurch, mit Ro­land Barthes gesprochen, etwas Existentielles bekommt, ei­nen "rapport immediat du sujet avec l'objet, sous la forme de l'adhesion ou de la n!pugnance" zum Austrag bringt, die iterativen Charakter hat29, Thema.

Sujet schließlich wird ein Stoff, wenn das ganze Werk oder der ganze Text in ihm seine thematische Einheit findet, wenn beispielsweise Rom nicht nur als Motiv und sei es auch Leitmotiv begegnet, wenn es auch nicht nur existentielles Thema ist, sondern wenn es Gegenstand des ganzen Werkes

die Definition von B. Tomachevski in Anm. 14). 27a Nach Z. Czerny, Gontribution a une theorie comparee du

motif dans les arts, S. 3 8 ff. 28 "Centre d'interh", sagt Paul Zumthor, der umgekehrt, vom

Thema her, die Beziehung Thema - Motiv analog sieht. Die Motive, so führt er aus, haben "pour fonction d'incarner lc

theme dans la realite verbale de l'ceuvre" (Langue et tech­niques, S. 128). Daraus ergibt sich zugleich, daß der Begriff Thema gegenüber Motiv abstrakter und weiter ist. (Entspre­chend lesen wir bei R. Trousson, Un probleme, S. 13: "le motif de l'artiste createur dans le theme de Pygmalion".) Von dieser fehlenden Griffigkeit wird noch die Rede sein. -Vgl. auch noch B. Tomachevski (Thematique, 269): "Les mo­tifs combines entre eux constituent le soutien thematique de l'ceuvre."

29 Roland Barthes, Michelet par lui-meme, Paris 1954 (zitiert nach P. Albouy, Mythes et mythologies, S. 11). - Hierher rührt die Nähe von Thema und Problematik, von der z. B. Manfred Krüger in Gerard de Nerval. Darstellung und Deu­tung des Todes, Stuttgart 1966, aufbaut.

Stoff-, Motiv-, Themen- und Sujetforschung 189

wird, wir beispielsweise einen "Rom-Roman" vor uns haben30•

Im Modell könnte man das etwa so darstellen:

Thema. Skizze 2

Thema

I~ Sujet-<"'v /:t ..

Stoff

Langue

~\~

Langue-

Der Stoff tritt, als Vorwurf im Hinblick auf die Gestaltung re­flektiert - wobei sich gegebene Motive und ein bzw. mehrere gegebene Themen und Sujets an- und herauskristallisieren - mit der literarischen Motivierung über die Schwelle (S) der parole poetique, wird hierdurch in den lebendigen Stromkreis des Werks, diesen selbst mitbewegend (Motiv) aufgenommen und hört auf, bloßer Stoff zu sein, wie denn auch das wirkende Motiv, das aktualisierte Thema und das behandelte Sujet nun nur noch per

30 Wobei zu bedenken ist, daß wegen der maßgeblich durch Polyvalenz gekennzeichneten mythischen Aussagehaftigkeit der Literatur ein Werk nicht eindeutig auf ein Sujet fest­gelegt werden kann. - Zum Ganzen auch B. Tomachevski (Thematique), der zwischen Fabel und Sujet trennt.

190 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

viam abstractionis aus dem Ganzen herausgelöst werden können. Die in sich kreisende, die reine Mitteilung transzendierende Ein­heit des Ganzen ist durch den die Punkte "Motiv", "Thema" und "Sujet" durchlaufenden Kreis des literarischen (nicht etwa trans­zendentalen) Mythos symbolisiert (andere würden hier von Sym­bol, wieder andere von Metapher sprechen, wobei Metapher metaphorisch verwendet wäre); dieser Kreis ist als mit erheb­licher Geschwindigkeit kreisend zu denken. In diesem Kreis sind also sowohl der status transcendendi als auch die jedenorts gege­bene Einheit und nicht zuletzt auch das Insichruhen graphisch wiedergegeben.

Ein Modell für die Basis von Literatur könnte im übri­gen ähnlich aussehen. Es müßte hier nur der mit unendlicher Geschwindigkeit rotierende Kreis, der den literarischen My­thos symbolisiert, wegfallen. Die operative Extravertiert­heit, die in Thema und Sujet ihre Spitzen hat, würde dann in der graphischen Darstellung, auf die ich nach dem Ge­sagten wohl verzichten kann, sehr klar zum Ausdruck kommen.

Ein paar einprägsame Beispiele, die sich versändlicher­weise auf überschaubare Größen beschränken müssen, mö­gen das Gesagte für den Fall der schönen Literatur verdeut­lichen. So wird in folgendem Kurzgedicht von Antonio Ma­chado das in der Tradition fast zum Topos abgesunkene ly­rische Motiv des Frühlingserwachens in der Natur zum wir­kenden Motiv aktualisiert, das sich über ein weiteres; seiner­seits existentielles Motiv thematisiert30" und zugleich Sujet des Ganzen ist:

La primaveraha venido, nadie sabe c6mo ha sido. (Der Frühling ist gekommen, niemand weiß, wie es geschah.)

lyrisches Motiv existentielles Motiv

Schwieriger schon ist die mythopoietische Rekonstruktion des folgenden, mit Synästhesien und Motivkontaminationen arbeitenden Gedichtes von Apollinaire.

30a Es wird hier erneut deutlich, w1e wenig faßbar das Thema selbst ist.

Stoff-, Motiv-, Themen- und Sujetforschung 191

Flambe flambe ma main o flamme qui m'eclaire Ma main illuminant les astres a thons Mon bras fond sous ma main qui allume ma chair

Le soleil De montagne en montagne joue a saute-mouton

Auch hier sind ein lyrisches und ein existentielles Motiv im Spiel, das lyrische Motiv der erhellenden Sonne und das existientielle des sich entflammenden Fleisches, doch erschei­nen diese von vornherein solcherart ineinander verschränkt, daß ihre Trennung kaum noch möglich ist.

Im übrigen müßte natürlich bei komplizierteren literari­schen Gebilden weiter begrifflich differenziert werden, wenn man die mytho-poietische Rekonstruktion des Werkes un­ternehmen wollte. Hier müßten Begriffe wie Motivkonstel­lationen oder Motivkomplexe, Motivreihen, Leitmotiv, Re­gister (Paul Zumthor) eingeführt werden. Abzuklären wäre dann auch, grundsätzlich sowie im Einzelfall, das Verhältnis dieser motivisch-mythischen Einheit zur kompositorischen der Aufbauformen. Wenn beispielsweise bei einer Analyse von zehn dramatischen Gestaltungen eines gleichen Themas (des "fils assassine") nach einem "decoupage"30", derselben in "situations", "phases du sujet", "formantes" (vgl. weiter oben) und "sujet" nachweislich in Prozentzahlen festgestellt werden konnte, daß die Zwänge des Sujets ganz erheblich sind, daß also, zum mindesten in diesem Fall, weder im Stoff noch in der situationell-dramatischen Anlage Originali­tät und historische Relevanz zu finden sind30C, dann wäre es nun interessant, über eine Analyse, die in der beschriebe­nen Weise vom Niveau der parole ausging, die Gegenprobe zu machen. Es steht zu erwarten, daß eine solche Untersu­chung, die nicht mehr strukturalistisch durchgeführt werden könnte (weil sie auf das Individuelle aus ist) einen hohen

30b Begriff nach Sophie-Irlme Kalinowska (Apropos d'une theorie du motif litteraire: les formantes, Beiträge zur romanischen Philologie I, 1961, S. 78-82). Diesem Beitrag entnehme ich auch das Gedicht von Apollinaire.

30c So Mireille Frauenrath in der in Anm. 23 dieses Kapitels zitierten Studie.

192 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Grad an historischer und persönlicher (den Autor charak­terisierender) Relevanz erbrächte.

Stoff-, Mythen- und Motivforschung (insbesondere)

Von den genannten Begriffen bezeichnen Stoff und Mythos (d. i. transzendentaler Mythos) eine nicht werkspezifische Wirklichkeit: Stoff und Mythos sind außerliterarische, im Werk nur als "aufgehoben" gegenwärtige, aus ihm nur per viam abstractionis zurückzugewinnende Größen. Stoff- und Mythenforschung, die wegen dieser engen sachlichen Ver­wandtschaft durchweg als Stofforschung in eins zusammen­fallen31 (weil alles Außerliterarische, die Sprache als Langue ausgenommen, als Stoff der Literatur betrachtet werden kann; vgl. Skizze auf S. 33), sind daher von Natur aus, sofern sie ihrem Namen gerecht werden, werkfliehende me­thodische Orientierungen, die sich nur sehr mittelbar, als Hilfsmittel nämlich, der Interpretation zuführen lassen. Was diese Forschungsrichtung zunächst zu leisten vermag, ist sachlicher überblick über Traditionsströme, Herausarbeitung von Konstanten, ein positivistisches Geschäft, das nach der Jahrhundertwende verständlicherweise in Mißkredit geriet und das man ein wenig paradoxerweise als Stoffgeschichte bezeichnet, obwohl es doch dem Stoff eigentlich nicht zu­kommen kann, Geschichte zu habens1•. Indes hat diese Rich-

31 Die weitere Identifizierung mit "theme" (Stoff = "mythe" = "theme"), wie sie Raymond Trousson vornimmt (Le Theme de Promhhee, Einleitung), scheint mir hingegen, obwohl Stoff natürlich "theme" sein kann, vom literaturwissenschaftliehen Standpunkt aus ungeschickt. Der Begriff der "thematique" sollte der werkzugewandten ErforsdJ.Ung von Themen vor­behalten bleiben, die ihrerseits auf unterbewußte oder my­thische, halbbewußte Antriebe verweisen, für eine Forschung, auf die wir im Rahmen der werktranszendierenden Methoden zurückkommen werden.

31a Dennoch ist der Begriff insofern "zu retten", als das, was hier Stoff heißt, der tradierte Stoff nämlich, seinerseits aus Werken abstrahiert wird, die ihrerseits geschichtlich sind. Der Stoff gewinnt dadurch mittelbare Geschichtlichkeit, er wird Spiegel einer Geschichtlichkeit, die ihm selbst nicht zukommt.

Stoff-, Mythen- und Motivforschung 193

tung, die mit dem Geschick der vergleichenden Literaturwis­senschaft verbunden ist32, vor allem im Gefolge der Curtius­schen Toposforschung, neuen Auftrieb erhalten und in den letzten beiden Jahrzehnten im Rahmen des neuen, werk­transzendierenden <Paradigmas> beachtliche Initiativen ent­wickelt. So betreibt Raymond Trousson in seinem bewun­dernswerten Werk Le Theme de Promhhee dans la Littera­ture europf:enne weniger Stoffgeschichte in diesem alten, pa­radoxalen Sinn (ohne allerdings begrifflich von dieser ab­zurücken), als eine Geschichte der Stoffrezeption. Diese Stoff­rezeption: Ankristallisierungen am Kern des Mythos, Aus­wahl und Betonung von Teilaspekten, gewandelte morali­sche Gewichtungen, Vorliebe und Ablehnung bzw. Fehlen des Mythos, und vor allem die beigelegte Bedeutung, das alles sind Selbstzeugnisse einer Epoche, die auf der Ebene der Geschichtlichkeit auswertbar sind33• Ihre Analyse führt aber die Stoffgeschichte über sich hinaus, einmal im erwähn­ten Sinn der Offnung zur Stoffrezeption, sodann in Rich­tung auf Motivforschung. Denn die Beobachtung der er­wähnten relativ geschichtsträchtigen34 Momente fordert den Blick für kleinere, kontrollierbare Einheiten, für Motive, Motivverknüpfungen und sich wandelnde Motivkonstella­tionen im Rahmen des Mythenstoffs35.

32 Zum Ganzen ausführlich bei U. Weisstein, Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Stuttgart 1968, S. 22 ff. Ich möchte den Fall der vergleichenden Literaturwissenschaft, der dort ausführlich dargestellt ist, hier weitgehend aussparen.

33 Vgl. für den Bereich des Orpheus-Mythos etwa A. Buck, Der Orpheus-Mythos in der italienischen Renaissance, Krefeld 1961. K. Ziegler, Orpheus in Renaissance und Neuzeit, Fest­schrift für 0. Schmitt, Stuttgart 1951 und Klaus Heitmann, Orpheus im Mittelalter, a. a. 0., S. 253-94; Uon Cellier, Le Romantisme et le Mythe d'Orphee, Cahiers de l' Ass. Intern. des Etudes Franfaises, n° 10, mai 1958. Weitere Bibliographie bei Pierre Albouy, Mythes et mythologies dans la litt. franfaise, a. a .. 0.

34 Relativ, weil der gegebene Mythos seine Zwänge ausübt. Vgl. Ausführungen weiter unten.

35 Wobei es, wie E. Frenzel betont, wichtig ist, nicht einfach unbesehen alles zu sammeln, sondern sich an tragende Motive

194 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Das gleiche gilt im Prinzip auch, wenn man, wie Walter Pabst in Venus und die mißverstandene Dido, den Blick we­niger auf die epochale Rezeption richtet als auf die Peripe­tien der Stofftradition selbst, wenn man den historischen (nicht geschichtlichen) Wandel der Konstanten selbst, die Motivüberblendungen z. B. erforschen will, anhand deren sich die Verästelung einer Tradition konkretisieren läßt. Auch hier muß sich die Stofforschung zur Motivforschung hin öffnen (was W. Pabst sehr wohl sieht), wenn auch in diesem Fall die Motive als solche gegenüber ihrer Funktion im Hinblick auf die Peripetien der Konstante weniger ge­wichtig sind. Hier kann beispielsweise, wie Pabst aufzeigt, der bloße Irrtum eines Reisenden, der nicht begreift, daß Venus auch ganz einfach Liebe heißt und dies für einen Ei­gennamen hält, entscheidende Bedeutung gewinnen fiir eine Ramifikation der Tradition: insofern nämlich auf solch ba­nale, gänzlich unliterarische und ungeschichtliche Weise eine Überblendung durch das Venus-Motiv erfolgt; hier kann ein Andrea da Barberino eine größere Rolle spielen als Pul­ci, Ariost und andere große Dichter, die sich gegen die von ihm vorgenommene Dämonisierung wenden.

Der solcherart erarbeitete Mythenstammbaum kann so­dann für die werkzugewandte Deutung fruchtbar gemacht werden (wobei der Stammbaum umso nützlicher ist, je sach­licher hier einfach das Faktische verzeichnet wird, denn nur dann kann er als zuverlässige außerwerkliehe Objektiva­tionsbasis eingesetzt werden). So nutzt Walter Pabst seine Kenntnis der Venus-Tradition zu einer erhellenden Deu­tung der Fiammetta-Dichtung Boccaccios36, und Joachim Schulze konnte kürzlich unter Rückgriff auf die erarbeitete Mythentradition für eine Erzählung von Musset, Le secret de favotte, glaubhaft machen, daß die schicksalhafte Hinter-

zu halten, mit anderen Worten, den Begriff des Motives, der tragende Funktion impliziert, ernstzunehmen (Stoff-, Motiv­und Symbolforschung, S. 23-29).

36 W. Pabst, Venus als Heilige und Furie in Boccaccios Fia­metta-Dichtung, Krefeld 1958.

Stoff-, Mythen- und Motivforschung 195

gründigkeit dieser Geschichte auf einer Erneuerung des Ado­nis-Venus Mythos beruhtas•.

In diesen Fällen wird somit die Fliehkraft der Orientie­rung aufs überindividuelle hin sozusagen gemäßigt, wird sie als vorläufig und dienend der Ausdeutung zugeordnet. Dennoch, und das ist nicht als Kritik am Bestehenden son­dern im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Methode ge­sagt: so einleuchtend und gewinnbringend solche neuen Ein­sichten auch sein mögen, ist schwer einzusehen, wie der Zu­fallscharakter dieser "Entdeckungen" behoben werden könn­te. Das methodische Grundprinzip einer solchen Motivfor­schung kann doch wohl nur darin bestehen, aus dem Hori­zont einer gewonnenen mythologischen Sachkenntnis her­aus sich sozusagen "auf die Jagd" zu machen. So gewinn­bringend daher solche Forschung im Einzelfall ist, ist sie doch immer auf den Einzelfall des Vorkommens angewie­sen, kann sie nicht zu einer hermeneutischen Methode wer­den36b. Ganz abgesehen davon, daß dabei die Gefahr der

36a Nach dem antiken Mythos liebte Adonis Venus, wurde aber von Mars, dem eifersüchtigen Liebhaber der Venus, in Ge­stalt eines Eber, getötet. Joachim Schulze (Poetica 1, 1967, S. 205 ff.) identifiziert nun in Le Secret de ]avotte die Mar­quise de Bernage mit Venus, M. de la Bretonnil:re mit Mars und Tristarr mit Adonis. Er kann sich hierzu u. a. auf die schicksalhafte Hintergründigkeit der Geschichte und vor al­lem auf einen Calembour berufen: Tristarr war ungehalten, weil er in einem entscheidenden Augenblick unterbrochen wurde, hatte daher M. de la Bretonniere gegenüber die Be­merkung fallen lassen, er erscheine wie "mars en careme" (wie März zur Fastenzeit), worauf dieser genüßlich ripo­stierte: "Comme Mars en toute saison" (wie Mars zu jeder Jahreszeit).

36b Das kann man von Erich Auerbachs Vorstoß in die Motiv­forschung (Typologische Motive in der mittelalterlichen Lite­ratur, Krefeld 1953) nicht sagen, doch hat sein Ansatz kaum über das Mittelalter hinaus Bedeutung. Die typologische In­terpretation, nach der etwa Christus zweiter Adam ist, war eng mit Heilslehre, Präfigurationslehre und Lehre vom mehr­fachen Textsinn verbunden, wie diese nur im Mittelalter noch als lebendiger Ausdruck des Selbstverständnisses denkbar waren.

196 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Vergewaltigung des Textes, der "Venus in tausend Bildern", groß ist.

Und was die Forschung zur Stoffrezeption anbetriffi (alias Stoffgeschichte), so wird man sich bewußt bleiben müssen, daß auch ihre Möglichkeiten begrenzt sind, sofern sie sich das Ziel historischer Analyse setzt. Der gegebene Mythos als stoffliche Wirklichkeit übt nämlich hier unausweichlich Zwänge aus, die der Ankristallisierung von Motiven, die den Motivüberblendungen und der Angliederung von "for­mantes" nur beengten Spielraum lassen. Die Geschichtlich­keit kann sich also nicht frei entfalten37• Es müßte hier erst einmal, womöglich auf strukturanalytischem Weg, der An­teil von stofflichen Zwängen und der Raum für geschicht­liche Freiheit erarbeitet werden, damit man nicht Gefahr läuft, als geschichtlich zu deuten, was im Grunde zum min­desten auch Auswirkung eines überzeitlichen stofflichen Zwanges ist38. Auch wird man den Anteil dessen, was wir den Lebensgrund nannten, hier mit in Erwägung ziehen müssen, indem man bedenkt, daß manche Erscheinung we­niger auf Kosten der Geschichte läuft als archetypischen Ur­spnings ist.

37 Die Relativität der Möglimkeit gesmimtlimer Relevanz im Bannkreis stofflimer Konstanten weist Dieter Beyerle über­

-zeugend am Vorwurf der "feindlid1en Brüder" nam (Die feindlimen Brüder von Aesmylus bis Alfieri, (I) in Aufsätze zur Themen- und Motivgeschichte, Festschr. f. H. Petriconi, Harnburg 1965, S. 9-42, (II) in R], Bd. 16, 1965, S. 77-93). Eine etwas unfreiwillige, daher umso wertvollere Bestätigung dieser Relativität liefert Eberhard Leube in F or­tuna in Karthago. Die Aeneas-Dido-Mythe Vergils in den romanischen Literaturen vom 14. bis zum 16. ]hdt, Heidel­berg 1969, der am Ende bekennt, daß am Anfang seiner Ar­beit die Frage nam den epomalen Untersmieden stand, es aber "nun" den Ansmein fast prinzipieller Einheitlimkeit hat (ein im Grunde kaum überrasmendes Ergebnis, wenn man bedenkt, daß Leube nimt nur von einem Mythos, son­dern von der ganz bestimmten Ausformung des Mythos bei Vergil, ausgeht, da konnte nimt viel Raum für Geschimt­limkeit bleiben).

38 Mireille Frauenrath hat dies in ihrer bereits zitierten Disser­tation (L'influence d'un sujet donne) durmgeführt, wobei sie

Stoff-, Mythen- und Motivforschung 197

Erfolgversprechender ist daher, aus dieser Perspektive be­trachtet, sicher die Bearbeitung "rohstofflicher" Motive, wie dies Volker Klotz für "die erzählte Stadt" durchgeführt hat, mag diese auch den Nachteil haben, daß die philologische Kontrolle des Wandels, deren Möglichkeit seit Curtius im­mer wieder die Forschung fasziniert, nicht in gleichem Maße gegeben ist. Freilich wird man hierbei nur an geistesge­schichtlich, literaturgeschichtlich, soziologisch oder poetolo­gisch erfolgversprechenden Motiven ansetzen, um nicht er­neut einer sinnlosen Stoffhuberei zu verfallen. Das Vorkom­men des Maikäfermotivs z. B. verspricht, soweit ich sehe, trotz seiner folkloristischen Relevanz, keinen bedeutsamen Aufschluß dieser Art. Aber Motive wie "Buch", "Geld", "Essensszenen" u. a. m., möglichst auf eine Gattung be­schränkt, würden sicher interessante diachronische Untersu­chungsergebnisse einbringen. Höchst aufschlußreich wäre si­cher auch Erstellung und Vergleich synchroner Motivquer­schnitte und im Zusammenhang hiermit die Behandlung von Fragen des Untergehens, Neuauftauchens oder WiederauE­genommenwerdens von Motiven oder Motivkonstellationen. In all diesen Fällen wäre es allerdings fatal, wenn man die Motive unter dem die Abstraktion aus dem Werk voraus­setzenden Aspekt des Stoffes sehen würde, etwa im süd­amerikanischen Roman und auch Drama, wo dem Motiv des Hundes große Bedeutung zukommt, daran ginge, das Vorkommen der Hunde, womöglich nach Rassen gegliedert, statistisch zu erfassen oder bei einer Untersuchung zur mo­tivischen Aufnahme moderner Verkehrsmittel in die Lite­ratur (wobei die Dichte des Vorkommens nach Lage in der Hierarchie zwischen Trivialliteratur und Dichtung interes­sant wäre und das Fahrrad besonders lohnend wäre) sich mit einer stofflichen Erfassung begnügt, anstatt sich Fragen zu stellen wie die nach der Weise, wie hier die Literatur als status transcendendi mit den Produkten der Technik fer­tig wird, sie es fertig bringt, sie zu überschreiten und für symbolische Bedeutung zu öffnen.

allerdings, ihrem Thema gemäß, das Augenmerk überwiegend auf die Zwänge richtet, sie das Maß der Geschichtlichkeit nur ganz am Rande wägt.

198 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Themenforschung39

Wir haben schon verschiedentlich Gelegenheit gehabt fest­zustellen, daß die Wirklichkeit des Themas, sowohl auf der Ebene des Werkes als auch außerhalb, schwer faßbar ist. Das Thema ist eben mehr eine sich mitteilende, die themen­tragenden Motive einende Qualität als eine in sich fixier­bare Wirklichkeit. Es zerflattert förmlich unter dem Zugriff, oder aber es konsolidiert sich zu Motiven. Es ist daher schwer, wenn nicht unmöglich, auf diesem Gebiet zu kon­trollierbaren und einsichtigen Formen der Erkenntnisgewin­nung zu gelangen, solange die Themenforschung ausschließ­lich bei ihrer Sache bleibt.

Typisch für diese schemenhafte Konturenlosigkeit ist etwa das breitgestreute Material zu einem Themenvorwurf, auf das sich Hellmuth Petriconi als ein führender Vertreter die­ser Richtung in seiner Untersuchung Das Reich des Unter­gangs (Hamburg 1958) stützt, ein Material, das als "gemein­samen Vorwurf" kaum mehr als eben eine "thematische" Berührung verrät: Wagners Ring der Nibelungen, Zolas Rougon-Macquart, Spenglers Untergang des Abendlandes und Themas Manns Doktor F austus werden hier als Ge­staltungen eines gleichen mythologischen Themas zusammen­gestellt und vergleichend gedeutet. Essayistisch großzügig, umrißhaft ungefähr, dem Gegenstand sozusagen angepaßt, ist auch der Stil der Ausführungen, die weniger auf wissen­schaftliche Stringenz angelegt sind und angelegt sein kön­nen, als auf eine pointenartig einleuchtende, spielerisch zu­fallende Evidenz des im Lichte der Thematik aufleuchten­den Details, die aber mit diesen Details entscheidend und gewinnbringend in den Bereich der Motivforschung hinüber­reicht. So wird man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, es wohl kaum als wissenschaftlich erwiesen betrachten kön­nen, daß Zola in den Rougon-Macquart das mythologische

39 Hierunter soll also nur Forschung verstanden werden, die am Thema im oben umschriebenen Sinne (S. 188) ansetzt. Was Trousson hingegen auch "thematique" nennt, soll als Stoff­forschung gelten (siehe auch weiter unten das zur "thematique existentielle" Gesagte).

Mikrokosmische und makrokosmische Strukturen 199

Thema des Weltuntergangs gestaltet habe, wird vielleicht eher dazu neigen, die vielen Schilderungen von Bränden zusammen mit den beiden anderen Schlüsselmotiven, dem der einstürzenden Gebäude und dem des faulenden Flei­sches, dem Grundthema von Verfall und Untergang des Zweiten Kaiserreichs zuzuordnen, darüberhinaus aber in all dem auch Zolas Freude am impressionistischen Effekt und am musikalisch-thematischen Spiel der Motive festzustel­len. Auf der anderen Seite ist es aber die sich zur Motiv­forschung hin öffnende Themenforschung, wie Petriconi sie in gekonnter Manier handhabt, die erst diese und andere Einsichten wie nebenbei erbracht oder doch nahegelegt hat. In diesen schlaglichtartig unerwarteten Aufhellungen liegt ein Großteil der wissenschaftsförderlichen Kraft, die in sol­cherart betriebener Themenforschung liegt (zur "thematique existentielle" vgl. hingegen Kap. 3 dieses Teils). Mehr kann wohl nur erreicht werden, wenn die Themenforschung ihren vagen Ansatz aufgibt und sich noch entschiedener zur Mo­tivforschung hin öffnet. Doch ginge dieses "mehr" vielleicht auf Kosten von Intuition und Einfallsreichtum, die sich hier, ganz im Sinne von Adornos Plädoyer für das Essay (Noten zur Literatur 1), als fruchtbar erwiesen haben.

Mikrokosmische und makrokosmische Strukturen (Sprache und Aufbau)

Was viele der bisher behandelten Ansätze in ihrer Anwend­barkeit einschränkt, ist gerade das, weshalb wir sie im Rahmen dieses Kapitels berücksichtigt haben: die methodi­sche Ausrichtung auf überindividuelle Aspekte der Lite­ratur, der somit im Prinzip werkfliehende methodische An­satz. Auch die Ausrichtung auf mikrokosmische und makro­kosmische Strukturen als überindividueller Aspekte von Li­teratur entgeht dieser Regel nicht ganz, doch bringt sie in­sofern bessere Voraussetzungen für eine interpretatorische Re­levanz und Nützlichkeit mit sich, als ihre Fliehkraft zu ei­nem überindividuellen hinführt, das am Werk aufscheint, das die überindividuelle Struktur des Individuellen selbst ist. Stehen Normen außerhalb des Werks als ein Anspruch an sie, kommen Motiv, Thema etc. sowohl außerhalb wie

200 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

innerhalb des Werkes vor, so sind Strukturen nur im Werk zu finden, führt ihre Erkenntnis von hier aus ins überindi­viduelle. Die Dichotomie von Norm und Wirklichkeit, Ka­tegorie und Vorkommen, außerwerklieber und innerwerk­lieher Begriffsreihe wird so überwunden: das Werk wird, über den Vergleich mit anderen Werken, so paradox sich das anhört, "in ihm bleibend überschritten" auf sein nicht mehr als kategorial, nicht mehr als abgetrennt verstandenes überindividuelles hin.

Es braucht kaum betont zu werden, daß dieser Zweig der Forschung sehr verantwortungsvoll ist, daß ihm zu einem nicht unerheblichen Teil die Verantwortung für den Fort­schritt der Literaturwissenschaft zufällt. Hier geht es nicht nur um die Erkenntnis der Bedingungen der Beurteilungs­grundlage, auf die literaturwissenschaftliches Forschen in er­ster Linie angewiesen ist, sondern zugleich um die Bereit­stellung von methodischen Ansätzen und terminologischem Rüstzeug, das uns gestattet, präzise und kontrollierbar, ei­ner Wissenschaft angemessen, von Literatur zu sprechen.

Hier entscheidet sich zu einem guten Teil, ob und inwie­weit die Hermeneutik durch verläßliche Feststellungsakte abgesichert und in sich gefestigt werden kann. Hier liegt daher eine der dringlichsten Aufgaben der Literaturwissen­schaft, die trotz ermutigender Fortschritte, vor allem in den fünfziger Jahren (Lämmert, Stanze!, Damaso Alonso, Hugo Friedrich, Paul Zumthor, Jean Rychner, Robert Guiette, Ro­land Barthes, Northrop Frye u. a.), erst zu einem geringen Teil als bewältigt angesehen werden kann. überdies hat sich in jüngster Zeit, in den sechziger Jahren, immer mehr ge­zeigt, daß auch hier - über den besprochenen Fall der rhe­torischen Terminologie hinaus - die Fliehkraft der Abstrak­tion groß ist, und diese der literaturwissenschaftliehen Relevanz gefährlich werden kann. Man gewinnt hier näm­lich mehr als einmal den Eindruck, daß recht begrüßenswerte Ansätze durch Systematisierung zu begrifflichen Apparaturen führen, die ihrem Gegenstand in keiner Weise mehr ange­messen sind40, die sich sozusagen gegenüber dem Anlaß und Zweck theoretisch verselbständigt haben.

40 Vgl. auch Manfred Bierwisch, der am Eingang semes Auf-

Mikrokosmische und makrokosmische Strukturen 201

So entdeckte Jean Rychner in den fünfziger Jahren den sogenannten "style formulaire" der Chansons de geste41 , Ro-· bert Guiette in den vierziger Jahren die "poesie formelle" der Trouveres, der man nur auf der Ebene der Tradition, der Technik und der Struktur gerecht werden kann42 • Das waren wichtige und zutreffende Beobachtungen, aber sie führten - ähnlich wie Toposforschung und Erkenntnis der Möglichkeiten rhetorischer Terminologie - zu den sechziger Jahren hin teilweise zu übertriebenen und unangemessenen Hoffnungen, zu der Auffassung, den Chansons de geste auf diese Art und Weise wirklich gerecht werden zu können (während man hier doch nur einen allgemeinen Aspekt der­selben erfaßte43) und zur Hoffnung, die "Chanson courtoise"

satzes über "Poetik und Linguistik" (Mathematik und Dich­tung, S. 49) von demjenigen, der das Ziel einer Axiomati­sierung verfolgt, sagt: "Er muß darauf achten, daß der exakte Apparat, den er einführt, nicht am Ende mit dem Problem, von dem er ausgegangen war, nichts mehr zu tun hat".

41 La chanson de geste. Essai sur l'art epique des jongleurs, Geneve 1955. Man hat im übrigen darauf aufmerksam machen können, daß dieser für die Romanistik maßgeblichen Entdek­kung die des formelhaften Stils von Homer vorausging. (M. Parry, L'epithete traditionelle dans Homere, Paris 1928; ders. Les formules et la metrique d'Homere, Paris 1928; weitere einschlägige Beiträge desselben in HSCPh 41, 1930, S. 73 ff, HSCPh 43, 1932, S. 1 ff, Tapa 64, 1933, S. 179ff; siehe wei­terhin A. B. Lord, Homer and Huso, I, Trans. and Proc. of the Am. Phil. Ass., t. 67, 1936, S. 106ff). Kurz zuvor hatte auch Rita Lejeune in einem Aufsatz (Technique formulaire et chan­son de geste, MA 60, 1954, S. 311 ff) auf das Phänomen auf­merksam gemacht.

42 Vgl. den 1946 gehaltenen Vortrag "Aventure de Ia poesie formelle" sowie "D'une poesie formelle en France au moyen age", beide Beiträge in R. Guiette, Questions de litterature, Rom. Gand. VIII, Gent 1960.

43 Vgl. Renate Hitzes mit viel Fleiß erstellten Katalog Studien zu Sprache und Stil der Kampfschilderungen in den Chan­sons de geste, Geneve-Paris 1965, der hoffentlich endgültig den vielleicht unfreiwilligen Beweis erbracht hat, daß man auf diese Weise bestenfalls nützliche Materialsammlungen zur Langue der Chansons de geste erbringen kann, nicht jedoch den Werken, welche diese Chansons zum Teil unverkennbar

202 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

über ein Inventar von Formeln und rhetorischen Figuren darstellen zu können44, aber auch zu differenzierteren Un­tersuchungen, wie denen von Paul Zumthor, in denen unter anderem beachtliche Schritte zur Erweiterung bzw. zur defi­nitorischen Festigung des terminologischen Apparats unter­nommen werden, ohne dabei die Eigengesetzlichkeit des zu analysierenden Gegenstandes aus den Augen zu verlieren45.

Roman Jakobsen hatte 1958 auf der Poetik-Konferenz der Indiana University in seinem Essay "Linguistics and Poetics" die Hypothese formuliert: "The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination"46, er hatte damit in profilierter, nahe­zu axiomatisch klingender Form das Moment des "Verfah­rens" (combination) angesprochen, dem schon die russischen Formalisten, deren Kreis Jakobson entstammt, ihre Auf­merksamkeit gewidmet hatten: die poetische Funktion be­steht darin, so will er, anders formuliert, sagen, daß die Zuordnungen von der Ebene der mitteilungsbezogenen Aus­wahl im Bereich der lexikalischen und syntagmatischen Mög­lichkeiten auf die paradigmatische Ebene des Verfahrens verlagert wird. Damaso Alonso hatte in seinem erwähnten Werk, 1951 also, die Saussuresehe Unterscheidung zwischen "signifiant" und "signifie", nach Erweiterung durch den Begriff der partiellen "signifiants" und partiellen 11signifies" für eine erst zu entwickelnde Literaturwissenschaft nützlich gemacht, war sich aber dabei stets der Grenzen bewußt ge­wesen, die solch einer Formalisierung gesetzt sind, war sich klar darüber geblieben, daß beim Knüpfen solcher Maschen eines terminologischen Netzes nur zu leicht der zu fangende Fisch das Weite sucht47 ;daher hatten auch seine Interpreta­tionen diese Maschen zumeist weit hinter sich zurückgelassen, hatte in ihnen, bei aller methodischen Wachheit, jene Hai-

sind, wesentlich näher kommen kann. 44 Das unternimmt Roger Dragonetti in seiner im übrigen sehr

verdienstvollen Studie La technique poetique des trouveres dans la chanson courtoise, Bruges 1960.

45 Langue et techniques poetiques a l'epoque romane, S. 4 f. und 123 ff.

46 Style in language, ed. Sebeck, New York 1960, S. 358. 47 Das Bild benutzt Darnase Alonso in Poes[a espafiola, S. 399.

Der Strukturalismus 203

tung von Takt und Einfühlungsvermögen dominiert, die in anderer Akzentuierung auch ein Ortega y Gasset im Sinne hatte, wenn er betonte, daß sich eine Dichtung nicht mit Ge­walt nehmen lasse, daß man sie vielmehr kontemplativ um­werben müsse. Zu den sechziger Jahren hin aber macht sich mehr und mehr das Fehlen dieser Einsicht in die Eigenart literarischer Wirklichkeit bemerkbar, kommt, mit der Pro­pagierung des Strukturalismus, die Hoffnung auf, die Ma­schen linguistischer Modelle, wie sie de Saussure, Hjelmslev und Jakobson entwickelt hatten, noch enger knüpfen zu müssen, um dann in ihnen mit Sicherheit den begehrten Fisch literaturwissenschaftlicher Erkenntnis zu fangen. Es liegt mir ·fern, diese Initiativen ablehnen zu wollen. Sie können ganz erheblich dazu beitragen, überindividuelle Aspekte der Literatur zu erarbeiten, können uns beispiels­weise wertvollen Aufschluß geben über die grundsätzliche Funktionsweise der Sprache im Werk. Ihnen kommt daher, wie schon angedeutet, große Verantwortung zu als Grund­lagenforschung. Hier können neue Wege der Textinterpre­tation entscheidend vorbereitet, kann vor allem die Unsicher­heit über das, wovon wir eigentlich sprechen, bis zu einem gewissen Grade behoben werden. Aber dieser Weg führt nicht unmittelbar zum individuellen Werk. Das was das Werk in sich ist, läßt sich nur in beweglichen Maschen fan­gen, über ein Netz von Begriffen, das locker genug ist, um der inneren Triebkraft dieses Fangs, der Einfühlung, ihren Spielraum zu lassen, beweglich genug, um der Beweglichkeit seines Gegenstandes folgen zu können.

Der Strukturalismus (einleitende Definition)

Man sollte also gleichermaßen Bedeutung und Begrenztheit des Strukturalismus sehen, um ihm gerecht zu werden, hier­zu aber zunächst einmal feststellen, was dieser Strukturalis­mus überhaupt ist, denn von Struktur sprechen viele For­scher, ohne Strukturalisten zu sein, und das hat zu einer nicht unerheblichen Unschärfe dieses Begriffes geführt48• Wenn

48 Diese Unschärfe hat Günther Schiwy in seinem orientieren­den Buch Der französische Strukturalismus, Reinbek bei

204 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

beispielsweise Hugo Friedrich von "Struktur der modernen Lyrik" spricht, so möchte er doch - und zwar mit Recht -keineswegs als Strukturalist angesehen werden, und Ana­loges gilt für viele andere. Was den Strukturalisten definiert, ist zweierlei, einmal die sachliche Ausrichtung auf das Zei­chen, insbesondere das "signifiant", sodann die Auffassung, daß diese Zeichen "Strukturen" darstellen und als solche er­kannt werden können, wobei Struktur besagt: ein selbstge­regeltes Transformationssystem, dem als System Gesetze eignen49 •

Hieraus erklärt sich die Neigung des Strukturalismus zur Semiotik (der Lehre von der Bedeutung des Zeichens) einer­seits und zu Fragen der Sprache und der Poetik andererseits, im übrigen aber auch die Offnung gegenüber anderen Dis­ziplinen, die es mit dem Zeichen zu tun haben, wie der Ethnologie. Wegen der Bindung an einen zeichenhaft gege­benen Untersuchungsgegenstand ist der Strukturalismus auch ganz besonders eng mit der Linguistik verwachsen, hat er

Harnburg 1969, nicht beheben können, da sein sehr weiter Begriff Strukturalismus die ganze N ouvelle Critique mit umschließt. Hugo Friedrich seinersei~s (Strukturalismus und Struktur in literaturwissenschaftlicher Hinsicht, in Europäische Aufklärung, München 1967, S. 77-86, auch bei Schiwy, S. 219 ff. abgedruckt) trennt nicht zwischen Strukturalismus und statistisch-empirischen Methoden, die keineswegs struktu­ralistisch zu sein brauchen. - Zum Strukturalismus vgl. wei­terhin den überblick von M. Bierwisch, Kursbuch 5, 1966, S. 77-152, La Pensee n° 135, oct. 1967, Qu'est-ce que le structuralisme? Paris 1968, ]. Piaget, Le structuralisme, Paris 1968 sowie D. Wunderlich, Terminologie des Strukturbegriffs, in Literaturwissenschaft und Linguistik, Il, 2, S. 343-57.

49 Jean Piaget, der in seinem Bändchen Le structuralisme die Frage der Relevanz für die Literaturwissenschaft unberührt läßt, definiert Struktur zutreffend: " [ ... ] une structure est un systeme de transformations, qui comporte des lois en tant que systeme (par opposition aux proprietes des elements) et qui se conserve ou s'enrichit par le jeu m&me de ses transfor­mations, sans que celles-ci aboutissent en dehors de ses fron­tieres ou fasse [ nt] appel a des elements exterieurs. En un mot, une structure comprend ainsi les trois caracteres de totalite, de transformations et d'autoreglage." (S. 6/7)

50 In Les Lettres franraises, n° 1159, dec 1966, S. 98 f.

Der reine Strukturalismus 205

hier seine Wurzeln. Hieraus erklärt sich sodann die Neigung des Strukturalisten zur Erstellung eines weitgehend von sei­ner empirischen Basis abgelösten oder doch ablösbaren Be­griffssystem, das den Wert einer in sich funktionierenden theoretischen Erkenntnis hat. Nach der aufgeführten Defini­tion wird es auch nicht mehr überraschen, wenn Claude Levi-Strauss sich von der praktischen Seite der Nouvelle Critique, die sich in subjektiver Interpretation des Werkes annimmt, entschieden distanziert, während er ihren theore­tischen Aspekt, wie ihn etwa Roland Barthes und andere Vertreter der Gruppe Tel Quel repräsentieren, als dem Strukturalismus verwandt anerkennt50 • Mag das Wort Struk­tur noch so oft in Werken von Lucien Goldmann, Jean­Pierre Richard und anderen begegnen, sie sind strenggenom­men nicht Strukturalisten, weil sie ihren Gegenstand nicht als selbstgeregeltes Transformationssystem sehen und es ih­nen schon gar nicht um als Theorie ablösbare Einsichten geht, sondern um den Fall eines individuellen Autors, der freilich bei Goldmann im Zusammenhang des Anspruchs ge­sehen wird, die Literatur aus der Homologie zu gesell­schaftlichen Gruppen bzw. marktwirtschaftliehen Verhält­nissen zu erklären.

Der reine Strukturalismus

Als reinen Strukturalismus wollen wir nämlich denjenigen bezeichnen, bei dem die Ablösung des Systems von der em­pirischen Wirklichkeit so vollkommen gelingt, daß dieses als theoretische Erkenntnis abgelöste System, seine "Simplicity", seine Stimmigkeit und die ihm herrschenden Transforma­tionsgesetze, den Vorrang erhalten vor der Empirie, letztere dem System gegenüber nur noch falsifizierende oder verifi­zierende Funktion ausübt. Es ist dies der Strukturalismus, der sich maßgeblich vom russischen Formalismus ableitet, aber we­nigstens ebenso mächtige Impulse vom Ethnologen Claude Uvi-Strauß erhielt (der in Harvard mit dem ehemaligen For­malisten und Schüler der Prager Phonologenschule, Roman Jakobson, als Kollege zusammentraf und in dessen Vorle­sungen die Entdeckung der methodischen Verwandtschaft machte). Sind Claude Uvi-Strauss und Roman Jakobson

206 Grundorientierung auf iiberindividuelle Aspekte

zu betrachten, so hat er in Roland Barthes und Gerard Ge­nette weitere Vertreter, deren Tätigkeit sich jedoch nicht auf diesen reinen Strukturalismus festlegen läßt. Er ist aber auch etwa in einem Werk wie Jean Cohens Structure du Langage poetique anzutreffen. So entdeckt Claude Levi­Strauss als Ethnologe im System des Austausches von Zei­chen, welches nach ihm das soziale Leben ist, den Tausch als fundamentale Struktur aller Verwandtschaftssysteme ( Les structures elementaires de la parente, Paris 1949), erweist er

. in La pensee sauvage (1962) das unzivilisierte Denken so­genannt primitiver Völker als von der unbewußten Logik des menschlichen Geistes regiert, während er in Mythologi­ques (Le cru et le cuit, 1964; Du miel aux cendres, 1966) nach Kompositionsmodellen der Mythen sucht. Roman Ja­kobson seinerseits als Linguist und Vertreter einer linguisti­schen Poetik sondert zunächst alles, was mit "critique litte­raire" zu tun hat, entschieden von den objektiven "etudes litteraires" ab. Dann entwickelt er, auf Karl Bühler auf­bauend, eine Theorie des linguistischen "message", die auch für die "etudes litteraires" grundlegend sein soll. Er unter­scheidet hier sechs Faktoren:

Destinateur . Contexte

. Message Contact Code.

Diesen ordnet er folgende Funktionen zu: Referentielle

Destinataire

Emotive . . Poetique Conative Phatique Metalinguistique.

Gewiß mag sich mancher fragen, was mit diesen Begriffs­modellen für die Literaturwissenschaft gewonnen sei. Tat­sächlich werden wohl nur wenige literaturwissenschaftlich Interessierte selbst in dieser Richtung tätig werden wollen, die eine ausgesprochen linguistische Prägung hat. Und doch dürfen diese Anstrengungen, das sprachliche Phänomen der Poesie in den Griff zu bekommen, keinem Literaturwissen­schaftler gleichgültig sein. Hier ergibt sich, um nur ein paar Punkte anzuführen, bei weiterer Differenzierung die Mög-

Der empirische Strukturalismus 207

lichkeit, nicht nur die Poesie, sondern auch die schöne Lite­ratur und die Literatur schlechthin auf dem Hintergrund der Sprache in ihrer jeweiligen Funktion und Eigenwirk­lichkeit klarer zu erkennen, könnte beispielsweise im Sinne unserer Ausführungen von Bd. I, S. 40 ff der Grad der refe­rentiellen (oder denotativen, sich auf die Sache beziehenden) und der konativen (den Empfänger der Kommunikation betreffenden) Funktionen gegenüber der spezifisch poeti­schen abgewogen werden; außerdem ruft dieses Modell dem mit Poesie Beschäftigten nützlicherweise ins Gedächtnis, daß er es im Grunde eben doch auch in der Poesie mit einer nur schwergewichtsmäßig verlagerten, nämlich interiorisierten Kommunikation zu tun hat (ebda., S. 37 ff), eine Einsicht, die ihn davor bewahren könnte, wieder einer idealistischen Spe­kulation von einer absoluten Poesie und auch Literatur zu verfallen ( ebda., S. 106 ff); aus Weiterentwicklung und Über­tragung dieses Modells auf die Betrachtung von Literatur wären schließlich auch neue Impulse zu gewinnen für die Hermeneutik und ihre Absicherung durch Feststellungsakte.

Das gleiche gilt auch für die strukturalistischen Initiativen eines Roland Barthes, weniger für die rein methodelogisch anregenden semiologischen Versuche von Mythologies (1957) und Systeme de la mode (1967), in denen er Systeme auf­sucht, nach denen zeitgenössische "Mythen des Alltags" ge­bildet werden, als für seine verstreuten Stellungnahmen zum sprachlichen Phänomen der Literatur51 ; es gilt für To­dorovs allerdings hie und da widersprüchliche Bemühungen um eine "Pothique"52, für seine, Claude Bremonds und Ro-

Der empirische Strukturalismus

Im übrigen liegt es in der Sache, daß dieser Strukturalismus, um über die allgemeine Theorie hinaus literaturwissenschaft­lieh wirksam zu werden, sich mit empirischen Analysen ver-

51 Vgl. Teil I, Kap. 1, Anm. 13, 14, 35. 52 Am klarsten dargelegt in "Poetique", Qu'est-ce que le struc­

turalisme?, S. 99-165. Ziel dieser "Poetique" ist eine "science du discours", eine exakte Erfassung der Literarität der Lite­ratur. Vgl. jetzt auch J. Dubois u. a., Rhetorique generale,

208 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

land Barthes Ausführungen zur Struktur des "recit"53, es gibt weiterhin für die Semantique structurale (Paris 1966) von A. J. Greimas54 und nicht zuletzt für Gerard Genettes Figures. binden und diesen mehr Bedeutung einräumen muß als die einer Verifikation oder Falsifikation. Solange hierbei die Ablösung als Transformationssystem, für das die Regel des "autoreglage" gilt, weiterhin als bis zu einem gewissen Grade verwirklichtes Ziel erkennbar bleibt, wollen wir daher von empirischem Strukturalismus sprechen, so sehr diese beiden Begriffe auch von Natur aus antinomisch sein mögen. Wäh­rend der reine Strukturalismus - soweit er die Literatur­wissenschaft tangiert- sein Hauptanwendungsgebiet auf dem Sektor der Dichtungssprache hat, betätigt sich dieser empiri­sche Strukturalismus vornehmlich auf dem Gebiet der Gat­tungen. Joseph Bediers Les Fabliaux (vgl. Bd. I, 118 ff) kann als einer der Ahnen dieser Richtung angesehen werden, in­sofern er die Struktur des fabliau formalisierte, V. Propp, E. Souriau und T. Todorov sind ihre bekanntesten Ver­treter.

V. Propp (Morphology of the Folk-tale, Indiana Univer­sity 1958, russische Erstausgabe 1928)55 ging von einem ge-

Paris 1970, die Beiträge von Samuel R. Levin (1965), Sol Sa­porta (1960) und Klaus Baumgärtner (1969) in Literaturwis­senschaft und Linguistik li, 2 sowie E. Coseriu in Beiträge zur Textlinguistik.

53 Bremond in Le message narratif, Comm. 4, 1964 und La lo­gique des possibles narratifs, Comm. 8, 1966, wo er Propps Analyse (vgl. weiter unten) zu systematisieren versucht in einer "science du recit". Er unterscheidet im "recit", den er als von der Erzähltechnik isolierbaren Zeichenverband auffaßt, Funk­tionen und elementare Sequenzen, die ihrerseits komplexere Strukturen bilden im Verband eines "cycle narratif"; Barthes in lntroduction a l'analyse structurale des n!cits, Comm. 8, 1966; Todorov in Les categories du recit litteraire, Comm. 8, 1966 und Les ttansformations narratives, Poetique 3, 1970; vgl. auch T. Todorov, Poetique de la prose, Paris 1971.

54 Deutsche Übersetzung Strukturale Grammatik, Braunschweig 1971.

55 In französischer Übersetzung, Morphologie du conte, erschie­nen in der Reihe Points, Editions du Seuil 1965 et 1970.

Der empirische Strukturalismus 209

schlosseneu Corpus von Texten, eben den russischen Volks­märchen, aus, ermittelte dort in einem ersten methodischen Gang Aktanten, d. h. stehende Kategorien (invariants), un­ter denen Handlungspersonen subsumiert werden können und konnte in einem zweiten Gang das russische Volksmär­chen als eine Erzählung mit sieben Aktanten definieren, die da sind: 1 ° the villain; 2 ° the donor (provider); 3 ° the helper; 4° the sought-for person (and her father); S0 the dispatcher; 6° the hero; 7° the false hero. In einem weite­ren Schritt war es ihm dann gelungen, die ihrerseits nach "Handlungsbereichen" den Aktanten zugeordneten Funk­tionen in ein festes Schema von einunddreißig immer wie­derkehrenden Funktionen zu überführen (absence, prohibi­tion, violation etc.). E. Souriau sodann (in Les deux cent mille situations dramatiques, Paris 19SO), sicher von Propp unabhängig, glaubt das Drama über die Zahl von sechs Ak­tanten (die er "fonctions dramatiques" nennt) definieren zu können: 1° Lion (la Force thematique orientee); 2° Soleil (le Representant du Bien souhaite, 'de la valeur orientante); 3 ° Terre (l'Obtenteur virtuel de ce Bien, celui pour lequel travaille le Lion); 4° Mars (l'Opposant); S0 Balance (l'Ar­bitre, attributeur du Bien); 6 ° Lune (la Rescousse, redouble­ment d'une des forces precedentes) 56• Hatte aber Souriau schon zwischen der Zahl sechs und sieben geschwankt, so er­höht Guy Michaud mit guten Gründen die Zahl der Ak­tanten auf sieben, indem er noch den "trahre" anfügt (L' CEuvre et ses techniques, Paris 19S7). A. J. Greimas seiner­seits (Semantique structurale, Paris 1966), der den reinen Strukturalismus (namentlich Jakobson, Hjelmslev, Bröndal) mit der empirischen Linie verbindet, entwickelt, hierauf auf­bauend, eine ,,theorie actantielle", in der er die rein nume­rische Charakteristik der Aktanten in syntaktische und se­mantische Kategorien zu überführen versucht. Tzvetan To­dorov schließlich unternimmt in drei jüngeren Studien ( Lit­terature et signification, Paris 1967, Grammaire du Deca­meron, The Hague-Paris 1969, lntroduction a la Litterature

56 Nach A. J. Greimas, S. 176.

210 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

fantastique, Paris 1970)57 ungleich gewichtige Versuche zur weiteren Formalisierung und theoretischen Erkenntnis lite­rarischer Strukturen. In Grammaire du Decameron versucht er anhand eines geschlossenen Corpus von Novellen, derje­nigen des Decamerone, die Struktur der Novelle zu forma­lisieren, ihr den ihr zukommenden Platz in einer "allge­meinen" auch die Literatur umspannenden "Grammatik" anzuweisen. Er versteht dieses Unterfangen als Teil der auch von Jakobsen angesprochenen "etudes litteraires", des­sen, was er selbst auch "Poetique" nennt (vgl. Anm. 52). Es geht ihm um die Aufdeckung der Gesetze, die das System der jeweiligen Gattung regieren. Diese Gesetze will Todorov auf dem Weg der Abstraktion erreichen (Nous nous sommes efforce, tout au long de ce travail, d'arriver au niveau d'abstraction le plus eleve, de viser, par consequent, la struc­ture du recit en general et non celle d'un livre; S. 10). Er sieht sich dabei als Fortsetzer der Reihe: russische Formali­sten, V. Propp, E. Souriau, Cl. Bremond und A. J. Greimas. Die Ergebnisse, zu denen er gelangt, und die sich in zwei Thesen zusammenfassen lassen, stehen allerdings in keinem Verhältnis zum Aufwand: die syntaktische Struktur der No­velle sei die von Frage und Antwort (oder auch "desir" und "modification": "la premiere partie expose un certain etat des choses, alors que la seconde en donne une transforma­tion"; S. 76 ), die semantische Struktur hingegen sei die eines "echange fausse"5s. Ernster zu nehmen ist hingegen Litter.a-

57 Eine Besprechung von Introduction a la Iitterature fantastique unterbleibt hier, einmal, weil mir das Werk spät ·zur Kennt­nis kam, sodann, weil es in grundsätzliche Fragen der litera­rischen Gattungen hineinführt, die ich in anderem Zusammen­hang behandeln möchte.

58 Da erweist sich Hans-Jörg Neuschäfers Studie Boccaccio und der Beginn der Novelle (München 1969), die der historisch strukturellen Einmaligkeit dieser Novellen gewidmet ist, doch als wesentlich ergiebiger, wenn auch auf der anderen Seite der Haken der unausweichlichen Subjektivität spürbar wird, sich der eine oder andere in mehr als einem Fall fragen wird, ob hier der Frührenaissancecharakter nicht gegenüber dem Exem­plarischen des Mittelalters zu stark betont werde.

Der empirische Strukturalismus 211

ture et signification59, ein Buch, in dem Todorov sich wie­derum ausdrücklich zu einer "science" bekennt, deren Ge­genstand nicht die Beschreibung von literarischen Werken sei, sondern die Untersuchung der allgemeinen Bedingungen, die solche Werke ermöglichen.

Immerhin wählt aber Todorov auch diesmal den Weg über die Empirie. Er geht dabei von Choderlos de Laclos' Liai­sons dangereuses aus, die ihm als Corpus von Briefen die empirische Basis bieten für eine Überprüfung des Jakobson­scben Modells (vgl. S. 50) und den Versuch einer "science de Ia pochique". Drei hauptsächliche Anliegen sind es, die ihn dabei bewegen: eine Analyse des "aspect litteral", eine Untersuchung des "aspect referentiel" (d. i. in diesem Falle des "recit") insbesondere und eine der Literarität im allge­meinen. Zur ersten Frage stellt Todorov zunächst fest, daß der "Iangage figure" ein ",angage opaque" sei und als sol­cher die "presence des mots" durchsetze (eine nach den rus­sischen Formalisten nicht allzu bewegende Erkenntnis), wäh­rend die Frage, was nun mit dem "aspect litteral" des lite­rarischen Werkes sei, der ja nicht einfach mit "Iangage fi­gure" gleichzusetzen ist, offen bleibt60• Hinsichtlich des "aspect referentiel" unternimmt Todorov, im Anschluß an Cl. Bremond, der den "recit" als "enchainement ou em­boitement de micro-recits", als Wiederholung von "micro­recits" mit fixem Kompositionsrhythmus, definiert hatte61,

59 Das Gleiche gilt für Introduction a la Iitterature fantastique (vgl. auch Anm. 57).

60 Widersprüchlich werden die Ausführungen am Schluß, als To­dorov "Iangage litteraire" und "Iangage figure", grundsätzlich zu Recht, trennt, und er vom "Iangage litteraire" ausführt, er setze "Ia presence des choses" durch (S. 117), wo es· doch, nach Todorov, die Eigenart der Literatur ist, "d'instaurer une realite qui n'a aucune autre existence" (S. 22).

61 Cl. Bremond, Le message narratif, Communications 4, 1964.­Von anderer Seite her, in Unkenntnis des Versuchs von Bre­mond, erfolgte meine Initiative in Aus der Werkstatt des Ro­mans, Stuttgart 1969, die zur vergleichbaren, wenn auch ganz anders gearteten, Erkenntnis arithmetischer Aufbauformen führte.

212 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

einen - bei allen Bedenken, die man haben mag und To­dorov selbst auch sieht (S. 57) - interessanten und bedeut­samen Formalisierungsversuch. Mit Hilfe von drei "predi­cats de base" (desirer, communiquer, participer) und zwei "regles de derivation" (regle d'opposition und regle du pas­sif) gelingt es ihm, ein Schema der "douze rapports" des ihm vorliegenden "recit" aufzustellen und dann weiter zu formalisieren:

Valmont Tourvel se Merteuil essaye Valmont rejette laisse de faire obstacle !es conseils de

desire plaire admirer au premier desir Merteuil

Valmont Tourvellui Volanges essa ye Tourvel rejette eherehe a accorde sa de faire obstacle a !es conseils de seduire sympathie Ia sympathie Volanges

Valmont Tourvel

Valmont Ia Tourvel rejette declare son

resiste poursuit

l'amour amour obstinement

Valmont Tourvellui Valmont rejette eherehe de Tourvel s'enfuit

' accorde devant l'amour en apparence

nouveau a l'amour seduire

son amour

L'amour est realise

Was sodann das dritte Anliegen des Buches, die Analyse der Literarität im allgemeinen, anbetrifft, so geht Todorov von der Frage aus, was am "message poetique", im Falle der Liaisons dangereuses und dann allgemein, "signifiant" sei. Er glaubt in diesem Zusammenhang gegenüber J akobson, der mehr die "parole dite", das gesprochene Wort vor Au­gen hatte, feststellen zu müssen, daß im Falle des literari­schen Textes über die "fonction referentielle" (die Funktion des Bezeichnens) hinaus auch im "aspect litteral" der auf sich selbst verweise," und im "c8te evenementiel" Bedeutung gegeben sei (von "evenement", gemeint ist die "Seite", mit der die Umstände des Aussageprozesses in Erscheinung tre­ten, also beispielsweise der "aspect materiel": der Brief ist mit Tränen bedeckt). Unentschieden bleibt allerdings die

Der empirische Strukturalismus 213

Frage, wie sich diese mit Vorbehalten zutreffenden Beobach­tungen zum Jakobsansehen Modell verhalten. Es wäre näm­lich durchaus zu erwägen, ob nicht im "c8te evenementiel", der ja gar nicht als "evenementiel", sondern als Teil des "recit", als "referentiel", begegnet (noch genauer müßte man im Falle des literarischen Textes "auto-referentiel" sagen), ein Schritt der Poetisierung zu sehen ist, dessen Funktion man erst klar wird erfassen können, wenn man bedenkt, daß in einem literarischen Text die bei der "parole dite" nach außen gerichteten, transitiven Funktionen nach innen g·ewendet sind (vgl. auch Skizze S. 189). Und Analoges gilt erst recht für den "aspect litteral". Todorov sagt mit Recht, daß in einem Text "emetteur" ( = destinateur), "recepteur" ( = destinataire), "contexte" und "contact" anders begeg­nen als im Falle der "parole dite", aber dieses "anders" bleibt unspezifiziert. Todorov schreibt zwar, "dans le texte ecrit c'est par une presence particulierement sensible que se manifeste leur absence «reelle»" S. 21), aber Klarheit über diese "presence particulierement sensible" erhalten wir nicht. Weiterführen kann hier, wie gesagt, die Erkenntnis, daß der literarische Text als ganzer interiorisiert ist, daß ihm der modus potentialis eignet, daß hier, im Bild gesprochen, die Antennen eingezogen sind, "emetteur", "contexte" etc. in die mit sich selbst überschichtete und damit die Mehrdimen-

. sionalität eines Eigenraumes kreierende Sprache hineinge­nommen worden sind als potentielle (und d. h. nach innen gekehrte) Funktionen, die je im Leseakt auf unvorherseh­bare Weise zu aktualisieren und zu ergänzen sind. Erst wenn diese Grundbedingung des "fait poetique" mit be­dacht wird, gewinnen auch die zutreffenden Beobachtungen zum "enonce reflexif", zur selbstbezogenen Aussages2, ihr Gewicht (als Selbstzugekehrtheit nämlich), werden die "con­notations des lettres" (die Bedeutung, die abgesehen vom Aussagewert des Briefes diesem auf Grund seines Stellen-

62 Bezeichnenderweise entfällt dagegen der von John Austin (La philosophie analytique, Paris 1962) verdienstvollerweise in die Diskussion gebrachte "enonce performatif", der dazu dient, eine Handlung durchzusetzen (etwa: "ich taufe dich") und den man in Butors berühmten "vous" von La M odifi­cation erkennen könnte.

214 Gmndorientierung auf überindividuelle Aspekte

wertes auf der Ebene des Briefaustausches zukommt), in ih­rer Funktion einsichtig und objektivierbar. Ja nicht zuletzt kann man dann auch der Integration der "signification de l'existence globale du Iivre au reseau d'axes significatifs, SOUs-jacent a l'histoire raconte dans Les Liaisons dange­reuses" (S. 47), der Tatsache also, daß die Liaisons dange­reuses als Werk von einer dem Werk selbst immanenten Ini­tiative abhängig gemacht werden, ihren Platz in der semio­tischen Struktur, deren Grundprinzip der Oberfaltung mit sich selbst hier noch einmal abnmdend deutlich wird, an­weisen.

Ob allerdings diese komplexe Struktur sich im System darstellen und formalisieren läßt, ob man sich ihr gegenüber nicht mit dem umschreibenden Wort begnügen muß, bleibt abzuwarten. Ein Wort von Jakobson sollte bezüglich dieser Frage nachdenklich stimmen oder doch zur Vorsicht mah­nen: "L'ambiguite est une propriete intrinseque, inalienable, de tout message centre sur lui-meme, bref c'est un corollaire oblige de Ia poesie. Nous repeterons, avec Empson, que les machinations de l'ambigu'ite sont aux racines memes de la poesie"63• Roland Barthes', des Meisters (von Todorov), ein­fühlsame, selbst ein wenig nach innen gekehrte Sprache scheint jedenfalls für den Augenblitk diesem Phänomen ge­genüber noch im VorteilG4 •

Der literarische Strukturalismus

In der Tat sollten wir noch eine dritte Form des für die Li­teraturwissenschaft relevanten Strukturalismus unterscheiden,

63 Essais de linguistique generale, S. 238. 64 Man mag sich fragen, warum ich unter diesen Umständen

den skizzierten Initiativen so viel Raum gewidmet habe. Es schien mir aber wichtig, diese wenn auch in ihren Erfolgs­aussichten noch nicht abgeklärten Versuche wenigstens para­digmatisch zu erfassen.

Der literarische Strukturalismus 215

eine Form65, die im Grunde, wie der reine und bis zu einem gewissen Grade auch der empirische Strukturalismus, den Vater der Methode, Claude Levi-Strauss, nicht verleugnen kann: seine Tristes tropiques (Paris 1955) wurden mit Recht auch als ein literarisches Ereignis gewertet. Diese dritte Form, das, was ich literarischen Strukturalismus nennen möchte, liegt vor, wenn der Strukturalismus sich nicht in der "fonction scientifique" von "etudes litteraires" (J akobson) erschöpft, sondern selbst zu einem "message" wird "qui tend partiellement a se resorber en spectacle", um es mit Roland Barthes zu sagen, wenn er selbst in die Dimension der Li­teratur, des zu analysierenden Objektes vorstößt66 • Es wird kaum Zweifel geben, daß diese auch bei anderen Struktu­ralisten vorhandene, im Grunde mit dem Schreiben selbst verbundene Tendenz bei Roland Barthes in hohem Maße ausgeprägt ist, sie ein konstituierendes Merkmal etwa von Le degre zero de l'ecriture (Paris 1953) darstellt - und das gleiche gilt, wenn auch nicht in solch ausgeprägtem Maße, von den theoretischen Schriften eines Gerard Genette, eines Jean Ricardou und eines Philippe Saliers. Bei Gerard Ge­nette merkt man es schon an einer gewissen Prädisposition für die "figure"; noch ein Titel wie Figures, der zunächst bezeichnend gemeint scheint, erhält unter seiner Feder eine spezifisch literarische Ambiguität, und mehr noch ein Titel wie "Vertige fixe". Von Roland Barthes ließen sich im glei­chen Sinne zentrale Begriffe wie "degre zero" und "ecriture" zitieren, aber auch etwa eine beliebige Stelle, wie die fol­gende aus Le degre zero de l'ecriture (S. 32):

65 Man könnte im übrigen weiter untergliedern, und zwar nach der konkreten Ausrichtung, die der Strukturalismus nimmt, sei es, daß er die Ursachen aufspürt (der genetische Struk­turalismus, von dem Lucien Goldmann wohl spricht) oder über mehrere synchronische Querschnitte die Veränderungen im System ermittelt (diachronischer Strukturalismus) etc.

66 Dazu auch Gerard Genette, Structuralisme et critique litte­raire; das Barthes-Zitat daselbst, S. 146.

216 Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte

Ce qui oppose l'ecriture a Ia parole, c'est que Ia premiere parah toujours symbolique, introversee, tournee ostensiblement du c&te d'un versant secret du Iangage, tandis que Ia seconde n'est qu'une duree de signes vides dont le mouvement seul est significatif. Toute Ia parole se tient dans cette usure des mots, dans cette ecume toujours emporteeplus loin [ .... ]

Das ist eine bildhafte, rhythmisierte, introvertierte Spra­che, auf die Barthes' Definition der Literatursprache als "sy­steme d'information cm1teux" Anwendung finden kann. Die kostbaren Erkenntnisse zur Seinsweise der Literatur, die Le degre zero de l'ecriture enthält, wären nicht denkbar ohne diese ihrerseits literarische Sprache, wenn die Litera­rität auch andererseits manche Unschärfe mit sich bringt, z. B. die der fehlenden klaren Abgrenzung des Begriffs "ecri­ture" von "style". Barthes stellt dort fest, daß die Sprache (la langue) als Vorgegebenheit eines grammatikalischen Sy­stems diesseits der Literatur, der Stil fast jenseits liege, in biologische Gründe zurückreiche, während die "ecriture", das Kernphänomen der Literatur, den Schriftsteller an die Gesellschaft und an die Geschichte binde, einen "acte de so­lidarite historique" darstelle, die "ecriture", die im "choix general d'un ton, d'un ethos, si l'on veut" (S. 23) bestehe. Er sagt weiterhin zu den "ecritures", vor deren Individuali­tät ihm die "communaute d'epoque et de langue" "peu de chose" erscheint (S. 25), daß sie geschlossen (cl8ture), nicht Mittel einer Mitteilung seien, daß die "ecriture" · im Gegen­satz zur "parole", die sich verzehrt, zu charakterisieren sei als "un langage durci qui vit sur lui-m~me" (S. 31). Man könnte diese beiden Aussagen, die zum "caractere de cl8-ture" und die zum "acte de solidarite historique", den die gleiche "ecriture" darstellen soll, für widersprüchlich halten, wenn nicht Roland Barthes bei anderen Gelegenheiten deut­lich gemacht hätte, was er meint, im Vorwort zu Sur Racine (Paris 1960) zum Beispiel. Barthes führt dort aus, daß die Literatur "a la fois sens pose et sens des:u" sei, daß eine der höchsten Tugenden der Literatur in der "disponibilite" liege. Die Literatur gebe nicht einen Sinn, sondern sie erschüttere nur den Sinn, stelle in Frage und enthalte sich sozusagen im letzten Augenblick der Antwort:

Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte 217

Ecrire, c'est ebranler le sens du monde, y disposer une interro­gation indirecte, a laquelle l't\crivain, par un dernier suspens, s'abstient de n\pondre.

Hierin liegt also die Auflösung des vermeintlichen Wider­spruchs zwischen "engagement" und "cl8ture": die Literatur (die schöne Literatur müßte man gerrauer sagen) nimmt Stellung, stellt die Frage nach dem Sinn des Jeweiligen, sie setzt auch zur Antwort an, aber sie bleibt letztlich in der Frage, bleibt, wie wir es im ersten Teil der Untersuchung genannt haben, status transcendendi, schließt sich als solcher zum Werk oder Text und wird vielfältiger möglicher Sinn, den jeder von uns neu aus ihr zu entwickeln hat: "La re­ponse, c'est chacun de nous qui la donne, y apportant son histoire, son Iangage, sa liberte [ ... ] ". Gerade weil die schöne Literatur geschlossen ist, gerade weil sie im letzten Augenblick "die Brücken des Sinns" hochgezogen hat, gilt "qu'elle designe vraiment un sens tremble, et non un sens ferme" 67 • Das schreibt Roland Barthes in einem Werk, das 1960 erschien, und in dem sich Strukturalismus und Frage nach dem Sinn etwa die Waage halten, mit einem leichten Obergewicht ersterer Tendenz. Gerard Genette hat also wohl recht, wenn er (im zitierten Aufsatz) denen gegenüber, die dem späteren Barthes vorwerfen, er klammere die Frage nach dem Sinn aus, festhält, Barthes sei sich nicht untreu geworden; wenn es auch andererseits kaum zu übersehen ist, daß der Barthes, der durch die semiologische Schule von Mythologies gegangen ist, entschiedener zum empirischen Strukturalismus neigt.

67 Vgl. auch die verwandte Position des New Criticism (I, 157 ff).

218 Vom literarischen zum empirischen Strukturalismus

Vom literarischen zum empirischen Strukturalismus

Sur Racine gibt diese Tendenz schon klar zu erkennen. Im ersten, für unseren Zusammenhang besonders wichtigen Teil, L'Homme racinien, nimmt Barthes eine situationeile Struk­turanalyse des Racineschen Theaters vor. In Analogie zu Souriau wählt er hierzu den im Umgang mit dramatischer Dichtung ohnedies naheliegenden Begriff der "situation" als Ausgangsbasis, die in die Termini "figure" und "fonction" aufgegliedert wird: "figure" ist das, was die "fonction" aus dem "acteur" macht: il s'agit [ ... ] de figures qui n~~oivent leurs differences, non de leur etat civil, mais de leur place dans la configuration generale qui les tient enfermes." (S. 21). Barthes geht in der Liebe zu diesem System so weit zu sagen: "ce ne sont pas les sexes qui font le conflit, c'est le conflit qui definit les sexes." (S. 26). Für sich gesehen kann man einen solchen Satz freilich kaum in dieser Form anneh­men, wie denn auch Raymond Picard in seinem Pamphlet N ouvelle critique ou no1welle imposture (Paris 1965) heftig gegen dieses Racine-Bild und vor allem gegen die im drit­ten, mit der Critique beschäftigten Teil erhobene Forderung "Amputer la litterature de l'individu!" (S. 156) protestierte. Der apodiktisch strenge, mit der Literarität der Bartheseherr Sprache und ihrer Pose zusammenhängende Ton von Fest­stellungen und Forderungen wie den oben genannten, die Raymond Picard allzu ernst nahm, deren de~ Autor selbst wohl bewußte, eben strukturalistische Eingleisigkeit er nicht sah, konnte und mußte zu solch einer Reaktion führen, die den durchaus möglichen, ja naheliegenden Dialog verhin­derte. Was Roland Barthes zur "geographie" der Racine­schen Bühne sagt, in der er "Chambre" (den Ort des Schwei­gens), "Anti-Chambre" (den Ort der Sprache und damit den Ort der Tragödie) und "Exterieur" (das Draußen von Tod, Flucht und Handeln) unterscheidet; was Barthes zur "tribu d'une einquantairre de personnages tragiques qui ha­bitent la tragedie racinienne" ausgeführt und zu den "tech­niques d'aggression", die zwischen ihnen herrschen, Picard hätte es vielleicht in weniger herausfordernder Form ange­nommen; diese Herausforderung liegt in einer keineswegs unvermeidlichen strukturalistischen Manier und in der Li-

Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte 219

terarität Bartheseher Sprache begründet. Man spürt eben hier doch einen Systemzwang, der der Individualität des einzelnen Textes und der einzelnen "figure" nicht gerecht wird. Wohl kann man dagegen halten, daß dies auch nicht beabsichtigt sei, es hier um System gehe und nicht um Indi­vidualität, aber - und darin liegt ein berechtigter Vor­wurf - diese Einsicht in die Grenzen des Verfahrens, die im Obergang zur individuellen Ausführung liegt, wird nicht mitgeliefert. Der Anthropologie des Homo racinia­nus, die im Ansatz Nähe zu Levi-Strauss verrät, in der Sprache der Analysen das Vorbild Charles Maurons zu erkennen gibt, folgt zwar eine kurze Durchleuchtung der einzelnen Tragödien, aber diese läuft - nach struktura­listischem Muster - mehr auf eine Verifikation des Sy­stems am jeweiligen Objekt hinaus als auf einen neuen, die Individualität anvisierenden Ansatz. Man vermißt da­her umsomehr das Bekenntnis zu dieser Abstraktion und zur damit verbundenen Einseitigkeit der Perspektive. Was Barthes persönlich anbetrifft, so kann für ihn bis zu einem gewissen Grade die Entschuldigung gelten, daß er mit Rück­sicht auf die Literarität solch ein methodisches Bekenntnis nicht bringen kann (es würde in der Tat, selbst in seinen von hoher literarischer Qualität zeugenden Vorwörtern, stören), während es Tzvetan Todorov wohl ansteht, man hier sogar den Eindruck gewinnen könnte, daß die unermüdlich die ei­gene Position umschreibenden theoretischen Äußerungen selbst eine Art von Literarität verrieten. Die selbst zu Lite­ratur werdende Literaturwissenschaft und Kritik bietet also, wie wir sehen, auch ihre Probleme ...

Immerhin kann man feststellen, daß in Sur Racine Bar­thes dem empirischen Strukturalismus einen guten Schritt näherrückt, mag auch sein literarischer Stil mitwandern (ist dieser Stil vielleicht, in Anwendung der Theorie von Le de­gre zero de l'ecriture, biologisch?) Auch die Essais critiques (1964) zeigen diesen fortschreitenden Wandel deutlich an, hebt doch nun Barthes als Ziel des "critique" heraus, die Regeln und Zwänge, nach denen Sinn entsteht, die Technik der Bedeutung zu erarbeiten, das System," "tout comme le linguiste n'a pas a dechiffrer le sens d'une phrase, mais a etablir Ia structure formelle qui permet a ce sens d'&tre

220 Vom literarischen zum empirischen Strukturalismus

transmis" (S. 257); von S/Z schließlich (1970) wird flach die Rede sein.

Fassen wir zusammen. Forschungen zu überindividuellen Aspekten der Literatur können im Zusammenhang des werk­transzendierenden <Paradigmas> große Bedeutung gewinnen, bergen aber auch die nicht zu unterschätzende Gefahr des methodischen Irrwegs. Da sie per definitionem, als auf über­individuelle Aspekte bezogen, werkfliehend sind, kann man von ihnen nicht erwarten, daß- sie als solche zur Individuali­tät des Werks hinführen. Bleibt man sich dessen bewußt, so kann die einschlägige Forschung jedoch ganz erheblich zum Fortschritt der Literaturwissenschaft beitragen. Die Termi­nologie der Rhetorik kann helfen, Teile des Werks auf über­individueller Basis in einsichtige Begriffe zu überführen, den Weg zu kontrollierbaren Feststellungsakten zu ebnen. Sta­tistik und Formalisierung können das ihre dazutragen, den Kreis der für die Wissenschaftlichkeit so dringend notwen­digen Feststellungsakte enger um den Bereich des literari­schen Mythos zu legen. Poetik und Literaturtheorie sowie sonstige Untersuchungen zu Aufbau und Struktur verspre­chen uns Aufschluß über unseren Gegenstand, vermögen un­ser Forschen auf ihre Weise auf dem sicheren Boden der Feststellungsakte zu verankern, so daß von dieser Basis aus Erkenntnis und Ausdeutung der Werkindividualität mit neuen Impulsen und - was im Augenblick wichtig zu sein scheint - mit erneutem Selbstvertrauen betrieben werden können. Was schließlich die Forschung zu Motiven, Themen, Stoff, Mythen und Sujets anbetrifft, so kann sie, vor allem wenn die Unterscheidung der verschiedenen Verwendungs­reihen ihrer Begriffe bewußt gehalten wird, sei es als lite­rarhistorische oder geistesgeschichtliche, sei es als hermeneu­tisch erhellende Forschung nützliche Dienste leisten. Beson­ders erfolgversprechend scheint hierbei eine konsequente Öffnung zur Motivforschung hin, die auf Grund ihres Ge­genstandes eine Schlü"sselposition innehält.

2. METIIODEN MIT DER GRUNDORIENTIERUNG AUF DAS WERK

Von der Iangue zur parole poetique (zur Stilistik)

Die Beurteilungsgrundlage jeglicher Literaturbetrachtung ist das geschriebene Wort. Dieses steht daher schon aus sachli­chen Gründen auf der Schwelle zwischen der Orientierung auf das Allgemeine und der auf das Besondere der Litera­tur, auf das individuelle Werk hin, welches parole litteraire bzw. parole pohique ist. Hier trennen sich sozusagen die Geister, nehmen die Wege ihren Ausgang und trennen sie sich. Haben wir im voraufgehenden einige Ansätze behan­delt, die von dieser Ausgangsbasis ins Allgemeine, in die Iangue, in das semiotische System, in die Norm zurückfüh­ren, so wollen wir nunmehr den umgekehrten Weg einschla­gen, der von der Sprache als wirksamer und individueller parole litteraire dem Werk zuführt, wollen aber zuvor noch einen Augenblick bei jener Disziplin verweilen, die kom­petent ist für den beweglichen Grenzbereich, den man in beiden Richtungen verlassen kann, bei der Stilistik. Sie ist in der Tat zuständig für den Übergang von der Iangue zur parole litteraire, mag sie dabei auch, wie Roland Barthes in seiner Abgrenzung des Phänomens Stil zeigt, nicht mehr verantwortlich sein für die Individualität der "ecriture". Sie ist aber umgekehrt auch zuständig für den Weg von der parole litteraire zur Iangue, dann nämlich, wenn diese pa-

Zur Bedeutung der Stilistik für eine Literaturwissenschaft im strengen Sinn des Wortes vgl. auch Damaso Alonso, Poesia espaiiola, S. 401 ff. - Im übrigen müßte dieser Grenzbereich der Literaturwissenschaft, wenn er einigermaßen erschöpfend behandelt werden sollte, in einer eigenen Studie erörtert wer-

222 Von der langue zur parole p6etique

roLe Symptom für einen neuen Querschnitt von Langue wird. Sie steht so zwischen Linguistik und Literaturwissenschafl:l, überlappt, wie das Beispiel Spitzers so schön zeigt, hierin auch dem Strukturalismus verwandt, den Unterschied zwi­schen diesen beiden Disziplinen. Sie ist, wenn sie den Weg zur paroLe Litteraire einschlägt, die Disziplin, dank deren der spracl].liche Ausdruck analysiert wird, der das literarische Werk, welches ein "satzmäßig getragenes Bedeutungsgefüge" ist (G. Müller), konstituiert2•

Dies kann, entsprechend den methodischen Grundorientie­rungen, die wir unterschieden haben, in dreifacher Hinsicht geschehen. Der sprachliche Ausdruck kann, 1., deduktiv ana­lysiert werden vor dem Hintergrund der Langue, deren System er abwandelt; er kann, 2., analysiert werden im Hin­blick auf die Funktion, die den in ihm freiwerdenden kon­notativen und evokativen Kräften in der Struktur des Wer­kes zukommt, er kann, 3., induktiv über das Werk hinaus untersucht werden, indem die Frage geht nach dem epocha­len, aus den Werken vergleichend zu erschließenden Stil3

oder von hier aus als vergleichende Schau verschiedener synchronischer Schnitte eine diachronische Sicht angestrebt wird4•

den, und zwar fügliehst von einem Linguisten mit literatur­wissenschaftlichen Neigungen. Vgl. einstweilen Literaturwis­senschaft und Linguistik: Ergebnisse und Perspektiven, hg. von J. Ihwe, Bad Hornburg v. d. H. 1971.

2 Günther Müller hat dabei (Über die Seinsweise von Dichtung) nur die "parole pochique", die Dichtung, im Sinn. Doch ist seine Definition im Grunde sehr weit, schließt sie auch Lite­ratur im engeren, ja noch im weiteren Sinne mit ein.

3 Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik wäre hier u. a. zu erwähnen.

4 Das ändert nichts an der von St. Ullmann mit Recht getrof­fenen Feststellung: "Stylistics as a study of expressiveness is primarily a descriptive discipline. It is concerned with lin­guistic values, not with historical development" (Style in the French Novel, Oxford 1964, S. 20); wie denn auch Ullmann selbst durchaus den Vergleich von "cross-sections" vorsieht (S. 23).

Grundorientierung auf das Werk 223

anderzuhalten, wenn sie sich auch in der Praxis ergänzen, beispielsweise die zweite, werkbezogene Form der Unter­suchung nicht ohne den Horizont der Normen, vor dem sich der Stil abhebt, auskommt. Was sodann das Verfahren der Stilistik anbetriffi:, so ist ihr Anliegen, das Zustande­kommen der Aussagehaftigkeit bzw. der Aussage von Litera­tur in der Sprache zu konkretisieren, in die Kontrolle zu nehmen5• Die sogenannten Differenzqualitäten zur Alltags­sprache6, das Prinzip der Polyvalenz, die evokativen Werte7

und das Prinzip der Auswahl8 (unter mehreren sich bieten­den sprachlichen Möglichkeiten) stehen dabei im Vorder­grund; Laut, Wort und Satz sind die Grundeinheiten, an denen die Analyse ansetzt, Phonetik bzw. Phonologie9, Se­mantik bzw. Semiotik und Syntax die linguistischen Sach-

5 Vgl. neben dem erwähnten Style in the French Novel auch The Image in the Modern French Novel, Oxford 1960.

6 Dazu S. J. Schmidt, Alltagssprache und Gedichtsprache. 7 Die schon Bally hervorhob (vgl. G. Devoto, Studi di stili­

stica, Firenze 1950, S. 23 ff sowie ders., lntroduction a la stylistique, Melanges Marouzeau, 1948, S. 125 ff).

8 Einen nützlichen ersten überblick findet man in der erwähn­ten "Introduction" von Devoto sowie in der .Introduction" zum zitierten Style in the French Novel. Ausführliche Dis­kussion bei St. Ullmann, Language and Style, Oxford 1966. Annähernde bibliographische Vollständigkeit zur Sache findet sich in H. Hatzfeld, A Critical Bibliography of the New Stylistics applied to the Romance Languages, 1900-1952 Chapel Hill, 1953 und 1953-1965, Chapel Hill, 1966. Eine kurze Einführung in die verschiedenen Richtungen der Sti­listik gibt P. Guiraud, La Stylistique, Paris 1954.

9 Hier wäre insbesondere die Phonoästhetik zu nennen, die sich in jüngster Zeit auf die Streitfrage zugespitzt hat, ob Klang­werte der Sprache, der Gedichtsprache vor allem, eigene Ex­pressivität haben, als Phoneme ein "significante" sein können oder lediglich die Stützung semantischer Expressivität zu be­treiben vermögen. Dazu zuletzt G. Siebenmann (Sobre la musicalidad de la palabra poetica, Rf, XX, 1969, S. 304ff; dort auch weitere Literatur), der anhand einiger in dieser Hinsicht besonders ergiebiger Gedichte Ruhen Dados nach­weist, daß die· "phonetische Form" gegenüber der konzeptua-

. len Expressivität führend werden kann, ohne freilich deswe­gen von der semiotischen Struktur unabhängig zu werden.

224 Von der Iangue zur parole p6etique

bereiche, aus deren Rahmen sie sich mit der Frage nach der jeweiligen "fonction poetique" erhebtto.

Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Studie alle oder auch nur die hauptsächlichen Initiativen zu besprechen, die auf diesem weiten und fruchtbaren Feld der Forschung11,

dessen Geltungsbereich nicht festliegt12, erfolgt sind. Wenn, um nur ein Beispiel aus der ins überindividuelle

der parole pohique reichenden Stilistik anzuführen, in jüng­ster Zeit die Metapher, insbesondere die "kühne Metapher", wieder viel von sich reden gemacht hat, wenn Harald Wein­rich (Dvjs 1963) herausfindet, daß Metaphern "Analogien stiften, Korrespondenzen schaffen und demiurgische Werk­zeuge sind"13, dann wird hier die "kühne Metapher" als ein Mittel der Selbstzuordnung der Sprache erkannt, aus der mythische Aussagekraft hervorgeht. Diese "kühne Meta­pher" hebt den operativen Mitteilungscharakter auf und schaff!: auf Grund der "Übertragung" (metaphora), die in

10 Das tritt mit paradigmatischer Schärfe bei Jean Cohen (Struc­ture du Iangage pohique, Paris 1966) hervor, der zwischen "niveau phonique", "niveau semantique" und "!'ordre des mots" unterscheidet und daran das Kapitel "la fonction poeti­que" anschließt.

11 Vgl. für die letzten Jahre romanistischer Stilforschung in Deutschland R. Klescevski, German Research on Style in the Romance Languages and Literatures, Style, Fayetteville/Ar­kansas, 111, 1969, S. 102ff. sowie H. Hatzfelds Bibliographie zur Zeitspanne 1953-1965.

12 R. Klescevski (siehe voraufgehende Anm.) berichtet, daß man ihn gefragt habe, was eigentlich von der Literaturwissenschaft nicht auch Stilistik sei. - Die Grenze wird man aber im übri­gen wohl im Sinne des weiter oben Ausgeführten ziehen kön­nen: Stilistik liegt vor, solange nicht die individuelle Zu­ordnung auf das Werk nach der einen, oder das System der Iangue nach der anderen Seite hin Gegenstand der Untersu­chung wird. Daß im übrigen erst recht nicht Stilistik vorliegt, wenn die Frage über die Literatur hinausgreift, ist selbstver­ständlich.

13 Semantik der kühnen Metapher; DVjs 37, 1963, S. 324ff. Be­sprechenswert wäre sicher auch H. Weinrichs Tempus-Buch (Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1964); hier gilt jedoch das in Anm. 1 dieses Kap. Gesagte. Zur Me-

Grundorientierung auf das Werk 225

ihr liegt, eine semantische Spannung, eine innersprachliche Konstruktion, die den Leser umsomehr auf die Sprache selbst und die in ihr gestifl:eten Spannungen verweist, als es er­schwert wird, die Übertragung auf der Ebene des realen Bezugs nachzuvollziehen14• Mit solchen Überlegungen und Erkenntnissen zur Aussagehafl:igkeit der Literatur aber wird dem Literaturwissenschaftler entscheidend geholfen, sich über Prämissen seines Forschens klar zu werden. Und wenn, um auch nur ein Beispiel aus der ins Besondere der parole litte­raire reichenden Stilistik anzuführen, Stephen Ullmann in Style in the French Novel anhand von Werken wie H. de Balzac, Splendeurs et miseres des courtisanes, G. Flaubert, Education sentimentale I und II, A. Gide, Les Faux-Mon­nayeurs, F. Mauriac, Therese Desqueyroux, J.-P. Sartre, La mort dans l'dme und anderen die poetische Funktion von )ocal colour", "reported speech", "sentence-structure", "word-order" und "image" nachgeht, er so einen Querschnitt durch die Grundmöglichkeiten der Stilforschung gibt; wenn er an breitem Material die Synästhesie in Proust's "imagery" untersucht, er dabei ausschließlich beschreibend verfährt und im Schlußsatz lediglich eine kleine Öffnung vornimmt, in­dem er zu den "transpositions" vermerkt: "they provided him with a virtually inexhaustible fund of analogies through which his vision of the universe could be expressed"1s, dann bedeutet dieses methodisch kluge Sichbescheiden nicht, daß von hier kein Weg weiterführe. Vielmehr läge es sogar

tapherdiskussion neben dem erwähnten Aufsatz von H. Wein­rich auch der Bericht über eine Diskussion in Poetica, Bd. 2, 1968, S. 1 OOf. sowie aus den zwanziger Jahren Hermann Pongs, Das Bild in der Dichtung, 2 Bde, ein Werk, das nicht von ungefähr in den sechziger Jahren (Marburg 1960-63) eine Neuauflage erlebte.

14 Vgl. auch S. 189 f. - Mallarme meint wohl dieses Aufheben des sachlichen Meinens und das damit verbundene Hineinver­lagern in einen Eigenraum, wenn er zur Metapher sagt: "Tout le mystere est ra: etablir les identites sewhes par un deux ii deux qui ronge et use les objets, au nom d'une centrale purete" (Zitiert nach St. Ullmann, The Nature of lmagery, in ders.: Language and Style, Oxford 1966, S. 174).

15 Style in the French Novel, S. 209.

226 Einige Methoden der Werkinterpretation

- abgesehen von dem, was sich ein Leo Spitzer hier ein­fallen ließe - sehr nahe, von hier aus den Sprung in die geistesgeschichtliche Situation zu tun- in der Synästhesie, die, seit Baudelaire im Vormarsch, gegen Ende des 19. Jhdts. besonders augenfällig hervortritt (Huysmans, Roinard etc.)16

eine Manifestation der Wende nach Innen, bei Proust des Schauens von Innen her und der damit gegebenen Möglich­keit der synästhetischen Verschmelzung im Bewußtsein zu sehen; und was die Möglichkeit anbetrifft, diesen Rückzug ins Ich soziologisch zu deuten, so wären hier sicher andere kaum verlegen ...

Von der Stilistik zur Werkinterpretation (Stil und Zuordnung)

Die Stilistik ist, wie St. Ullmann betont, beschreibend, und zwar hält sie sich dabei auf der Ebene der in der Sprache freigesetzten "expressiveness". Sie kann sich von da aus in einem zweiten Schritt der Analyse der Zuordnungen im Werk zuwenden, kann untersuchen, wie stilistische "expressi­veness" eingesetzt wird zum Aufbau einer neuen Ordnung aus der Sprache, mit anderen Worten, sie kann, so wie es schon Leo Spitzer vollzogen hat, zur Werkinterpretation führen. Die Intuition wird dabei immer eine große Rolle spielen, doch ist die Frage, ob man dem zündenden Einfall solch entscheidende Bedeutung einräumen sollte, wie es Spitzer vorsieht. Vielmehr läge es wohl im Interesse von Kontrollierbarkeit und Wissenschaftlichkeit, wenn statt des einen zündenden Gedankens, von dem aus dann der Brük­kenschlag zur Komposition erfolgen soll, dem Werk und seiner "expressiveness" länger die Initiative überlassen würde, sich hier der Blick für die Wahrnehmung von Schlüs­selmotiven und überhaupt für jede Art von "spürbarer"

16 Zum Ganzen auch Ludwig Schrader, Sinne und Sinnesver-. knüpfungen. Studien und Materialien zur Vorgeschichte der

Synästhesie und zur Bewertung der Sinne in der italienischen, spanischen und französischen Literatur, Heidelberg 1969. Sehrader beschränkt sich allerdings weitgehend auf die Vor­geschichte der Erscheinung.

Grundorientierung auf das Werk 227

Korrespondenz schulte, das Gewebe des Werks in Augen­schein genommen würde, um dann zu überprüfen, wie dieses Gewebe den Rahmen der Komposition, die makrokosmische Struktur, füllt17• Die von Lämmert, Stanzel, W. Kayser, E. Staiger und G. Müller erarbeiteten Gesichtspunkte - unter ihnen vor allem die Frage nach Zeit, Raum und Vermitt­lung - könnten dabei sinnvoll Anwendung finden. (Sinn­voll heißt in dem Fall auch, daß man den vorgeschlagenen Termini gegenüber kritisch bleibt, hier ähnliche Vorsicht walten läßt wie im Umgang mit rhetorischer Terminologie.) Die Werkinterpretation könnte hier in die werktranszen­dierende Fragestellung, sei sie nun historischer, geistesge­schichtlicher oder soziologischer Art, einmünden18• Es könnte auf diese Weise sicher sogar manche festgefahrene Frage gelöst werden, wie z. B. die des Ursprungs abendländischer Lyrik. Hier kann man bei einer die Werke solcherart von innen her mit ihren Zuordnungen und Aufbauformen er­fassenden Analyse feststellen, daß bei Wilhelm von Aqui­tanien die eigentliche Liebeslyrik sich schrittweise aus "rhe­torischer Lyrik" entwickelt, so daß die von außen heran­getragenen Erklärungsversuche, die arabische These bei­spielsweise, zwar nicht gegenstandslos doch sekundär wer­den, wir die Lyrik der Troubadours (ähnlich wie es Erich

17 Vgl. etwa meine Interpretation zu Dans le Iabyrinthe (Der französische Roman im 20. ]hdt, S. 145 ff) sowie zu La Nausee (ebda., S. 102ff). Im übrigen ist zu bedenken, daß die makrokosmische Struktur eine weitgehend überindividuelle Form ist, die nur mittelbar Aussage wird (vergleichbar dem Laut auf der untersten Ebene des Werks). Höchst bezeich­nend ist es daher, daß man in den makrokosmischen Strukturen von Romanen auf arithmetische Aufbauformen stoßen kann (vgl. mein Essay Aus der Werkstatt des Romans, dessen Ma­terial ich inzwischen um wenigstens das Dreifache erhöhen könnte, obschon ich andererseits heute nicht mehr von Gesetz, sondern von Gesetzmäßigkeit sprechen würde). - Für die Ly­rik vgl. Bernard Weinbergs vorzügliche Analysen in The Li­mits of Symbolism, etwa die des Cimetiere marin, die, von einer Metapher ausgehend, das ganze Gedicht aufschlüsselt (S. 322 ff).

18 Vgl. etwa Peter Bürgers Studien zur französischen Frühauf­klärung, Frankfurt am Main 1972.

228 Von der Stilistik zur Werkinterpretation

Köhler als Literatursoziologe tut) auf der kontemporanen gesellschaftlichen Ebene zu fassen bekommen 19.

Adorno warnt einmal unmißverständlich, indem er sagt: "Nichts, was nicht in den Werken, in ihrer eigenen Gestalt ist, legitimiert die Entscheidung darüber, was ihr Gehalt, das Gedichtete selber, gesellschaftlich vorstellt"20• Die über die Literatur hinaus fragenden Methoden, und insbesondere die literatursoziologische, setzen also die Interpretation der Werkgegebenheiten, setzen sozusagen die reife Werkimma­nenz voraus, sie leben von ihr. Die Gefahr der interpreta­torischen Verarmung und die eines anachronistischen, in Biographismus und Positivismus zurückfallenden Begreifens der Literatur von außen her sind hier eminent groß und naheliegend21• Die Applikation von Adornos Deutung der Lyrik als Hinausgehen "übers falsche Bewußtsein", als implizierten "Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt"22, setzt die Fähigkeit voraus, die der Lyrik eigene Weise des Protestes textgetreu lesen zu können, mit anderen Worten, sie kommt an der Werkinterpretation nicht vorbei.

19 Näheres in meinem Aufsatz L'unite de la composltlon dans les chansons de Guillaume IX, VI" Congres international de Langue et Litterature d'oc et d'etudes franco-provent;ales, RLR 1971, s. 417 f.

20 Rede über Ly""x-ik und Gesellschaft, Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main 1958, S. 73-104; jetzt in Norbert Fügen (Hrsg.), Wege der Literatursoziologie, Neuwied a. Rhein und Berlin 1968, S. 212ff. Zitat ebda., S. 214.

21 Die Gefahr der interpretatorischen Verarmung wird so recht bewußt, wenn man neben der von Roman Jakobson und Claude Levi-Strauss durchgeführten Interpretation von Baudelaires Les Chats Lucien Goldmanns literatursoziologische Anmer­kungen zur Sache liest (vgl. alternative 71, April1970, S. 70ff.).

22 S. 214 ff; die Berührung mit meinen Ausführungen des er­sten Teils (S. 49 ff) ist hier groß. "Kunstwerke jedoch haben ihre Größe einzig darin, daß sie sprechen lassen, was die Ideplogie verbirgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen s1e es wollen oder nicht, übers falsche Bewußtsein hinaus".

Grundorientierung auf das Werk 229

Einige Methoden der Werkinterpretation

Für diese Werkinterpretation werden im Hinblick auf kleine, überschaubare Gattungen, für Lyrik und Novelle insbeson­dere, verschiedene Methoden angeboten, die man cum grano salis in drei Gruppen einteilen könnte, in eine ger­manistische, eine romanistische und eine synthetische. Die germanistische Gruppe, in der Namen wie Emil Staiger, Hugo Kuhn, und Heinz Otto Burger aufscheinen, ist im Großen und Ganzen gekennzeichnet durch das interpreta­torische Ansetzen an Sinn und Eindruck. Die romanistische Gruppe, die Namen wie Spitzer, Damaso Alonso, Bousofio, Weinberg und Hugo Friedrich umfaßt, setzt hingegen vorzugsweise am sprachlich-stilistischen Ausdruck an, wobei allerdings Hugo Friedrich Aufweichungen zur "germanisti­schen" Gruppe hin zeigt, während die synthetische Gruppe sozusagen zwischen den Fronten anzusiedeln ist, Wolfgang Kayser beispielsweise, insofern er, dem Geist nach sicher Germanist, mit seiner Betonung der formalen Seite zur ro­manistischen Auffassung hin tendiert, Clemens Heselhaus, schon weil er an Dantes Selbstauslegung und die Lehre vom mehrfachen Textsinn anknüpft, bei ihm die Struktur eine gewichtige Rolle spielt, dem gegenüber aber auch die Sinn­frage nicht zu kurz kommt.

Da ist zunächst einmal das, was man die ganzheitlich-sub­jektive Interpretationsmethode nennen könnte, vertreten von Emil Staiger und Hugo Kuhn. Sie geht vom subjektiven Eindruck des Werkganzen, vom Ganzen, wie man es nach Lektüre im Gefühl hat, aus und schreitet dann zur Verifi­kation dieses Gesamteindrucks vor. Emil Staiger, der diese Methode (der ich aus methodischen und didaktischen Erwä­gungen heraus einen Namen gegeben habe) in seinem Auf­satz "Die Kunst der Interpretation" dargelegt hat, ordnet dabei die Verifikation, das Blicken auf die Ausführung im Detail, diesem ganzheitlichen Eindruck dienend zu: "In der Vorerkenntnis des ersten Gefühls und in dem Nachweis, daß es stimmt, erfüllt sich der hermeneutische Zirkel der Interpretation"23, "bin ich auf dem rechten Weg, hat mein

23 Neophilologus 35, 1951, S. 1-15; jetzt in Die Werkinter-pretation, Wege der Forschung XXXVI, S. 146ff.

230 Einige Methoden der Werkinterpretation

Gefühl mich nicht getäuscht, so wird mir bei jedem Schritt, den ich tue, das Glück der Zustimmung zuteil. Dann fügt sich alles von selber zusammen. Von allen Seiten ruft es: Ja! Jeder Wahrnehmung winkt eine andere zu. Jeder Zug, der sichtbar wird, bestätigt, was ber.eits erkannt ist. Die Inter­pretation ist evident. Auf solcher Evidenz beruht die Wahr­heit unserer Wissenschaft." (S. 155) Jeder, der sozusagen von Berufs wegen interpretiert, weiß, daß die Beschreibung des Glücksgefühls, die Emil Staiger da gibt, nicht an der Sache vorbeigeht, aber auf der anderen Seite wird man bei einer solchen Unterordnung der Verifikation unter das Ge­fühl kaum stehenbleiben können, wenn man zu einer wis­senschaftlich befriedigenden Lösung des Problems kommen will. Einen Satz wie "Das Kriterium des Gefühls wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein" (S. 150) kann man so nicht unterschreiben. Emil Staiger schlägt die Bedeutung der von seinem Gefühl grundsätzlich, wenn auch im konkreten Fall oft nicht, unabhängigen Verifikation zu gering an: er beachtet nicht die methodelogische Bedeutsam­keit des Umstandes, daß der Text mein Gefühl auch im Stich lassen, er es ent-täuschen kann. Das wissenschaftliche Kriterium für die Evidenz liegt also in einem Feststellungs­akt, der das Gefühl ganz offenkundig transzendiert, es von außen, durch das Ausbleiben der erwünschten Antwort, zerbrechen lassen kann als unberechtigt und nicht haltbar. Im Text und nicht im Gefühl, mag dies auch unumgänglich mitbeteiligt sein, entscheidet sich die Verifikation, aber ge­gebenenfalls auch die Falsifikation. Die Möglichkeiten einer solchen Falsifikation bleiben hier ungenutzt, ganz abgesehen davon, daß die Ausrichtung auf das Glücksgefühl des Ge­lingens die Gefahr mit sich bringt, daß der Interpret, eben weil er nur auf dem Stimmen aufbauen kann, den Text nur zu gern zurri Stimmen bringt, er um dieses Gefühles willen den Akt der Verifikation verfälscht.

Hugo Kuhn, ein weiterer Repräsentant dieser ganzheit­lich-subjektiven Methode, der im übrigen aber auch andere Seiten zeigt24, räumt daher mit Recht dem zweiten methodi-

24 In "Versuch über schlechte Gedichte" z. B. (Text und Theorie, Stuttgart 1969, S. 104ff., zuerst erschienen in Konkrete Ver-

Grundorientierung auf das Werk 231

sehen Schritt, dem der Verifikation, größere Befugnis im Rahmen der Interpretation ein. Er bezeichnet ihn als eine Art "Rechenschaft" und "Distanzierung vom ersten Ein­druck", nach der in einem dritten Schritt in 11einem neuen und richtigen Eindruck" die Synthese zu folgen habe24". Die Rechenschaft soll dabei die drei Bestandteile, "die in jedem Gedicht zusammengefügt sind", Sprache, Welt und Kunst, berücksichtigen (S. 83). Letztlich bleibt allerdings auch hier die Rechenschaft dem Gefühl immanent; es wird ihr ledig­lich die Möglichkeit eingeräumt, Korrekturen in seinem Be­reich vorzunehmen, es zu vertiefen und aus der Beobachtung heraus zu erneuern25,

Wiederum einen Schritt weiter geht Wolfgang Kayser in dem, was man die form-analytische Interpretationsmethode nennen könnte. Für ihn, der in der Tradition von Oskar Walzel steht, aber dabei wesentlich mehr und vorbehalt­loser die tatsächliche Gestalt des Werkes sieht, treten Gestalt und Form als "sinnhafte Formen" in den Vordergrund der Betrachtung: "Interpretation ist die auf Verstehen beruhende Erfassung und Vermittlung des eine Sinn- bzw. Funktions­einheit bildenden Formkomplexes"26. Im übrigen hat aber nach Wolfgang Kayser die Interpretation nicht vom sprach­lichen Detail zum Ganzen vorzustoßen, sondern sie "bewegt sich in dem steten Schwingen vom Teil zum Ganzen und Ganzen zum Teil". (S. 46) Das Bewußtsein, nicht Gefühl, des Ganzen ist also stets mitbeteiligt, doch ist die Verifika­tion ihm gegenüber autonom. Zwar wird auch hier nach Stimmigkeit gefragt, aber Kayser sieht auch den Fall der Unstimmigkeit und damit das Problem der Wertung. Er

nunfi, Festsduifl: für Erim Rothacker, Bonn 1958), wo Hugo Kuhn diese Methode als vom Standpunkt des literarischen Wertes aus unzureimend erkennt.

24a In "Interpretationslehre" a.a.O. 25 Zum Ganzen aum die berechtigte Kritik von Erwin Leib­

fried, Kritische Wissenschaft vom Text, Stuttgart 1970, S. 195 ff. Indes vermißt man in dieser über weite Strecken nur Kritik übenden, aum bisweilen im Ton remt oppositionellen Arbeit das Aufweisen eines Weges.

26 Wolfgang Kayser, Literarische Wertung und Interpretation, in Die Vortragsreise, Bern 1958, S. 39ff; Zitat ebda., S. 45.

232 Einige Methoden der Werkinterpretation

betont in diesem Zusammenhang mit Recht, daß eine sol­che Unstimmigkeit nicht ohne weiteres mit geringerem Wert gleichzusetzen sei. Vielmehr werde man überlegen müssen, ob diese "Brüchigkeiten nicht als Elemente in einem größe­ren Funktionszusammenhang besonderen Sinn haben"; eine Überlegung, die bei Kayser noch dadurch besonderes Ge­wicht erhält, als er die Auffassung vertritt, "daß unter den einstimmigen Werken die ranghöher sind, deren Einheit aus mächtigeren Spannungen zusammengefügt ist" (S. 47); eine Regel, die freilich nicht absolute Gültigkeit hat.

Die kombinierte, strukturanalytische und interpretatori­sche Methode sodann, wie sie Clemens Heselhaus entwickelt hat27, unterscheidet scharf zwischen Interpretation und Strukturanalyse, zwischen Auslegung und Erkenntnis, für deren getrennte methodische Schritte Heselhaus je einen mittelalterlichen Prototyp namhaft macht, der, in moderne ästhetische Terminologie übertragen, seiner Ansicht nach heute noch sinnvolle Anwendung finden könnte. Für die Interpretationsmethode greift er dabei auf die Lehre vom vierfachen Textsinn zurück und deutet diese von einem theologischen in ein ästhetisches Interpretationsschema um. Während der erste, der wörtliche Sinn, auch hier als Aus­gangsbasis gelten kann, tritt für den zweiten, den allegori­schen Sinn nunmehr der Bild-Sinn ein, für den dritten, den moralischen, der Zeit-Sinn oder der historische Sinn, wäh­rend an die Stelle des anagogischen Sinns der Symbol-Sinn rückt. Für die Strukturanalyse sodann greift Heselhaus auf den sogenannten accessus zurück, wie er etwa in Üantes Brief an Can Grande28 mit dem Schema subiectum, agens, forma, finis, libri titulus und genus philosophiae (Gegen­stand, Verfasser, Form, Zweck, Titel und philosophische Zuordnung) begegnet und schlägt vor, entsprechend umzu­deuten und in der Strukturanalyse Objektivationspunkte für die Fragestellung vorzusehen: 1. der Gegenstand (subiectum)

27 In Gestaltprobleme der Dichtung, hrsg. von R. Alewyn, H.-E. Hass, Cl. Heselhaus, Bonn 1957, S. 259 ff.

28 Dessen Authentizität bekanntlich angezweifelt wird, m. E. jedoch zu Unrecht (einige Argumente dazu habe ich in CN XXIV, 1964, S. 39ff. entwickelt).

Grundorientierung auf das Werk 233

und sein Anlaß (agens), 2. die Form (forma) und ihre Ab­sicht (finis), 3. die Gattung (libri titulus) und ihr ästhetischer oder philosophischer Ort (genus philosophiae). Zweifellos haben diese Schemata, die für die Hand des Schülers gedacht sind und ihm helfen sollen, Sinn und Form des Gedichtes nicht völlig zu verfehlen (S. 280), in der Tat einigen heu­ristischen Wert, scheint mir vor allem die Unterscheidung von Auslegung und Erkenntnis29, aber auch die ästhetische Umdeutung der Lehre vom vierfachen Textsinn, vom Stand­ort der Methodenreflexion aus, höchst aufschlußreich. Es mag sich hier die methodologisch wertvolle Einsicht einstellen oder erhärten, daß es auch heute noch verschiedene Ebenen der Interpretation gibt, die man im Prinzip trennen sollte, die man aber auf jeden Fall unterscheiden sollte, die Ein­sicht, daß es eine Form moderner anagogischer Literatur­interpretation ist, wenn wir etwa mit Lukacs den Roman als Unterwegs zur verlorenen Totalität sehen oder ihn - wie ich es in meinem Buch Der französische Roman im 20. Jhdt. unternommen habe - als Ausdruck des mythischen Selbst­verständnisses interpretieren; die Einsicht, daß beispielsweise Heinz-Otto Burger auf seine Weise von der allegorischen zur moralischen Deutung übergeht, wenn er über das Bild zur Sinnbildreihe und damit zur historischen Dimension voranschreitet (vgl. weiter unten).

Blicken wir sodann zu den romanistischen Initiativen hin­über, so können wir uns hinsichtlich der stilistischen Werk­interpretation, wie sie Leo Spitzer und Damaso Alonso ver­tretenao, kurz fassen, war doch von beiden schon die Rede. Zum späten Leo Spitzer, wie er uns in Interpretationen französischer Lyrik entgegentritt, wäre lediglich zu vermer­ken, daß er nicht mehr die streng stilistische, von einer Intuition ihren Ausgang nehmende Werkinterpretation ver­tritt. Hier begegnet uns ein Spitzer, der dem jeweiligen

29 Cl. Heselhaus überspitzt allerdings wohl diese Forderung, wenn er empfiehlt, mit der Ausdeutung erst zu beginnen, "wo das Erkennen auf Schwierigkeiten stößt" (S. 279).

30 Während es Carlos Bousoiio, der diese Linie fortsetzt, mehr um die allgemeine Erkenntnis der "expresi6n poohica", nicht jedoch um eine Methode der Werkinterpretation geht.

234 Einige Methoden der Werkinterpretation

Gedicht in seiner individuellen Gestalt und seinem sprach­historischen Hintergrund liebevoll, philo-logisch, nachgeht, nach der Art der explication franraise alle Hindernisse zum Verständnis ausräumt, ein Spitzer, der daher notwendiger­weise ein wenig eklektisch wirkt, obwohl er das Prinzip der Werkimmanenz weiter verteidigt. Was Damaso Alonso an­betriffi, so wäre über die erwähnte Unterscheidung zwischen "signifiant" ( significante) und "signifie" ( significado ), par­tiellen "signifiants" (wie Laut, Intonation, Tempo, Qualität der Silben) und partiellen "signifies" und eine heuristisch wertvolle Unterscheidung von forma exterior (Beziehung zwischen significante und significado, von ersterem her ge­sehen) und forma interior (dasselbe, von letzterem her ge­sehen) hinaus zur Interpretation selbst noch einiges zu sagen. Diese geht von der "unaussprechlichen Intuition des Ge­samtwerks" aus - die aber im Gegensatz zur ganzheitlich­subjektiven Methode offen bleibt -, um dann zur Reihe partieller Intuitionen voranzuschreiten, in der es keine grö­ßere Freude gibt als die Überraschung, die jede neue "K~m­mer eines Verses" mit ihren Schätzen bereitet (S. 42ff). Die partielle Intuition als Corps der eigentlichen Interpretation, das, was Roman Irrgarden Objektivierung nennt31, gilt dabei vor allem den "relaciones no convencionales entre el signi­ficante y la cosa significada" (S. 49; den ungewöhnlichen Beziehungen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem) sowie den expressiven Mitteln (vinculos expresivos), die das besorgen. Hier liegen die Knotenpunkte der Interpretation.

Seine Interpretation von Auszügen der dritten Ekloge Gareilasos (S. 52 ff) ist ein bekanntes Beispiel für dieses Ver­fahren. Am Anfang steht die Globalintuition der dritten Ekloge als "platonisches Bild der höchsten Schönheit", eine recht offene intuitive Erkenntnis also. Es folgt die sorgsam den sprachlichen Mitteln (significantes parciales und deren Beziehung zum seinerseits ausgefächerten significado, syn­taktische Zuordnung, Rhythmus, Versfolge, rhetorische Figu­ren etc.) und ihrer Tragfähigkeit im Zusammenhang des Gedichtes nachgehende detaillierte Analyse. Am Schluß so-

31 Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968, s. 40 ff.

Grundorientierung auf das Werk 235

dann steht nicht das Glücksgefühl der Stimmigkeit, die sub­jektive Erfüllung des Interpretationsaktes, sondern, als Zei­chen der Sachbezogenheit, die Damaso Alonso auszeichnet, die Erkenntnis der Grenze, die Einsicht, trotz aller gewon­nenen Erkenntnis keine Antwort auf die eigentlich bewe­gende Frage zu wissen, auf diejenige, warum in diesem Au­genblick, nach vierhundert Jahren noch, Gareilasos Stimme den Leser und Interpreten solcherart zu bewegen vermag, das Wissen, sich letztlich doch nur am Rande eines Geheim­nisses bewegt zu haben, sich aber auch sagen zu dürfen, daß in diesem Geheimnis vieles nunmehr verständlicher erscheint.

Analytisch verfährt auch Bernard Weinberg in dem, was man die symbolische Interpretation nennen könnte, insofern sie am Wort als Symbol ansetzt (A Statement of Me­thod). Er unterscheidet zehn Schritte der Interpretation, die sich jedoch auf vier reduzieren lassen: 1. Erarbeitung des literarischen und historischen Backgrounds. 2. Analyse der "structure" ( = 2- 5), 3. Untersuchung der im Gedicht angelegten (internal) und von ihm auf den Leser aus­gehenden (external) "emotion" ( = 6- 9), 4. Frage nach der Beziehung zwischen Struktur und Wirkung und damit als Antwort die Erkenntnis der Einmaligkeit des Gedich­tes.

Die explikative Methode schließlich, wie Hugo Friedrich sie in "Dichtung und die Methoden ihrer Deutung" darlegt, setzt sich das Ziel, das Wißbare des dem Dichter oft selbst nicht ganz einsichtigen Bedeutungspotentials, welches Dich­tung freisetzt, zu wissen. Sie geht hierbei erklärend vor (weshalb ich die Bezeichnung wählte) und mündet, wie Hugo Friedrich wohl bewußt herausfordernd formuliert, in das "verlorene Gut des Genusses" ein: "Wir scheuen uns nicht, die Wissenschaft von der Dichtung eine genießende Wissenschaft zu nennen"32• Die Erklärung im engeren Sinn bezieht sich dabei auf die geschichtlichen Bedingungen des Gedichts (die Umstände der Entstehung, Stoff-, Motiv- und Ideenmaterial, literarische Gattung etc)., beschränkt sich aber auf dasjenige Wissen, das die Dichtung zu Verständnis

32 Dichtung und die Methoden ihrer Deutung, jetzt in Die Werk­interpretation, a. a. 0., S. 294 ff, das Zitat das., S. 299.

236 Einige Methoden der Werkinterpretation

und Genuß erheischt. Die "Strenge des Wissens" sodann beginnt mit dem Blick auf den Punkt, "wo der Text seine Bedingungen und Materialien transformiert": "Diesen Akt zu erkennen, ist aber der Schritt ins Verstehen." Mit ande­ren Worten: das was Friedrich "Strenge des Wissens" nennt, beginnt nicht schon bei der Beschäftigung mit dem Stofflichen der Bedingungen, sondern erst mit der Frage nach dem, was im Werk mit den Voraussetzungen geschieht, also mit der Frage nach dem Spiel der Zuordnungen. Dieses Verstehen nun, das geschichtliches Wissen voraussetzt, schreitet dann synthetisierend weiter "und sucht diejenige Evidenz, wo die Teile eines Werkes einsichtig werden als sinnvolle Glieder eines Ganzen" (S. 298). Hugo Friedrich geht also in dieser Hinsicht, ähnlich wie Staiger und Kuhn, vom apriori der Stimmigkeit aus, der "Notwendigkeit" (Friedrich), die sich im Erklären erweisen muß. Dieser vorausgesetzten Stim­migkeit und dem in ihrer Erkenntnis freizulegenden Genuß des Ganzen (Staiger sprach von Glücksgefühl) bleibt die Er­klärung zugeordnet.

Ahnlieh wie im Falle der ganzheitlich-subjektiven Me­thode, wird man sich daher trotz einzelner sehr feinsinniger Beobachtungen und der Bewunderung, welche die Interpre­tationskunst selbst, die Hugo Friedrich immer wieder zeigt, fordert, hinsichtlich dieser Zuordnung fragen müssen, ob eine solche Interpretationslehre noch als ganze wissenschaftlich überzeugen könne. Ich neige jedenfalls zu der Überzeugung, daß es hier Hugo Friedrich ein wenig wie den von ihm selbst erwähnten Dichtern ergeht, deren Selbstkommentar mit der Aussagekraft der Dichtungen nicht Schritt hält.

Die Frage des Zwecks, die Hugo Friedrich etwas provo­zierend mit aufgenommen hat, und von der man in der Tat bei einer wissenschaftlichen Interpretationslehre nicht absehen kann (Wissenschaft kann nun einmal nicht unabhängig vom Zweck begründet werden, mag sie auch anderswo ihr Schwergewicht haben), wird man wohl dann erst einer wis­senschaftlich vollauf befriedigenden, über das narzißtische Bildungsmoment von Genuß und Glücksgefühl hinausrei­chenden Antwort zuführen können, wenn es gelingt, das Werk zu transzendieren auf Gesellschaft, Zeit oder ontische Strukturen hin, wenn die Interpretation glaubwürdig ein-

Einige Methodeti der Werkinterpretation 237

mündet in einen historisch, ontologisch, soziologisch, anthro­pologisch oder sonstwie im Sinne einer anderen Geisteswis­senschaft relevanten Deutakt. Das heißt nicht, daß die Werkinterpretation sich erübrige; ganz im Gegenteil liegt hier weiterhin das eigentliche der zu leistenden Arbeit.

Werkimmanenz und Werktranszendenz

Das wird ersichtlich aus einem Werk wie Hugo Fried­richs Die Struktur der modernen Lyrik (1956 ), und ist dem, der den Vorzug hatte, wiederholt an praktischer Seminar­arbeit unter Hugo Friedrich teilzunehmen, noch offenkun­diger, daß nämlich hier die Transzendenz des Werks auf epochale Strukturen hin die Analyse des Werks nicht erüb­rigt sondern voraussetzt. Wohl wird man vom Standpunkt der werkimmanenten Interpretation aus mehr als einmal den Eindruck gewinnen, daß dieses werktranszendente Ziel der epochalen Relevanz von Verfahrensweisen und stilisti­schen Techniken die Aufmerksamkeit gegenüber der Indivi­dualität des einzelnen Gedichtes trübe, daß beispielsweise, vor allem im Falle der Valery-Interpretationen, die noch durchscheinende Bildhafl:igkeit eines Vorgangs, kurz das sinnenhafl: Ansprechende des Gedichtes, zu kurz komme, weil das Augenmerk auf bestimmte, im Sinne der Frage­stellung relevante Merkmale gerichtet ist33• Aber diese, sagen wir, Einsinnigkeit des Interpretierens ist in diesem Fall eine methodische Notwendigkeit. Sie meiden zu wollen, hätte die Ökonomie der Untersuchung gefährdet, zu Ausweitungen geführt, die nicht nur die eigentlichen Ergebnisse verstellt sondern sie möglicherweise durch Beimischung unangemesse­ner Deutakte kompromittiert hätte. Das "Eindringen in die künstlerische Individualität der Dichter" (S. 140) mußte hier einem zweiten Schritt vorbehalten bleiben, um sowohl das methodische Vorgehen als auch die Ergebnisse rein zu halten. Der epochale Stil- und Strukturzwang eines synchro­nen Querschnitts (und darum geht es Hugo Friedrich in die-

33 Was im übrigen, wie ich gern eingestehe, auch von meinem Anteil an Helene Harth I Leo Pollmann, Paul Valery, Frank­furt am Main 1972, gilt, insofern ich dort dem Aspekt der

238 . Grundorientierung auf das Werk

sem Fall) ist eben nicht eine Frage der Individualität, son­dern des Durchgehenden, des Typischen (ebda), und zu seiner Erkenntnis vermag auch nicht eine diachronisch­historische Analyse zu führen, die manche hier vermißt ha­ben. Dieser epochale Stil- und Strukturzwang ist die Weise, wie sich die Geschichtlichkeit des epochalen Denkens im Verfahren der Dichtung deklariert; die diachronisch-histo­rische Perspektive könnte daher höchstens eine Kontroll­funktion hinsichtlich der epochalen Relevanz übernehmen, indem sie etwa vergleichend einen zweiten Querschnitt an­setzte. Das wäre ein nützlicher, aber eben doch zweiter Schritt gewesen, der den Vollzug des ersteren, von Hugo Friedrich einzig intendierten, voraussetzte. Das Geheimnis der Strahlkrafl:, die von seinem Werk ausgeht, liegt zu einem Teil in dieser Beschränkung: sie ermöglichte ein ausgewoge­nes Gleichgewicht zwischen Interpretation und Deduktion der Gemeinsamkeit (was bei Mitaufnahme der diachroni­schen Perspektive schwerer erreichbar gewesen wäre). Es liegt sodann in der Tatsache, daß in überzeugender Weise dank der systematisch gewonnenen Transzendenz des Wer­kes bzw. der Werke auf ihr epochal Gemeinsames hin der Durchbruch in jene Geschichtlichkeit geleistet wird, welche die interdisziplinäre Konvertibilität der Ergebnisse, nament­lich zur Kunst und zur Philosophie, aber auch zu anderen Philologien hin, gewährleistet.

Der Durchbruch zur Geschichtlichkeit kann aber darüber­hinaus, wie Heinz Otto Burger aufgezeigt hat, durchaus auch auf diachronischer Ebene erfolgen .. Heinz lOtto Burger geht dabei vom bevorzugten Gegenstand der werkimma­nenten Betrachtung aus, von Dichtung im engeren Sinn; er entwirft eine konjunktivistische lnterpretationslehre, die gewissermaßen über sich hinauswächst. Als ersten Akt dieser Interpretation sieht er das Nacherzählen des Inhaltes, wo­rin er interessanter'weise34 ein Zerstören des ersten Eindrmks sieht: es leitet sich hier das Bewußtwerden der besonderen Form, des Wie ein. Dann setzt die eigentliche Interpretation

Geschichtlichkeit besondere Aufmerksamkeit schenke. 34 Heinz Otto Burger, ·Methodische Probleme der Interpretation,

GRM N. F. 1, 1950/51, S. 81-92; jetzt in Die Werkinter­pretation, a. a. 0., S. 198 ff.

Werkimmanenz und Werktranszendenz 239

ein, die zwar vom Grundsatz ausgeht, "jede Dichtung in erster Linie aus sich heraus zu interpretieren", aber hierzu doch nicht die Hilfe historischer Kenntnisse verschmäht. Sie verfolgt das Ziel, "durch ständigen Wechselbezug von Inhalts- und Formbetrachtung Gehalt und Gestalt des Dicht­werks möglichst klar und rund im Bewußtsein wieder auf­zubauen" (S. 200). Burger sieht nämlich die Kunst als Welt­schöpfung, die es in der Interpretation zu rekonstruieren gilt. Diese Welt ist für ihn eine des Als-ob in der Einbil­dungskraft des Did1ters, weshalb er sie konjunktivisch, also im Modus der Unwirklichkeit stehend nennt. Sie ist aber nicht nur konjunktivisch sondern zugleich konjunktiv (d. h. verknüpfend), insofern nämlich diese imaginäre Welt als Schöpfung durch ein Verknüpfen zustande kommt. Der zweite Akt der Interpretation, die ich konjunktivistisch ge­nannt habe, besteht im Aufweisen dieser "besonderen Kon­junktionen oder Fügungen der poetischen Einbildungskraft, die das Werk über die Sinnes- und Verstandeswelt hinaus­heben, eine neue Welt als Spiegel des ltv ><<Xt 11:iiv schaffen" (S. 202). Unter. diesen Konjunktionen spielen Raum und Zeit als eigene Dimensionen der Dichtung, spielt auch das Symbol eine bedeutende Rolle, aber auch der Gehalt ist nicht unabhängig von ihnen, sondern er ist ihre Funktion: sie bilden miteinander ein Sinngefüge, ein Sinnbild. Und hier nun, in dieser Sinnbildlichkeit, sieht Burger mit Recht die Brücke ins Leben: "Seine eigene, in den Kategorien der anderen nicht unterzubringende Erfahrung, letztlich eine Er­fahrung des unteilbaren Seins aus jeweils besonderer Per­spektive, und sein eigenes Eingeschlossensein, seine Grund­haltung im Leben, mindestens das Ideal, das er davon hat, spricht der Dichter auf diese Weise aus. Die Bedrängnis solcher Erfahrung und die Kraft, sie ins Sinnbild zu bannen, macht ihn zum Dichter" (S. 205). In der Interpretation dieser Sinnbilder, deren "Art von Koppelung oder Fügung am willigsten von der Tiefenschicht des Bewußtseins auf­genommen wird", gipfelt und erfüllt sich diese Methode, aus der Burger die Anregung einer Konjunktionsforschung entwickelt, einer Dichtungsgeschichte in vergleichenden Sinn­bildreihen.

In der Tat scheint mir hier eine bedeutende Möglichkeit

240 Grundorientierung auf das Werk

für eine sinnvolle Erneuerung der Dichtungsgeschichte35 und darüberhinaus der Literaturgeschichte zu liegen, ließe sich so auch der Durchbruch zur interdisziplinären Relevanz er­reichen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß das Ver­hältnis zwischen Als-ob Charakter der Dichtung und ge­schichtlicher Realität des in ihr aufscheinenden Selbstver­ständnisses klar ins Auge gefaßt wird, ganz gleich, ob man nun, wie Burger, von Sinnbild spricht und vornehmlich an Poesie denkt, ob man, wie ich es in Der französische Roman im 20. Jhdt. getan habe, von Mythos spricht und dabei vor­nehmlich den Roman im Auge hat oder sich der Basis der Literatur widmet, dem überwiegend reflektierenden Wort, etwa dem Essay oder dem Traktat. (Wobei, wie früher aus­geführt, die Obergänge zwischen der Basis von Literatur, schöner Literatur und Dichtung fließend sind.) Burger wehrt sich aus seiner Perspektive mit Recht dagegen, das von Wil­helm Dilthey entwids.elte "Dogma, Kunst sei eine Erkennt­nisweise, Dichtung ein eigenes Organ menschlichen Welt­und Selbstverständnisses" in dieser Farm zu akzeptieren, aber sein Begriff des Sinnbildes impliziert eben doch auch die Formulierung eines Sinnes, und wenn er weiter ausführt, daß dieser Sinn "eine Erfahrung des unteilbaren Seins aus jeweils besonderer Perspektive" anbetri:ffi: bzw. darstellt, dann werden wir den Dingen wohl am besten gerecht, wenn wir in der Dichtung eine dichtungsspezifische, sinnbildliche Formulierung des Selbstverständnisses sehen, im Roman eine entsprechende mythische, an dem, was wir die Basis nann­ten, eine im Prinzip logische, die sich jedoch, dank der Offenheit zur schönen Literatur und sogar zur Dichtung, auch der mythischen und sinnbildlichen Aussageweise bedie­nen kann36.

35 H. R. Jauss führt in diesem Sinne anhand von Theophile de Viau, Ode lll, und Baudelaire Le Cygne, einen Vergleich durch (Zur Frage der "Struktureinheit" älterer und moderner Lyrik", GRM N. F. X, 1960, S. 231 ff; jetzt in Zur Lyrik-Diskussion, hrsg. von R. Grimm, Wege der Forschung, Bd. CXI, Darm­stadt 1966).

36 Vgl. Ausführungen von Teil I, Kap. 1.

Die "analyse structurale" 241

\V erkimmanenz und Strukturalismus

Eine merkwürdig komplexe, Mißverständnissen ausge­setzte Stellung nehmen sodann die verschiedenen struktura­listischen Ansätze ein, die auf dem Gebiet der Werkinter­pretation, diese teilweise nur tangierend, vorliegen. Der Strukturalismus hat auf der einen Seite eine gewisse Affini­tät zum Prinzip der Werkimmanenz, fühlt sich beispiels­weise zu Leo Spitzer ebenso hingezogen wie zum New Criticism und zum russischen Formalismus, deren Haupt­merkmal es war, beim formalen Aspekt der Literatur zu bleiben. Gerard Genette geht diesbezüglich sogar soweit zu sagen: "D'une certaine maniere, la notion d'analyse struc­turale peut hre consideree comme un simple equivalent de ce que les Americains nomment close reading et qu'on ap­pellerait en Europe, a l'exemple de Spitzer, etude immanente des reuvres"37. Auf der anderen Seite ist aber die W erkinter­pretation, wie wir am überblick gesehen haben, mit einer gehörigen Hypothek an Sinnfrage belastet, die dieser natür­lichen Neigung entgegensteht (denn dem Strukturalismus ist es nicht um Sinn, sondern nur um Bedeutung zu tun), und hinzu tritt, daß die Interpretation als ein interpretari not­wendigerweise Hinwendung zum Individuellen ist, so daß sich hier zum Strukturalismus eine Antinomie der Ausrich­tung auftut, deren Überbrückung schwer vorstellbar scheint. Diese Antinomie wirkt sich noch nicht aus, wenn man, wie Damaso Alonso in Poesfa espaiiola, lediglich eine differen­zierte Form der Einteilung in "signifiant" und signifie" über­nimmt und sie für hermeneutische Aufgaben nutzbar macht, aber sobald die für den Strukturalismus typische Neigung zum System und zur Ablösung von der Empirie eintritt, ist sie nicht zu umgehen.

Die "analyse structurale"

Eine erste Position, die unter diesen Umständen bezogen werden kann, ist die der "analyse structurale", wie sie Ro­man Jakobsan und Claude Levi-Strauss an Baudelaires Les

37 Figures, S. 156.

242 Grundorientierung auf das Werk

chats durchgeführt haben. Sie ist strukturalistisch, insofern sie einige Merkmale des Strukturalismus aufweist, sollte aber nicht eigentlich als Strukturalismus bezeichnet werden, weil die Grundtendenz des Strukturalismus, die Ablösung von der Empirie, nicht erfüllt ist. Roman Jakobson erarbei­tet hier auf der Grundlage der Differenzierung des literari­schen Gebildes in verschiedene einander überlagernde Ebe­nen, z. B. die phonetische, syntaktische, prosodische und semantische, rein beschreibend und feststellend die einzel­nen Elemente dieser Ebenen, sucht die zwischen ihnen gel­tenden formalen Beziehungen auf und erfaßt so das Werk in seiner Struktur "als Realisation bestimmter Kombina­tionsmöglichkeiten der Elemente"38, wobei er vor allem be­müht ist, Symmetrien im Zusammenspiel von Syntax, Stro­phenform und Reimbehandlung aufzuweisen. Die struktu­ralistische Tendenz zum System (das sich hier deklariert) ist also wohl da, aber sie wird zurückgehalten, dient der Ob­jektivierung des individuellen Tatbestandes, den dieses So­nett bietet. Deutakte fließen dabei höchstens einmal unbe­wußt ein; die Analyse enthält sich bewußt jeder Deutung und jeder weiteren Folgerung, will nicht zur Interpretation werden. Claude Levi-Strauss schließt dann seinerseits eine "anthropologische" Deutung an, die allerdings nicht auf den Beobachtungen des Kollegen aufbaut. So weit, so gut, aber man darf sich fragen, ob hier die Abstinenz nicht doch am falschen Objekt erfolgte39• Aus Rücksicht gegenüber dem Prinzip des Strukturalismus brauchte sie nicht zu erfolgen, denn streng genommen strukturalistisch ist diese "analyse"

38 Nach Helga Gallas, alternative, 62/63, Dez. 1968, S. 153, die in ihrer Einleitung zur deutschen Übersetzung des Aufsatzes die ideologischen Angriffe auf diese strukturale Methode mit Recht zurückweist, dabei aber selbst in ideologisierende Argu­mentation verfällt.

39 Ahnlieh äußert sich auch Georges Mounin (Devant une criti­que structurale, in Baudelaire. Actes du colloque de Nice, Annales de la Fac. des Lettres et Seiences humaines de Nice, 4-5, 1968, S. 155-160), der Jakobson mit Recht vorwirft, daß er in mehr als einem Punkt eine parteiische Auswahl der for­mellen Gegebenheiten zu Demonstrationszwecken treffe.

Die "analyse structurale" 243

als empirische Hinwendung zum individuellen Text ohne­hin kaum; und was die mögliche Überlegung anbetrifft, daß durch diese Enthaltung die Reinheit des Feststellungsaktes gewährleistet werde, so wäre dies wohl auch der Fall, wenn man die Deutung in einem zweiten Schritt klar abs.etzte (etwa so, wie es Clemens Heselhaus vorsieht; vgl. S. 75 f). In der Tat wäre es denkbar, daß sich dann die "analyse structurale" gelegentlich befruchtend und heilsam auf die Interpretation im engeren Sinn auswirken könnte. Sie zwänge - vorausgesetzt daß sie sich selbst von ungesun­dem Systemzwang fernhalten kann - jene zur Sachlichkeit. Wenn Roman Jakobson, um nur eines herauszugreifen, in präziser, kontrollierbarer Analyse das Baudelairesche So­nett Les chats u. a. als symmetrisch um eine Achse (Vers 7-8) gebaut erweist, dann ist damit wertvolles Material für die Interpretation gewonnen40.

Eine zweite, an die Transformationstheorie (Chomsky) anschließende und Hjelmslevsche Kategorien41 benutzende Position stellt sodann die "analyse structurale" dar, wie sie

40 Lucien Goldmann nutzt dieses allerdings nicht in seinen An­merkungen zur Sache (alternative 71, April 1970, S. 70 ff.). Einige Titel aus der Fülle weiterer Versuche auf diesem Ge­biet: N. Ruwet, L'analyse structurale d'un poeme fran~ais: un sonnet de Louise Labe, Linguistics 3, 1964, ders., Sur un vers de Ch. Baudelaire, Linguistics 17, 1965, M. Riffaterre, Des­cribing poetic structures: Two approaches to Baudelaire's Les Chats, in ders. Essais de stylistique structurale, Paris 1970, Kap. 13, R. Kloepfer, U. Oomen, Sprachliche Konstituenten moderner Dichtung, Bad Hornburg 1970, J.-Cl. Chevalier, "Alcools" d' Apollinaire, Essai d'analyse des formes pohiques, Paris 1970, C. Morhange-Begue, La Chanson du Mal-aime: essai d'analyse structurale et stylistique d'un poeme d'Apolli­naire, Paris 1970, Beiträge aus Langue Franr;aise 7, 1970: La description linguistique des textes litteraires; vgl. auch noch die Beiträge von W. 0. Hendricks (1969), K. Baumgärtner (1960), R. Posner und N. Ruwet (1968) in Literaturwissen­schaft und Linguistik II, I und II, 2.

41 "Expression", "content", "substance", "form", bzw. "content­substance", "expression-substance", "content-form" und "ex­pression-form" (Prolegomena to a theory of Language, Madi­son 1963).

244 Grundorientierung auf das Werk

S. R. Levin in seiner Studie Linguistic Structures in Poetry (The Hague-Paris 1962) entwickelt und sie Nicolas Ruwet in seinem Aufsatz L'analyse structurale de Ia poesie ( Lin­guistics 2, Dez. 1963, S. 38 ff) diskutiert und weiterführt42 •

Sie setzt sich zum Ziel, eine Art Grammatik der Gedicht­sprache zu schreiben, in der die Abweichungen von der All­tagssprache systematisch erfaßt werden. Diesem weitreichen­den, ein echtes strukturalistisches Anliegen verratenden Ziel ist die 11analyse structurale de Ia poesie" zugeordnet. Ent­sprechend der Herkunft von Chomsky konzentriert sich die­se Analyse auf syntaktische Erscheinungen, so weit sich diese von der Alltagssprache abheben, und zwar insbesondere auf die sogenannten 11COuplages" ( couplings ). Es sind dies For­men struktureller und semantischer &quivalenz, die, wie Ruwet mit Recht gegenüber Levin weiter folgert, das Wer­den des Sinns und die strukturelle Einheit des Gedichtes entscheidend mitbestimmen: [. . . ] "nous dirons que, par opposition au Iangage de tous les jours, la poesie se carac­terise sans doute par une plus grande unite, mais bien plus encore par sa creativite, sa fecondite, sa capacite de creer des mondes." (S. 50). Ruwet führt. dann weiter zutreffend aus: "Or les couplages, a condition de les definir d'une ma­niere plus souple, sont ici un facteur essentiel; ils jouent le r8le d'un operateur qui, plas:ant des eJements, mettons X et y, dans des positions, syntagmatiques et/ou prosodiques, equi­valentes, revele par la-m&me, entre ces elements, des rela­tions semantiques qui resteraient autrement cachees ou peu evidentes. C'est dans des relations semantiques de cet ordre que residerait une bonne part du messagepropre du poeme." In der Tat besteht hier eine Möglichkeit, dem Phänomen dichterischer Aussage entscheidend näher zu kommen, die Verfahrensweisen und mehr noch das ganz konkrete Ver­fahren aufzudecken, durch das ein Bedeutungsüberschuß ge­genüber der Alltagssprache entsteht, die Sprache ihren poeti­schen Eigenraum konstituiert, die Iangue über sich hinaus geht als Teilhabe am status transcendendi, der die Poesie ist

42 Vgl. weiterhin Kibedi Varga, Les Constantes du poeme (These de Leyde 1956) und lstvan Fonagy (Diogene 51, 1965, S. 72 bis 116).

Die "analyse du pluriel" 245

(vgl. Ausführungen S. 33 f). Ob man allerdings auf diesem Wege mehr als die eine oder andere Regel für eine sehr all­gemein gehaltene, hinter dem individuellen Ereignis der Li­teratur weit zurückbleibende Grammatik der Gedichtsprache erarbeiten kann, bleibt abzuwarten. Unverkennbar ist je­denfalls der Nutzen, den solche Analysen, möglicherweise als eigener, vorbereitender methodischer Schritt, für die Deu­tung erbringen könnten, ein Nutzen, der nicht nur in der Selbstdisziplin läge, sondern auch und vor allem im Er­kenntniswert43.

Die "analyse du pluriel"

Eine dritte Position der Strukturanalyse schließlich, wie sie Roland Barthes in S/Z an Balzacs Sarrasine demonstriert hat44, sollte man wohl aus heuristischen Gründen deutlich als "analyse du pluriel" absondern. Es ist dies eine Ana­lyse, die sich, wie die Bezeichnung besagen soll, die Unter­suchung der Pluralität des Sinns zum Ziel setzt. Zu diesem Zweck. wird der Text lexie um lexie45 auf die fünf "syste­mes de sens" befragt, die als "codes" hinter dem Spiel der Konnotationen stehen, und zwar auf den "code hermeneu­tique", den "code thematique", den "code symbolique", den "code" der "action" und den "code gnomique" oder auch "culturel" (d. h. den "code" der Referenzen, die ein Wis­sen betreffen, sei es nun physikalischer, medizinischer, psy­chologischer, literarischer oder politischer Art). Roland Bar­thes betont, daß es ihm dabei nicht um das Werk und des­sen Einheit geht, sondern daß er bewußt dessen "decoupage" vornehme, bewußt seine Lektüre immer wieder unterbreche,

43 Vgl. aum nom S. Neumeister, Charles Baudelaire ("]'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ans ... "). Ein Beitrag zu Theorie und Praxis der Interpretation, Poetica 4, 1970 und F. M. Frandon, Le structuralisme et les caracteres de l'reuvre litteraire. A propos des ,Chats' de Baudelaire, Revue d'Hist. litt. 72, 1972.

44 Der Titel S/Z bezieht sich auf Sarrasine. 45 Barthes versteht darunter die kleinste Lektüreeinheit, kleinste

auf Pluralität des Sinns betrachtbare syntaktisme Einheit.

246 Grundorientierung auf das Werk

um die Wirksamkeit der Sprache in den kleinsten Lektüre­einheiten zu analysieren.

Man sollte daher diesen Versuch, der auf eine Seminar­übung zurückgeht, nicht mit dem Maß der Relevanz für die Interpretation eines Werks - Sarrasine - messen; es stün­den dann wohl Aufwand und Gewinn in einem recht unge­sunden Verhältnis. Als generelle Erkenntnis zur Funktions­weise von Literatur scheint mir aber diese Studie, bei allen Fragezeichen, die man im einzelnen setzen müßte, doch recht anregend: sie ist geeignet, den Blick für den konno­tativen Stellenwert zu schärfen, und das ist ein großer Ge­winn für den potentiellen Interpreten. So ist es, um nur ein Beispiel anzuführen, aufschlußreich, wenn Barthes zum Ti­tel vermerkt, daß sich mit ihm eine Frage, die nach dem, wer oder was Sarrasine ist, erhebt und die erst in der lexie 153 eine Antwort findet, so daß die beiden Stellen die End­punkte einer "sequence hermeneutique" bilden. Zutreffend ist es wohl auch, und im besagten Sinne nützlich, wenn Barthes dem Titel "Sarrasine" weiterhin die semantische Konnotation der Feminität zuspricht.

Fassen wir zusammen. Die Werkinterpretation bleibt die Grundlage und Aussagebasis jeder werktranszendierenden Methode und behält daher, auch aus der Sicht des neuen <Paradigmas>, ihren unbestreitbaren Wert, ja dieser bislang schwer zuzuordnende Wert erhält durch dieses neue <Para­digma> die Chance, in einen neuen und tieferen Sinn ein­zumünden. Dieser wissenschaftliche Nutzwert der Werkin­terpretation wird jedoch erheblich eingeschränkt, wenn man diese - im Falle der Lyrik - einem Gefühl des Ganzen dienend zuordnet. Man sollte daher im Bewußtsein der me­thodischen Andersartigkeit von Erkenntnis, wie sie Feststel­lungsakte vermitteln können, einerseits und Auslegung, wie sie die spezifische Aufgabe der Hermeneutik ist, anderer­seits, die Möglichkeiten der die Wissenschaftlichkeit und die Gesichertheit des Wissens gewährleistenden Feststellungsakte so eng wie möglich an den Rand des Geheimnisses heran­rücken, das "uns ergreift". Die von Damaso Alonso vorge­schlagene Unterscheidung in significante und significado, in significantes parciales und significados parciales kann dabei gute Dienste leisten, rhetorische Terminologie wird auch hin

Die "analyse du pluriela 247

und wieder von Nutzen sein, statistische Methoden können wertvolles Material liefern, eine Analyse der phonetischen, strophischen und syntaktischen Strukturen kann die Augen für weitere Möglichkeiten öffnen, sprachgeschichtliche Kennt­nisse können helfen bei der Bestimmung des Stellenwertes von semantischen und syntaktischen Erscheinungen, aber we­nigstens ebenso wichtig ist es, selbst die Sinne offen zu hal­ten, immer wieder wach die Artikulationen des Gedichtes zu testen, seine mikrokosmischen und makrokosmischen Zu-· ordnungen, die Vielstrahligkeit der in ihm freigesetzten Be­deutungen, die Korrespondenzen, die syntaktischen Ver­hältnisse, die Verteilung auf Vers und Strophe, das Zu­standekommen des Ganzen. Erst dann können wir mit gu­tem Gewissen an ein Übersteigen der Werkeinheit denken, sei es nun im Sinne der Erstellung einer Sinnbildreihe oder in dem eines synchronen Schnitts epochaler Strukturen.

Was sodann die Werkinterpretation als eigene Übung an­betri:ffi:, so sind hier, wie wir gesehen haben, mehrere Mo­delle entwickelt worden. Allgemein läßt sich hierzu sagen, daß es besonders wichtig erscheint, die Interpretation auf dem festen Boden einsichtiger Feststellungsakte aufzubauen. Die größten Chancen sind in diesem Zusammenhang zwei­fellos den Feststellungsakten zur Sprache und zur Weise, wie diese zum Werk- oder Textganzen führt, beizumessen. Diese betreffen nämlich unmittelbar den zu interpretierenden Ge­genstand, während stützende Feststellungsakte, die auf das Leben des Dichters, auf soziologische Fakten oder auf die Epmhe ausgreifen, zum mindesten vorerst noch die Unge­wißheit der Frage mit sich führen, wie all diese außerlitera­rischen Fakten denn überhaupt innerliterarisch relevant wer­den (eine dringliche Frage, die weit entfernt davon ist, ge­löst zu sein). Eine relativ sichere Möglichkeit, den Text zu­nächst einmal in die Kontrolle zu bringen, ist auch die ar­tikulierte Inhaltsangabe, wie ich es nennen möchte, das heißt eine gegliederte Inhaltsangabe, die eben durch ihre Gliede­rung den äußeren Aufbau der zu interpretierenden Einheit mit notiert (Einteilung in Quartette und Terzette z. B. oder die in Teile und vielleicht auch Kapitel, wenn solche Ein­teilungen fehlen, die in Abschnitte).

Ob man im übrigen eine mehr oder weniger starre Ab-

248 Grundorientierung auf das Werk

folge einhält, die für den Lernenden, aber nicht nur für ihn, heuristisch wertvoll ist, wird teilweise sogar vom Anlaß ab­hängen. Eine solche Abfolge bietet nämlich auf der einen Seite eindeutige wissenschaftliche Vorteile, kann vor allem mit ihren Ergebnissen besser einleuchten und besser kon­trolliert werden, ist vielfach lauterer. Aber auf der anderen Seite bietet sie darstellerische Nachteile, beeinträchtigt sie da­mit einen Aspekt, der in der literaturwissenschaftliehen Pra­xis allein schon deswegen eine große Rolle spielt, weil diese, soweit sie die Publikation anstrebt, nicht ohne Publikum leben kann, es sogar gute Gründe geben kann, ihr ein brei­tes Publikum zu wünschen46.

Man könnte hier als Grundschema der eigentlichen, "werk­immanenten" Interpretation unterscheiden die Abfolge von

1. Artikulierter Umschreibung 2. Beschreibung (Analyse der syntaktischen, komposito­

rischen, metrisch-strophischen und stilistischen Zuord­nungen)

3. Reduktion (auf den Autor vorzugsweise, auf seine In­tention, seine Biographie, seine Psyche, sein Selbstver­ständnis)

4. Deutung (Interpretation des Textganzen im Zusam-menhang).

Der erste Schritt, die artikulierte Umschreibung, zeichnet die Wirklichkeit des zu analysierenden Textes, je nach Umfang desselben mehr oder weniger raffend47, zum Zweck der Ge­winnung eines kontrollierten Oberblicks über Inhalt und Pe­ripetien nach. Der zweite Schritt, die Beschreibung läßt einen weiten Ermessensspielraum, wenn es auch nicht ratsam er­scheint, etwa bei der Beschreibung eines Sonetts die Ge­schichte des Sonetts und seiner verschiedenen Formen zu rekapitulieren oder aber der Vorgeschichte eines Terminus so viel Raum zu geben, daß man das Gedicht oder die son­stige zu interpretierende Einheit aus den Augen verliert. Es muß hier das Gesetz der sachlichen Zuordnung zur Beschrei­bung gelten: ist diese Beschreibung nicht selbstevident, be­darf sie der historischen oder realkundliehen Ausweitung,

46 Vgl. die Ausführungen von Teil I, Kap. 2, S. 54 ff.

Die "analyse du pluriel" 249

damit das Beschriebene in seiner Bedeutung einsichtig wird. Die Reduktion sodann, ein sehr verantwortungsvoller und delikater Schritt der Interpretation, besteht darin, durch Rückführung der textlichen Wirklichkeit auf einen Standort, von dem aus er gesehen werden kann, die Deutung einzu­leiten und erst zu ermöglichen. Ohne eine solche Reduktion, wie sie auch Leo Spitzer durchaus vornimmt, indem er bei­spielsweise ein "etymon" als Träger eines seelischen Erre­gungszentrums deutet, ist eine Deutung nicht denkbar; ein Text kann nicht aus sich selbst, sondern nur von einer Per-

. spektive her gedeutet werden. Im übrigen kann die Reduk­tion mehr oder weniger Raum einnehmen, kann sie ein schmaler, die Deutung ermöglichender Brückenkopf sein, aber auch zum eigentlichen Anliegen werden. Ist letzteres der Fall, so bewegen wir uns über das Schema der Interpretation hinaus, münden wir in irgendeine Form geschichtlicher oder struktureller Betrachtung ein, sei diese soziologisch, geistes­geschichtlich oder sei sie auf die Erstellung einer literarischen Reihe ausgerichtet. Analoges gilt, wenn wir in Richtung auf den anderen Bezugspunkt des Werkes, den Leser und den Erwartungshorizont, das Schwergewicht über die Interpre­tation hinaus verlagern. - Die Deutung ihrerseits muß im

47 Bei der Interpretation eines Gedichtes, etwa eines Sonetts, kann beispielsweise der Inhalt umschreibend und unter Mar­kierung der strophischen Zäsuren im wesentlichen wiedergege­ben werden. Unausgeklärte Stellen können dabei als solche, möglichst durch Anführungsstriche oder Druck vom Abge­klärten abgehoben, mitnotiert werden. Ich kann hier aus Gründen der Raumersparnis keine Beispiele geben, verweise daher diesbezüglich auf die nahezu parallel erscheinende, in Kooperation mit Frau Dr. Harth erstellte Studie Paul Valery, in der ich mehrere Möglichkeiten der Interpretation durch­führe. Bei Umgang mit Romanen wird man relativ großzü­gig vorgehen müssen, doch sollte man dabei auf keinen Fall Unabgeklärtes "unter den Tisch fallen lassen", denn das zu­nächst Unklare ist oft Kern der Botschaft. Nach meinen Er­fahrungen ist im Umgang mit schwer zu lesenden neuen Ro­manen beispielsweise dieser Schritt der sorgfältigen, artikulier­ten Notierung dessen, was im Text steht, die einzige Mög­lichkeit, zu einer Gesamtdeutung vorzustoßen.

250 Grundorientierung auf das Werk

Sinne des von Clemens Heselhaus Ausgeführten in dem Bewußtsein stehen, daß ihr mehrere Sinnschichten und -dimensionen anvertraut sind: ein Text kann beispielsweise sehr wohl einen dreifachen, einen litteralen, einen sinnbild­lichen und einen poetologischen Sinn enthalten, und dies selbst in moderner Literatur gar nicht so selten48 • Darüber­hinaus ist zu beachten, daß schöne Literatur, mithin auch ein Gedicht, per definitionem mehrdeutig ist, daß sie potentielle, als polyvalent angelegte Bedeutung verwaltet, hier also keine Endgültigkeit der Interpretation denkbar ist.

Schließlich wäre noch zu erwähnen, daß im Falle werktranszendierender, insbesondere dichtungsgeschichtli~ eher Zielsetzung das aufgeführte Interpretationsschema, als für diesen Zweck zu schwerfällig, erheblich verkürzt wer­den müßte49•

48 Für den Roman vgl. etwa meine Interpretation von Butors La Modification (in Der französische Roman, hrsg. v. W. Pabst, Berlin 1968, S. 294 ff.), für die Lyrik vgl. die Interpretationen des Valery-Bandes dieser Reihe.

49 So Fr. Sengle, Aufgaben und Schwierigkeiten ... , S. 296 f.

3. METHODEN MIT DER GRUNDORIENTIERUNG AUF WERKTRANSZENDIERENDE ASPEKTE

Der dritte systematisd1e Aspekt, unter dem man die wissen­smaftliche Besmäftigung mit Literatur sehen kann, derjenige der Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte, ist zugleim das dominierende Charakteristikum der jüngsten Etappe in der Entwicklung des literaturwissensmaftlimen Selbstverständnisses. Literatursoziologie, Rezeptionsästhetik, Erneuerung der Literaturgesmimte, Strukturalismus, Nou­velle Critique, all diese Rimtungen geben sich nimt mehr mit der Individualität eines Werkes oder von Werken zu­frieden, deren Eigenwirklimkeit es auszuloten gälte, sondern ihr gemeinsames Charakteristikum besteht darin, daß sie über die Werke hinaus fragen, sei es nun in Richtung auf die Gesellsmaft, den Erwartungshorizont, die Epomalität, die Psyme oder das Selbstverständnis, sei es in Rimtung auf die Strukturen, die diesem Werk zugrundeliegen. Nimt als ob solme Fragestellungen alle völlig neu wären - man braumt hier nur etwa an Levin L. Smückings Soziologie der literarischen Geschmacksbildung aus dem Jahre 1923 oder an die Aktualität der russismen Formalisten zu denken, um klare Gegenbeispiele zu haben - aber neu ist einmal ihre Ausprägung, sodann die Tatsame, daß sie nun mit ihrem gemeinsamen Nenner der Werktranszendenz dem "Para­digma" das Gepräge geben, in ihnen das etappenspezifisme Merkmal des Fortsmritts der Literaturwissenschaft als einer internationalen Ersmeinung liegt. Es trifft sich somit, daß dieses letzte systematism verfahrende Kapitel zugleim dem Spezifikum der jüngsten Phase literaturwissensmaftlimer Tätigkeit und Diskussion gewidmet ist, sim so synthetisdl der Rahmen dieser Studie smließt in einem Aspekt, der hi­storisme und systematisme Simt gleimermaßen abrundet.

252 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

Eines der ersten Anliegen dieser werktranszendierenden Grundorientierung ist die Rückgewinnung des in der Krise des Positivismus liquidierten, in der doppelten Buchführung von werkimmanenter Betrachtung einerseits und textfrem­der Geistesgeschichte andererseits übersprungenen Bezugs zwischen Literatur und Welt (Welt im weitesten Sinn des Wortes). Das gespaltene Denken, die Dichotomie von Drin­nen und Draußen, soll überwunden werden, die nunmehr als welthaltig erkannte Literatur soll jetzt von sich aus ihre Weise des Weltbezugs und der Welthaftigkeit in der fragen­den Analyse preisgeben, sei es über die in ihm aufleuchten­den Strukturen und Aufbauformen oder über das in ihm "aufgehobene" historische Besondere, sei es über ihre eigene Welthaftigkeit, ihre Weise, Raum und Zeit in einer Welt des als-ob aufzubauen oder über die Weise, wie sie gesellschaft­liche Wirklichkeit reflektiert und kritisch übersteigt. Das sei­nerzeit etappenbedingte, von der Ökonomie der Evolution her gesehen nützliche, ja etappennotwendige Prinzip der Werkimmanenz ist nun fragwürdig geworden, die konse­quente, immer noch entwicklungsfähige Auslotung des Wer­kes hat nunmehr die Erkenntnis heranreifen lassen, daß das Werk in vielfacher Weise seinerseits über sich hinausweist. Es ist die nächste Etappe angebrochen, die sich seit den späten dreißiger Jahren vorbereitet und seit der Jahrhun­dertmitte zusehends das etappeneinende Charakteristikum stellt, die Etappe werktranszendierender Orientierung. Sie führt teilweise zu einer geradezu spiegelbildlichen "Wieder­holung" überwundener Positionen, doch nun aus ganz an­derer, man könnte sagen umgekehrter Perspektive, führt allerdings auch zu anachronistischen Mißverständnissen, die durch diese spiegelbildliche Ahnlichkeit heraufbeschworen werden. So könnte man, um nur ein paar Beispiele anzu­führen, Charles Maurons psychoanalytische Methode bis­weilen, nicht jedoch etwa in Psychocritique du genre comique, für eine Neuauflage des Biographismus halten (und vielleicht war ihm deswegen die "critique universitaire" relatiy hold); die literatursoziologische Betrachtungsweise ihrerseits erscheint manchmal als Wiederaufnahme des Taineschen Positivismus; der bereits erwähnte Heinz Otto Burger "hat es nötig", sich von Dilthey abzusetzen; und was die Aktualität der russi-

Die »Nouvelle Critique" 253

sehen Formalisten, aber auch Oskar Walzels, Roman Ingar­dens, Hermann Pongs' und Ernst Cassirers anbetrifft, so könnte man auch hier auf den Gedanken kommen, die Lite­raturwissenschaft offenbare sich als fortschrittlose Wieder­kehr, als Sisyphus-Weg. Aber das wäre oberflächlich gesehen: Wiederholung und Fortschritt, Wiederkehr und Evolution gehen hier Hand in Hand.

Das Grundsätzliche dieses Unterschieds mag aus einem Urteil hervorgehen, mit dem Raymond Picard in Nouvelle critique ou nouvelle imposture (Paris 1965) der N ouvelle Critique entgegentritt. Es heißt dort: "Si certaines idees et certaines images reviennent dans l'ceuvre pour former une thematique, celle-ci - dans la mesure ou l'on s'interesse effectivement a l'ceuvre - ne sera pas eclairee par le psy­chisme inconscient de l'homme, mais bien par les options litteraires et ideologiques de l'ecrivain" (S. 143). Hier wer­den in einer für die "ancienne critique", die ihre Wurzeln im 19. Jhdt. hat, aber heute noch an den Universitäten mächtig ist, typischen Weise die Ideologie des Autors und sein Wille verantwortlich gesehen für das Werk. Es bleibt so all das, was man seit Croce über die ersten Jahrzehnte des 20. Jhdts. hin über das literarische Kunstwerk und seine Eigengesetzlichkeit in Erfahrung gebracht hat, unberücksich­tigt. Die Erfahrung mit schöner Literatur, wie wir sie seit der Wende nach Innen machen, lehrt eben, daß diese Ver­bindung nicht über die Wirklichkeit Literatur entscheidet, daß die Beschäftigung mit poetologischen und ideologischen Willensäußerungen wohl helfen kann, die Literatur zu ver­stehen, daß sie zwar eminent wichtig ist, um zu wissen, was der Dichter im Sinne hatte, daß aber ihr Wert für die Inter­pretation und Erkenntnis des Werkes selbst relativ ist. Eine Kritik und Wissenschaft, die sich darauf festlegen würden, von außen her die schöne Literatur (und um sie geht es auch heute noch fast ausschließlich in der Literaturwissenschaft) zu begreifen, würden diese in ihrem eigentlichen und eigenen Bereich nicht erreichen können. Und das gilt ebenso für die anderen außerliterarischen Wirklichkeiten, zu denen das werktranszendierende <Paradigma> aus der Literatur vor­stößt, für das Leben, für Gesellschaft und Milieu und für die Psyche, um nur einige wichtigste Ausrichtungen zu nen-

254 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

nen. Biographismus, Soziclogismus und Determinismus lok­ken hier als Gefahr des Begreifens der schönen Literatur aus kausalen Bedingungen, die es für sie wegen ihres eigen­ständigen Schöpfungscharakters nicht geben kann.

Auf der anderen Seite ist natürlich das von-innen-her­Schauen mit erheblichen Unsicherheitsfaktoren verbunden, ist es doch mit dem ganzen Risiko spezifisch literaturwissen­schaftlicher Erkenntnis belastet, die ohne Hermeneutik nicht denkbar ist. Dieses Risiko kann zwar durch methodisch konsequent eingesetzte Feststellungsakte zur Sprache, aber auch zum Leben und zu anderen außerliterarischen Wirk­lichkeiten gemindert, doch nicht ganz ausgeschaltet werden. Die N ouvelle Critique, die als eine Exponentin dieser neuen, etappenspezifischen Forschung gelten darf, ist sich dieser Unsicherheitsfaktoren nur teilweise bewußt. Einige von ih­nen sprechen von Kritik als "science humaine", während Doubrovsky solchen Ansprüchen gegenüber skeptisch bleibt und mit Barthes der Auffassung ist, daß es in Sachen "cri­tique" keine Wahrheit, sondern nur "validite" geben könne1•

Die "Nouvelle Critique"

In der Tat sollte man von vornherein die N ouvelle Critique klar gegenüber dem Strukturalismus abgrenzen, obwohl es in der Praxis Berührungen und Überschneidungen gibt, Ro­land Barthes beispielsweise in Sur Racine fast für einen Ver­treter der N ouvelle Critique gehalten werden könnte, ob­schon er auch hier letztlich Strukturalist bleibt, er in Miche­let par lui-meme vollends "nouvelle critique" betreibt, wäh­rend umgekehrt Lucien Goldmann, den man oft zur Nou­velle Critique zählt, sich einen genetischen Strukturalisten nennt, und auch andere, typischere Vertreter der N ouvelle Critique, wie Jean-Pierre Richard, Gaston Bachelard, Jean Starobinski, Charles Mauron und Serge Doubrovsky, für

VgL Serge Doubrovsky, Pourquoi Ia nouvelle critique?, Paris 1966, s. 81 ff.

Die nNouvelle Critique" 255

sich beanspruchen, von "structures" zu sprechen, man auch insofern begründetermaßen von Strukturalismus in der N ou­velle Critique sprechen kann, als diese durch die methodische Prämisse gekennzeichnet ist, das "Universum" eines Werks und Autors als ein "in sich strukturiertes Ganzes" darzustel­len und abzubilden2• Das Werk wird so "gewissermaßen" als ein System gesehen, aber - und da zeigt sich die Trag­weite des Unterschieds zum eigentlichen Strukturalismus -, was dann in der Kritik erarbeitet wird, ist keineswegs ein durch Selbstregelung gekennzeichnetes Transformationssy­stem, sondern eher eine recht subjektiv gewonnene Einsicht in die individuelle Struktur des Werkes. Wie schon Roman Jakobson streng zwischen "etudes litteraires" und "critique" unterschied, von denen erstere der unwandelbar theoreti­schen Wirklichkeit Literatur gelten - mögen sie auch em­pirisch an Texten ansetzen - während letztere dem indivi­duellen und historischen Phänomen Literatur gilt, so liegt der gleiche grundsätzliche Unterschied auch zwischen Struk­turalismus und Nouvelle Critique vor. Im Unterschied zu Todorov, zum Barthes von Sur Racine und S/Z, zu Gerard Genette, zu Roman Jakobson, Nicolas Ruwet und anderen, fragt die N ouvelle Critique nicht nach den als Theorie ab­lösbaren oder bereits abgelösten Strukturen (für die das von Jean Piaget angeführte Charakteristikum des "autoreglage" gilt), sondern sie sucht in den Werken selbst praktische, vor­wiegend thematische Strukturen3 und Muster auf, die ihrer­seits werktranszendierend als Verweis auf einen sich hier

2 So Rita Schober (Im Banne der Sprache, S. 25), die mit Recht darauf aufmerksam macht, daß sich Lucien Goldmann im Widerspruch zu dieser Voraussetzung befindet. Mir scheint es in der Tat ungerechtfertigt, L. Goldmann überhaupt zur Nou­velle Critique im engeren, nunmehr historischen Sinn des Wortes zu zählen.

3 Es wäre also, abgesehen vom weiter oben Ausgeführten, nicht unberechtigt, auch hier von Strukturalismus zu sprechen, vielleicht von praktischem im Unterschied zu theoretischem Strukturalismus (vgl. auch das zu den praktischen Wissen­schaften Gesagte, I, 65 ff), doch sollte man vielleicht um der sauberen Trennung willen den Begriff des Strukturalismus dem theoretischen Strukturalismus vorbehalten.

256 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

deklarierenden psychologischen, existenziellen oder bewußt­seinsgeschichtlichen (G. Poulet) Boden gedeutet werden. Der Akzent der Literaturbetrachtung liegt dabei mit Abstand in der literarischen Wirklichkeit selbst. Charakteristisch ist wei­terhin die Bindung des Erkenntnisprozesses an den Nach­vollzug des Werkes durch das Subjekt der Untersuchung: hier werden die strukturellen Phänomene, die es zu unter­suchen gilt, zum Aufscheinen gebracht. Nehmen wir noch die Neigung hinzu, das Gesamtwerk eines Dichters (oder, im Falle Georges Poulets, die Gesamtposition einer Epoche) auf einen Nenner zu bringen, so haben wir die hauptsächlichen Charakteristika der Nouvelle Critique beisammen:

1. Aufscheinenlassen der phänomenalen Wirklichkeit des Werks im kontrollierten Leseakt (subjektiver Aspekt)

2. Reduktion der Vielfalt von Erscheinungen eines Ge­samtwerks auf Muster und ein diesen zugrundeliegen­des Interessezentrum

3. Rückführung dieses Interessezentrums auf eine existen­tielle, psychische oder (Poulet) bewußtseinsgeschicht­liche Position.

Von hierher lassen sich Charles Mauron und Gaston Bache­lard zusammensehen als Vertreter einer psychoanalytischen Methode, Richard, Starobinski, Poulet und Jean-Paul Weber ließen sich unter dem Oberbegriff einer "thematique", Bache­lard, Starobinski, Doubrovsky und Poulet unter dem einer phänomenologischen Methode zusammenfassen, Doubrovsky und Poulet könnte man wiederum andererseits unter dem Aspekt der Öffnung gegenüber der historischen Dimension, andere noch unter dem der existentiellen Dimension be­trachten4. Es scheint mir daher angesichts dieser überschnei-

4 Nützlich ist zur Orientierung und Einführung in die ein­schlägige Diskussion Les ehernins actuels de la critique, textes revus et publies par les soins de Jean Ricardou, Paris 1967. Allerdings staunt man gelegentlich über die Namen, die hier unter dem Begriff der "Nouvelle Critique" erscheinen. Wenn Leo Spitzer und Ernst Robert Curtius u. a. als Vorläufer er­scheinen, so ist das wohl richtig gesehen, aber ob Erich Auer­bach als "Vertreter der Nouvelle Critique" richtig bezeichnet ist, scheint mir fraglich. Rita Schober ihrerseits (Im Banne der Sprache, S. 20) unterscheidet vier Gruppen: die soziolo-

Die »psychocritique" 257

dungen besser und der in Wirklichkeit recht ausgeprägt ge­gebenen Individualität der Methoden angemessener, wenn wir jeden der Genannten kurz für sich behandeln, zumal sie ja für eine grundsätzliche Möglichkeit des methodischen Ansatzes repräsentativ stehen.

Die "psychocritique" (Charles Mauron)

Charles Mauron hatte schon in lntroduction d la psychana­lyse deMallarme (Neuch.ltel 1950) und L'lnconscient dans l'reuvre et la vie de Racine (Aix-en-Provence 1957) die psy­choanalytische Methode mit Erfolg angewendet5; in Des Metaphores obsedantes au mythe personnel, lntroduction d la psychocritique (Paris 1962, 2. Aufl. 1964) entwickelt er diese dann weiter zu einer umfassenden Psychokritik, die er hier theoretisch und praktisch begründet.

Was den Charles Mauron der psychoanalytischen Methode anbetriffi:, so macht dieser zunächst zur Vorbedingung für das Einsetzen seiner Arbeit, daß der "sens litteral de l'reuvre" abgeklärt ist und auch die Biographie des Autors in verläßlicher Form vorliegt6• Sind diese Voraussetzungen gegeben, was Charles Mauron für Mallarme annimmt, dann müsse in einem ständigen Hin und Her zwischen Text und Wissen vom Leben, in einer "vibration entre l'intuition per­sonnelle et les donnees exterieures", der Nährboden eines

gisehe (bzw. existentielle), die thematische, die psychokritische und die linguistische. Bernard Pingaud (Tendances actuelles

· de la critique, Le Monde 17. 9. 1966, S. 12) nennt drei Haupt­richtungen, die formalistische, die totalitäre (gemeint ist die existentielle) und die thematische Kritik.

5 Die psychoanalytische Methode ist natürlich auch schon vor dem werktranszendierenden <Paradigma> anzutreffen. Sie tritt .ganz folgerichtig" um die Zeit der Wende nach Innen erst­mals auf den Plan, mit den Pathographien, die Paul Möbius über Rousseau (1889), Goethe (1898), Schopenhauer (1899) und Nietzsche (1902) schrieb. (Zur weiteren Vorgeschichte die­ser Konstanten des 20. Jhdts, die im Querschnitt des werk­transzendierenden <Paradigmas> neues Gepräge erhält, vgl. ]. Hermand, Synthetisches Interpretieren, S. 80 ff.)

6 lntroduction a Ia psychanalyse de Mallarme, Einleitung.

258 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

unterbewußt allem zugrundeliegenden Traumas gefunden werden. Bei Mallarme sieht er diesen im Erlebnis des Todes seiner Schwester Maria, an der Mallarme nachweislich sehr gehangen hat, und die mit dreizehn Jahren starb, als Mallarme selbst fünfzehn Jahre alt war. Charles Mauron versucht dann aufzuzeigen, wie dieses Grunderlebnis auch durch spätere Gedichte hindurchscheint und von hier aus die Einheit des ganzen Mallarmeschen Werks gesehen werden kann (ohne daß freilich diese Metamorphosen dem Dichter selbst irgendwie bewußt wären). Er kommt so zu einer Hypothese, die er für wissenschaftlich wahr hält, insofern es eine Hypothese ist "qui, dans l'etat actuel des connaissan­ces, relie le plus de faits et en rend le mieux compte" (S. 215); wozu er sich bemerkenswerterweise auf das Vor­bild der "science" beruft.

Man könnte sich angesichts einer solchen Hypothese und Methode wohl fragen, was sie entscheidend vom Biographis­mus trenne. In der Tat könnte es den Anschein erwecken, daß Charles Mauron vom biographischen Faktum, dem Tod der Schwester Mallarmes, ausgehe und er seine Sicht der Gedichte dieser "donnee exterieure" unterordne oder dod1 wenigstens zuordne. Aber demgegenüber wird man einmal bedenken müssen, daß Charles Mauron weniger dieses bio­graphische Faktum sieht als dessen verdrängten Nachhall im Werk, sodann, daß diese innere Wirklichkeit nicht so sehr eine Ursache darstellt, deren Wirkung in der Dichtung zu finden sei, als etwas, was in der Literatur selbst als deren tragender Grund aufscheint.

Dieser Unterschied zum Psychoanalytiker wird wesentlich deutlicher in dem, was dann Charles Mauron, bewußt vom Terminus Psychoanalyse abrückend, Psychokritik nennt. Diese Psychokritik wird zunächst einmal global dahingehend definiert, daß sie die Texte als Ausdruck der unbewußten Persönlichkeit ihres Autors analysiert. Diese Analyse wird dann in vier methodische Schritte aufgegliedert7 :

1. Durch vergleichende Überlagerung (superposition) meh­rerer Texte werden die ihnen gemeinsamen "reseaux

7 Des mhaphores obsedantes au mythe personnel, S. 32.

Die ,.tbematique" 259

d'associations~' und "groupements d'images, obsedants et probablement involontaires" zum Aufscheinen gebracht.

2. Diese "reseaux" werden im Gesamtwerk des Autors auf­gesucht und dort als variierende Strukturen von Träu­men und Metamorphosen beobachtet. Dieser Schritt führt so zur Erkenntnis des "mythe pefsonnel", der nicht vom Bewußtsein des Autor abhängt, sondern unterhalb des Bewußtseins wurzelt, wie denn auch die "reseaux d'asso­ciations", die durch "Superposition" ermittelt werden, nicht bewußte Zuordnungen betreffen.

3. Dieser "mythe personnel" und seine Wandlungen werden als Ausdruck der unbewußten Persönlichkeit des Autors und ihres Wandel~ interpretiert.

4. Die erzielten Ergebnisse werden überprüft durch den Ver-gleich mit dem Leben des Autors.

Ganz deutlich wird hier klar, woran man nach der bespro­chenen Maflarme-Studie noch zweifeln konnte, daß nämlich Mauron die literarische Funktion dieses "mythe personnel" wesentlich mehr interessiert als sein Ursprung, daß sein Interessezentrum in der Literatur liegt und diese eben nur bis zu einem gewissen Grade, d. h. soweit es die Literatur selbst fordert, transzendieren möchte. Unter den drei Mög­lichkeiten, die er für die Erklärung der "reseaux obsedants" sieht - die psychoanalytische, die archetypische und die psychokritische - entscheidet er sich jetzt eindeutig für die letztere, die solche "reseaux" als Ausdruck der unbewußten Persönlichkeit deutet und die somit weniger Gefahr läuft, als Rückfall in den Positivismus mißdeutet zu werden. -Was die Anwendung dieser Methode durch andere anbe­triffi, wird man im übrigen wohl mit Charles Mauron dar­auf hinweisen müssen, daß sie entsprechende Fachkenntnisse auf dem Bereirh. der Erforsrh.ung des Unbewußten voraus­setzt. Aurh sollte man insofern kritisrh. gegenüber den Er­gebnissen bleibens, als in ihnen, wie Mauron selbst betont, nur

8 Mauron selbst ist sich dieser Schwierigkeit vollauf bewußt. Deswegen wählt er in Des metaphores obsedantes einen sehr bewußt dichtenden Autor, Valery, sozusagen als .Gegenprobe" für andere, trägt er auch Sorge, daß mehrere Gattungen be­teiligt sind.

260 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

ein Aspekt einer komplexen Wirklichkeit analysiert wird. Literatur ist eben doch nicht nur durch das Unterbewußte und das Bewußtsein einer sozusagen überzeitlich biologischen Person bedingt, sondern diese Person ist ihrerseits, ebenso wie das von ihr geschaffene Werk, standortbedingt, sowohl im Sinne der Historie als auch in dem von Milieu und Ge­sellschaft, die ihrerseits historisch sind.

Die "thematique" (Jean-Paul Weber)

Verwandt mit der des frühen Mauron, dabei allerdings ein­sinniger, ist die Position von Jean-Paul Weber. Auf der anderen Seite wehrt sich aber Weber mit Recht dagegen, zu den Psychoanalytikern gezählt zu werden". Sein methodi­sches Ziel ist es zwar, das "Thema" aufzuspüren, in dem alle Werke eines Autors ihre Einheit finden, und diesen Fund durch eine Kindheitserinnerung, deren thematische Ausfaltung hier vorliege, zu bestätigen, aber das mit Ab­stand Wesentlichste ist ihm ganz offensichtlich die Erkennt­nis der thematischen Einheit eines Autors in seinen Werken. Das führt jedoch bisweilen zu recht gewaltsamen Reduktio­nen. Wenn beispielsweise für Kafka postuliert wird, daß all seinen Werken das Erlebnis der Schule als vielgestalt moduliertes, unausgesprochenes, unterhalb der Ebene des Gesagten liegendes Grundthema gemeinsam sei, dann mag das noch vielen einleuchten. Wenn aber, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, im Falle Julien Gracqs die drei "han­tises", die der Autor selbst als Grundmotiv seiner Werke angibt - etre transporte sur un lieu eleve, chambre vide, lancement d'un transatlantique10 - als Grundthema des "voyage" identifiziert und dieses durch die Erinnerung an das Auslaufen eines Schiffs in der Kindheit des Autors ver­ankert wird, dann wirkt das doch gekünstelt, hat man den Eindruck eines "tour de force" um des Prinzips der einsin­nigen Erklärung willen11• überzeugender wirkt daher eine "thematique", die sich der Pluralität offen hält, so wie es

9 Jean-Paul Weber, Domaines thematiques, Paris 1963, S. 19ff. 10 In Farouche a quatre feuilles, par Andre Breton, Lise De­

harrne, Julien Gracq, Jean Tardieu, Paris 1955, S. 75-116.

Die "tbematique existentielle" 261

beim Charles Mauron der Psychokritik der Fall ist - oder auch beim Roland Barthes von Michelet par lui-meme (Pa­ris 1965), der zwar von "une thematique" spricht, die er aufspüren wolle, aber unter dieser Thematik "un reseau organise d'obsessions" versteht "la structure d'une existence", in welcher der Mensch Michelet12, nicht sein Leben, auf­scheint13.

Die "thematique existentielle" (J.-P. Richard)

Jean-Pierre Richard seinerseits geht davon aus, daß das "Univers imaginaire" des Werks mit seinen Themen Aus­druck der Existenz sei: La decouverte d'une perspective vraie sur soi-m~me, la vie, les hommes"14. Er kann sich hier­zu auch auf Aussagen der Autoren berufen. Mallarme, dem ein bedeutendes Werk Richardscher Kritik gewidmet ist (L'Univers imaginaire de Mallarme, Paris 1961) sagt ein­mal, daß die Dichtung den "sens mysterieux des aspects de l'existence", daß sie mit ihren Motiven, Aspekten und Fi­guren deren "accord" zum Vorschein bringe15. Richard setzt sich entsprechend das Ziel, die "structures essentielles" und die "themes originels" aufzuspüren, die das Werk Mallar­mes teils auf der Ebene der "sensation"16, teils auf der me­taphysischer Orientierungen, einen. "Comprendre Mallarme

11 Wobei die Aufnahme des Motivs "chambre vide" besonders gezwungen erscheint (vgl. auch B. Boie, Hauptmotive im Werke julien Gracqs, München 1966, S. 13 f.).

12 Michelet par lui-meme, S. 5 (Vorwort). - In dieser "anthropo­logischen" Sinngebung kommt wieder der Strukturalist Barthes durch.

13 Bernhild Boie, Hauptmotive im Werke julien Gracqs (Mün­chen 1966) hält sich hingegen bewußt an die Werkwirklichkeit, in der sie bestimmte Motive aufsucht. Sie will die Grenze vom Werk zum Autor nicht überschreiten.

14 Litterature et sensation, S. 14. 15 Propos, S. 134; zit. nach J.-P. Richard, L'Univers imaginaire

de Mallarme, S. 15. 16 Vgl. auch den programmatischen Titel Litterature et sensa­

tion, unter dem J.-P. Richard Beiträge zu Stendhal, Flaubert, Framentin und den Goncourt zusammenfaßt.

262 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

ce n'est pas retrouver, derriere le poeme, l'expose clair d'un propos qui s'y deguiserait, c'est devoiler bien au contraire la raison d'etre, le projet de son obscurite"17• Richard will dies über eine "recherche· des architectures" eine "syntaxe de l'imagination mallarmeenne" erreichen, er will die innere Architektur der im Werk aufklingenden Themen als Aus­druck des Existentiellen deuten. Und das gilt natürlich im Grunde nicht nur für seine Mallarme-Studie, es ist Richards Programm.

So zeigt er in Litterature et sensation (Paris 1954) bei­spielsweise für Stendhal auf (das ist der erste Beitrag des Buches), daß bei ihm "connaissance" und "tendresse", ein unbändiger Erkenntniswille (11 me faut trois ou quatre pieds cubes d'idees nouvelles par jour18) und ein ebenso grenzen­loses Hingegebensein an die "sensation", an das "bonheur parfait, gofrte avec delices et sans satiete, par une oime sen­sible jusqu'a l'aneantissement et la folie" 19 widerstreitende "obsessions" sind "qui se situent au cceur de l'existence per­sonnelle". Die WerkeStendhals mit ihren Themen und Bil­dern sind, von hierher gesehen, Ausdruck des existentiellen Bemühens um "certaines solutions interieures" und "certai­nes structures interieures", die sich im Zügeln des Erkennt­niswillens und im Zurückhalten der "oime qui sans cesse veut jouir" ausprägen.

Das ist ein berechtigter2o, aber doch im Vergleich zu den Arbeiten von Charles Mauron und Jean-Paul Weber21 zu vager Ansatz, als daß es zu zwingenden Ergebnissen kom­men könnte. Und das gilt auch für L'univers imaginaire de Mallarme. Man hat, ein wenig han ausgedrückt, bisweilen den Eindruck eines "prestidigitateur thematologique", der die Themen unter dem Kontakt seiner Fragestellung zum Auf-

17 L'Univers imaginaire de Mallarme, S. 17. 18 Correspondance II, 137; nach Litterature et sensation, S. 21. 19 Vie de Henri Brulard, II, 182; ebda., S. 19. 20 Vgl. dagegen die Kritik, die Charles Mauron übt (Des mha­

phores obsedantes, S. 45 ff). 21 Das ändert nichts an der S. 259 geäußerten Kritik, ganz im Ge­

genteil könnte man sagen, daß Jean-Paul Weber eben gerade einsinnig konkret werden will, wo dies nicht angebracht ist.

Die thematique existentielle 263

leuchten bringt und sie nur auf der Ebene dieses existien­tiellen Grundansatzes, nicht aber auf ihrer Ebene, derjeni­gen des Werkes, begreift, wie es die Theorie zu versprechen schien. Wohlgemerkt scheint dabei viel Wertvolles auf, ist solch ein Werk, vor allem wenn man ihm, wie im Falle von L'Univers imaginaire de Mallarme, ein Sachregister beige­fügt hat, eine Fundgrube neuer Gedanken und überraschen­der Einsichten. Wenn man aber von diesen Themen zur "structure interieure" gelangen wollte, müßte mehr als nur Themen, müßte ihre Funktion im Werk, eben die "struc­ture interieure" berücksichtigt werden. In einem Werk wie Paysage de Chateaubriand (Paris 1967) macht sich die­ses methodische Ungenügen deswegen weniger bemerkbar, weil hier die "thematique existentielle" mehr als anderswo den Kern der Sache triffi, Chateaubriand ja nicht von un­gefähr in den autobiographischen Memoires d'outre-tombe sein bestes gab, bei ihm naturgemäß die mythische Zuord­nung gegenüber dem Anteil der unmittelbaren existentiellen Mitteilung zurücktritt.

Eine Ausnahme zur vorgebrachten Kritik wäre auch hin­sichtlich der Onze etudes sur la poesie moderne (1964) zu machen. Hier geht es J.-P. Richard um die Erarbeitung der "experience generique de la poesie moderne", die er als the­matische Struktur von "emerveillement" und "conflit" de­finiert. Hier ist also nicht ein Werk Gegenstand der Unter­suchung,. sondern eine Reihe von Werken - die "poesie" von Pierre Reverdy, Saint-John Perse, Rene Char, Paul Eluard, Georges Schehade, Fraucis Ponge, Guillevis, Yves Bonnefoy, Andre du Bouchet, Philippe Jaccottet und Jac­ques Dupin - und zwar als Ausdruck epochaler und d. h. überindividueller, im Einzelfall individuell variierter, the­matischer Grundstrukturen. Hier fällt daher das Ausblei­ben einer Analyse der individuellen Zuordnungen im Werk nicht nur nicht nachteilig ins Gewicht, sondern stellt es eine methodologische Konsequenz dar. Vom methodologischen Standpunkt aus betrachtet sind daher die Onze etudes sur la poesie moderne - neben Paysage de Chateaubriand -als bislang überzeugendste Applikation der "thematique exi­stentielle" zu betrachten.

264 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

Die "critique complete" (Starobinski)

Jean Starobinski verbindet im thematischen Ansatz vieles mit Jean-Pierre Richard. Ahnlieh wie jener in Litterature et sensation, aber auch in Le paysage de Chateaubriand von gegensätzlichen thematischen "obsessions" des Dichters aus­geht, so auch· Jean Starobinski in seinem 1957 erschienenen Werk ]ean-]acques Rousseau. La transparence et l'obstacle. Er sieht dabei Leben und Literatur als sich wechselseitig im~ plizierende Größen: "On se trouve ainsi conduit a analyser la creation litteraire de Jean-Jacques comme sie elle repre­sentait une action imaginaire, et son comportement comme s'il constituait une fiction vecue" (Avant-Propos). Er hebt jedoch, im Gegensatz zu Richard, mehr auf das geistige Prinzip ab, auf die "pensee de l'ecrivain", deren Gang und "Organisation" in der chronologisch verfahrenden Analyse der Texte zum Vorschein kommen soll (eine Ausrichtung, die auch durch den "Gegenstand" bedingt war). Das stellt jedoch, wie Starobinski hervorhebt, nicht ein Bekenntnis zur "analyse interieure", zum literaturimmanenten Verfahren, dar. Die '"experience intime", deren Peripetien Starobinski solcherart im geschriebenen Wort verfolgt, soll vielmehr un­ter dem Blickwinkel der "fonction privilegiee" gesehen wer­den, die sie erst als "conflit avec une societe inacceptable" erhält. In der Tat ist dieser Bezug zur gelebten Wirklichkeit einer Gesellschaft ja gar nicht zu übersehen. Von diesen Prämissen ausgehend, zeigt Starobinski dann, im Großen und Ganzen der Chronologie folgend, den Weg, den Rous­seau nimmt, zwischen jener "transparence", die er ersehnt als eine Art wiederzugewinnenden Urzustand der Seele und dem 11 obstacle", das der Verwirklichung dieser "transpa­rence" als "apparence" und "mensonge" entgegensteht.

Es ist nur ein scheinbar ganz anderer Starobinski, der uns dann in L'CEil vivant (Paris 1961), um nur noch ein wei­teres wichtiges Buch zu nennen, entgegentritt. Es ist dies ein Essai, in dem neben Rousseau auch Corneille, Racine und Stendhal behandelt werden, Autoren, die also, wenn man ihnen noch Mallarme hinzuzählt, von der "N ouvelle Cri­tique" besonders oft behandelt wurden22 • Ahnlieh wie Ba-

22 Unter ihnen insbesondere Racine. Anhand der Veröffentlichun-

Die "critique complete" 265

gen"25 • Drei Momente sind es nach ihm, die sich in dieser "imagination" vereinen: Dynamik, elementare Materie und Form, wobei die ersteren beiden kaum zu trennen- sind. Die genannten Titel wie L'eau et les reves, L'air et les songes, La terre et les reveries du repos und La terre et les reveries de Ia volonte sind für Bachelard bezeichnend, insofern in ihnen Dynamik des Traumes und Element miteinander ge­hen: die Dynamik des Traumes bewegt das Element zur imaginierten Form. Und wenn dabei der Begriff "r&ve" durch "r&veries" abgelöst wird, dann ist das nur ein erneu­tes Zeichen dafür, daß Bachelard dazu neigt, am Stamm der Imagination eher höher, dem schöpferischen Bewußtseinsakt näher, anzusetzen, als ins Unterbewußte, Vorschöpferische hinabzusteigen, für das er sich doch nicht ganz kompetent fühlt, das er "den Psychoanalytikern vom Fach" überlassen möchte.

Im übrigen wendet sich der spätere Bachelard nicht mehr der Individualität von Autoren oder Werken zu, sondern er reflektiert, wie schon die Titel zu erkennen geben, über die Möglichkeit einer Poetik des Raumes, versucht die Räu­me der Dichtung als Räume des Unterbewußten zu erklä­ren, als - zum mindesten in einigen großen Exemplaren gelingende - Sublimierung des Besonderen in einer aus dem Unterbewußten gespeisten Formung elementarer Kräfte. Die historische Dimension läßt er also - für den Idealfall, der ihn allein interessiert - ebenso hinter sich zurück wie die der dichterischen Individualität. Wenn wir ihn dennoch hier im dritten, den werktranszendierenden Methoden ge­widmeten Kapitel behandelt haben, so einmal wegen Lau­treamont, ein Werk, in dem Bachelard, vom Standpunkt li­teraturwissenschaftlicher Methoden her gesehen, mit sein Be­stes gegeben hat, sodann weil er ein ausgesprochener Ver­treter der auf praktische Strukturen der Literatur ausgerich­teten Nouvelle Critique ist und es unfüglich erschien, ihn aus rein systematischen Gründen unter "Methoden mit der Grundorientierung auf überindividuelle Aspekte" zu be­handeln.

25 G. Bamelard, Die Poetik des Ra1emes, München 1960, S. 11.

266 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

mont hingegen ist noch Psychoanalytiker, etwa im Sinne des frühen Mauron, doch schon ganz auf die Weise von Bache­lard. Bachelard zeigt dort an Hand einer Untersuchung der in Lauw!amonts Chants de Maldoror vorkommenden Tiere und ihrer Organe (Krallen etc.), wobei unter den 185 Tier­arten, die er zählt, den Kröten und Polypen besonders große Bedeutung zukommt, daß sich in diesem thematischen "re­seau" ein Angst- und Grausamkeitskomplex deklariert. Ba­chelard legt aber auch Wert darauf festzustellen - und da­rin kündet sich schon der spätere Bachelard an - daß eine Erklärung der Werkwirklichkeit aus diesem Komplex ab­wegig ist, allein schon, weil dieser Komplex in der dichte­rischen Gestaltung eine überzeugende Meisterung verrät. In der Tat wird Bachelard in seiner weiteren Entwicklung -sehr zum Leidwesen von Charles Mauron - seinen Ansatz­punkt immer mehr von den Wurzeln des Unbewußten hin­aufgleiten lassen, dorthin, wo, dem Geheimnis der Schöp­fung selbst näher, Unbewußtes und kulturelles Wirken eine Synthese eingehen. Ihn interessieren, um im Bild von Wur­zel und Baum zu bleiben, nunmehr die· "rameaux de l'ima­gination au-dessus de la greffe, quand une culture a mis sa marque sur une nature"24• Ihn beschäftigt jetzt weniger die psychoanalytische Seite als das Niveau der "complexes de culture", die er definiert als "attitudes irn!flechies qui com­mandent le travail de la retlexion". Um es noch einmal ein­dringlich zu sagen, interessiert ihn aber an diesen "attitudes irreflechies" nicht so sehr ihre Filiation ins Unbewußte, als gerade die Weise, wie sie "die Arbeit der Reflexion beherr­schen". Komplexe im Sinne von Bachelard sind also nicht Blockierungen, sondern unbewußte Impulse, auf denen die Kunst aufbaut. Diesem Niveau der in Aktion tretenden Ein­bildungskräfte gilt seine Aufmerksamkeit: "Um das Pro­blem des dichterischen Bildes philosophisch zu erhellen, muß man zu einer Phänomenologie der Einbildungskraft gelan-

24 Nach Helene Tuzet, Les voies ouvertes par Gaston Bachelard a Ia critique liw!raire, Les Chemins actuels de la critique, S. 59 ff, Zitat ebda., S. 361. Ich entnehme dem aufschlußreichen Aufsatz im folgenden noch den einen oder anderen Hinweis.

Die "thematique elementaire~ 267

chelard in La Pohique de l'espace, Richard in Litterature et sensation, so unternimmt hier Starobinski einen Vorstoß zu einer eigenen Poetik, derjenigen des "reil vivant". Lite­ratur ist ihm "reil vivant": "le regard veut devenir parole, il consent a perdre la faculte de percevoir immediatement, pour acquerir le don de fixer plus durablement ce qui le fuit". (Le voile de Poppee). Man erkennt hier unschwer das· Programm von "transparence et obstacle" wieder: Staro­binski sieht die Kunst, hier insbesondere die 11 parole poeti­que", als eine Schöpfung und Eigenwirklichkeit, in der der unersättliche, auf die uneingeschränkte "trahspareence" ge­hende Blick einwilligt, sich im Wort zu fixieren und zu me­diatisieren. Sache des Kritikers ist es, die "realite cachee" aufzuspüren und ins Blickfeld zurückzuführen, der dieser Blick eigentlich gilt23• Hierzu soll er sich zwischen Identi­fikation (complicite) und Abstand nehmender Analyse hin und her bewegen (daher "critique complete). Alles in allem wird man allerdings sagen müssen, daß dieses Programm zu abstrakt bleibt, als daß es von anderen als Methode an­gewendet werden könnte.

Die 11 thematique elementaire" (Gaston Bachelard)

Bei Gaston Bachelard ist, analog zum Falle von Charles Mauron, ein früher Bachelard zu unterscheiden, grob gesagt, der von Lautreamont (April 1939) und ein späterer Bache­lard, der mit L'eau et les reves auf den Plan tritt. An die­sen letzteren Bachelard, den von La Psychanalyse du feu (1949) und Poetique de l'espace (Paris 1956), von L'air et les songes (1943) und La terre et les reveries de la volonte (1948) sowie La terre et les reveries du repos (1948) ist ge­dacht, wenn Bachelard als Vertreter der "thematique ele­mentaire" angesprochen wird. Der Bachelard von Lautrea-

gen zu Racine könnte man einen Großteil der Nouvelle Criti­que darstellen. Zur Racine-Kritik vgl. W. Theile, Methoden und Probleme der Racine-Forschung (1950-1968), R] XIX, 1968, s. 97-132.

23 Hier liegen enge Berührungen zur .reponse en suspens", von der Roland Barthes in Sur Racine spricht (vgl. S. 60).

268 Die bewußtseinsgeschichtliche Methode

Die bewußtseinsgeschichtliche Methode (G. Poulet)

Phänomenologisch ist auch der Ansatz von Georges Poulet. Hier und da - vor allem in Les metamorphoses du cercle (Paris 1961) - könnte man überdies den Eindruck gewin­nen, daß er .thematologisch vorgehe. Dieser Eindruck ist nicht als Thematisches, sondern in seiner Relevanz für das Bewußtsein von Welt, als in der Literatur aufscheinende Weise, wie der Mensch die Welt denkt. So zeigt er bei­spielsweise in Les metamorphoses du Cercle, ausgehend von einer mittelalterlichen Gottesdefinition - Deus est sphaera cujus centrum ubique, circumferentia nusquam (Gott ist ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umkreis nirgends ist) - auf, wie sich diese Vorstellung des Kreises und des Menschen in Bezug auf ihn, dieses meta­physische Selbstverständnis also, wandelt. Er deckt so, ähn­lich wie in Etudes sur le temps humain anhand der "dun~e". der Weise, wie sich der Mensch in Zeit und Raum sieht26,

über die Analyse von einzelnen Textstellen verschiedener Epochen das jeweilige metaphysische Selbstverständnis auf, in dem sich das Denken und Bilden bewegt. Er kann so aufzeigen, daß in der Renaissance, bei einem Maurice Sceve (in Microcosme), in einem Epos, das es auf seine Weise der Divina Commedia gleichtun wollte, Gott vom Ziel, vom "point terminal" des Kreises, den er in der Divina Com­media darstellte, zum "point initial" geworden ist, zur "masse en soi-m~me amassee", zur causa efficiens, aus der alles hervorgeht, sich hier also das Ganze - und der Mensch mit ihm - von unten und'von innen, nicht mehr vom Ende her, begreift26". Er kann weiterhin aufzeigen, wie im BaroCk, bei Marino etwa, statt der einen Sphäre nun eine "pluralite

26 Vgl. etwa als besonders einprägsam das Balzac gewidmete Ka­pitel 5 von Teil II (La Distance interieure), in dem Poulet das "hre balzacien" als "besoin d'exister" und "desir" definiert und sein Verhältnis zu Raum und Zeit behandelt.

26a Zu Sehe jetzt auch Hans Staub (Schüler von Poulet), der Delie als "decouverte d'une conscience pivotale" interpretiert (Le curieux desir, Geneve 1967).

Die existentiell-phänomenologische Methode 269

croissante de <spheres minuscules> hervorbricht, scheinbar optimistisch, spielerisch, aber zugleich Ausdruck des Zerbre­chens jenes einen Kreises, aus dem man sich so lange begrei­fen konnte, Ausdruck von l1 ergeblichkeit und Grenze: "La prodigieuse proliferation des choses n'est qu'une prolifera­tion de bulles" (S. 24). Er kann für das 18. Jhdt. an Tex­ten aufzeigen, daß hier die Vorstellung des Kreises, die in der "proliferation de bulles" wenigstens noch als unerreich­tes Ziel im Hintergrund blieb, nun "auseinandergebogen" wird, der von einer "generation continue de courbes" weicht, die nirgendwohin führt und sich dieser Vorstellung für das "sentiment de l'existence" das Bild vom Spinnen­gewebe zugesellt: in jedem Augenblick findet sich der Mensch in einer neuen, nach allen Seiten hin verzweigten Situation, die keinen Blick auf einen zu gehenden Weg freigibt.

Es würde zu weit führen, diese Analysen weiter zu ver­folgen. Das wird wohl klar geworden sein, und dieser Ein­druck ist leicht an Ort und Stelle zu ergänzen: hier wird in der Literatur, in ihren Metaphern, aber auch in begriff­lichen Aussagen, die jeweilige Position des menschlichen Be­wußtseins als "temps humain" gesehen, öffnet sich so eine weit in die Philosophie und auch Theologie hineinreichende Möglichkeit der werktranszendierenden Analyse.

Die existentiell-phänomenologische Methode (Serge Doubrovsky)

Existentieller Art, hierin Jean-Pierre Richard verwandt, ist der methodische Ansatz von Serge Doubrovsky. Für ihn ist "tout objet esthetique" "l'reuvre d'un projet humain": "A travers le texte ecrit ou la piece jouee, a travers la beaute des mots ou la rigueur de la construction, un homme parle de l'homme aux hommes"27. Man könnte sogar, wenn man dem Theoretiker Doubrovsky folgen wollte, von einer "psy­chanalyse existentielle" ("appliquee a l'reuvre ou a l'au­teur", wie Doubrovsky erklärend hinzufügt (S. 21) spre­chen, aber eine solche Bezeichnung würde, trotz der entspre­chenden Aussage des Autors selbst, das eigentliche der Me-

27 Corneille et la dialectique du heros, Paris 1963, S. 20.

270 Grundorientierung auf werktranszendierende· Aspekte

thode verkennen. Doubrovsky betont ausdrücklich, daß man das Werk weder durch die Geschichte noch durch die Um­stände oder aus psychischen Fakten heraus erklären kann, daß es wohl wichtig für das Verständnis des Werkes sein kann, all dies zu wissen, sein eigentliches jedoch nur im Text selbst, in dem, was dort aufscheint, zu erreichen ist. Wir sind für das eigentliche auf das Werk als Norm seiner eigenen Wahrheit angewiesen. Doubrovsky legt also, übri­gens unter ausdrücklicher Berufung auf Sartre und Merleau­Ponty, den Akzent auf das Phänomenologische, auf das Perzipieren der im Text aufscheinenden Phänomene, die ihm ihrerseits Ausdruck eines existentiellen projet humain sind. Doubrovsky ist sich im übrigen klar darüber, daß er damit kein endgültiges Bild des Dichters entwerfen kann, denn das "a:uvre d'art [ ... ] se projette vers un avenir indefini". Wohl ändert es sich nicht, aber es verwandelt sich im Blick kommender Zeiten: 11Elle ne saurait ~tre modifiee, mais, dans son rapport a de nouveaux esprits, dans son con­tact avec une nouvelle histoire, eile peut hre renouvelee" (S. 23)28. Aber diese Begrenztheit der Einsicht ist zugleich Un­terpfand des Fortschritts, der sein Ziel zwar nie erreichen, sich ihm jedoch nähern kann2D.

Soweit der Theoretiker Doubrovsky, wie er sich in der Einleitung zu Corneille et la dialectique du beros (Paris 1963) gibt. Der Doubrovsky der folgenden praktischen Durchführung hält jedoch das Kernversprechen eines rein phänomenologischen Blicks auf die Werkgegebenheit als Maßstab der Feststellungen nicht. Er kompromittiert viel­mehr die methodologische Oberzeugungskraft der Ergebnis­se durch ein ständiges Hin- und Hergleiten zwischen außer­literarischer, ständisch-existentieller Basis, die hier um ihre Selbsterhaltung kämpft, und innerliterarisch-phänomenologi­scher Wirklichkeit. Noch bevor letztere Wirklichkeit der Werke selbst oder auch nur eines von ihnen einigermaßen sicher als verläßliche Grundlage von phänomenologischen Feststellungsakten erarbeitet ist, glaubt Doubrovsky "schon apodiktisch feststellen zu können: "C'est clone dans une at-

28 Vgl. auch 2. 216 Roland Barthes. 29 Vgl. unsere Ausführungen zur Literaturwissenschaft als Appro-

Die existentiell-phänomenologische Methode 271

mosphere artificielle et irreeHe de ,grande vie', imagmee par un robin de province, a partir d'un evenement per­sonne!, que le genie de Corneille va droit aux problemes essentiels que pose la condition humaine a l'elite de son temps"30• Auch erscheint dieser Sprung in die außerliterari­sche Wirklichkeit, die als problematischer Quellboden der literarischen "erkannt" wird, zu unvermittelt, um überzeu­gen zu können. Doubrovsky sch.lägt so, paradox formuliert, Brücken zwischen fehlenden Ufern. Zwingend vermag da­her seine Analyse nicht im strengen Sinn zu sein. Bis zu einem gewissen Grade ersetzen allerdings Massierung des Materials und die suggestive Kraft des Ganges der Unter­suchung diese fehlende Strenge. Doubrovsky läßt nämlich auf diese Weise das ganze Corpus der Corneilleschen Stücke, angefangen von den frühen Komödien (Melite etc.) über den Cid, Horace und Cinna bis hin zur letzten Tragödie, zu Surena, Stück für Stück an unserem Auge vorüberziehen, jeweils dem, was da in der Lektüre aufscheint, wach und analysierend hingegeben, aber es zugleich auch schon im er­wähnten Sinne als existentielle Aussage wertend. Er kommt so dazu, das ganze Opus Corneilles als eine "dialectique du heros" zu erkennen, als eine Welt, in der die Probleme der "ethique nobiliaire", der Ethik der damaligen elitären Adelsgesellschaft, im dramatischen Mythos dialektisch aus­getragen werden. Vom "prelude au heros" der sechs frühen Komödien über die Konstituierung des Helden, den Kampf um die Macht (Cinna), bis hin zum Niedergang und schließ­lich zum Tod des Helden in Surena, ein Stück, das Dou­brovsky parallel sieht zum "echec" der nobilitären Ethik in der gleichzeitig erschienenen Princesse de Cleves, wird so das Gesamtwerk Corneilles zu einer stetig fortschreitenden existentiellen Tragödie. Doubrovsky nähert sich hierdurch einer evolutionären und historischen Betrachtung der Lite­ratur, öffnet sich zu einer soziologischen Betrachtung hin,

ximation (S. 71). - Ich bekenne mich gern dem Theoretiker Doubrovsky in mehreren Punkten verwandt.

30 Corneille et la dialectique du h~ros, S. 37. Vgl. auch die Kritik von Peter Bürger, Die frühen Komödien Corneilles und das französische Theater um 1630. Frankfurt a. M. 1971.

272 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

allerdings bleibt sein Weg, wie gesagt, vom methodologi­schen Standpunkt aus betrachtet, noch unbefriedigend.

Von der Problematik der Literatursoziologie

Eine andere Möglichkeit der werktranszendierenden Ana­lyse liegt im Bereich dessen, was wir Literatursoziologie nennen, ein Terminus, der insofern mißverständlich ist, als er den Übergang zu einer anderen Disziplin, eben der So­ziologie, zu beinhalten scheint, was aber offensichtlich in den uns hier hauptsächlich interessierenden Fällen kaum beab­sichtigt ist. Literatursoziologie als Disziplin der Literatur­wissenschaft steht zwar naturgemäß in der Versuchung, diese Konsequenz ihrer Ausrichtung auf die außerliterarische Ob­jektivationsbasis der Gesellschaft zu ziehen, ist jedoch nur solange Teil der Literaturwissenschaft, als sie auf die Aus­gangsbasis Literatur bezogen bleibt, während der Soziologe naturgemäß die Sache von der anderen Seite her beurteilt. (Und daß er gegenüber dem Terminus Literatursoziologie eher im Recht ist, haben wir schon angedeutet). Im übrigen wäre es aber unangemessen, hier eine starre Grenzziehung vorzunehmen. Die Übergänge sind fließend und zeigen schon dadurch an, daß die Literaturwissenschaft hier die Möglich­keit der Kommunikation mit einer anderen Wissenschafts­disziplin hat. Literatursoziologi_e als Disziplin der Literatur­wissenschaft ist demnach Wissenschaft von Literatur im Hin­blick auf die sie bedingende und von ihr geprägte Gesell­schaft30".

30a Ich bin mir im übrigen bewußt, daß ich mit dieser sachlichen Definition der Literatursoziologie nicht den augenblicklichen Sprachgebrauch treffe. Nach diesem haben Literatursoziologie und Literatursoziologe ein ausgesprochen ideologisches Geprä­ge. Literatursoziologe ist demnach, wer von der Voraussetzung ausgeht, daß die Erscheinungen des historischen überhaus letzt­lich auf den gesellschaftlichen Unterbau zurückzuführen sind. Das trifft, bei erheblichen Nuancierungen, für die im folgen­den behandelten Robert Escarpit, Erich Köhler und Lucien Goldmann zu, weiterhin für Theodor W. Adorno, Georg Lu­kacs oder auch Werner Krauss, während man Erich Auerbachs Studie, erst recht Klaus Heitmanns Untersuchung (Anm. 41),

Von der Problematik der Literatursoziologie 273

Das große problematische Vorzeichen, unter dem nun dieser Zweig der Literaturwissenschaft bis zur Stunde steht, ist die ungeklärte Frage, welcher Art denn überhaupt die Beziehungen zwischen der Literatur und der Gesellschaft seien. Georg Lukacs' diesbezügliche Überlegungen aus dem Vorwort zur Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas enthalten einige wertvolle Ansätze. In ihnen weist Lukacs grundsätzlich zu Recht die vulgärsoziologische Auffassung zurück, wonach "die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Zeit als letzte und tiefste Ursache ihrer gesellschaftlichen" zu gelten haben und sie dadurch "die unmittelbare Ursache der künstlerischen Erscheinungen" darstellen31, erklärt er als den "größten Fehler der soziologischen Kunstbetrachtung, daß sie in den künstlerischen Schöpfungen die Inhalte sucht und untersucht und zwischen ihnen und bestimmten wirt­schaftlichen Verhältnissen eine gerade Linie ziehen will", während "Das wirklich Soziale [. . . ] in der Literatur ist: die Form. Die Form macht das Erlebnis des Dichters mit den anderen, mit dem Publikum, überhaupt erst zur Mit­teilung." (Ebda) Aber einerseits ist damit noch nicht ge­sagt, wie nun diese Form sich zu ihrer gesellschaftlichen Ent­sprechung verhalte und welches der Modus der Übertragung sei; und auf der anderen Seite gibt es eben doch auch grad­linige Ursächlichkeit im Bereich der Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft, und diese liegt in der Tat vor­nehmlich im Inhaltlichen. Es wäre beispielsweise unsachlich, darüber hinwegsehen zu wollen, daß sich bei Zola und auch bei Balzac direkte inhaltliche Bezüge zur Gesellschaft finden

obwohl der Sache nach hierher gehörig, diesem Begriff zufolge nicht als Literatursoziologie ansehen würde. Manon Maren­Grisebach scheint hier mit ihrem Ansatz recht zu bekommen Bei ihr liest man: "In der Tat ist der Marxismus mit allen seinen weiterentwickelten Formen d!e notwendige Grundlage für eine soziologische Methode, die das literarische Werk als Ganzes erkennen will, eingespannt in die vielschichtigere Ganzheit des gesellschaftlichen und geschichtlichen Prozesses." Solche Literatursoziologie nennt sie "die eigentliche Literatur­soziologie" (S. 81 f).

31 Georg Lukacs, Schriften zur Literatursoziologie, Neuwid 1961, S. 71; ich hebe hervor. Die folgenden Zitate daselbst, S. 71/72.

274 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

lassen, diese sich hier bis zu einem gewissen Grade spiegelt, und das gleiche gilt auch etwa für die zweite Fassung der Education sentimentale, es gilt für Theodor Fontanes Effi Briest nicht weniger als für Andre Maurois' Climats, und es gilt erst recht für die Basis von Literatur, deren Bezug zu Gesellschaft, Politik oder Zeitgeschehen oft ein recht gradlinig kausaler oder finaler ist. Nur ist zu bedenken -und insofern sah Lukacs mit seinen erwähnten Feststellun­gen etwas Richtiges -, daß diese gradlinig erklärbaren ur­sächlichen und finalen Beziehungen nicht die eigentliche Aus­sagehaftigkeit von schöner Literatur und von Dichtung be­treffen (mit denen auch die Literatursoziologie sich bisher weit mehr befaßt als mit der Basis von Literatur). Diese Aussagehaftigkeit, die auch eine Frage der Qualität ist, übersteigt diese ursächlichen Beziehungen, "hebt sie auf" (Hege!). Es ist also nicht völlig unberechtigt, von Wider­spiegelungsästhetik zu sprechen, wie dies der spätere Lukacs tut, aber man geht dabei am eigentlichen von schöner Lite­ratur, das der frühe Lukacs zu sehen scheint, vorbei, legt einen wohl vorhandenen, doch sekundären Aspekt zugrunde und verfälscht so das Bild des Ganzen. Während also der frühe Lukacs einen Aspekt der Sache verabsolutierend sieht und für diesen postuliert, daß "bestimmte WeltanschauUn­gen bestimmte Formen mitbringen"32, verabsolutiert der spätere und späte einen anderen. Der "Zeitgeist" treibt hier sozusagen sein Spiel mit Lukics: nach der "Wende nach Innen", wie ich es nannte, um 1909, läßt er ihn, entspre­chend dem Geist der Etappe (vgl. I, 123 ff), in der Litera­tur den Ausdruck der Weltanschauung sehen. In den zwan­ziger und dreißiger Jahren, als allenthalben die Ideologien erblühen, läßt er ihn sich einer Ideologie unterwerfen und die Literatur entsprechend sehen, nämlich als Widerspiege­lung der Antinomien innerhalb der bürgerlichen Gesell­schaftaa. Wenn, um ein Beispiel für eine ursächliche Verbin-

32 Ebda., S. 73. 33 Darin sieht Günter Rohrmoser (Art. Literatursoziologie im

Handwörterbuch der Sozialwissenschafien, Bd. VI, Göttingen 1959) das Hauptverdienst von Luk:ics für die Literatursozio­logie.

Von der Problematik· der Literatursoziologie 275

dung zwischen Literatur und gesellschaftlichen Fakten zu geben, Wilhelm von Aquitanien als erster Troubadour nicht die für spätere Troubadours charakteristischen Ergebenheits­formeln gegenüber seiner Dame entwickelt, er die diesbe­züglichen sprachlichen Umgangsformen sorgfältig dosiert und maskiert, ironisiert und persifliert, dann kann man sicher als eine Ursache hierfür anführen, daß ihm als Mit­glied des Hochadels, als Herzog von Aquitanien, solche Formeln nicht leicht von den Lippen flossen34, kann man darüberhinaus auch das aus historischen Zeugnissen bekannte Temperament, ein biologisches Faktum sozusagen, hierfür verantwortlich machen, aber es wäre irreführend, wollte man aus der individuellen Gegebenheit einer solchen Be­ziehung nun eine Regel ableiten, die einer notwendigen kau­salen Beziehung zwischen Dichtung und Klassenbewußtsein. Die zum Teil unfreiwilligen Gegenproben zeigten das recht deutlich. So konnte man den Troubadour Bernhard von Ventadorn, der ausgiebig Ergebenheitsformeln verwendet, solange für eine Bestätigung dieser Annahme halten, als er, dem Zeugnis der Vida gemäß, als armer Bäckerssohn galt. Aber inzwischen haben Forschungen positiv gezeigt, daß Bernhard von Ventadorn dem Adel von Ventadorn ent­stammt, die Vida eine Art "Mähr" um den Dichter dar­stellt34". Es kann also eine solche gradlinige Ursächlichkeit vorliegen, aber man darf sie nicht als Grundlage methodi­schen Verhaltens voraussetzen. Gradlinige literatursoziolo­gische Erklärungen kausaler Art gelten nur im Einzelfall35

34 Vgl. Rita Lejeune, Formules feodales et style amoureux chez Guillaume IX d'Aquitaine, AAStR 8, 1959, II, 1, S. 248 ff.

34a Dazu Rita Lejeune in den Akten des 4. Intern. Provenza­listenkongresses zu A vignon.

35 "Einzelfall" ist nicht gleichzusetzen mit einzelnem Text, ge­meint ist ein isoliertes literarhistorisches Faktum, das beispiels­weise sehr wohl mit dem Ursprung einer Gattung, doch nicht mit deren ganzer Existenz zusammenfallen kann, wie im Falle von "trobar clus" und "trobar leu". Als soziologisches Motiv ist hier für das schwierige Dichten, wie Erich Köhler vor­schlägt, die Annahme einleuchtend, daß es die Stellung des höheren Adels spiegelt, während das "trobar leu" die Position derjenigen spiegelt, die es nötig hatten, entgegenzukommen,

276 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

und müssen dann über die Beweiskraft: praktisch empiri­schen Materials abgesichert werden; sie sind in sich nicht be­weiskräftig, betreffen sie doch nicht eine Notwendigkeit sondern ein historisches Faktum. Die Generalisierung ist hier auch im. Wiederholungsfall einer Erscheinung irrefüh­rend und unzulässig.

Die historische Ursächlichkeit, die wir auf diese Art fest­stellen können, legt im übrigen oft - und vielfach in den besten Werken - nur einen sekundären, äußerlichen Aspekt frei, der im eigentlichen des Werkes durch ein komplizier­teres Umsetzungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Litera­tur und umgekehrt überspielt wird. Dieses kompliziertere Umsetzungsverhältnis zwischen Dichtung und Welt hatte Lukacs im Sinn, wenn er, hierin Dilthey folgend, von Welt­anschauung sprach; ihm gilt auch Barthes' Begriff der "ecri­ture" als paradoxalern Engagement eines "texte clos"; ihm ist Doubrovsky mit seiner Vorstellung vom "projet humain", Lucien Goldmann mit seinem von Dilthey und Lukacs über­nommenen Begriff der "vision du monde" auf der Spur; ihm galt schließlich auch mein Begriff des mythischen Selbstver­ständnisses36. Dieses kompliziertere Verhältnis ist das der geschichtlichen Position (vgl. S. 50 ff), in der die historischen Filiationen aufgehoben, bis zu einem gewissen Grade trans­zendiert und aus der zwischen Zeit und Ewigkeit liegenden Gegenwart des Augen-blicks heraus integriert werden. Es liegt nahe, diesen Ansatz über den geschichtlichen, freien Augenblick, von dessen In-sich-ruhen zwischen Vergangen­heit und Zukunft vielstl'ahlig verzweigte Fäden in die Gleichzeitigkeit, in die Vorzeitigkeit, aber auch, als projet, in die Zukunft hinauslaufen, in seinem verwirrenden Reich­tum zu beschneiden, einmal aus Schwäche, sodann aber auch aus der methodischen Einsicht heraus, daß man nur bei der Beschränkung auf einen dieser Aspekte zu wirklich positiven

sich erst einmal mit ihren Vorstellungen durchzusetzen. (E. Köhler, Observations historiques et sociologiques sur la poe­sie des troubadours, CCM VII, 1964, S. 27 ff). Ob das aber audt für die sozusagen zum Gebrauch zur Ver­fügung stehenden "Gattungen" gilt, sdteint mir zweifelhaft.

36 Der französische Roman im 20. ]hdt, a. a. 0.

Von der Problematik der Literatursoziologie 277

Ergebnissen kommen kann. Aber man sollte sich der Ein­gleisigkeit, die darin liegt, bewußt bleiben, sollte die Falle der Kausalität, die aus diesem komplizierten Umsetzungs­verhältnis herausführt, als Gefahr erkennen, das eigentliche wieder aus den Augen zu verlieren. Es ist, um nur ein Bei­spiel anzuführen, legitim, wenn es sich Lucien Goldmann zur Aufgabe macht, einen der von diesem Augen-blick aus­laufenden Fäden, den zum "groupe social" und dessen Welt­anschauung hinführenden, einseitig zu verfolgen, die Öko­nomie des Forschens zwingt ihn dazu, aber die Brücke, die er schlägt, sollte nicht zu sehr konsolidiert und vor allem nicht generalisiert werden, denn abgesehen davon, daß sie teil­weise auf Deutakten aufruht, betriffi sie eine der historischen Filiationen eines geschichtlichen Augen-blicks von Literatur, nicht mehr und nicht weniger37• Die Frage des grundsätz­lichen Verhältnisses zwischen den relationierten Größen werden wir daher nicht über solche Einzelfälle klären kön­nen. Weiterführen könnte hier nur die systematische Erar­beitung gesellschaftlicher Reihen auf der einen, literarischer Reihen (des Romans z. B.) auf der anderen Seite, aber auch weiterer Reihen wie der philosophischen und theologischen, sowie die Untersuchung des Zusammenspiels solcher Reihen in synchronischer und diachronischer Beziehung. Jürgen Ha­bermas' Strukturwandel der Öffentlichkeit kann als sozio­logischer Ansatz in dieser Richtung gelten; in Der franzö­sische Roman im 20. jhdt. habe ich meinerseits versucht, die Reihe eben des französischen Romans im 20. Jhdt. in gro­ben Zügen zu erstellen. Sind mehrere solcher Reihen mit erforderlicher Belegdichte für gleiche Zeiträume erstellt, so kann man mit Aussicht darauf, die grundsätzliche Weise des Zusammenhangs von literarischen und gesellschaftlichen Fak­ten zu finden, zur Mikroanalyse eines synchronen Quer­schnitts oder eines diachronischen Längsschnitts von nur ge­ringer zeitlicher Ausdehnung übergehen.

Die erwähnte Problematik sollte also keineswegs daran

37 Das ist nicht als Vorwurf gesagt. Lucien Goldmann ist sich als Dialektiker sozusagen ex officio dieser Gefahr der Erhärtung seiner These bewußt (vgl. etwa Le dieu cache, Paris 1959, s. 16).

278 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

hindern, auf diesem Gebiet zu forschen, sondern ganz im Gegenteil zu problembewußter Forschung anreizen. Solange die Grundproblematik ungeklärt ist, wird man hier eben durch die Oberzeugungskraft des empirischen Materials kom-pens1eren müssen.

Die Grundausrichtungen der Literatursoziologie

Was nun die Praxis anbetriffi:, so lassen sich hier drei Grund­ausrichtungen mit je unterschiedlicher methodischer Proble­matik erkennen. Die erste ist die statistische; sie hat ihre Fest­stellungsakte im außerliterarischen Bereich. Die zweite ist die dokumentarisch-historische, wie man sie nennen könnte: sie gewinnt ihre Feststellungsakte auch im Bereich der Lite­ratur, insoweit diese gradlinige historische Filiationen zum Ausdruck bringt oder man dies von ihr annimmt. Die dritte Ausrichtung ist die hypothetische, wieich sie nennen möchte: sie verwendet zwar auch Feststellungsakte der genannten Kategorien, diese jedoch nur stützend im Hinblick auf eine den geschichtlichen Zeugnischarakter der Literatur betreffen­den Hypothese.

Die statistische Literatursoziologie

Die statistische Literatursoziologie hat ihr hauptsächliches Betätigungsfeld im Bereich von Publikumswirkung und Er­folg, Nachleben etc., soweit diese sich quantitativ meßbar niederschlagen oder in meßbare Verhältnisse übersetzt wer­den können. Im Falle von Auflagenziffern, regionaler Ver­breitung, Übersetzung, Aufnahme in den Kanon der Bil­dungsautoren öffentlicher Einrichtungen z. B. wird man hier völlig unbestreitbare, selbstevidente Zahlen vorlegen können, während die tatsächliche Wirkung und deren Intensität nur auf experimentellem oder klinischem Wege, also etwa über Fragebögen oder Gesprächsreihen, statistisch erfaßt werden können. Gewiß wird man dabei über die Weise der Befra­gung und deren Effektivität oft geteilter Meinung sein, aber die Zahlen als solche täuschen nicht, man muß sie nur rich­tig zu lesen wissen. Wenn beispielsweise Robert Escarpit, ein Exponent dieser streng positivistischen Literatursoziolo-

Die dokumentarisch-historische Literatursoziologie 279

gie, auf Grund von experimentellen statistischen Erhebun­gen Zahlen vorlegen kann über die "Präsenz" von Schrift­stellern im Bildungsstock junger Menschen verschiedener Schulbildung, dann mag man wohl seine Zweifel hegen, ob das Bild in allen Punkten wirklich repräsentativ ist (jeder Befragte sollte fünf ihm bekannte Autoren angeben), aber auf der anderen Seite erhalten wir doch ein handJestes, positives Bild vom Rhythmus von Vergessenwerden und Übergang zu überzeitlichem Ruhmss. Wo diese Evidenz von Zahlen und Zahlenverhältnissen erreichbar ist, gilt daher sicherlich, was Robert Escarpit als Grundsatz formuliert: die Beweiskraft der Zahlen auf keinen Fall durch voreilige Deutakte kompromittieren, viel Geduld üben, und erst zur "öffentlichen" Formulierung einer These übergehen, wenn die experimentellen Ergebnisse nach reichlicher Überprüfung die gefundenen Gesetzmäßigkeiten bekräftigen39•

Die dokumentarisch-historische Literatursoziologie

Als eine zweite Grundausrichtung sodann kann man die Literatursoziologie bezeichnen, die sich auf historische Zeug­nisse stützt, seien diese nun außerliterarischer Art oder aus der Literatur selbst gewonnen. Die hauptsächlichen Betäti­gungsfelder dieser Ausrichtung sind:

1. Soziale Herkunft und gesellschaftliche Stellung des Dichters

2. Das Verhältnis zum Publikum 3. Die historische Relevanz von Stoff und Gehalt.

Im Falle von sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Stel­lung werden historische Zeugnisse biographischer Art, die, in sich betrachtet, keine Literatur sind, die besten Dienste tun; was im übrigen nicht ausschließt, bei entsprechender

38 Robert Escarpit, L'image historique de Ia Iitterature chez !es jeunes - Problemes de tri et de classement, Litterature et so­cihe, Bruxelles 1967, S. 151 ff.

39 Vgl. auch als weiteres typisches Beispiel die Untersuchung des DIVO-Institutes, Lesen und Freizeit, in Norbert Fügen, Wege der Literatursoziologie, Neuwied und Berlin 1968. Weiterfüh­rende bibliographische Angaben in G. Luk:lcs, Literatursozio­logie, 3. Aufl. 1968.

280 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

Vorsicht - und d. h. möglichst bei Absicherung durch wei­tere Feststellungsakte - auch einmal Aussagen aus der Lite­ratur selbst als Belege hinzuziehen. Letzteres ist nahezu unumgänglich, wenn, wie oft im Falle mittelalterlicher Lite­ratur, historische Dokumente im strengen Sinn fehlen. Es gilt dann das Risiko, das literaturspezifische Hermeneutik vom Standpunkt des Positivismus aus betrachtet, mit sich bringt, möglichst auszuschalten, indem man sich beispiels­weise weniger an mythisch integrierte Aussagen als an Pro­loge hält (die indes auch ihre Tücken haben) oder an einge­streute Aussagen des Autors, die sich unmittelbar ans Publikum richten. Wenn beispielsweise der Dichter des The­benromans im Prolog die Angehörigen aller Berufe, soweit sie nicht Kleriker oder Ritter sind, fortschickt, weil sie von der Sache soviel verstehen "wie der Esel vom Harfenspiel", dann kann Erich Köhler hierin ein Dokument für die "Selbstauffassung des höfischen Dichters" sehen und ebenso, wenn Benoh de Sainte-More im Trojaroman die Autorität Homers verwirft gegenüber derjenigen von Dares, weilletz­terer "nicht bloß <clerc merveillos et des set arz escientos> gewesen sei"40. Immerhin verlangt dieses historiographische Verfahren hermeneutisches Geschick und Diskretion, vor allem gegenüber situationell gebundenen Aussagen. Auch Erich Auerbach, dessen Ausführungen über Das französische Publikum des 17. jhdts. als Beispiel für das zweite Betäti­gungsfeld gelten sollen, hält sich an diese Regel. Er stützt sich in der Hauptsache auf mitteilende dokumentarische Aussagen, wie diese in Briefen, Vorwörtern etc. enthalten sind, verschmäht es aber auch nicht, hie und da - mit Recht -Versen dokumentarische Beweiskraft beizumessen, so etwa einem Vers von Regnier, der "spottweise im Sinne Malher­bes" lautet: "Belleau ne parle pas comme on parle en ville" oder einem von Corneille, in dem es heißt: "bon galant au theatre et fort mauvais en ville"41 • Es handelt sich hier zwar um dichterisch gebundene Aussagen, doch leuchtet in ihnen

40 Trobadorlyrik und höfischer Roman. Au/sätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962, s. 9-20, s. 228-234.

41 Das französische Publikum des 17. ]hdts, 2. Auf!. München

Die dokumentarisch-historische Literatursoziologie 281

auf der Ebene der verwendeten semantischen Elemente kon­temporäre soziale Wirklichkeit auf.

Das dritte Betätigungsfeld des dokumentarisch-histori­schen Verfahrens sodann führt dem literarischen Faktum im engeren Sinn wiederum ein Stück näher, es wertet nämlich in erster Linie die Literatur selbst in Stoff und Gehalt histo­riographisch aus. Wenn beispielsweise in Romanen von Bal­zac, Victor Hugo, Eugene Sue oder Zola auf der Ebene von Stoff und Gehalt identifizierbare gesellschaftliche Verhält­nisse begegnen, dann gestatten diese positive Aussagen, die eine nicht unerhebliche und willkommene Bereicherung histo­rischer und soziologischer Erkenntnisse bedeuten können, in­sofern hier das Bild der Gesellschaft lebendiger und voll­ständiger hervortritt als dies in theoretischen Darstellungen der Fall zu sein pflegt. Darüberhinaus gestattet die Erkennt­nis dieser unmittelbaren geschichtlichen Bezüge aber auch, die Literatur selbst und ihr Verhältnis zum Background schärfer zu fassen. Problematisch wird allerdings diese Möglichkeit, wenn die historischen Forschungen zur entsprechenden Epo­che keine verläßliche parallele Erkenntnisreihe bieten, über die eine Identifikation erfolgen kann oder wenn die Litera­tur ihrerseits den aktualistischen Background ignoriert oder deformiert. Es ist nun einmal eine Tatsache, daß schöne Literatur nie getreu wiedergibt, sondern, selbst wenn sie den Willen zur Nachahmung hat, über das Nachgeahmte hinaus­geht und dies erst recht, wenn es ihr gar nicht um Nach­ahmung sondern um Idealisierung zu tun ist. Während daher beispielsweise solcherart über die Literatur durchge­führte Forschungen zum sozialen Background des realisti­schen und naturalistischen Romans in Frankreich wie auch zu dem des englischen Romans im 18. Jhdt. erfolgverspre­chend und dankbar sind, hier Realitätsbezogenheit und Möglichkeit der Identifikation gegeben sind, liegt etwa der Fall von Forschungen zum sozialen Background mittelalter­licher Literatur wesentlich komplizierter und schwieriger. Hier ist die Geschichtsschreibung teilweise auf die Literatur

1965. Dokumentarisch-historisch verfährt auch Klaus Heitmann in seiner Studie Der Immoralismus-Prozeß gegen die französi­sche Literatur im 19. ]hdt., Bad Hornburg v. d. H. 1970.

282 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

angewiesen, um das Bild der Epoche zu erarbeiten, so daß man trotz vorbildlicher Untersuchungen, wie sie z. B. R. R. Bezzola durchgeführt hat ( Les origines et Ia formation de Ia Iitterature courtoise en occident,ll,1,Paris 196042) in vielen Fällen kaum von einer echten Möglichkeit der Verifikation und Absicherung über die Objektivationsbasis historischer Erkenntnisse sprechen kann. Hier hat die Literaturwissen­schaft zum Teil umgekehrt Pionierdienste zu übernehmen. Bezeichnend für die Gefahren, die dabei drohen, ist etwa der Fall der als ehebrecherisch geltenden höfischen Liebe, einer auf Grund mangelhafter hermeneutischer Kunst aus den Gedichten der Troubadours herausgelesenen These (die nur einige keineswegs typische Fälle des "amour courtois" abdeckt). Diese falsche These führte ihrerseits zur historisch­soziologischen Vorstellung von einem frauenarmen Hof, an dem die armen Höflinge, Gäste und Sänger darauf ange­wiesen waren, ihre frustrierte Sexualität idealisierend auf die Herrin des Hofes auszurichten, eine Vorstellung, die dann als "gesichertes Faktum" in die einschlägige wissen­schaftliche Literatur Eingang fand und sich hartnäckig, allem Anschein nach ungeprüft, in ihr hielt43• Man wird hier also vor unzulässigen Generalisierungen und Übertragungen auf der Hut sein müssen43•, wird auch bedenken müssen, daß die soziologische Relevanz eines Stoffes sozusagen durch mehrere Spiegel gebrochen sein kann. Es kann sich beim Stoff einer Chanson de geste um einen Stoff handeln, der il'l letzter Instanz auf ein histonsdies Faktum zurückgeht, das drei Jahrhunderte zurückliegt und das neben dem Erbe der

42 Ich denke weiterhin an K.-H. Bender, König und Vasall, Heidelberg 1967.

43 Dazu A. R. Press, Amour courtois, amour adultere, in VI" Congres de Iangue et Iitterature d'oc, RLR 1971, S. 435 ff.

43a ·So kann beispielsweise Lucien Goldmann in seinem Aufsatz zum Nouveau Roman (in: Pour une sociologie) manche Ro­mane Robbe-Grillets im Sinne seiner These (der Nouveau Ro­man als Spiegelbild der Verdinglichung) benutzen, während sich andere dieser Benutzung versperren. Das ist bezeichnend für eine auf inhaltlicher Basis bleibende Untersuchung, die im:­mer nur Teilaspekte konkreter historischer Relationen zutage fördern kann.

Die hypothetische Literatursoziologie 283

Transformationen und Ankristallisierungen, das die Jahr­hunderte an ihm hinterlassen haben, nun· auch nod1 eine schwer auszumachende letzte, zeitgenössische Transformation verrät. Es kann sich, um die ganze Kompliziertheit der Lage bewußt zu machen, bei einer Episode, der Schilderung eines Rechtsstreites z. B., um die Spiegelung von Verhältnissen handeln, die sich, sagen wir, seit einem Jahrhundert als mehr oder weniger konstante Ausweitung am historischen Stoff angegliedert hat. Die Kunst der Hermeneutik wird also hier in hohem Maße erforderlich sein und den Ergeb­nissen in mehr als einem Fall hypothetischen Anstrich geben.

Die hypothetische Literatursoziologie

Hypothetisch ist schließlich jene Literatursoziologie zu nen­nen, die solche lmplikationen nicht scheut, sondern es sich geradezu zur Aufgabe macht, den Schatz an soziologischen Erkenntnissen zu bergen, der in der Literatur selbst und vornehmlich in der schönen Literatur enthalten ist, die ge­sellschaftliche Natur derselben zu analysieren. Sie nimmt das Risiko literaturspezifischer Deutung auf sich im Be­wußtsein des hohen Einsatzes, um den es geht: nicht nur mehr oder weniger akzidentelle historische Filiationen auf­zudecken, sondern die Geschichtlichkeit des literarischen Fak­tums selbst erkennend anzugehen. Serge Doubrovsky, den wir schon im Verband der Nouvelle Critique kritisch bespro­chen haben, der Erich Köhler von Ideal und Wirklichkeit im höfischen Roman (Tübingen 1956, 2. Aufl. 1970) und Lucien Goldmann, mit Le dieu cache, Paris 1959, und Pour une sociologie du roman, Paris 1964 sind prominente Ver­treter dieser Richtung.

Erich Köhler vertritt dabei den Standpunkt einer Litera­tursoziologie, welche die Literatur im Wirkzusammenhang umfassender geistiger Bewegungen, als eine konkurrierende Manifestation derselben, sieht, als einen Sinngebungsver­such im Hinblick auf die Wirklichkeit, der seinerseits von der Wirklichkeit veranlaßt wird: "Der Literarhistoriker, dem es um die Aufhellung dieser für das poetische Erzeug­nis höchst bedeutsamen Beziehung zu tun ist, muß die dich­terische Sinngebung der Wirklichkeit aus dieser letzteren,

284 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

selbst schon den Anlaß zu jener Sinngebung enthaltenden, deutlich machen, aus ihr die besondere Art der jeweiligen Deutung einschließlich der Stilformen, in denen dies ge­schieht, zu .verstehen suchen" (S. 2 f.). Köhler will also die Literatur nicht "definitiv", mit dem Ziel soziologischer Er­kenntnis, auf Gesellschaft hin transzendieren, sondern für ihn ist diese Transzendenz eine vorläufige, dem hermeneutischen Akt zugeordnete. Der Blick auf die Wirklichkeit, für die der Dichter eine Sinngebung anstrebt, soll helfen, die Dichtung besser zu verstehen. Köhler ist sich im übrigen bewußt, daß dies vor allem im Umgang mit mittelalterlicher Literatur die Gefahr des Zirkelschlusses birgt, insofern nämlich hier oft die Wirklichkeit erst aus der Dichtung erschlossen wer­den mußte. Aber er bemerkt zu dieser Gefahr: "Sie kann auf ein Mindestmaß reduziert werden, wenn das aus der Dichtung im Dienste ihrer Deutung erschlossene Bild der Wirklichkeit mit dem ständigen Blick auf alle anderen Ge­biete zeitgenössischen Handeins und Denkens auf seine Ob­jektivität, und das heißt auch auf seine hermeneutische Tauglichkeit hin, überprüft wird" (S. 3). Ganz klar geht hieraus auch hervor, welch entscheidende Bedeutung für Köhler der hermeneutische Akt behält: alles andere ist ihm im Verband konkurrierender Erkenntnis zur Epoche Fest­stellungsakt und Sicherungsakt im Hinblick auf ihn.

Mit diesem methodelogischen Konzept geht dann Köhler daran, die höfische Epik zu analysieren und deutet sie, durch die Literatur selbst hierzu ermuntert, als Selbstbehauptung des niedrigen, besitzlosen Adels, der in der "aventure" und im höfischen Wertesystem eine Idealisierung der Wirklich­keit vornimmt, mit der er seine Rechte wahrt, die des "che­valier errant", der von Hof zu Hof zog, und dem die Chance, sein Ideal zum gültigen Ideal der höfischen Gesell­schaft zu erheben, nur zufiel, weil der hohe Adel in der Aus­einandersetzung mit den Zentralisierungsbestrebungen des Königs auf ihn angewiesen war44• Es ist dies eine einleuch-

44 Vgl. auch E. Köhler, Les possibilites de l'interpretation socio­logique illustrees par l'analyse de textes littt\raires frans;ais de differentes epoques, Litterature et socihe, Bruxelles 1967, S. 47 ff ..

Die hypothetische Literatursoziologie 285

tende, aber trotz aller Vorsicht und Umsicht, mit der E. · Köhler zu Werke geht, er seine Deutung durch literarische Texte und konkurrierende historische Dokumente absichert, eben doch hypothetische, auf einer als solche ungesicherten Deutung aufruhende Erklärung des Phänomens höfischer Epik. Aber das Beispiel zeigt auch, daß es sich lohnt, dieses Risiko einzugehen, man hier Einsichten gewinnen kann, die sicher noch an Oberzeugungskraft und Gesichertheit gewin­nen könnten, wenn man sie konsequent in die diachronisch­historische Kontrolle nähme. Köhler formuliert einmal: "La Iitterature est toujours, meme la ou eile s'incarne dans une ceuvre de genie, le miroir et l'interpretation de l'etat de la societe a un moment precis de l'evolution historique"45 • Gilt dies aber, dann müßte sich der historische Wandel in der literarischen Reihe ebenso klar aufzeigen lassen wie in der gesellschaftlichen oder politisch-historischen. Gelänge es nun, diesen Wandel des in der Literatur sich deklarierenden so­ziologischen Selbstverständnisses zu konkretisieren, so daß diese Reihe mit derjenigen politischer und gesellschaftlicher Reihen als selbsttätiger Konkurrent verglichen werden könnte, dann näherten wir uns dem Ideal des feststellen­den Beweises, das um höheren Einsatzes willen vorüber­gehend mißachtet schien.

Hypothetisch ist auch die soziologische Position von Lu­cien Goldmann in seinen einschlägigen Schriften Le dieu cache und Pour une sociologie du roman (mit Ausnahme des Beitrags "Nouveau roman et realite", von dem weiter oben die Rede war, und der den Anspruch einer positivisti­schen, auf der Ebene des Inhalts die Widerspiegelungen konkretisierenden Untersuchung -erhebt). Lucien Goldmann ist sich dieser hypothetischen Natur seiner Thesen im übri­gen durchaus bewußt, wie denn auch die Bezeichnung als hypothetisch von mir keineswegs abwertend gemeint ist. Goldmanns in "Le taut et les parties"(Le dieu cache) for-

45 Ebda., S. 48. - Die in der voraufgehenden Anmerkung zi­tierte Skizze läßt im übrigen schon Ansätze zu einer solchen historischen Reihe erkennen, ist aber, dem Umstand entspre­chend, noch zu grob angelegt, um aus sich Überzeugungskraft zu entwickeln.

286 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

muliertes methodisches Ziel ist es, das Werk (womit er das Gesamtwerk eines Autors meint46), in den Zusammenhang der historischen Entwicklung und des sozialen Lebens der "Gruppe" zu stellen, deren Bewußtsein es "in seinen wichtig­sten Bestandteilen spiegelt"47 • Er will so die Schwierigkeiten für methodisch gewonnene, wissenschaftliche Erkenntnis über­winden, die wegen der Problematik literarturspezifischer Hermeneutik auf der Ebene der Textinterpretation bestehen und die durch einen Rekurs auf die Biographie kaum beho­ben werden können: zwischen der Biographie des Autors und seinem Werk besteht nur eine wohl wissenswerte, doch akzidentelle Beziehung. Er will also, um an unsere Ausfüh­rungen zur Problematik literaturwissenschaftlicher Methoden anzuknüpfen (Bd. I, 73 ff), das Werk auf die Gesellschaft bzw. auf die gesicherte Kenntnis, die wir von dieser haben, hin transzendieren und es von der Objektivationsbasis sozio­logischer Feststellungsakte her wissenschaftlich erkennbar machen. Er entscheidet sich so für eine Literaturwissenschaft als "science humaine". Die naheliegende und entscheidende Frage, wie nun aber dieser Schritt über das Werk hinaus in überzeugender Weise zu be~erkstelligen sei, ohne daß etwa akzidentelle inhaltliche Relationen bemüht würden, beant­wortet er mit dem an Lukacs anschließenden Hinweis auf den Begriff der "vision du monde", der Weltanschauung. Mit diesem Begriff glaubt er zugleich auch den methodischen Schlüssel zu besitzen für die Unterscheidung nach Wesent­lichem und Unwesentlichem im Werk: wesentlich- und d.h. zugleich geschichtlich relevant - ist die Weltanschauung, die

46 Ist das ein Relikt der biographischen oder der psyd10logischen Methode oder aber zeigt sich hier Verwandtschaft zur Nou­velle Critique? Jedenfalls verbaut sich Goldmann durch die­sen Ansatz von vornherein die Chance, bei einem Autor- von denen manche über ein halbes Jahrhundert lang produziert ha­ben - einen Wandel im Weltbild festzustellen, denn wenn das Werk jeweils als Ganzes für die Auffindung seines Bezugs zur Gesellschaft zugrundegelegt wird, ist hier eine weitere Diffe­renzierung nicht mehr möglich.

47 So in "Die strukturalistisch-genetische Methode in der Lite­raturgeschichte", Soziologie des Romans, Neuwied und Berlin 1970, s. 241.

Die hypothetische Literatursoziologie 287

sich im Werk ausprägt. Diese wird sodann ihrerseits be­trachtet als mehr oder weniger getreue Widerspiegelung des "ensemble d'aspirations, de Sentiments et d'idees qui reunit les membres d'un groupe (le plus souvent d'une classe sociale) et les oppose aux autres groupes"48. Das Werk eines Autors aber ist umso bedeutender, je mehr es sich der "coherence schematique d'une vision du monde" nähert, je getreuer es also mit seinen Strukturen die Weltanschauung einer sozia­len Gruppe widerspiegelt.

Dieses in sich recht schlüssige Konzept erscheint lediglich in dem einen Punkte "willkürlich" - weil vermutlich hier nicht durch sachliche Logik sondern durch Ideologie re­giert -, als Goldmann das sich in der Literatur "mit wich­tigen Bestandteilen spiegelnde Bewußtsein" als das einer sozialen Gruppe deklariert. Das kann zwar im Einzelfall so sein, ist aber nicht notwendig der Fall. Hier gibt Gold­mann, wenn man ihn in diesem Punkt ganz ernst nimmt -der Goldmann von Pour une sociologie du roman ist schon weniger orthodox -, den so wertvollen geschichtlichen An­satz einer unzulässig verallgemeinerten historischen Filia­tion zuliebe preis. Es ist in der Tat nicht einzusehen, warum beispielsweise das Weltbild von A la recherche du temps perdu das Bewußtsein einer sozialen Gruppe und wenn auch nur in wichtigen Bestandteilen, spiegeln soll, und selbst im Falle eines Camus, erst recht eines Robbe-Grillet oder Butor, wäre es sicher schwer, die zugehörige soziale Gruppe ausfindig zu machen. Auch Goldmann muß ganz offensichtlich seine Beispiele suchen, was der beste Beweis dafür ist, daß er hier eine akzidentelle historische Bedingung als theoretische Struktur mißdeutet hat.

Im Falle der "vision tragique dans les Pensees de Pascal et dans le the:ltre de Racine" (Untertitel von Le dieu cache) konnte diese Sicht der Dinge aus konkreten historischen Gründen hingegen wohl appliziert werden. Lucien Gold­mann kann hier "die einheitliche tragische Struktur der Pensees und der Racineschen Tragödien"49 herausarbeiten,

48 Le Dieu cache, S. 26. 49 Ich übernehme die Formulierungen von L. Goldmann aus "Die

strukturalistisch-genetische Methode in der Literaturgeschich-

288 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

sie "in den extremistischen Jansenismus einordnen" und so einer Erklärung zuführen. Er kann weiterhin in einer durch historische Dokumente abgesicherten Hypothese das Grup­penbewußtsein, das sich hier mit wichtigen Bestandteilen spie­geln soll, als das der frustierten "noblesse de rohe" unter der absoluten Monarchie bestimmen. Zwar wird ihm nicht jeder bei diesen "Erklärungen" folgen, aber sie erscheinen doch wohlfundiert und als Hypothesen legitim. Im Falle seiner "sociologie du roman" wäre aber Lucien Goldmann wohl kaum bei einer einigermaßen breiten Streuung seines Untersuchungsmaterials mit dieser Arbeitshypothese durchge­kommen. Hier nimmt er denn auch einen zwar verwandten, doch weniger engen, von historischen Bindungen freien methodologischen Standort ein. Er richtet sein Augenmerk auf die marktwirtschaftliehen Verhältnisse, zu denen er im jeweils kontemporären Roman strukturelle Homologien ent­deckt. Er erklärt diese strukturellen Entsprechungen als Spiegelungen von Strukturen des Kollektivbewußtseins, das "implizite im Zuge des Gesamtverhaltens der Individuen entwickelt wird, welche am sozialen, politischen, ökonomi­schen Leben teilnehmen"50• Mag diese Erklärung einseitig sein, insofern sie aus einem Bündel geschichtlicher Beziehun­gen, in denen der Roman' steht, einen Faden herauslöst und ihn verabsolutiert, so hat sie doch manches für sich, gibt sie sogar die Möglichkeit, im Groben die Peripetien der Ent­wicklung des Romans zu "erklären". So könnte man bei­spielsweise die Entstehung des höfischen Romans im 12. Jhdt. mit guten Gründen erklären aus einer strukturellen Homo­logie des höfischen Romans zur sich im 12. Jhdt. durchset­zenden anisanalen Produktion: hatte man bis dahin für sich produziert, hatte die Ware Gebrauchswert und war sie durch ihn definiert, so erhält nun durch die Handwerkszünfte der Wert einen ersten Grad von Mittelbarkeit, und ganz ent­sprechend werden auch im höfigen Roman die Werte mittel­bar, werden sie in "aventure" und Weg impliziert, anstatt, wie im Epos, unmittelbar gegenwärtig zu sein. Die Wieder­geburt des französischen Romans im 19. Jhdt. sodann ließe

te", a. a. 0., S. 245 f. 50 Soziologie des Romans, S. 30.

Die Literaturgeschichte 289

sich mit der Industrialisierung in Verbindung bringen, die einen weitaus höheren Grad an Mittelbarkeit, den der Fließ­handarbeit und der Unüberschaubarkeit des Wertes, zur Folge hat, während die weitere Geschichte des Romans, zum mindesten in ihren groben Umrissen, im Sinne von Marx als fortschreitender Fetischismus der Ware und fortschrei­tende Verdinglichung des Menschen gedeutet werden könnte: sie ließe sich deuten als ein Prozeß, der um die Jahrhun­dertwende, beim Obergang von der liberalen Konkurrenz­wirtschaft zur Kartell- und Monopolwirtschaft seine nächste Peripetie hat, die sich im Verschwinden des individuellen Helden ausdrückt, während der Nouveau Roman die jüngste Phase dieser Entwicklung darstellt, die der vermutlichen Abwesenheit des Subjekts51 und der bedrohenden Präsenz der Dinge. Ob man allerdings auf diesem Wege mehr als die groben Peripetien in der Entwicklung des Romans wird "erklären" können, bleibt abzuwarten. Es müßten wohl andere komplementäre Homologien hinzugenommen wer­den, wenn man ein geschlossenes Bild der Entwicklung ge­winnen wollte, sei es die zur politischen Reihe oder die zu anderen Künsten52, sei es die zu philosophischen Systemen oder die etwa zur Theologie.

Die Literaturgeschichte

Es sollte solchen sicher erfolgversprechenden Initiativen ge­genüber aber nicht eine dringliche Aufgabe vergessen werden, auf die Werner Krauss schon um die Jahrhundertmitte auf-

51 Vgl. dagegen mein Buch Der französische Roman im 20. Jhdt, S. 138 ff sowie meinen Aufsatz Roman und Perzeption, in GRM, N. F. XXI, 1971.

52 Eine Besprechung der Frage nach "wechselseitiger Erhellung" der Künste wird der eine oder andere vermißt haben, aber wir mußten uns beschränken, um das Buch, das ursprünglich nur etwas mehr als die Hälfte seines jetzigen Umfangs ha­ben sollte, nicht ad infinitum anwachsen zu lassen. V gl. neuer­dings G. R. Hocke, Die Welt als Labyrinth, Harnburg 1957 so­wie ]. Hermand, Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft, Stuttgart 1965.

290 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

merksam machte5s und die in der Literatursoziologie zwar keineswegs umgangen doch auch nicht unmittelbar in Angriff genommen wird, die der Literaturgeschichte im eigentlichen Sinn, d. h. Literaturgeschichte als Beschäftigung mit dem spezifischen Beitrag der Literatur zur Geschichte. Die Litera­tursoziologie hat nahezu zwangsläufig eine Erneuerung die­ser Unterdisziplin der Literaturwissenschaft gebracht, aber sie hat auch die Gefahr beschworen, daß dabei die Geschichte der Literatur selbst zugunsten des Sprungs in die vermeint­lich direkteren Historica außerhalb der Literatur vernach­lässigt wurde, die Literaturgeschichte von der Soziologie so­zusagen absorbiert wurde. Eine sinnvolle Erneuerung der Literaturgeschichte setzte aber voraus, "den wirklichkeits­bildenden Charakter der Kunst ins Recht zu setzen"54•

Solange Literatur nur als Widerspiegelung gesehen wird, so­lange sie, wie dies bei Goldmann und auch bei Köhler der Fall ist, letztlich doch auf eine 111nitiative" der Gesellschaft zurückgeführt wird, erscheint die Geschichtlichkeit der Lite­ratur um ihre spezifische Dimension verkürzt.

Hans-Robert Jauss hat daraus die Folgerung abgeleitet, Literaturgeschichte müsse erneuert werden als Geschichte der Interaktion von Werk und Menschheit: "Literatur und Kunst werden erst zur prozeßhaften Geschichte, wenn das Nacheinander der Werke nicht allein durch das produzie­rende, sondern auch durch das konsumierende Subjekt, durch die Interaktion von Autor und Publikum, vermittelt wird"55. Er erhebt die Forderung nach einer Rezeptions- und Wirkungsästhetik, die dadurch dem drohenden Psychologis­mus entgehen könne, daß sie "die Aufnahme und Wirkung eines Werks in dem objektivierbaren Bezugssystem der Er­wartung beschreibt, das sich für jedes Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und prakti-

53 W. Krauss, Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag (1950), in Studien und Aufsätze, Berlin 1959, S. 19-72.

54 H. R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1970, S. 157.

55 Ebda., S. 164.

Die Literaturgeschichte 291

scher Sprache ergibt"56. Er kann in diesem Zusammenhang hinweisen auf Cervantes, der "aus den Lektüren des Don Quijote den Erwartungshorizont der so beliebten alten Rit­terbücher erstehen "läßt", die das Abenteuer seines letzten Ritters sodann tiefsinnig parodiert"57. Er kann hinweisen auf Diderot, der zu Beginn des Jacques le fataliste mit den fiktiven Fragen des Lesers an den Erzähler den Erwartungs­horizont des modischen Romanschemas der "Reise" mitsamt den (aristotelisierenden) Konventionen der romanesken Fa­bel und der ihr eigenen Providenz" evoziert, "um dem ver­sprochenen Reise- und Liebesroman sodann provokativ eine gänzlich unromaneske verite de l'histoire entgegenzuset­zen"58. Er kann schließlich hinweisen auf Nerval, der in den Chimeres "eine Quintessenz bekannter romantischer und okkulter Motive" kombiniert und vermischt und daraus "den Erwartungshorizont mythischer Weltverwandlung" er­stellt, "um aber seine Abkehr von der romantischen Poesie zu bedeuten"59. Er könnte neuerdings verweisen auf rezep­tionsästhetische Erfahrungen mit den frühen Komödien Cor­neillesoo, mit dem Nouveau Roman61, mit den Anfängen portugiesischer Lyrik62 und mit Beckett62", um nur einige Titel zu nennen. All diesen Arbeiten - die zu Beckett bis zu einem gewissen Grade ausgenommen - ist aber nun ge­meinsam, daß sie sich durch einen ausgesprochen mikrosko­pischen, eher ästhetischen als geschichtlichen Ansatz im Detail

56 Ebda., S. 173 f. 57 Er beruft sich dabei auf H. J. Neuschäfer, Der Sinn der Pa­

rodie im Don Quijote, Heidelberg 1963. 58 Er folgt dabei der Deutung von R. Warning, Tristram Shandy

und ]acques le Fataliste, München 1965. 59 Wobei er die Deutung von K. H. Stierle zugrundelegt: K. H.

Stierle, Dunkelheit und Form in Gerard de Nervals "Chime­res«, München 1967.

60 Peter Bürger, Die frühen Komödien Corneilles und das fran­zösische Theater um 1630, a.a.O.

61 Klaus Netzer, Der Leser des Nouveau Roman, Bad Horn­burg 1970.

62 Rainer Heß, Die Anfänge der modernen portugiesischen Lyrik, HabiL-Schrift Erlangen 1970.

62a M. Smuda, Becketts Prosa als Metasprache, München 1970.

292 Grundorientierung auf werktran~zendierende Aspekte

auszeichnen63, so daß man sich fragen mag, ob diese wert­volle Methode tatsächlich geeignet ist, die Literaturgeschichte als eine Beschreibung des geschichtlichen Prozesses entschei­dend zu erneuern und voranzutreiben. Die rezeptions-ästhe­tische Methode ist eben auf Grund ihrer Ausrichtung auf Produktion und Wirkung vornehmlich synchronisch orien­tiert, ist in der Stoßrichtung ihrer Frage in erster Linie auf die Synchronie angewiesen, während sie auf dem Bereich der Diachronie naturgemäß schwerfällig und umständlich wirkt. Die Literaturgeschichte tut sich eben doch nach wie vor schwer bei ihrer Erneuerung. Wenn Gervinus zur Be­schreibung der . Literatur, die einem schon sanktionierten Kanon folgt und Leben und Werk der Schriftsteller einfach in chronologischer Reihenfolge hintereinandersetzt, sagt, sie sei "keine Geschichte; es ist kaum das Gerippe zu einer Geschichte"64, so möchte man hier sagen, diese rezeptions~ ästhetischen Untersuchungen seien zwar schon grundsätzlich Geschichte, aber dies fast nur im Prinzip, im Keim. "Die Aufgabe der Literaturgeschichte ist erst dann vollendet, wenn die literarische Produktion nicht allein synchron und diachron in der Abfolge ihrer Systeme dargestellt, sondern als besondere Geschichte auch in dem ihr eigenen Verhältnis zu der allgemeinen Geschichte gesehen wird"65, so lautete das Programm, das Hans-Roben Jauss in diesem Zusam­menhang entwarf, und von dem er im Vorwort zu der be­reits zitierten Aufsatzsammlung bekennt, daß er diese Po­stulate "hier noch nicht praktisch einlösen" könne. Aber eine solche Aufgabe, die Werner Krauss und Gerhard Heß in andere Worte gekleidet haben66, ist wohl auch nicht

63 Wobei Rainer Heß als Schüler Hugo Friedrichs bezeichnen­derweise am ehesten eine Neigung zur Diadtronie verrät, aber diese doch nur auf engem Raum entwickelt.

64 Nach H. R. Jauss, a.a.O., S. 146. 65 Ebda., S. 199. 66 Werner Krauss im erwähnten Aufsatz, Gerhard Heß in sei­

nem Vortrag Das Bild der Gesellschaft in der französischen Literatur (1954), in Gesellschaft - Literatur - Wissenschaft: Ges. Schriften 1938-1966, hrsg. v. H. R. Jauss und C. Müller­Daehn, München 1967, S. 1 ff.

Die Literaturgeschichte 293

von emem Individuum und auch nicht von einer Methode zu erfüllen. Dieses Ziel, auf das angespannt die Literatur­wissenschaft ihr angekranktes Selbstverständnis gesunden lassen könntess•, wird nur zu erreichen sein, wenn synchroni­sche und diachronische Forschung sich ergänzen, wenn in einer sinnvollen Arbeitsteilung die einen an den verschie­densten historischen Punkten den Brückenschlag in die Ge­sellschaft unternehmen, andere modellartig die Wirkweise der Literatur untersuchen, wiederum andere mittels der rezeptionsästhetischen Methode vornehmlich synchronisch orientierte Teilstücke für eine Geschichte der Rezeption er­stellen, während noch andere sich entschieden dem diachro­nischen Ausbau eines Ufers, der literarischen Reihe z: B. (oder auch einer Bezugsgruppe), widmen, sei es nun, indem sie diese als Wandel im System konkurrierender Gattungen konkretisieren wollen67 oder als evolutionäre Reihe einer Gattung und Wandel im Selbstverständnis68 ; all diese Pio­nierarbeiten, wie man sie nennen könnte, erübrigen aber keineswegs den Alltag wissenschaftlichen Arbeitens, sondern setzen ihn voraus, sind nicht zu denken ohne gesicherte Ausgaben, tasten im Dunkeln ohne handfeste Biographien, hantieren mit unzureichendem Werkzeug, wenn die Kunst der Hermeneutik im argen liegt, kurz, sie sind in mannig­faltiger Hinsicht von Vorarbeiten, Voraussetzungen und Mitarbeit abhängig. Wenn die Literaturwissenschaft sich da­her behaupten, und d. h. wenn sie voranschreiten will, wird man, wie es allzu oft geschieht, nicht länger aneinander

66a Es erübrigt sich wohl zu betonen, daß solcherart methodisch beschriebene Literaturgeschichte den Gegensatz von Literatur­wissenschaft und Literaturgeschichte, den Julius Petersen glaubte feststellen zu müssen (Die Wissenschaft von der Dich­tung, Berlin 1939), hinter sich zurückläßt und als Komple­mentarität von Theorie und Praxis erkennt.

67 Vgl. H. R. Jauss, Litterature medievale et theorie des genres, Poetique I, 1970, S. 79 :ff.

68 Vgl. Verf.: Von der Chanson de geste zum höfischen Roman in Frankreich, GRM, N. F. XVI, 1966, S. 1 :ff, Der franzö­sische Roman im 20 .. jhdt. und Das Renaissanceepos (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 9/10, Ffm 1972, S. 162-211).

294 Grundorientierung auf werktranszendierende Aspekte

vorbeiwirken dürfen, als gäbe es keine Möglichkeit der Ver­ständigung. Zusammenarbeit wird hier die Lösung sein müs­sen, Offnung nicht nur gegenüber anderen Wissenschafts­disziplinen sondern auch im Hinblick auf die Forschungs­initiativen des eigenen Lagers, in denen sich das eigene Geschick, eben das eines Wissenschafl:sganzen, mitvollzieht.

Nicht Methodenpluralismus ist also das, was aus dem Panorama dieses Buches gefolgert werden sollte69, ebenso­wenig aber auch die Vorstellung von einer Methode als Ideologie70, sondern ein Methodenbewußtsein, das die Er­kenntnis der Relevanz einer Methode im Verband des Gan­zen und seiner geschichtlichen Aufgabe heraufführt und da­mit die in Kenntnis der Sachlage erfolgende freie, das Vor­verständnis einer Ideologie71 implizierende Wahl für eine Methode ermöglicht.

69 So Jost Hermand (Synthetisches Interpretieren), dessen Buch seine Stärke in der historischen Darstellung hat.

70 So Manon Maren-Grisebach (Methoden der Literaturwissen­schaft) die damit einen wichtigen Aspekt der Sache trifft, diesen jedoch zu sehr betont (vgl. folgende Anmerkung).

71 Daß dieses Vorverständnis bei der Wahl einer Methode eine Rolle spielt, ist eine Erfahrungstatsache, ergibt sich im übrigen auch theoretisch aus einer hermeneutischen Betrachtung. Ma­non Maren-Grisebach geht aber sicher zu weit, wenn sie for­muliert: "Eine Methode wird erst konstituiert durch einen ganzheitlichen ideologischen Denkzusammenhang, in den ein­zelne Arbeitsschritte integriert sind." (Methoden der Literatur­wissenschaft, S. 5)- Strukturalismus, Phonoästhetik, Methoden der Werkinterpretation, Toposforschung, Motivforschung, The­menforschung, Rezeptionsforschung, ganz zu schweigen von Textedition und Stilistik, Bereiche, die Manon Maren-Grise­bach unberücksichtigt läßt, ganz als gäbe es dort keine Metho­den, sind weitgehend frei nach Erfolgschancen wählbar (vor­ausgesetzt, daß seitens der Lehrenden diese Freiheit gewährt wird), mögen auch im Einzelfall Ideologien mit im Spiel sein.

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PERSONENREGISTER

Adorno 227, 271 A Albert 71 A Albouy 181 A, 184 A, 188 A,

193 A Alewyn 81 A, 131 Alonso 14-16, 52, 88, 200, 202,

220, 228, 232-234, 240, 245, 253

Apel 78 Aristoteles 42, 66, 67, 70, 162, 173 Auerbach 18, 24, 59 A, 131, 150-

153, 156-159, 167 f., 195 A, 255 A, 271 A, 279

Austin 213 A

Babilas 176, 177 A, 179 A Bachelard 48, 52, 253, 255,

264-266 Bally 114, 222 A Balzac 64 A, 65, 94-97, 135, 157,

175, 224, 244, 267 A, 272, 280 Barres 144 f., 186 A Barthes 14, 15 A, 16 A, 26, 31 A,

43 A, 63 A, 64 A, 182 A, 188, 200, 205-207, 213-218, 220, 244 f., 253, 254, 260, 264 A, 269 A, 275

Baudetaire 82, 95, 71, 73 A, 85 A, 86, 88

Beauvoir 25, 41 Becker, Ph. A. 123 Beckett 290 Bedier 79, 105 A, 120-123, 208 Bekker 91

Beller 155' A, 181 A Bender 170 A, 280 A Bergsan 107, 111, 144 Betti 75 A Bezzola 280 Blechmann 131 Bierwisch 200 A, 201 A, 204 A Boeckh 19, 100 Boie 183 A, 260 A du Bos 127, 128, 161 Bourget 104, 106 f. Bousofio 230, 232 A Bray 166 Bremond 209, 211 Bröndal209 Brunetiere 87, 104-107, 122 Buck 29 A, 161 f., 167 f., 193 A Bühler 34 A, 206 Burger, H. 0. 33 A 228, 232,

237-239, 251 Bürger, P. 226, 270 A

Cassirer 129, 252 Cellier 185 A, 193 A Chateaubriand 90 f., 262 Chomsky 142 Cohen, J. 34 A, 206 f., 223 A Comparetti 104 Corneille 263, 270, 279, 290 Corce 99 A, 102, 110-112, 114,

252 Curtius, E. R. 25, 27 A, 67 A, 114,

131, 144 f., 151-156, 159, 167, 176, 193, 197, 255 A

304 Personenregister

Cuvier 94 Czerny 188 A

Dante 228, 231 Darwin 105 Descartes 53, 67, 116 Diderot 53, 175, 290 Diez 68, 93 Dilthey 51 f., 68 f., 71, 100, 108-

111, 112 A, 113, 118, 125, 129, 130 A, 150, 183 A, 239, 251, 275

Dornseif 144 Doubrovsky 16 A, 253, 255, 268-

270, 275, 282 Dragonetti 177 A, 178 A, 202 A

Eichenbaum 132, 133 A, 136-138 Einstein 21, 164 Elster 18 Enzensberger 32, SO A Ermatinger 44 A, 109 Erlich 132 Escarpit 22 A, 28 A, 271, 277 f.

Faguet 116 f. Falk 181 A Faral 166 Fayolle 92 A, 93 A, 127 A, 129 A Flasche 117 Flaubert 99, 107, 117, 175, 224,

260 A Foerster 119 Fontanals 102 Frauenrath 185 A, 191 A, 196 A Frenzel, E. 180 A, 181 A, 186,

187 A, 193 A Freud 107 Friedrich, H. 25, 57 A, 71 A,

134 A, 146, 151-153, 156 f., 167 f., 200, 204, 221 A, 228, 234-237, 290

Frye 2~ 31, 39, 200 Fügen 227 A, 278 A

Gadamer 40, 60 A, 73 A, 75 A, 78, 82, 83 A, 111 A

Genette 115, 129 A, 206 f., 214-216, 240, 254

Geoffroy-Saint-Hilaire 94, 97 Gervinus 291 Gide 39, 49, 51, 52, 129 A, 145,

224 Goethe 256 A Goldmann 205, 227 A, 242 A, 253,

254 A, 271 A, 275 f., 281 A, 282, 284-289

Gourmont 117 Greimas 208 f. Grimm, J. 91 Gröber 101 Grosse 155 A, 156 A Guenon 14 Guiette 200 f.

Habermas 73 f., 276 Haeckel105 Halfmann 161 A Hamburger 26 Hamann 88 Handke 179 A La Harpe 87, 179 A Hartmann, N. 75 A Hass 81 A Havranek 139 Hege! 31 f., 33 A, 44, 89, 179 A,

273 Heitmann 37 A, 185 A, 193 A,

271 A, 279 A Heidegger 51 A, 150 f. Helmholtz 75 A Hennequin 106 Hentig 38 A, 40 A, 48 A Herder 88-90, 98 Hermand 84, 88 A, 101 A, 108 A,

110 A, 125 A, 130 A, 151 A, 256 A, 288 A, 293 A

Herzfeld 91 A Heselhaus 81 A, 228, 231 f., 242,

248 Heß, G. 291 Hirsch 131

Personenregister 305

Hjelmslev 203, 209, 242 Hugo 93, 183, 280 Husserl 83, 107, 111 A Huxley, A. 38 A Huysmans 48, 184 A, 225

Ingarden 46 A, 146, 252

Jakobson 16 A, 82, 131, 139, 202 f., 205 f., 210, 212-214, 227 A, 240-242, 254

Jakubinskij 133 Jauss, H. R. 89 A, 153 A, 173 A,

245, 239 A, 289-292 ]olles 36 Jung, C. G. 38, 44 A

Kant 68, 155 A Kayser 15, 31, 33 A, 35, 151, 161,

180, 182 A, 226, 228, 230 f. Killy 13, 55 Klescevski 223 A Klotz 64 A, 183 A, 197 Köhler, E. 227, 271 A, 274, 279,

282-284, 289 Körting 18, 100 f. Krauss, W. 162, 168, 174 A, 175 A,

271 A, 288, 291 Krüger, L. 74 A Kuhn, H. 228-230, 235 Kuhn, Th. S. 89 A, 164, 169

Lämmert 168, 200, 226 Langlois 114 Lanson 19, 58,101,119, 120A,

127, 166 Larroumet 58 Lausberg 176 Leibfried 230 A Leibniz 67 f. Lejeune 201 A, 274 A Lemahre 117 Lerch 141 Leube 196 A Uvi-Strauss 82, 205 f., 214, 218,

227 A, 240 f.

Levin 15 A, 242 f. Liebruck 33 A Littn\ 27, 28 A Lot, F. 124 Lukacs 45, 126, 232, 271 A, 272 f.,

275, 278 A, 285 Lüthi, M. 187 A

Mahrholz 109 Malherbe 143, 279 Mallarme 116, 147, 224 A, 256-

258, 260, 263 Mannheim 131 Maren-Grisebach 271 A, 272 A,

293 A Marmontel 90 Marx, K. 55, 287 Mauron 218, 251, 253, 255-261,

264 f. Menendez Pidal 119 Menendez y Pelayo 102-105,

107, 119 Merlau-Ponty 159, 269 Meyer, P. 104 Meyer-Lübke 119 Michaud, G. 209 Michelet 260 Mill, J. St. 69 Möbius 256 A Molho 93 A, 94 A Momigliano 161 Mounin 241 A Müller, G. 25, 161, 168, 221, 226 Müller I Vollmer 109 Mukarovsky 31 A, 34 A, 139 f.

Nietzsche 107, 108 A, 111, 256 A Nohl126 Norden 114

Oppel 150 f. Ortega y Gasset 118, 127, 203

Pabst 186 A, 194, 248 A Paris, G. 87, 97 f., 101 f., 104,

119 f., 123

306 Personenregister

Peguy 127, 144 f. Perrine 181 Pertz 91 Petersen 291 Petriconi 180, 196 A, 198 f. Piaget 204 A Picard 217, 252 Pingaud 256 A Platon 38, 39, 42 Pollock, Th. C. 161 Pongs 129, 150, 224 A, 252 Popper 74 Potebnja 133 Poulet 255, 267 f. Propp 119, 208 f. Proust 34 A, 37 A, 51, 114 A,

118, 144, 225

Quintilian 27

Racine 45, 148 f., 185, 117, 263, 286

Ransom 159 f. Raynouard 91 Regnier 142, 279 Ricardou 214, 255 A Richard, ]. A. 16 A, 128 Richard, J.-P. 205, 253, 260-264 Ricklef 81 A Riegl114 Rivet 86 Riviere 127 Robbe-Grillet 65, 175 A, 281 A,

286 Robert, P. 28 A Rohlfs 18 Roinard 225 Roquefort 91 Rosa, ]. G. 41, 42 A Rousseau 256 A, 263 Roustand 127 Russische Formalisten 17, 26, 30,

33 A, 47 A, 70, 82, 128-140, 202, 205, 210

Ruttkowski 35

Ruwet 242 f., 254 Rychner 200 f.

Sainte-Beuve 93-96, 98, 105, 117 f., 122

Saint-Sirnon 148, 155 A, 158 De Sanctis 99, 107, 110 Sand, G. 99 Sarraute 59 Sartre 24, 41, 42 A, 48, 53, 63,

159, 161, 224, 269 De Saussure 57, 132, 202-205,

211, 286 Schelsky 73 A Scherer 97 A, 100 f. Schiwy 203 A, 204 A Schklowskij 33 A, 47 A, 133 f. Schlegel 90 f. Schleiermacher 68, 81 A Schmidt, S. ]. 33 A, 43 A, 63,

222A Schober 254 A, 255 A Schopenhauer 51, 256 A Sehrader 225 A Schücking 250 Schulze, J. 194, 195 A Sengle 249 A Siebenmann 100 A, 119 A, 127 A,

222A Sollers 214 Souriau 208 f., 217 Spitzer 25, 51, 59 A, 84, 109 A,

112 A, 113, 128, 131, 140-152, 157-159, 221, 225, 228, 232 f., 240, 248, 255 A

de Stael 90-92 Staiger 35, 64 A, 151, 161, 168,

172, 226, 228 f., 235. Stanze! 168, 200, 236 Starebinski 253, 255, 263 f. Stendhal 92, 96, 178, 260 A, 261,

263 Storz 161 Strich, F. 109 S~ares 127, 145

Personenregister 307

Sue 135, 280 Sutton 128 A, 162 A Szondi 16 A, 20 f., 51 A, 64 A,

81 A

Taine 87, 95-98, 105 f., 122, 127, 251

Tate 160 f. Thibaudet 128 f. Thierry 25, 37, 45, 47 Tiraboschi 86 Tober 86, 101 Todorov 208-213, 218, 254 Tomachevski 182 A, 187 A, 189 A Topitsch 74 Trousson 181 A, 182 A, 188 A,

192 A, 193, 198 A Trubetzkoy 139 Tuzet 265 A Tynianov 33 A, 132, 134-136,

139 A

Ullmann 221 A, 222 A, 224 f.

Valery 34 A, 115 f., 236, 258 A Veit 154 A, 155 A Veselowskij 132

Vico 86, 110 Vietor 108 Villemain 87, 92 Voßler 24, 51 f., 112-114, 128 f.,

141 f., 144 f., 149-152, 167

Wagner, R. 198 Walzel126, 129, 175, 252 Weber, J.-P. 255, 259 f., 261 Wechßler 126 Wehrli 13 Weinberg, B. 162 A, 226 A, 228,

234 Weinrieb 223, 224 A Weisstein 16 A, 181 A, 193 A Wellek 139 Wellek/Warren 24 Wellershoff 50 Wieland, W. 62 A Windelbrand 65 A Wölfflin 104, 114 Wolff, E. G. 161

Zola 175, 198 f., 272, 280 Zumthor 177 A, 181 A, 188 A,

200, 202 Zwickau 15 A

SACHREGISTER

Ablösung (der Theorie von der Empirie) 204 f., 207, 240 f., 254

Ästhetik (ästhetisch) 34, 52, 102, 104, 107, 109 f., 113, 117, 140, 167, 231 f., 273, 290

Allgemeines (in der Literatur) 44--46, 55, 70, 76, 173, 220

Analyse structurale s. Struktur­analyse

Approximation 71 f., 127 f., 269A

Archetypisch 196, 258 Aufbau (von literar. Werken)

172, 199, 219, 225,246 Aufbauform 169 A, 191, 211 A,

226, 251 Aufhebung (aufheben) 31--33,

36, 43 f., 55, 184 f., 192, 224 A, 251, 273

Andeutung s. Deutung Aussagehaftigkeit (der Literatur)

33 f., 36--39, 43, 63, 67 A, 74, 179 A, 181 A, 184, 186, 189 A, 222, 224, 273

Außerliterarisch 168, 178, 246, 252 f., 269 f., 271, 277 f.

Außerwerklieh 194, 200 Autor 40--44, 47, 49 f., 55, 96,

98, 103, 106 f., 116, 118, 129, 136, 143, 160, 162, 165 A, 167, 173--175, 177 f., 181 A, 183 A, 185, 187, 192, 194, 234--236, 238, 246 f., 252, 254--260,

266, 268 f., 272, 274, 278--279, 283--285, 289

Basis von Literatur 34--36, 53 f., 64, 76, 190, 239, 273

Bedeutung 240, 243, 248 Benennung 31 A, 139 Beschreibung 247 Be~onderes im Allgemeinen

44-46, 49, 51 f., 76 Besonderes (in der Literatur)

178, 179 A, 180, 184, 220, 251, 266

Bewußtseinstranszendent 30 f., 36--41, 44, 46 A, 54, 56, 64, 178

Biographie (biographisch) 246 f. Biographismus 227, 251, 253, 257

Chansonde geste 98, 100, 102, 123 f., 201, 281, 292 A

Critique s. Literaturkritik

Denotation (denote) 31, 43 A, 207 Deutakt 75--78, 81 f., 236, 241,

276, 278 Deutung 60, 62 f., 76, 81, 83,

176, 177 A, 179, 182, 194,219, 227, 232, 241--243, 247 f., 282 f., 290 A

Diachronie (diachronisch) 102, 132, 134, 136, 139, 214 A, 221, 237, 276, 284, 290 A, 291 f.

Dialektik (dialektisch) 44, 46, 58, 60, 82 f., 270

Sachregister 309

Dichter s. Autor Dichtung 13 f., 26, 33 A, 34-39,

49, 63, 76 A, 87, 104, 109, 127, 155, 160, 167, 176-179, 186, 197, 203, 221, 234 f., 237-239, 257,260,266,273-275,283

Dichtungsgeschichte (dichtungs­geschichtlich) 238 f., 248

Dichtungssprache s. Literatur­sprache

Drama (dramatisch) 35, 54, 191, 197, 208, 217, 270, 272

Ecriture 27, 215, 220, 275 Eigengesetzlichkeit (der Literatur)

32, 47 A, 96 Eindruck 228, 230, 237 Emblematik 169 A Empirie (empirisch) 73, 74, 76,

169 A, 172, 204 f., 207, 209 f., 240-242, 254, 275 f.

Epik 35, 54 Epistemologisch s. wissenschafts­

theoretisch Epoche (epochal, Epochalität)

174, 193, 194, 196, 221, 236 f~ 245 f., 250, 255, 267, 280, 283

Erwartungshorizont 50 f., 60, 62, 65, 76, 165 A, 248, 250

Essay 35 f., 64, 76, 239 Ethnologie 204 Etudes litteraires 16, 206, 209,

213, 254 Evokativ 221 f. Evolution (evolutionär) 9, 110,

130, 134, 138, 164, 170, 174, 251 f., 270, 184

Evolutionäre Reihe 170, 292 Existentiell 140, 182 A, 186 A,

188, 190 f., 255, 256 A, 260-262, 268-270

Explication fran~aise 127, 131, 233

Expressiveness 225

Fabel185, 186, 189 A, 290 Falsifikation 82, 138, 205, 207,

229 Feststellungsakt 64 A, 76-78, 81,

92, 97, 120, 145 f., 158, 200, 207, 219, 229, 242, 245, 246, 253, 269, 277 f., 283, 285

Formalismus (formal) 64 A, 132-138, 147, 161, 230, 230-232, 240, 266, 272 f., 289

Formalisierung (formalistisch) 202, 208 f., 211, 213, 219, 256 A

Funktion der (schönen) Literatur 38, 42-46, 51, 53-SS, 58, 61, 136, 162

Gattung 26, 35, 51 f., 52, 65, 105 f., 120, 122, 126, 134, 208, 209 A, 228, 232, 234, 258 A,

· 274 A, 289, 292 Gedichtsprache s. Literatursprache Gefühl 228-230, 234 f. Gegenständlichkeit (der Literatur)

178, 179 A, 184, 186 Gehalt 238, 278, 280 Geistesgeschichte (geistesgeschich t­

lich) 38 A, 103, 113, 130, 142, 145, 142 f., 158, 197, 219, 225 f., 251

Geisteswissenschaft (geistes­wissenschaftlich) 15 A, 61, 66, 68 f., 71, 73-75, 77 f., 80, 100, 105 A, 108, 125, 129, 236

Geschichte 165, 166 f., 215, 235, 280, 287 f.

Geschichtlichkeit (geschichtlich) 50-54, 60, 62, 78-81, 84 f., 87, 109 A, 112 f., 119, 126 A, 131, 151, 163, 165 A, 167, 168A, 170,174, 192A, 196, 197 A, 234, 237, 239, 248, 272 A, 275-277, 282, 285 f., 289 f., 293

Geschichtsschreibung 25, 37

310 Sachregister

Gesellschaft (gesellschaftlich) 11, 15 A, 16, 24, 61, 73, 81, 96-98, 105, 117-119, 121 f., 124, 126, 128-131, 135, 137 A, 138

Gesetz 174, 185, 209, 226 A Gesetzmäßigkeit 172, 226 A, 278 Gestalt 230, 233, 238

Hermeneutik (hermeneutisch) 15 A, 16 A, 71-81, 83 A, 84, 88, 93, 9~ 102, 111, 16~ 172 t, 175 f., 178, 192, 194, 199 f., 207, 219, 228, 240, 242, 244 f., 253, 279, 281-283, 285, 292, 293 A

Historiographisch 176, 279 f. Historismus 88 f., 93, 108, 165 Historizität (historisch) 44, 46 f.,

50 f., 55, 60, 62 f., 65, 70, 75, 79, 82-84, 101 A, 103 f., 108 A, 109, 113, 120, 124, 128, 130, 134, 137, 144, 149, 150 A, 152 f., 156, 167, 169 f., 173-175, 176, 186, 191 f., 192, 194, 196, 210, 226, 231 f., 234, 236-238, 247, 250 f., 254 f., 259, 266, 270, 271 A, 274-282, 284-287,289, 293A

Hypothese (hypothetisch) 82, 115, 138, 202, 205, 257, 277, 282-284, 286 f.

Idealismus, deutscher 13, 68 f., 88, 90, 93

Ideologie (ideologisch) 227 A, 241 A, 252, 273, 286, 293

Idiographisch 65, 116 Individualität (individuell)

173, 191, 199, 215,218-220, 223 A, 233, 236 f., 240, 242 f., 254, 256, 262, 274

Inhalt (inhaltlich) 237 f., 247, 272, 281 A

Innerwerklieh 185, 187, 200

Interiorisiert 207, 212 Interpretation (siehe auch Werk­

interpretation) 168, 203, 228-238, 240-242, 244, 246-249, 252

Kausalität (kausal) 58, 94, 96, 106, 113 f., 130 f., 136, 178, 253, 273-275

Konnotation (konnotativ, connote) 31, 43, 63 f., 207, 221, 244 f.

Konjunktion 33 A Konstante 192, 194, 196 A, 256 Korrespondenz 226, 245 Kritik s. Literaturkritik KunstWerk, literarisches 46 A, 48,

55, 171 f., 187, 227 A, 252

Langue 57, 132, 188, 192, 220-223, 243

Leben 44, 45, 47 f., 52, 79 f., 92, 107, 111, 143 f., 165, 183 A, 184, 196, 238, 252 f., 256, 263, 285, 287, 291

Leitmotiv 188, 191 Leseakt 213, 255 Leseprozeß 56, 60 f., 63 Leser 37, 39-41, 45, 50, 54, 59-

61, 145, 165, 22~ 23~ 248, 290 Linguistik (linguistisch) 14, 15 A,

16, 19, 27, 56, 100, 104, 141 f., 203 f., 206, 221, 256 A

Lirerarhistorie 18, 132, 156 A, 172, 219, 274 A

Literarische Reihe 248, 276, 284, 292

Lirerarität 210, 212, 215, 217 t Literatur 15-19, 21-66, 68 A,

70, 79, 83, 86 f., 90-92, 95-107, 109-114, 117 f., 121, 123, 125-128, 131-140, 145 f., 148 A, 149, 151 f., 154-156, 158 f., 162, 166 f., 169 A, 171-174, 176-179, 184, 186-188, 192, 197, 199 f., 203, 206 f.,

Sachregister 311

209-211, 214-216, 218 f., 221 A, 223 A, 224, 227, 240, 248, 250-252, 254, 257-259, 263 f., 266, 268, 270-278, 280, 282-284, 286, 288 f., 291 f.

Literatur - aktuelle 35, 64 - didaktische 35 - engagierte 53, 55 - mittelalterliche 278, 280, 283 -schöne 31-55, 64, 74, 76 A,

78, 102, 178-180, 184, 186, 188, 190, 207, 216, 239, 248, 252 f., 273, 280, 282

Literaturgeschichte 19, 100-103, 119, 120 A, 135, 155, 159, 162, 183, 197, 239, 250, 285 A, 286 A, 288-293

Literaturkritik (Kritik, critique liw!raire) 14, 16, 19, 59, 89 f., 92-96, 99-106, 110, 115-118, 126 f., 129, 160, 206, 218, 251 f., 254, 256 A

Literatursoziologie 18, 168 A, 227, 250 f., 271-288

- dokumentarisch-historische 277, 278-282

- hypothetische 277, 282-288 - statistische 277 f. Literatursprache 172, 199 ff., 203,

207 f., 212, 215, 220, 222, 224 f. 230, 242 f.

Literaturtheorie 125, 129, 134, 172, 176 A, 219

Literaturwissenschaft 13-24, 29, 31, 34 f., 53-66, 69-80, 82, 84, 86-89, 92, 95-97, 100-102, 105 f., 108-110, 112 A, 119 f., 123, 125, 127-131, 134, 138-142, 144 f., 148 A, 151-152, 159, 163-167, 170, 172, 176, 192 A, 200, 202-208, 214, 218 f., 220 A, 221, 223 A, 246, 250, 252 f., 266, 269 A, 271 f., 281, 285, 288 A, 289, 291 f.

- vergleichende 165, 169, 193

Lyrik (lyrisch, Poesie) 26, 35, 52, 54, 146, 178, 190 f., 207, 226-228, 239, 243, 245, 248 A, 290

Message 206, 214, 243 Metaliteraturwissenschaft 57-59 Metapher 30, 147, 190, 223,

224 A, 226 A Methode (methodisch) 13, 19, 21-

23, 52, 62, 70, 72-74, 76 f., 79, 81, 84-89, 96 f., 105 f., 108, 110, 115 f., 118, 121, 127 f., 132 f., 135-138, 140 f., 146-150, 151, 153 f., 156, 157 A, 158, 163-165, 170, 172 f., 175, 178, 182, 192, 194, 199 f., 202, 204 f., 214, 218 f., 221, 225, 227-232, 234, 236, 238, 243, 245, 253 f., 256-259, 262, 264, 266, 268, 274 f., 277, 284 f., 290-293

- analytische 15 A, 154 - biographische 284 A -deduktiv-poetologische 173 - existenziell-phänomenologische

268-270 - explikative 234 -formale 132-138 - form-analytische 230 f. - ganzheitlich-subjektive

228-230, 233, 235 - geistesgeschichtliche 145 - hermeneutische 19 5 - induktiv-poetologische 173 - literatursoziologische 227 - literaturwissenschaftliche

266, 285 - metaphysisch-phänomeno-

logische 255, 267 - national-historische 89 - normative 88 -positivistische 105 -psychoanalytische 251, 255, 256 - psychologische 284 A - rezeptionsästhetische 290, 292

312 Sachregister

- soziologische 272 A - statistisch-empirische 204 A, 245, - stilistische 141, 149 -strukturale 241 A - strukturalistisch-genetische

(214 A), 285 A, 286 A - strukturanalytisch-interpreta­

torische 231 - werkimmanente 52, 146-150,

165 - werktranszendierende

165, 192 A, 245, 266 Methode naturelle 94 f., 121 f.,

134 Methodologie (methodologisch)

96, 101, 128, 133, 137, 157 A, 207, 229, 232, 262, 269 f., 283, 287

Milieu 252, 259 Mimesis 26, 152, 162 Mittelbare Erfahrung (bzw.

Empire) 73, 75, 76 Mittelbarkeit 178, 179 A, 192 A,

226 A, 287 Moralistik 25, 35 Motiv (motif) 31 A, 134, 155 f.,

172, 180-194, 196-199,219, 226, 234, 259 f., 274 A, 290

Motivforschung 180-197, 198, 199, 219, 293 A

Mythe s. Mythos Mythisch 44, 47, 50, 179, 186,

189 A, 191, 192 A, 223, 232, 239, 262, 275, 279, 290

Mythische Aussage 42, 44 f., 54, 62 f., 66 f., 83

Mythopoetisch 190 f. Mythos 38 f., 42, 45, 47, 51 f., 55,

67, 74, 158, 179 A, 180, 184-186, 190, 219, 239, 258

- transzendentaler 172, 180, 181 A, 184-186, 191, 193-196, 198, 206 f., 219

Nationalhistorisch 165, 166, 170

Naturwissenschaft (naturwissen­schaftlich) 15 A, 21, 65 f., 68 A, 69, 73-75, 77, 105, 121, 164 f.

New Criticism 26, 31, 38 A, 146, 159-161, 216 A, 240

Norm (normativ) 27-29, 62, 87-89, 142, 152, 164, 166 f., 169 A, 170 f., 174, 199 f., 220-222, 269

Nomothetisch 65, 74, 77, 95 Nouveau Roman 174, 281 A, 284,

288, 290 Nouvelle Critique 14, 16, 88, 106,

165, 204 A, 205, 250, 252, 253-270, 282, 284 A

Novelle 209 f., 228

Operativ 38, 39, 43, 52, 64, 190, 223

Operative Mittelbarkeit 55, 61 Operative Sachdienlichkeit 31, 32,

37

Paradigma 89 A, 153 A, 163-170, 245, 250

- nationalhistorisches 166 f., 170 - normatives 166, 169, 170 - vorwissenschaftliches 165, 167 - werkimmanentes 170 - werktranszendierendes 170 f.,

193, 219, 252, 256 A Parole 132, 155, 188, 191,215 Parole litteraire 57, 155, 178,

220 f., 224 Parole poetique 178, 189, 220,

221 A, 223, 264 Phänomenologie (phänomeno­

logisch) 37, 43 f., 47 A, 83, 111 A, 126, 152, 160, 255, 265, 267-270

Philologie (philologisch) 14, 18-21, 56, 79, 81, 87, 91, 93, 95, 97, 100-103, 105 A, 110, 112, 119 f., 130, 144 f., 149 f., 152 f., 178, 197, 233, 237

Sachregister 313

Phonoästhetik 222 A, 293 A Poesie s. Lyrik Poesie formelle 177, 201 Poetik 35, 42, 54, 76, 109 A, 114,

161, 164, 166 f., 172-176, 178, 181 A, 202, 204, 206 f., 219, 264

-normative 166, 173 Poetische Funktion 202, 223 f. Poetologisch 173, 197, 248, 252 Polyvalenz (polyvalent) 41, 43,

63 f., 189 A, 222, 248 Positivismus (positivistisch) 58, 88,

95, 101, 105, 107-109, 111-113, 116 f., 120 A, 127, 132, 149, 167 f., 192, 227, 251, 258, 277, 279, 284

Prager Kreis (- Strukturalismus, - Phonologische Schule) 26, 31, 129, 131, 138-140

Psyche (des Autors, psychisch) 247, 250, 252, 255, 269

Psychoanalytiker (psychoanaly­tisch) 258 f., 265, 266

Psychokritik 256-258, 260 Publikum 169 A, 178, 246, 272,

277-279, 289

Raum 226, 238, 238, 251, 266 f. Reduktion 147 f. Referentiell s. denotativ Rezeptionsästhetik (rezeptions-

ästhetisch) 106, 168 A, 240, 289-291

Rhetorik (rhetorisch) 30 f., 35, 37, 55, 64, 92 A, 112, 114, 154 f., 167, 176-180, 200-202, 219, 226, 233, 245

Roman 51, 126, 152, 175, 226 A, 239, 247 A, 248 A, 276, 280, 284, 287 f., 290

Romanisch 28 f., 56 A, 68, 93, 100 f., 146

Romanistik (romanistisch) 17 f.,

68, 80, 85, 88 A, 101, 126, 201, 223 A, 228, 232

Russischer Formalismus 240 (vgl. Personenregister)

Schicht 46 A, 82 Science de la Iitterature 14, 15 A,

16, 210, 253 Sekundärliteratur 29, 57, 64, 82,

91-93, 95, 137, 147, 159 Selbstverständnis 46-51, 54, 126,

162, 173, 185, 195 A, 232, 239, 246, 250, 267, 275, 284, 291 f.

- mythisches 232, 239, 275 Selbstzuordnung der Sprache 31-

35, 39, 42-44, 53, 64, 179, 223

Semiologisch 207, 216 Semiotik (semiotisch) 15 A, 77,

138 f., 204, 213, 220, 222 Signifiant 202, 204, 212, 233, 240,

245 Signifie 202, 233, 240, 245 Sinn 45, 58, 74, 126, 157, 184,

216, 218, 228, 232, 239 f., 242, 244, 248, 250, 282 f.

Sinnbild (reihe) 238 f., 245, 248 Sonett 241 f., 247 Soziologie (soziologisch) 74-76,

91, 197, 225 f., 236, 246, 248, 255 A, 270-272, 274 A, 276, 280-282, 284 f., 289

Spiegelung 45 f., 107, 139, 273, 274 A, 281, 284 f., 287, 289

Sprache (siehe auch Literatur­sprache) 204, 213, 215, 222, 228, 242 f., 289

Statistik (statistisch) 219, 277 Status transcendendi 45, 51 f., 75,

184, 190, 197, 216, 243 Stil 51, 62, 103 f., 113 f., 136,

143, 145 f., 152, 157, 159, 167, 215, 218, 220-222, 225, 236, 237, 282

Stilforschung 223 A, 224

314 Sachregister

Stilistik (stilistisch) 16, 113, 125, 141 f., 148 f., 152, 165, 220, 221 A, 222-225, 228, 232, 236, 246, 293 A

Stiltrennungsregel 158 f. Stimmigkeit 230, 234 f. Stoff 51, 134, 157, 172, 180,

181 A, 182 A, 184-189, 191 f., 194, 197, 219, 234, 278, 280-282

Stofforschung 180-194, 198 A Stoffgeschichte 113, 180, 181 A,

183, 192 f., 196 Stoffrezeption 193, 196 Struktur (strukturell) 31 A, 32,

81, 140, 154, 156, 169 A, 172, 178, 199, 201, 203-206, 208-210, 213, 219, 221, 222 A, 228, 234-237, 245, 247, 250 f., 254 f., 258, 260 f., 262, 266, 286, 287

- epochale 237, 245, 262 - literarische 209 - makrokosmische 199, 226 - mikrokosmische 199 - semiotische 213 - thematische 254, 262 - überindividuelle 168, 169 A,

199, 262 Strukturalismus (strukturalistisch)

14-17,57, 64 A, 116, 119, 125, 139, 165, 191, 203-207, 214, 216-218, 221, 240 f., 250, 253 f., 293 A

-empirischer 207-214, 216, 218 -literarischer 214-219 - reiner (theoretischer) 205-207,

208 f., 254 A Strukturalist 203-205, 214, 253,

260 A Strukturanalyse 81 f., 217, 231,

240-243, 244 Sujet 180, 185-191,219 Symbol (symbolisch) 31 A, 43,

181 A, 190, 197, 231, 234, 238, 244

Synchron(isch) 122, 132, 134, 158, 214 A, 221, 236, 245, 276, 291 f.

System 207, 217 f., 220, 223 A, 240-242, 254, 291 f.

Thema 172, 180, 181 A, 182 A, 185 f., 188-192, 198 A, 199, 219, 259-261

Thematique 192 A, 198 A, 244, 252, 255, 259

Thematique elementaire 264-266 Thematique existientielle 198 A,

199, 260-262 Thematologie 181 A, 267 Theme 181 A, 182 A, 183 A,

192A Themenforschung 198 f., 293 A Theorie (theoretisch) 48, 93, 95,

105, 113, 115 f., 121, 138-140, 163 f., 170, 173, 175, 176 A, 200, 204 f., 207, 209, 218, 254, 256, 286

Topos 51, 153-156, 172-190 Toposforschung 176, 180, 193,

201, 293 A Totalität 45 f., 51, 55, 126, 232 Tradition 180, 183 f., 187, 190,

192, 194, 201 Transformationstheorie 242 Trivialliteratur 50, 197

überindividuelle Aspekte 171, 172, 175, 199, 203, 219, 266

überindividuell 172 f., 178, 180, 194, 199 f., 219, 221, 226

Überlieferung s. Tradition überschreiten (des literar. Werkes)'

184, 185A, 197,200 überzeitlich 174 A, 196 Umschreibung 246 f.

Verfahren 33 A, 41 A, 47 A, 96,

Sachregister 315

133 f., 139, 202, 243 Verifikation 65, 76, 82, 138, 175,

207, 218, 228--230, 281 Vermittlung 226 Verwendungsreihe 182 f., 219 -- außerwerkliehe 182 A, 183 ~ innerwerkliehe 182--184 -- psychologische 183 Vorwurf 180, 182, 186, 187 A,

196 A, 198

Wahrhaftigkeit 47, 49 f. Wandel167 f., 173 f., 197,218,

258, 284, 285 A, 292 Welt 251, 275 Weltanschauung 126, 128, 130 A,

273, 275 f., 285 f. Weltsicht 47, 48, 126 Werk (der Literatur) 167 f., 172--

176, 178--180, 182--185, 188 f., 191 f., 197--201,203, 205, 210, 213, 216, 219--221, 223 A, 225 f., 230 f., 235--238, 244, 246, 250--252, 254 f., 257, 259--262, 266, 268 f., 272 A, 275, 284 f., 289, 291

--individuelles 172, 173, 177, 186, 203, 220

Werkimmanenz (werkimmanent) 18, 52, 80, 125, 136, 146, 148--152, 159, 165, 168, 169 A, 170 f., 227, 233, 236 f., 240, 246, 251

Werkinterpretation 225--227, 228--236,240,245, 293A

Werktranszendenz (werktranszen-

dent) 168, 169 A, 226, 236, 248, 250 f., 253, 255, 268, 271

Werkwirklichkeit 171, 173, 180, 182--184, 187 f., 250 A, 265, 269

Wert 24 f., 27, 33, 79 Wertung 230 Widerspiegelung s. Spiegelung Wirkung (der Literatur) 46 A,

54--56, 61, 64 f., 83 A, 179, 234, 277, 289, 291

Wissen 20--22, 64--66, 71 f., 80. 235, 245

Wissenschaft 16 A, 19--22, 24, 26, 38, 59, 61, 62 A, 66--72, 74 A, 76, 80, 82, 93, 100 A, 105, 110, 113, 128 A, 135, 138 f., 152, 164 f., 169, 172, 198, 200, 229, 234 f., 245, 252 f., 271, 291 A, 292

--praktische 66--72, 77 f., 113, 254A

-- theoretische 67, 69 f., 78, 210 Wissenschaftlichkeit 13, 17, 19--

22, 25, 54, 58, 60--66, 72--75, 79, 84, 93, 95, 105 f., 112, 127, 140, 144 f., 150, 160, 178, 187 A, 198, 219, 225, 229, 235, 245 f., 250,285,292

Wissenschaftstheoretisch 14, 77

Zeit 226, 238, 251, 267 Zuordnung 31--34, 36 f., 43, 46--

49, 57, 74, 77, 82, 158, 177, 179 A, 184, 202, 223 A, 225 f., 231, 233, 235, 245, 247, 258, 262

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