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Politik des Weiterschickens...2015/11/14  · Politik des Weiterschickens" Flucht und Vertreibung...

Date post: 11-Nov-2020
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» Politik des Weiterschickens" Flucht und Vertreibung haben Österreichs Grenzen bereits vor 70 Jahren geprägt. Auch für die aus Böhmen und Mähren vertriebenen Sudetendeutschen war Österreich meist Durchgangsstation, erklärt der Historiker Niklas Perzi. INTERVIEW: Gerald Schubert Vertriebene Sudetendeutsche 1945 (links), Flüchtlinge an der österreichisch- deutschen Grenze 2015 (rechts). Massenmigration hat vielfältige Ursachen. Was sich gleicht, sind die Bilder von der Hilflosigkeit der Menschen. www.observer.at Österreichs unabhängige Tageszeitung Der Standard * Wien, am 14.11.2015, 312x/Jahr, Seite: _ Druckauflage: 134 788, Größe: 92,82%, easyAPQ: _ Auftr.: 1263, Clip: 9428960, SB: Akademie der Wissenschaften, Österreichische Seite: 1/3 Zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG.Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at. Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/53170*0).
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Page 1: Politik des Weiterschickens...2015/11/14  · Politik des Weiterschickens" Flucht und Vertreibung haben Österreichs Grenzen bereits vor 70 Jahren geprägt. Auch für die aus Böhmen

» Politik des Weiterschickens"

Flucht und Vertreibung haben Österreichs Grenzen bereits vor 70 Jahren geprägt. Auch für die aus Böhmen und Mähren vertriebenen Sudetendeutschen war Österreich meist Durchgangsstation, erklärt der Historiker Niklas Perzi.

INTERVIEW: Gerald Schubert

Vertriebene Sudetendeutsche

1945 (links), Flüchtlinge an der

österreichisch­deutschen Grenze

2015 (rechts). Massenmigration

hat vielfältige Ursachen. Was sich

gleicht, sind die Bilder von der

Hilflosigkeit der Menschen.

www.observer.atÖ

sterreichs unabhängige TageszeitungDer Standard *

Wien, am

14.11.2015, 312x/Jahr, Seite: _Druckauflage: 134 788, Größe: 92,82%

, easyAPQ: _

Auftr.: 1263, Clip: 9428960, SB: Akademie der W

issenschaften, Österreichische

Seite: 1/3

Zum eigenen Gebrauch nach §42a U

rhG.Digitale Nutzung gem

PDN-Vertrag des VÖ

Z voez.at.Anfragen zum

Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/53170*0).

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STANDARD: Sie sind im Waldviertel aufge­wachsen, an der tschechischen Grenze. Stammt Ihr Interesse für die österreichisch­tschechische Geschichte aus Ihrer Kindheit? Perzi: Von der Grenze war ich schon als kleiner Bub fasziniert. Den Eisernen Vor­hang habe ich aber fast nie zu Gesicht be­kommen, er verlief ja zwei oder drei Kilo­meter weiter hinten, auf tschechoslowaki­schem Gebiet. Man hat nur Wald, Wiesen und ein paar Grenzsteine gesehen, obwohl der Streifen natürlich von tschechoslowa­kischen Grenzsoldaten bewacht wurde. In der Nacht sind wir trotzdem manchmal ein paar Meter hinübergegangen - als Mut­probe. Das war streng verboten. Im Dorf und in der Familie wurde die Grenze ent­weder tabuisiert oder mit Schrecken the­matisiert. Für mich aber war die andere Seite immer eine Art Sehnsuchtsort - auch, wenn man in Sehnsuchtsorte bekanntlich vieles projiziert, das mit der Realität nichts zu tun hat.

STANDARD: Heute sind Sie Mitglied der bila­teralen Historikerkommission, die ein ge­meinsames österreichisch-tsche­chisches Geschichtsbuch erarbei­tet. Was ist der Grundgedanke? Perzi: Wir wollen kein neues Meisternarrativ schaffen, keine offizielle Version, die dann die gültige Lehrmeinung ist. Es wird ein pluralistisches Geschichts­buch sein. An den einzelnen Ka­piteln arbeiten jeweils Teams aus österreichischen und tsche­chischen Historikern, die gerade die unterschiedlichen Sichtwei­sen einbringen und Stereotype hinterfragen sollen.

Niklas Perzi: Öster reich wollte 1945

Grenzsperren. Foto: Gerald Schubert

sudetendeutsche Identitätsbildung hat ei­gentlich erst mit der Gründung der Tsche­choslowakei 1918 massiv eingesetzt. In der Zwischenkriegszeit hat sich Österreich kaum für die Sudetendeutschen interes­siert. Nach 1945 haben österreichische Politiker in ihnen dann die Totengräber der Tschechoslowakei gesehen, analog zu den illegalen Nazis bei uns. Das Motto war: Wir haben schon genug Probleme mit unseren eigenen Nazis, jetzt brauchen wir nicht auch noch die aus der wiedererrichteten Tschechoslowakei - ungeachtet dessen, dass viele Sudetendeutsche natürlich über­haupt keine Nazis waren.

STANDARD: Welche Strategie verfolgte Öster­reich konkret? Perzi: Die erste Nachkriegsregierung Ren­ner forderte die Alliierten, die damals das Kommando hatten, dazu auf, Grenzsperren zu errichten. Österreich selbst hatte ja kei­ne eigene Grenzsicherung. Auch an die Tschechen appellierte man dringend, die Abschiebungen einzustellen. Dafür gab es auch einen ganz pragmatischen Grund: Ös­

terreich lag am Boden, und bei einer Einwohnerzahl von sechs Millionen gab es 1,6 Millionen NichtStaatsbürger, sogenannte Displaced Persons. Selbst in den kleinsten Grenzdörfern haben hunderte Menschen sämtliche Stadel und Bauernhöfe belegt. Es war ein großes Problem, sie zu versorgen. Die Situation ist mit heute nicht zu vergleichen -außer in der Vorgangsweise.

STANDARD: Die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die Nationalsozia­listen und die anschließende Vertreibung der Sudetendeutschen werden von Politikern beider Seiten immer wieder instrumentali­siert. Warum funktioniert das auch heute noch? Perzi: Österreich und das damalige Protek­torat Böhmen und Mähren erlebten die Ein­gliederung ins sogenannte Dritte Reich sehr unterschiedlich. 1945 aber gab es bald eine bemerkenswert große Übereinstimmung, und zwar bei der sogenannten „Entdeut-schung". Während die Deutschen aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden, gab es auch hierzulande das Projekt der „Ent-deutschung", der Geburt der österreichi­schen Nation. Deshalb hat man die nach Ös­terreich Vertriebenen so rasch wie möglich nach Westdeutschland weitertransportiert. Die Politik des Weiterschickens von Men­schen nach Deutschland wurde also schon damals praktiziert. Mehr als 80.000 wurden etwa über das Sammellager Melk in das be­setzte Deutschland ausgesiedelt.

STANDARD: Dabei waren die meisten Sude­tendeutschen, beziehungsweise ihre Vorfah­ren, früher deutschsprachige Bürger der ös­terreichisch - ungarisch en Monarchie. Perzi: Genau das ist das Interessante. Die

STANDARD: Zur Zeit des Eisernen Vorhangs gab es auf beiden Seiten der Grenze auch Landflucht und Binnenmigration. Lassen sich bei

diesen parallelen Entwicklungen auch Unterschiede zwischen Österreich und der damaligen kommunistischen Tschechoslo­wakeifestmachen? Perzi: In den 1950er-Jahren sind in Öster­reich Knechte und Taglöhner langsam ver­schwunden - sie wurden durch Traktoren und Maschinen ersetzt. Im nördlichen Waldviertel fanden einige in der Textil­industrie Aufnahme, andere wanderten in die großen Städte ab. In der Tschechos­lowakei hingegen war es die landwirt­schaftliche Kollektivierung, die hinter der Entwicklung stand. Viele Bauern wurden zu Landarbeitern. Sie verließen ihre Höfe und arbeiteten im Staatsgut oder in der landwirtschaftlichen Genossenschaft der nächsten größeren Gemeinde. Die Leute sind also häufig aus den Dörfern abgewan­dert, nicht aber aus der Region.

STANDARD: Zuletzt gab es seitens der Regie­rung in Prag das intensive Bestreben, die Österreichisch-tschechischen Bezieh ungen politisch neu zu beleben. Das gemeinsame Geschichtsbuch, das von beiden Seiten fi­nanziert wird, ist Teil dieser Bemühungen. In der Flüchtlingspolitik aber scheinen wir plötzlich wieder recht weit voneinander ent­fernt zu sein. Tschechien etwa ist gegen ver-

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Österreichs unabhängige TageszeitungDer Standard *

Wien, am 14.11.2015, 312x/Jahr, Seite: _Druckauflage: 134 788, Größe: 93,18%, easyAPQ: _

Auftr.: 1263, Clip: 9428960, SB: Akademie der Wissenschaften, Österreichische

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Zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG.Digitale Nutzung gem PDN-Vertrag des VÖZ voez.at.Anfragen zum Inhalt und zu Nutzungsrechten bitte an den Verlag (Tel: 01/53170*0).

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bindliche Quoten und bekannt für seine res­triktive Flüchtlingspolitik. Können Sie das aus historischer Sicht nachvollziehen? Perzi: Ich möchte über die tschechische Flüchtlingspolitik nicht urteilen. Die Tschechen sind an einen ethnisch relativ kompakten Nationalstaat gewöhnt. In Prag trifft man kaum muslimische Migranten. Es gibt zwar eine vietnamesische und eine ukrainische Minderheit, aber das Zusam­mentreffen unterschiedlicher Kulturen und Religionen trifft die Tschechen den­noch ziemlich unvorbereitet. Wobei aber

auch die christliche Identität, auf die man sich jetzt plötzlich beruft, in Tschechien ja nicht wirklich ausgeprägt ist.

NIKLAS PERZI (45) ist Historiker am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung an der Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften in Wien sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Migrationsforschung in St. Polten. Das gemein­same österreichisch-tschechische Geschichtsbuch soll 2018 erscheinen - hundert Jahre nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie.

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Wien, am 14.11.2015, 312x/Jahr, Seite: _Druckauflage: 134 788, Größe: 100%, easyAPQ: _

Auftr.: 1263, Clip: 9428960, SB: Akademie der Wissenschaften, Österreichische

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