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Piraten

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Kulturgeschichte

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  • APuZPiraterie

    Michael KempeSchrecken der Ozeane.

    Eine kurze Globalgeschichte der Piraterie

    Kerstin Petretto David PetrovicFernab jeder Romantik Piraterie vor der Kste Somalias

    Hannes SiegristGeistiges Eigentum und Piraterie in historischer Perspektive

    Annette KurWer ist Pirat? Probleme des Immaterialgterrechts

    Constanze MllerProduktpiraterie in der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit

    Ren KuppeNutzung von traditionellem Wissen:

    Biopiraterie oder legitime Vermarktung?

    Frieder VogelmannFlssige Betriebssysteme.

    Liquid Democracy als demokratische Machttechnologie

    Aus Politik und Zeitgeschichte62. Jahrgang 48/2012 26. November 2012

  • EditorialPiraten finden sich nicht nur auf hoher See, sondern unter an-derem auch in verschlossenen Forschungslabors, in internatio-nalen Wirtschaftsbeziehungen oder auf Tauschbrsen im Inter-net. In der aktuellen Diskussion ber das Urheberrecht etwa tritt diese (Fremd-)Zuschreibung ebenso auf wie in der Debatte um Biopiraterie. Gemeinsam haben diese Piraten, dass ihnen wie ihren frhneuzeitlichen Namensgebern Diebstahl, ja Raub vorgeworfen wird: an geistigem Eigentum, an traditionellem Wissen oder an noch geheimen Produktinformationen. Die de-mokratischen Piraten-Parteien Europas hingegen nutzen den Be-griff als Selbstzuschreibung. Die negativen Konnotationen wer-den dabei ignoriert oder zu einem Kampfbegriff umgedeutet.

    Der Begriff birgt hohe Suggestionskraft und Emotionalitt. Die Frage nach der Rechtfertigung dieser Bezeichnung steht hufig im Vordergrund. Wer ist berhaupt Pirat? Und geht es in jedem dieser unterschiedlichen Flle um die Bekmpfung der jeweiligen Ruber?

    Der Prozess, in dem vor dem Hamburger Landgericht im Herbst dieses Jahres zehn somalische Piraten verurteilt wurden, lenkte erneut Aufmerksamkeit auf die Piraterie auf See. Dieses Phnomen galt bis vor einigen Jahren schon fast als vergessen. Die moderne Piraterie, die nicht nur vor den Ksten Somalias ihr Un-wesen treibt, hat mit der romantischen Verklrung von histori-schen Figuren wie Blackbeard oder Klaus Strtebeker wenig ge-mein. Zu ihren Ursachen zhlt unter anderem das Wechselspiel zwischen fragiler Staatlichkeit, der Nhe zu viel befahrenen See-wegen, katastrophalen Umweltvernderungen und der Perspek-tivlosigkeit der Bevlkerung. Knnen trotzdem Verbindungen zum goldenen Zeitalter des Seeraubs hergestellt werden? Wo liegen Mglichkeiten, der modernen Piraterie Herr zu werden?

    Sarah Laukamp

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    Michael Kempe

    Schrecken der Ozeane. Eine kurze Global-

    geschichte der Piraterie

    Michael Kempe Dr. phil.; Leiter der Leibniz-

    Forschungsstelle der Aka-demie der Wissenschaften zu

    Gttingen beim Leibniz-Archiv der Gottfried Wilhelm Leib-niz Bibliothek in Hannover,

    Waterloostrae 8, 30169 Hannover.

    [email protected]

    Seit einigen Jahren scheint ein internationa-ler Verbrechertyp zurckzukehren, dessen Umtriebe als Geiel der Menschheit fr lngst

    berwunden galten: der Pirat. 1 Noch vor wenigen Jahren ht-te es kaum jemand fr mglich gehalten, dass Mnner aus Somalia vor einem deutschen Gericht als Piraten be-straft und zu mehrjh-rigen Haftstrafen ver-urteilt wrden, wie es im Oktober 2012 am

    Hamburger Landgericht geschehen ist. Hin-zu kommt, dass die Wiederkehr von Seeru-berei im groen internationalen Mastab aus-gerechnet da erfolgt ist, wo vor rund 300 Jah-ren schon einmal Seeruber die ganze Welt in Atem hielten: am Horn von Afrika. Kommt es zu einer Renaissance der historischen Frei-beuter? Eins steht jedenfalls fest: Das golde-ne Zeitalter der Piraterie wird sich deshalb nicht wiederholen, weil es als solches nie exis-tiert hat. Um keine andere Verbrecherfigur ranken sich bis heute so viele Mythen und Le-genden. Das gilt nicht nur fr die sagenhaf-ten Raubzge von schillernden Gestalten wie Henry Every, William Kidd oder Blackbeard um 1700, denen das goldene Zeitalter seinen Namen verdankt, sondern ebenfalls fr Str-tebekers dreistes Vorgehen gegen die Hanse-stdte im Mittelalter oder Pompeius Feldzug in der Antike gegen tollkhne Mittelmeer-piraten. Dementsprechend bemhen sich bis heute Historikerinnen und Historiker aller Lnder unermdlich, Fakten und Fiktionen hinsichtlich der Geschichten berhmt-be-rchtigter Seeruber sauber voneinander zu trennen.

    Bis auf wenige, aber bedeutende Ausnah-men existieren kaum Selbstzeugnisse von Seerubern, da die meisten von ihnen weder lesen noch schreiben konnten. Ferner ist es

    immer schon im Eigeninteresse der an Raub, Plnderung und Mord Beteiligten gewesen, alle Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen oder falsche Fhrten zu legen. Schlielich be-ruhen etwa unsere heutigen Kenntnisse ber die nahezu weltumspannende Seeruberei an der Wende zum 18. Jahrhundert zum grten Teil auf literarischen Erzeugnissen, in denen Fakten und Fiktionen untrennbar miteinan-der verbunden sind.

    Als Franzosen und Englnder zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Nordafrikanern aus Tunis, Algier und Tripolis Seeruberei vor-warfen, sich dabei selbst aber weder an die ei-genen Vertrge mit den Bewohnern des Ma-ghreb noch an internationales Kriegsrecht hielten, richtete der Bey von Tunis diesen Vorwurf nicht ganz zu Unrecht gegen die Eu-roper selbst. Weil sie in das von ihnen bean-spruchte Herrschaftsgebiet segelten, bezeich-neten Spanier und Portugiesen franzsische, englische und hollndische Amerikafahrer im 16. Jahrhundert als Piraten. Von den Iberern daran gehindert, in die Neue Welt zu fah-ren, drehten Franzosen, Englnder und Hol-lnder den Spie um und hielten ihnen ihrer-seits Seeruberei vor. In der Wechselseitigkeit des Piraterievorwurfs zeigt sich, was die Be-zeichnungen Seeruber oder Pirat immer schon waren, nmlich Begriffe der Fremdbe-schreibung, um die Handlungen und Gewalt-anwendungen des Gegners zu delegitimieren und zugleich die eigenen damit zu rechtfer-tigen, etwa mit Hilfe der Selbstbeschreibung als Seepolizist oder Piratenjger. Das hat sich bis heute nicht gendert: Nicht wir sind Ruber und Banditen, sondern die Hoch-seefahrer internationaler Fischfangflotten, die in unsere Kstengewsser eingedrungen sind, um widerrechtlich unsere Fischgrnde auszurauben so argumentieren in jngerer Zeit viele Somalier, wenn sie der Piraterie be-schuldigt werden und sich dabei als selbst or-ganisierte Kstenschutzpatrouille verstehen.

    Verstehen lsst sich die lange Geschichte der Piraterie daher hufig als eine Angelegen-heit wechselseitiger Beschuldigungen. Fast immer fehlte eine neutrale dritte Instanz, so dass die meisten Streitflle durch das Recht

    1 Vgl. Michael Kempe, Fluch der Weltmeere, Frank-furt/M.New York 2010; ders. Even in the remotest corners of the world, in: Journal of Global History, 5 (2010) 3, S. 353372.

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    des Strkeren entschieden wurden und dieser dann ber das Monopol verfgte, zu definie-ren, wer Pirat sei und wer nicht.

    Stationen der Piraterie-Weltgeschichte

    Oft ist Piraterie als zweitltestes Gewer-be der Welt bezeichnet worden. Wagt man den Versuch, eine kurze Geschichte dieses Gewerbes wenigstens knapp zu umreien, dann ist zunchst zu bedenken, dass einem die Bezeichnung Piraterie als abwertende Fremdzuschreibung stndig und in ganz un-terschiedlichen Zusammenhngen begegnet. Erschwerend kommt hinzu, dass unsere heu-tige vlkerrechtliche Definition von Piraten als Personen, die auf hoher See aus Eigennutz Gewalttaten gegen Personen oder Eigentum begehen, ohne hierzu von einer anerkann-ten Regierung ermchtigt worden zu sein, nur sehr bedingt auf die lange Geschichte solcher Zuschreibungen angewandt werden kann. Legt man diese allgemeine Definiti-on zugrunde, dann erscheint die Geschich-te der Piraterie zunchst nicht viel mehr zu sein, als eine bloe zeitliche Abfolge von auf-flackernden Verdichtungen seeruberischer Aktivitten, die an verschiedenen Orten der Welt auftauchen und wieder verschwinden. Schaut man jedoch genauer hin, indem man den Blick auf die wirtschaftlichen und politi-schen Funktionen des Seeraubs richtet, erge-ben sich gewisse Muster und Strukturen, die sich in vernderten Formen wiederholen.

    Antike: Hartnckig hlt sich bis heute die Behauptung, Piraterie sei im frhen Altertum nichts Verwerfliches, sondern etwas Helden-haftes gewesen. Bereits bei Hugo Grotius, dem groen Theoretiker des modernen Vl-kerrechts aus dem 17. Jahrhundert, liest man, die Worte Homers Seid Ihr Ruber? seien eine freundschaftliche Frage gewesen. Und gem Justin habe Seeruberei bis zur Zeit des Tarquinius (der Sage nach der letzte K-nig Roms) als etwas Ruhmvolles gegolten. 2 Etwas Heroisches scheint auch im griechi-schen Begriff peirats anzuklingen, der sich von pera (Probe, Versuch) ableitet und damit einen Ruber bezeichnet, der es immer wie-der aufs Neue wissen will und die Herausfor-

    2 Vgl. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, libri tres in quibus ius naturae et gentium, hrsg. v. B. J. A. De Kanter/Van Hettinga Tromp, Leiden 1939, S. 392.

    derung sucht. Hingegen relativieren neuere Forschungen das bis in die Gegenwart vor-herrschende Klischee vom heldenhaften Ur-sprung der Piraterie und weisen darauf hin, dass in den homerischen Epen zwischen He-roen und Piraten unterschieden und Seeru-berei missbilligend dargestellt wurde. 3

    Abgesehen von der Rechtsfrage lassen sich bis in die lteste Zeit menschlicher berlie-ferung zwei Formen von maritimer Gewalt-anwendung und Beutenahme unterscheiden. Zum einen werden seit dem Seevlker-sturm im stlichen Mittelmeer um etwa 1200 v. Chr. immer wieder verschiedene Vlker ge-nannt, die als Gemeinschaft insgesamt vor-rangig vom Seeraub lebten. Gezhlt werden dazu etwa in der Antike die griechischen Phokaier, die Kilikier aus Kleinasien oder im Mittelalter die fast ganz Europa mit Plnde-rungszgen heimsuchenden Normannen und Wikinger. Zum anderen waren es immer wie-der sehr kleine, regional engrumig agieren-de Personengruppen, die Raubberflle zur See in sehr begrenztem Umfang und auf be-stimmte Zeiten beschrnkt unternahmen. Oft waren es Bauern in Zeiten von Missern-ten oder Fischer whrend der Laichsaison, die ihren Erwerbsausfall kompensierten, in-dem sie Schiffe berfielen, spter aber wieder zu ihrem eigentlichen Gewerbe zurckkehr-ten. Beobachten lassen sich solche Auspr-gungen saisonaler oder episodischer Pirate-rie als subsidire Erwerbsform nicht nur im europischen Raum, sondern etwa auch in Asien an der langen chinesischen Kste, wo seit den ersten chinesischen Dynastien ein-heimische Fischer in den fangfreien Sommer-monaten Boote ausrsteten, um an den Ks-ten zu plndern und Handelsdschunken zu ber fallen.

    Sptestens nach dem Ende der Perserkrie-ge (ca. 450 v. Chr.) setzte mit dem Aufstieg Athens das Bemhen ein, Piraterie wirksam zu bekmpfen, um den Handel auf dem Meer sicherer zu gestalten. Allmhlich entstanden Normen zwischen den Mchten, durch die Piraterie als Straftat verurteilt wurde. Die damit einhergehende Verrechtlichung krie-gerischer Beziehungen fhrte dazu, dass r-mische Juristen der sptrepublikanischen Zeit Kmpfe gegen Piraten nicht als Krie-

    3 Vgl. Philip de Souza, Piracy in the Graeco-Roman World, Cambridge 1999.

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    ge, sondern als Polizeiaktionen ansahen. Das imperiale Rom instrumentalisierte den Antipiratenkampf zur Delegitimierung des Widerstands gegen uere Gegner wie inne-re Opposition. Aus der Seeruberbekmp-fung wurde in der Kaiserzeit das Selbstbild als starke politische Autoritt ab. Wie pro-blematisch aber eine solche Unterscheidung zwischen Krieg und Raub letztlich blieb, belegen die Worte Augustins (354430) aus De civitate Dei. 4 Dem Kirchenvater zu-folge habe der von Alexander dem Groen gefangene Erzpirat Demetrios auf dessen Frage, warum er das Meer unsicher mache, geantwortet: Warum werde ich, weil ich es mit kleinen Schiffe tue, Pirat genannt, und Du, Knig, weil du die Erde mit Heerscha-ren unsicher machst, Imperator?

    Mittelalter: Ihrerseits begann sich die Pira-terie im Mittelalter in eine legale und eine il-legale Variante aufzuspalten. Im lateinischen Mittelmeerraum, insbesondere in den mch-tigen Handelsstdten Genua und Venedig, bezeichnete man maritime Raubfahrten, die mit einer obrigkeitlichen Lizenz legalisiert wurden, als Piraterie in cursum (wrtlich: in rascher Fahrt). Aus diesem Ausdruck entwi-ckelte sich spter dann der Begriff des Kor-saren sowie des Kaperfahrers fr den nord-europischen Raum. Die seit dem Mittelalter in ganz Europa gebruchlichen Kaperbrie-fe schufen einen legalen Rahmen fr private Seebeutenahme. 5 Die fr legal erklrte See-beute bezeichnete man als Prise. Dass of-fiziell eingesetzte Seebeutefahrer immer wieder dazu tendieren, sich in autonom agie-rende Seeruber zu verwandeln, zeigen be-reits an der Wende zum 15. Jahrhundert die sogenannten Vitalienbrder. 6 Zunchst im Einsatz als Blockadebrecher fr Stockholm gegen die Belagerung durch dnische Verbn-de, verselbststndigten sie sich spter unter schillernden Figuren wie Gdeke Michels oder Klaus Strtebeker zu unabhngigen Raubfahrern, die zeitweise fast den gesamten Handelsverkehr der Nord- und Ostseeschiff-fahrt lahmlegten.

    4 Vgl. Aurelius Augustinus, Gottesstaat, Kempten 1911, S. 191 f.5 Vgl. Karl-Heinz Bhringer, Das Recht der Prise gegen Neutrale in der Praxis des Sptmittelalters dar-gestellt anhand Hansischer Urkunden, Frankfurt/M. 1970.6 Vgl. Matthias Puhle, Die Vitalienbrder, Frank-furt/M.New York, 19942.

    Interkontinentale Piraterie ab dem 16. Jahrhundert

    Mit dem globalen Ausgriff europischer See-mchte nach Amerika und Ostindien dehnten sich ab dem 16. Jahrhundert auch die Aktivi-tten europischer Seeruber aus. Seefahrer aus Frankreich, England und Holland wider-setzten sich dem Vorherrschaftsanspruch der Spanier und Portugiesen auf weite Teile der auereuropischen Welt. In einer Mischung aus Seeraub, Schmuggel und Handel beteilig-ten sie sich als Handelskorsaren am Wettlauf um Machtansprche und Handelsmonopole in West- und Ostindien. Seebeutefahrer wie Franois le Clerc, Richard Hawkins, Francis Drake oder Piet Heyn dienten ihren jeweili-gen Souvernen als Pioniertruppe exterritori-aler Machtausdehnung. Whrend sie auf diese Weise den Atlantik in einen Schauplatz see-kmpferischer Auseinandersetzungen zwi-schen den konkurrierenden Europern ver-wandelten, war die Lage stlich von Afrika wesentlich komplizierter. Kaufmannskrie-ger der englischen und niederlndischen Ost-indien kom panien fhrten einen permanenten Seebeutekampf mit den Portugiesen. Franz-sische, englische und hollndische Korsaren sorgten dafr, dass lizenzierter und unlizen-zierter Seeraub im 16. und 17. Jahrhundert in-terkontinentale Ausmae annahmen.

    Seit Beginn des portugiesischen Vordrin-gens in den Indischen Ozean und in das Sd-chinesische Meer wurden die europischen Beziehungen zu den Vlkern Asiens durch die Piraterie kompliziert wie verdichtet. Mal wurden die Portugiesen von chinesischer Sei-te als Ruber und Piraten angesehen, ein an-deres Mal galten sie den Japanern als Verbn-dete im Kampf gegen chinesische Piraten. Auf der anderen Seite wurden sie immer wie-der Opfer von japanischen Piraten, etwa den Noshima Mukarami, die sich jedoch nicht als Piratenbanden, sondern als Seeherrscher ver-standen. Wie ihre europischen Konkurren-ten und Handelspartner kombinierten vie-le chinesische Seefahrer ebenfalls friedlichen Handel mit Schmuggel und Seeraub. Hinzu kam, dass sich unter den japanischen Seeru-berbanden der Wku hufig auch Chinesen, Malaysier, Siamesen und eben auch Portugie-sen, Spanier oder sogar Afrikaner befanden. In der Auseinandersetzung mit asiatischen Seerubern wurde den Europern im Laufe

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    des 16. Jahrhunderts bewusst, dass sie in Asi-en im Unterschied zu Amerika nicht die al-leinigen Machtfaktoren bildeten, sondern auf die Kooperation mit regionalen Gromch-ten wie Persien, Indien und China angewie-sen waren.

    Um die Mitte des 17. Jahrhunderts hat-te sich die Karibik zu einem Zentrum pira-tischer Aktivitten entwickelt. Von den In-seln der Kleinen und Groen Antillen bis zur nordamerikanischen Kste reichte das Ope-rationsgebiet der Bukanier und Flibustier, ur-sprnglich Gruppen europischer Emigran-ten, die in Westindien ansssig vorrangig vom Seeraub lebten. 7 Sie setzten sich vor al-lem aus den engags zusammen, die von Eu-ropa nach Westindien bergesiedelt waren, um dort als Schuldknechte zu arbeiten, nach ihrer Freilassung aber keine Arbeitsmglich-keit mehr hatten oder aufgrund der schlech-ten Behandlung geflohen waren. Mit den Bu-kaniern und Flibustiern entstand ein neuer Typus der berseepiraterie. Whrend Han-delskorsaren und die ersten Kaufmannskrie-ger von Europa aus ihre Beuteexpeditionen starteten und dorthin auch wieder zurck-kehrten, waren sie vor Ort ansssig.

    Lange Zeit von Englndern und Franzosen als Kaperfahrer gegen Neu-Spanien einge-setzt, verloren die Bukanier und Flibustier im ausgehenden 17. Jahrhundert die Unterstt-zung der Nordeuroper, nachdem letztere sich in Westindien selbst als Kolonialmch-te etablieren konnten. 8 Auf der Suche nach neuen Jagdgrnden schwrmten Bukanier und Flibustier in den Pazifik und in den At-lantik aus. Aus dem Indischen Ozean lockten Nachrichten von sagenhaften Schtzen indi-scher Handels- und Pilgerschiffe. Nachdem es den Piraten Thomas Tew und Henry Eve-ry gelungen war, im Arabischen Meer reiche Beute zu machen, brach in Westindien und Nordamerika ein regelrechter Goldrausch aus. An der Wende zum 18. Jahrhundert machten sich junge Kapitne und Seeleute in Scharen von den Bahamas, aus Virginia oder

    7 Vgl. Les Carabes au temps des flibustiers XVIeXVIIe sicles, Paris 1982.8 Vgl. Michael Kempe, Die Piratenrunde, in: Volker Grieb/Sabine Todt (Hrsg.), Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2012, S. 155180; Arne Bialuschewski, Between Newfoundland and the Ma-lacca Strait: A Survey of the Golden Age of Piracy, in: Mariners Mirror, 90 (2004) 2, S. 167186.

    Boston auf. Um Afrika herum und zurck auf diesen Weg der Piratenrunde begaben sich Ende des 17. Jahrhunderts schtzungs-weise bis zu 1500 Mnner.

    Erst durch die anhaltenden Raubberflle der Piraten aus den europischen Kolonien Amerikas wurde die im ostindischen Raum vorherrschende Gromacht, das Mogulim-perium, auf die Prsenz der europischen Hndler im indischen Ozean aufmerksam. Pauschal gab man ihnen die Schuld an den berfllen und verlangte von ihnen Schutz-manahmen durch Konvoischiffe und Pira-tenjger. So waren es die Piraten der Runde, welche die bislang untereinander konkurrie-renden Europer dazu zwangen, sich an ei-nen Tisch zu setzen. Die gemeinsamen seepo-lizeilichen Manahmen gegen die roundsmen bildeten den Ausgangspunkt ihrer spteren Seevorherrschaft im Indischen Ozean. Als sie die Verbindungen zu den Hintermnnern in Amerika kappten, brach das fragile Pira-tennetzwerk der roundsmen zusammen, aber durch deren Raub- und Schleichhandel, der insbesondere zur Erschlieung neuer Skla-venmrkte an der ostafrikanischen Kste fhrte, waren Westindien und Ostindien als bisher weitgehend getrennte Wirtschafts-rume ein ganzes Stck nher zusammen-gerckt was man als Globalisierungseffekt der Piratenrunde bezeichnen knnte. Mit dem Verschwinden der Runde verbindet man heute auch das Ende des goldenen Zeit-alters der Piraterie.

    Aber das Seeraubproblem als Gegenstand internationaler Beziehungen blieb weiterhin vor allem im mediterranen Raum virulent. 9 Seit das Osmanische Reich sich am Ende des 16. Jahrhundert aus dem westlichen Mittel-meer weitgehend zurckgezogen hatte, nah-men die berflle muslimischer Korsaren aus Nordafrika auf europische Handelsschiffe rapide zu. Auf christlicher Seite entsprachen den nordafrikanischen Seekmpfern vor allem von Malta aus operierende und vom dortigen Orden der Johannes-Ritter untersttzte Kor-saren, die maurische Schiffe angriffen und sich dabei als Glaubenskmpfer verstanden. In Syrien frchteten katholische Christen

    9 Vgl. auch M. Kempe, Fluch der Weltmeere (Anm. 1), Kap. 6, S. 245288; Daniel Panzac, Barbary Corsaires. The End of a Legend 18001820, Leiden 2005.

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    noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts, dass die andauernden berflle der Malteser Korsaren zum Abfall vieler syrischer Christen vom ka-tholischen Glauben fhren knnten. Ebenso wenig wie die Malteser betrachteten sich die Beutefahrer der sogenannten Barbaresken-stdte Algier, Tunis und Tripolis als Piraten, vielmehr nannten sie sich zs, Soldaten im Krieg gegen die Unglubigen, und definierten sich als Kmpfer des djihd. 10 Im corso oder guerra corsara, wie der Kaperkrieg des Mit-telmeers bezeichnet wurde, waren auf bei-den Seiten konomische und religise Motive kaum voneinander zu trennen. Die Schdi-gung des Glaubensfeindes durch Wegnahme seiner Schiffe und Gter lie sich beiderseits immer auch zugleich als religise Handlung rechtfertigen. Whrend die Korsarenaktivi-tten auf Malta mit der Besetzung der Insel durch Napoleons Flotte 1798 praktisch ein-gestellt wurden, fanden die Beutefahrten der Maghrebiner erst ein Ende, als Algier 1830 von Frankreich eingenommen wurde.

    In Form der Kaperei erfuhr der staatlich lizenzierte Seeraub einen letzten groen Hhepunkt in den Napoleonischen Krie-gen sowie den Unabhngigkeitskriegen in Nord- und Sdamerika im spten 18. und frhen 19. Jahrhundert. Nach politischer Autonomie von Spanien oder England stre-bende Mchte wie die USA, Bolivien, Chile oder Argentinien bedienten sich mangels ei-gener Seestreitkrfte privater Seebeutefah-rer durch die Ausstellung von Kaperbriefen fr ihren politischen Befreiungskampf. Da-bei verschwamm die ohnehin schwer fixier-bare Grenze zwischen Kaperei und Piraterie immer mehr. Der Kaperkrieg hatte ein sol-ches Ma an Irregularitt erreicht, dass keine der an den Auseinandersetzungen diesseits und jenseits des Atlantiks beteiligten Gro-mchte sicher einschtzen konnte, was nach internationalen Standards als legitime Kaper-aktion zu gelten habe und was nicht.

    Wenngleich mit der Piratenrunde um 1700 Seeruberei ihre rumlich grte Aus-dehnung in der bisherigen Geschichte erreich-

    10 I. Mlikoff, Ghz, in: B. Lewis u. a., The Encyc-lopaedia of Islam, Bd. 2, Leiden 1991, S. 10431045; Andreas Rieger, Die Seeaktivitten der muslimischen Beutefahrer als Bestandteil der staatlichen Flotte whrend der osmanischen Expansion im Mittelmeer im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1994.

    te, so bildete sich die bis heute grte Piraten-flotte weder im Mittelmeer noch im Atlantik, sondern im Sdchinesischen Meer. 11 Ende des 18. Jahrhunderts hatten Rebellen in Vi-etnam chinesische Fischer, die nebenberuf-lich Piraterie betrieben, zur Untersttzung ihres Kampfes rekrutiert. Nachdem die Tay-Son-Rebellion 1802 niedergeschlagen wor-den war, kehrten viele der vertriebenen Pi-raten in die chinesische Provinz Guangdong zurck; mehrere Banden schlossen sich dort zu einem einzigen Verband zusammen, der in sich sechs Flotten vereinigte und 1804 etwa 400 Dschunken und 70 000 Mann umfass-te. Whrend die kleineren Piratenbanden um 1800 meist an der Peripherie des chinesischen Reiches operierten, errichtete die Piratenkon-fderation ihre Basen entlang der viel befah-renen Handelsrouten, die nach Kanton fhr-ten. In China agierte der Piratenbund wie ein Staat im Staate. Den Groteil ihres Einkom-mens erwirtschafteten die Piraten durch den Verkauf von Schutzbriefen. 1809 erreich-te die Macht des paramilitrischen Bundes ihren Hhepunkt. Den Seerubern standen rund 200 groe Dschunken (yang-chuan) zur Verfgung, die jede bis zu 400 Mann Besat-zung an Bord hatte. 1810 kollabierte die Kon-fderation jedoch vollstndig. Das Embargo der Qing, Marinekampagnen, ein kaiserliches Amnestieangebot und lokale Milizenaufstn-de einerseits, innere Streitigkeiten und der Tod oder Rckzug der wichtigsten Flotten-fhrer andererseits fhrten zu einer raschen Auflsung des Piratenbundes. Obwohl der Bund jede noch so groe Piratengemeinschaft der Europer seit den Zeiten ihrer Expansion nach Amerika und Ostindien zahlenmig und an Kampfeskraft bei Weitem berstieg, wurde er nie dazu genutzt, ferne Gegenden zu kolonisieren oder neue Welten zu entdecken.

    Pirateriebekmpfung im Zeichen des kolonialen Imperialismus

    Politisch nutzten im 19. Jahrhundert vor al-lem die groen Kolonialmchte das universa-le Recht der Piraterieverfolgung, um daraus weltweite Jurisdiktions- und Seeherrschafts-ansprche abzuleiten. Auf dieses Recht be-riefen sich beispielsweise die Briten, als sie im Rahmen seepolizeilicher Manahmen dazu

    11 Vgl. Dian H. Murray, Pirates of the South China Coast 17901810, Stanford 1987.

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    bergingen, ihre Stellung als imperiale Kolo-nialmacht auf der Arabischen Halbinsel oder in Sdostasien auszubauen und zu festigen. Bis in die entlegensten Winkel der Welt, so formulierte bereits im 17. Jahrhundert ein Londoner Admiralittsrichter den Anspruch der englischen Marine, Piratenschiffe rund um den Globus zu verfolgen. 12 Man berief sich damit auf das aus dem Begriff der Uni-versalfeindschaft abgeleitete universale Pira-tenstrafrecht, wonach Piraten, weil sie Feinde aller seien, auch von jedermann berall ver-folgt und bestraft werden drften. Als die Bri-ten ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert ihr Imperium in Indien und Asien auszubauen begannen, nutzten sie dieses Universalstraf-recht, um die Bekmpfung von Gegnern ihrer Kolonisierung als polizeiliche Manahme ge-gen die Piraterie zu rechtfertigen. Die Siche-rung der internationalen Handelsschifffahrt und Zivilisationsmission waren die offiziel-len Ziele, mit denen die Briten etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts militrisch im Persischen Golf Flagge zeigten und entsprechend gegen Seeruberberflle vorgingen. 13 Dabei war die Ausbung seepolizeilicher Funktionen vom Streben nach machtpolitischer Vorherr-schaft in dieser Region nicht zu trennen.

    Blieben Piraterie und ihre Bekmpfung im kolonialen Kontext whrend des gesamten 19. Jahrhunderts eine willkommene Recht-fertigung imperialer Machtbestrebungen, so geriet die legale Gegenseite der Piraterie, die Kaperei, um die Jahrhundertmitte interna-tional stark unter Druck, bis man sich 1856 auf der Pariser Seerechtskonferenz multila-teral auf ein uneingeschrnktes Kapereiver-bot einigte. Vlkerrechtlich zwar zunchst umstritten, setzte sich dieses Verbot auf lan-ge Sicht gesehen international durch. 14 Die Pariser Beschlsse zum Seekriegsrecht mar-kieren den Anfang vom Ende der Unterschei-dung zwischen Piraterie und Kaperei, womit die vlkerrechtliche Legitimitt der Seebeu-tenahme durch Privatpersonen aufgehoben

    12 Leoline Jenkins, Charge given to an Admiral-ty Session held at the Old Bailey, [ohne Datum, ca. 16691674] in: William Wynne, The Life of Sir Leoli-ne Jenkins, 2 Bde., London 1724, Bd. 1, xcxci.13 Vgl. Charles E. Davies, The Blood-Red Arab Flag, Exeter 1997.14 Vgl. Francis R. Stark, The Abolition of Privatee-ring and the Declaration of Paris, New York 1897; Francis Piggott, The Declaration of Paris 1856, Lon-don 1919.

    wurde. Seitdem die Differenz von Kaperei und Piraterie verschwunden ist, beschrnkt sich die Grenze zwischen Legalitt und Il-legalitt innerhalb des Seekriegsrechtes ein-zig auf die Unterscheidung von Kriegsma-rine/Seepolizei und Seeruberei. Im Laufe der zweiten Jahrhunderthlfte schlossen sich weitere Regierungen diesem Abkommen an, und bis etwa 1900 hatte sich auch in der Pra-xis dieses Verbot nahezu in allen Teilen der Welt durchgesetzt.

    Fehlende vlkerrechtliche Kodifikation

    Whrend sich im 19. Jahrhundert die Auswei-tung des Pirateriebegriffs auf den Sklaven-handel ebenso wenig behaupten konnte wie dessen Ausdehnung auf die Beschdigung internationaler Telegrafenkabel, blieb ande-rerseits manchem Rechtsgelehrten die gngi-ge Bestimmung von Seeraub zu eng gefasst. Nachdem aus Mangel an Konsens das Bem-hen um eine vlkerrechtliche Kodifikation der gesetzlichen Pirateriebekmpfung 1927 von der Agenda des Vlkerbundes genom-men wurde, kommentierte der Jurist Alexan-der Mller das Scheitern mit dem Hinweis, dass immer noch fast keine Frage des Pirate-rierechtes unstreitig sei, etwa betreffend der Meuterei auf Schiffen, der Behandlung von Schiffen Aufstndischer oder von Handels-schiffen, die sich an Kriegsmanahmen be-teiligten. 15 International durchsetzen konnte sich bis heute eine weite Definition, die ne-ben Raub auf hoher See ebenfalls jede rechts-widrige Gewalttat, Freiheitsberaubung oder Plnderung umfasst, 16 nicht dagegen der vor

    15 Alexander Mller, Die Piraterie im Vlkerrecht unter besonderer Bercksichtigung des Entwurfes der Vlkerbundskommission und der Regierungsu-erungen, Frankfurt/M. 1929, S. 80.16 Vgl. United Nations Convention on the Law of the Sea, Part VII, High Seas, Art. 101.: Definition of piracy: Piracy consists of any of the following acts: (a) any illegal acts of violence or detention, or any act of depredation, committed for private ends by the crew or the passengers of a private ship or a private aircraft, and directed: (i) on the high seas, against an-other ship or aircraft, or against persons or property on board such ship or aircraft; (ii) against a ship, air-craft, persons or property in a place outside the juris-diction of any state; (b) any act of voluntary partici-pation in the operation of a ship or of an aircraft with knowledge of facts making it a pirate ship or aircraft; (c) any act of inciting or of intentionally facilitating an act described in subparagraph (a) or (b).

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    allem von Grobritannien nach dem Ersten Weltkrieg unternommene Versuch, den Ein-satz von Unterseebooten als Akt der Piraterie zu definieren. 17

    Recht und Politik treffen im Pirateriebe-griff immer wieder aufeinander und treten zueinander in ein widersprchliches, wenn nicht paradoxes Verhltnis. Auch wenn or-ganisierte Aufstndische, sofern sie als sol-che anerkannt sind, nicht als Piraten ange-sehen werden, verhlt sich die Spruchpraxis hierzu nicht ganz eindeutig. Das gilt insbe-sondere fr nicht anerkannte Rebellen. Da-bei komme es Vlkerrechtler Rdiger Wolf-rum zufolge nicht so sehr darauf an, ob sie fr sich das Recht der Kriegfhrenden in An-spruch nehmen knnen, sondern darauf, ob die vorgenommenen Gewaltakte noch in den typischen Bereich der Seekriegsfhrung fal-len oder nicht. 18 Auch die Unterscheidung zwischen Piraterie und Terror auf See, wie sie vor allem in Bezug auf das im Oktober 1985 von palstinensischen Terroristen berfallene Kreuzfahrtschiff Achille Lauro gemacht wurde, bleibt problematisch. 19 So erstaunt es nicht, dass gerade nach den Anschlgen vom 11. September 2001 manche Politiker und Ju-risten dafr pldieren, die Pirateriebestim-mung, wie sie dem UN-Seerechtsberein-kommen von 1982 zugrunde liegt, ebenfalls auf Akte terroristischer Gewalt auszu dehnen.

    Im modernen Vlkerrechtsverstndnis fhrte die rechtliche Nichtgreifbarkeit des Piraten dazu, dass er auf der einen Seite, so knnte man mit Carl Schmitt sagen, in die merkwrdige Liste nicht-staatlicher Vl-kerrechtssubjekte aufgenommen wurde, eine Liste, die mit dem Heiligen Vater beginnt und mit dem Seeruber endet 20. Auf der anderen Seite blieb der Pirat par excellence dasjenige

    17 Vgl. Christoph Sattler, Die Piraterie im moder-nen Seerecht und die Bestrebungen der Ausweitung des Pirateriebegriffes im neueren Vlkerrecht, Bonn 1971.18 Rdiger Wolfrum, Hohe See und Tiefseeboden (Gebiet), in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Hand-buch des Seerechts, Mnchen 2006, 53, S. 308. 19 Vgl. Malvina Halberstam, Terrorism on the High Seas, in: The American Journal of International Law, 82 (1988) 2, S. 269310; Michael Stehr, Piraterie und Terror auf See, Berlin 2004, S. 93.20 Carl Schmitt, Vlkerrecht (1948/50), in: ders., Frieden oder Pazifismus?, hrsg. v. Gnter Maschke, Berlin 2005, S. 764.

    Vlkerrechtsobjekt, welches aus der Rechts-gemeinschaft aller Vlker auszuschlieen ist. In ihm verdichteten sich alle Merkmale von Inhumanitt und Unzivilisiertheit. Nachdem heute der internationale Terrorist den Pira-ten in seiner Rolle als meist gesuchten inter-nationalen Verbrecher abgelst hat, lsst er sich auf hnliche Weise wie sein semantischer Vorgnger als Identifikationsfigur eines glo-balen Freund-Feind-Dua lis mus heranziehen. Etwa als der US-Prsident George W. Bush nach dem 11. September 2001 die Staatenge-meinschaft vor die Wahl stellte, sich entwe-der auf die Seite Amerikas oder auf die der Terroristen zu stellen.

    Drohende Wiederkehr?

    Wenn gegenwrtig Seeraub in ihrer Spielart der Somalia-Piraterie eine neue Blte als Ge-fahr internationaler Schifffahrt zu erleben scheint, so ist dieses Phnomen vor allem im Zusammenhang neuer Formen von Gewalt zu sehen, die weder vollstndig staatlicher Kon-trolle unterliegen, noch durch das Aufeinan-dertreffen militrisch wie politisch gleichbe-rechtigter Gegner gekennzeichnet sind. Zu einer hnlich globalen Gefahr wie um 1700 knnte die heutige Piraterie am Horn von Afrika allerdings nur unter den Bedingungen werden, dass erstens eine ganze Reihe von Kstenstaaten wie Somalia nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt ihr Gewaltmonopol wahrnehmen kann, zweitens der Mangel an legalen Erwerbsttigkeiten in solchen Ln-dern die Bereitschaft zur gefhrlichen Beute-jagd auf See steigen lsst. Drittens msste es zu Nachahmern in grerem Stil auch in an-deren Regionen der Welt kommen, die vier-tens, im Rahmen von Strukturen internati-onal organisierter Kriminalitt miteinander kooperieren wrden. Freilich bleibt davon unberhrt, dass rtlich begrenzte Phnome-ne gewaltttiger berflle auf See wohl nie ganz zu unterbinden sein werden.

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    Kerstin Petretto David Petrovic

    Fernab jeder Romantik

    Piraterie vor der Kste Somalias

    Kerstin Petretto Kerstin Petretto, M.A., geb. 1977: Wissenschaftliche Mitarbeiterin

    im Rahmen des Forschungs-projekts PiraT Pira terie

    und Maritimer Terrorismus als Herausforderungen fr die See-handelssicherheit am Institut

    fr Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni-

    versitt Hamburg (IFSH), Beim Schlump 83, 20144 Hamburg.

    [email protected]

    David Petrovic befasst sich im Rahmen seiner

    Dissertation am Lehrstuhl fr Internationale Politik und Auenpolitik an der Universi-tt zu Kln mit dem Themen-

    komplex der Piraterie am Horn von Afrika.

    [email protected]

    Moderne Piraterie 1 ist fern jeder romanti-schen Verklrung der frhneuzeitlichen Freibeuterei auf See. Piraterie ist ein Verbre-

    chen, meist sogar, wie im Falle der Piraterie vor Somalia, ein orga-nisiertes Verbrechen: Somalische Piraten be-drohen die Freiheit der Seeverkehrswege, ter-rorisieren Schiffsbesat-zungen, verursachen konomische Kosten und tragen zu einer Destabilisierung nicht nur Somalias, sondern auch der umliegenden Region bei. Das Leit-motiv der Piraten ist dabei nicht der Schutz der Kstengewsser- und Bewohner, son-dern persnliche Be-reicherung. Dies geht zu Lasten der Besat-zungen und ihrer Fa-milien, die oft mona-telang, teils ber Jahre,

    im Ungewissen bleiben ber den Verbleib ih-rer Familienangehrigen. Mehr als 3100 See-fahrer wurden nach Angaben des Internati-onal Maritime Bureau (IMB) zwischen 2008 und 2011 Geiseln somalischer Piraten, waren Folter und Erniedrigungen ausgesetzt oder fanden den Tod. 2

    Obwohl Piraterie eng verflochten ist mit der Seefahrt, war es lange Zeit ein vernach-lssigtes, beinah vergessenes Phnomen. Erst einige spektakulre Entfhrungsflle vor So-malia im Jahr 2008 lenkten den Fokus einer breiteren ffentlichkeit auf diese Form der

    Kriminalitt obwohl auch in den Jahren zu-vor weltweit Schiffe angegriffen wurden. Der geografische Schwerpunkt hatte sich nur aus den scheinbar fernen Gewssern Sdostasi-ens vor die Haustr Europas in die Haupt-verkehrsader im globalen Handel verlagert: in den Golf von Aden und den Indischen Oze-an. Gleichzeitig erfolgte eine Neuausrich-tung der Piraterie: Whrend in Sdostasien vornehmlich Schiffe und Yachten berfallen werden, um Waren und Bargeld zu erbeu-ten, und nur in seltenen Fllen Handelsschif-fe samt Besatzung entfhrt werden, vern-derte das somalische Geschftsmodell die Perzeption 3 von Piraterie erheblich. Es ent-wickelte sich mit steigenden Angriffszahlen, erfolgreichen Entfhrungen und enormen Lsegeldeinnahmen von einem konomi-schen rgernis zu einem Problem, das vitale Interessen vieler Staaten tangiert.

    In diesem Beitrag umreien wir die Ent-wicklungslinien der Piraterie im Kontext der politischen Situation Somalias, zeigen Hin-tergrnde und aktuelle Trends auf und wei-sen darauf hin, dass die Bekmpfung der Pira-terie nicht nur rein militrischer Manahmen und der Untersttzung der Zentralregierung in Mogadischu bedarf, sondern vielmehr re-gionale und lokale Regime beziehungsweise Autoritten eingebunden werden mssen.

    1 Piraterie wird hier verstanden als ein von priva-ten Akteuren gefhrter Angriff auf ein Schiff inner-halb der Territorialgewsser oder der ausschlieli-chen Wirtschaftszone eines Kstenstaates oder auf hoher See mit dem Ziel der persnlichen Bereiche-rung. Vgl.: Kerstin Petretto, Diebstahl, Raub und er-presserische Geiselnahme im maritimen Raum. Eine Analyse zeitgenssischer Piraterie, Hamburger Bei-trge zur Friedensforschung und Sicherheitspoli-tik, Heft 158, Hamburg 2012, S. 13. Zur rechtlichen Einordnung der Piraterie vgl. Tim Ren Salomon, Rechtliche Dimensionen des maritimen Raumes, in: Sebastian Bruns/Kerstin Petretto/David Petrovic (Hrsg.), Die maritimen Dimensionen von Sicherheit, Wiesbaden i. E. 2 Vgl. die Jahresberichte Piracy and Armed Rob-bery against Ships des IMB (International Maritime Bureau) fr 20082011; zudem: Kaija Hurlburt/Cy-rus Mody, The Human Cost of Somali Piracy 2011, International Maritime Bureau/Oceans Beyond Pira-cy, LondonBroomfield 2012, S. 4.3 Vgl. zur Theorie der Versicherheitlichung: Christi-an Buerger, Theorien der Maritimen Sicherheit: Ver-sicherheitlichungstheorie und sicherheitspolitische Praxeographie, in: Sebastian Bruns/Kerstin Petretto/David Petrovic (Hrsg.), Die maritimen Dimensionen von Sicherheit, Wiesbaden i. E.

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    Politischer Kontext Somalia

    Seit dem Kollaps der Regierung Siad Barre 1991 gilt das Land am Horn von Afrika ge-meinhin als zerfallender Staat. 4 Im Nordwes-ten spaltete sich bereits im gleichen Jahr in den Grenzen der ehemaligen britischen Kolonie Somaliland ab, Puntland im Nordosten folg-te 1998 mit einer Teilautonomie. Whrend in beiden Regionen durch Kompromisse der an-sssigen Clans ein relatives Ma an Stabilitt erreicht wurde, versank der Rest des Landes in einem mittlerweile mehr als 20 Jahre andau-ernden Brgerkrieg. Im Sommer 2006 konn-te eine Vereinigung islamischer Gerichtshfe (Union of Islamic Courts, UIC) die in Moga-dischu herrschenden Warlords sowie die durch westliche Staaten untersttzte bergangsre-gierung militrisch besiegen und weite Tei-le Sd-Zentralsomalias unter ihre Kontrolle bringen. Eine daraufhin erfolgte militrische Intervention thiopiens lie das Land in eine Phase der blutigsten Auseinandersetzungen seit 1991 eintreten. Im Herbst 2006 gelang es den thiopischen Truppen mit Untersttzung der USA die UIC aus ihren Stellungen zu ver-treiben. Teilweise wurden sie in eine neu for-mierte bergangsregierung integriert, wobei eine ihrer Fhrungspersonen, Sharif Sheikh Ahmed, zum neuen Prsidenten Somalias ge-krt wurde. Dennoch hat sich die Lage seither kaum gebessert: Die von 2009 bis August 2012 in Folge von Friedensverhandlungen einge-setzte bergangsregierung ist in ihrem Wir-kungskreis sehr beschrnkt und auf Unter-sttzung aus dem Ausland angewiesen. Erst im Herbst 2011 erlangte sie teilweise die Kon-trolle ber die Hauptstadt Mogadischu, aber auch das nur durch den militrischen Einsatz der Friedenstruppe der Afrikanischen Union. Die aus den Milizen der UIC hervorgegange-ne, al-Qaida nahestehende islamistische Mi-liz al-Shabaab kontrolliert hingegen seit 2007 weite Teile Sd-Zentralsomalias. Seit Oktober 2011 sieht sie sich ihrerseits mit einer milit-rischen Intervention von Kenia und thiopi-en konfrontiert, die sie mittlerweile aus ihren wichtigsten Stellungen, inklusive der wirt-schaftlich bedeutsamen Hafenstdte Mogadi-schu, Merka und Kismayo, vertreiben konnte.

    4 Zum Begriff des zerfallenden Staates vgl. APuZ, (2005) 2829 sowie Alexander Straner, Somalia in den 1990ern: Theorien des Staatszerfallkrieges, in: Rasmus Beckmann/Thomas Jger (Hrsg.), Hand-buch Kriegstheorien, Wiesbaden 2011, S. 457465.

    Somalia ist also mitnichten auf dem Weg zur Stabilitt. Zwar wurde das Ende der ber-gangsregierung durch die Wahlen vom August 2012 eingelutet, es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit die neue Regierung unter Prsident Hassan Sheikh Mohamud eine Herrschaft im Land etablieren und vor allem den Frieden und die Ausshnung vorantreiben kann.

    Der politische Kontext bietet nur teilweise ei-nen Anhaltspunkt fr die Entwicklung der somalischen Piraterie. Bestimmende Faktoren fragiler Staatlichkeit wie mangelnde Durch-setzungskraft politischer Institutionen, ein schwacher Sicherheitssektor, Korruption, ein hoher Grad an Gewalt oder geringe Einkom-mensmglichkeiten untersttzen das Entste-hen krimineller Strukturen generell. Treffen diese Faktoren auf Bedingungen, die speziell die Kriminalitt auf See begnstigen (insbe-sondere die Nhe zu stark befahrenen Seewe-gen, lange, leicht zugngliche Kstenstreifen, Bevlkerungsteile mit Kenntnissen in der See-fahrt), dann ist das Vorkommen von Piraterie sehr wahrscheinlich.

    Piraterie als lokales Phnomen

    Aber obwohl all die genannten Faktoren auf einen Groteil Somalias zutreffen, ist Pira-terie keineswegs ein gesamtsomalisches Ph-nomen. Whrend sich den Piraten fast die ge-samte nrdliche und stliche Kstenlinie als Ausgangspunkt anbietet, gibt es doch nur ei-nige wenige Regionen, die ihnen als Rck-zugsorte dienen und in deren vorgelagerten Gewssern sie entfhrte Schiffe bis zur L-segeldbergabe festhalten knnen. Beson-ders die Drfer entlang der Kstenlinie Punt-lands am geografisch aufflligen Horn im Nordosten des Landes sowie einige Ksten-drfer im Mudug in Zentralsomalia gelten als ihre Rckzugsbasen. Diese Regionen zeich-nen sich dadurch aus, dass sie erstens weder durch staatliche noch durch teilstaatliche Ad-ministrationen umfassend kontrolliert wer-den, zweitens kaum von kriegerischen Ausei-nandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen betroffen sind, drittens infrastrukturell kaum erschlossen sind, vier-tens eine homogene Clanstruktur aufwei-sen und fnftens die Anwohner auf maritime Kenntnisse etwa resultierend aus der Fische-rei beziehungsweise in Puntland zudem die Mitarbeit bei Kstenwachen zurckgreifen

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    knnen. Die Entwicklung der Piraterie vor den Ksten Somalias lsst sich grob in drei Phasen zusammenfassen: Von berfllen in Kstennhe, ausgefhrt durch kleinere, lose organisierten Gruppen der low scale piracy ber eine Phase der Professionalisierung zu Beginn des neuen Jahrtausends hin zur Phase der Eskalation und Expansion seit 2008.

    Low Scale Piracy

    Bis in das neue Jahrtausend hinein wurden seit 1991 jhrlich rund 10 bis 20 berflle re-gistriert, wobei gerade in dieser Zeit die Dun-kelziffer als hoch gilt. 5 Piraterie basierte dabei auf unterschiedlichen Motiven: Die Konflikt-linien an Land fanden erstens ihr Pendant auf See, indem es vor allem bis Mitte der 1990er Jahre zu Angriffen auf Schiffe der verschiede-nen Konfliktparteien kam. Zweitens kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen somalischen Fischern einerseits und zwischen einheimischen und auslndischen Fischtraw-lern andererseits. Dabei wurden auch Schiffe entfhrt und ein Zoll oder eine Fischerei-gebhr faktisch ein Lsegeld eingefor-dert. 6 Drittens wurden im Auftrag von Regi-onalstaaten von privaten Anbietern wie Hart Security oder Somcan Kstenwachen orga-nisiert. Diese verkauften nicht nur Fischer-eilizenzen an auslndische Trawler, sondern wurden auch zur, teilweise gewaltsamen, Ab-schreckung nicht-lizenzierter und somit ille-galer Fischer eingesetzt. 7 Zudem wurden an der somalischen Kste vorbeiziehende Schif-fe geplndert, ihrer geladenen Gter beraubt und teilweise auch entfhrt. Schwerpunkt der Piraterie in dieser Zeit bildeten die Ge-wsser vor Puntland und Somaliland sowie um die Hafenstdte Mogadischu, Merka und

    5 Vgl. die Datenbank Anti-Shipping Activity Mes-sages (ASAM) der National Geospatial-Intelligence Agency, http://msi.nga.mil/NGAPortal/MSI.por-tal?_nfpb=true&_pageLabel=msi_portal_page_65 (22. 10. 2012).6 Vgl. K. Petretto, (Anm. 1), S. 18; Roland Marchal, Somali piracy: The local contexts of an international obsession, in: Humanity 2 (2011) 1, online: www.hu-manityjournal.org/humanity-volume-2-issue-1/so-mali-piracy-local-contexts-international-obsession. (31. 10. 2012).7 Vgl. Jay Bahadur, Deadly Waters. Inside the hid-den world of Somalias pirates. London 2011, S. 65; Stig Jarle Hansen,: Private Security & Local Politics in Somalia, in Review of African Political Economy, 35 (2008)118, S. 585598.

    Kismayo, 8 wenngleich die Piraterie in dieser Zeit eher eine Gelegenheitskriminalitt dar-stellte. Das Geschftsmodell der Lsegel-derpressung findet sich zwar bereits in dieser frhen Phase, auch wenn mitnichten die Sum-men zur Auslsung der Schiffe bezahlt wur-den wie heute und die Flle sich auf einige we-nige Ausnahmen beschrnkten.

    Phase der Professionalisierung

    Seit 2002 operierten einige Piratengruppen vorrangig aus dem Grenzgebiet zwischen So-maliland und Puntland sowie aus der Bari-Re-gion in Puntland heraus. Dass ihre Aktivit-ten dabei kaum etwas mit der Abwehr illegaler Fischerei zu tun haben, sondern primr auf fi-nanziellen Motiven beruhen, wird anhand der Entwicklungen zwischen 2003 und 2004 deut-lich: Damals wurden von bis dato vor allem an Land aktiven Warlords mehrere Piraten-gruppen aufgebaut, die durchaus als Syndika-te bezeichnet werden knnen. Diese Gruppen zeichneten sich durch klare Hierarchien und Zustndigkeiten aus und waren einzig darauf ausgerichtet, Schiffe anzugreifen und gegen Lsegelder wieder freizugeben. Unterstt-zung erhielten diese Gruppen von erfahrenen Piraten. 9 Diese zunehmend organisierte Pi-raterie hatte zur Folge, dass es 2005 zu einem starken Anstieg der Angriffszahlen vor der Nord- und Nordostkste Puntlands im sd-lichen Golf von Aden sowie vor Sd-Zen tral-somalia kam. 10

    Phase der Eskalation und Expansion

    Infolge der kriegerischen Auseinandersetzun-gen 2006 ging die Piraterie entlang der gesam-ten Kste drastisch zurck, um dann ber die Jahre 2007/2008 in die Phase der Eskalati-on zu mnden. Vor allem zwei Faktoren wa-ren hierfr entscheidend: Erstens begnstigte

    8 Vgl. ASAM (Anm. 5). 9 Vgl. Stig Jarle Hansen, The Dynamics of Somali Piracy, in: Studies in Conflict & Terrorism, Vol. 35 (2012) 78, S. 523530.10 Vgl. ders., Piracy in the greater Gulf of Aden. Myths, misconception and remedies. Norwegian Institute for Urban and Regional Research Report, (2009) 29, S. 2427; David Petrovic, Piraterie am Horn von Afrika. Lokale Ursachen und internatio-nale Reaktionen, in: Zeitschrift fr Auen- und Si-cherheitspolitik, 5 (2012) 2, S. 279298.

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    der Rckzug der Islamisten und das 2006/2007 entstandene Machtvakuum in Sd-Zen tral-soma lia die Reorganisation der Piratengruppen um verschiedene Warlords in Hobyo, Harard-here und Merka in Zentralsomalia. Denn dort entstanden Rume, die weder von gravieren-den kriegerischen Auseinandersetzungen be-troffen waren noch irgendeiner staatlichen oder regionalstaatlichen Kontrolle unterlagen. Einhergehend mit einer politischen und wirt-schaftlichen Krise in Puntland kam es zweitens zu einer Hyperinflation und zu Auflsungser-scheinungen der dortigen staatlichen Sicher-heitskrfte auch der Kstenwache mit der Folge eines massiven Anstiegs der Kriminali-ttsrate. Der puntlndischen Regierung ent-glitt weitgehend die Kontrolle ber den nord-stlichen Kstenstreifen, insbesondere ber die Regionen Bari, Nugaal und Mudug mit den Piratendrfern Eyl, Hafuun und Garacad. Die Piraten konnten sich entsprechend reorga-nisieren und erhielten zudem Zulauf aus dem Sden. Auch ehemalige Kstenwchter und Milizionre schlossen sich den Piraten an. 11 uerst schwache staatliche Strukturen und defizitre, korrupte Sicherheitskrfte sowie eine in den jeweiligen Regionen ruhige Sicher-heitslage begnstigten ab Ende 2007 die Pira-terie und wirkten als katalytisches Moment fr die Eskalation der Angriffszahlen: Wurden 2007 31 Angriffe registriert und dabei 11 Schif-fe und 154 Besatzungsmitglieder entfhrt, so gab es im Jahr 2008 bereits 111 Angriffe, davon allein 92 im Golf von Aden. Mit 42 Schiffsent-fhrungen endeten nahezu 40 % der Angriffe aus Sicht der Piraten erfolgreich. 12

    Mit der zunehmenden Prsenz von Marine-streitkrften zum Schutz der Schifffahrt vor Piraterie seit Ende 2008 etwa im Rahmen der EU-Operation ATALANTA 13 oder der NATO-Operation Ocean Shield 14 war in-des kein Rckgang der Angriffszahlen zu ver-zeichnen. Vielmehr reagierten die Piraten auf die Prsenz der Streitkrfte und dehnten ihr Operationsgebiet massiv aus. Hierbei nutzen sie Mutterschiffe, welche die kleinen wen-digen Angriffsboote, sogenannte Skiffs, im

    11 Vgl. International Crisis Group, Somalia. The trouble with Puntland, Africa Briefing 64/2009.12 Vgl. International Maritime Bureau, Piracy and Armed Robbery against Ships. Annual report 2008, London 2009, S. 22.13 Vgl. www.eunavfor.eu (31. 10. 2012). 14 Vgl. www.manw.nato.int/page_operation_ocean_ shield.aspx (31. 10. 2012).

    Schlepp mitfhren und den Piraten eine lnge-re Stehzeit auf See und einen greren Opera-tionsradius ermglichen. Dieser erstreckt sich mittlerweile ber den Golf von Aden, das Ara-bische Meer im Norden, den Indischen Oze-an mit der Westkste Indiens als stliche und der Strae von Mosambik als sdliche Begren-zung. Zwar wurde auch das Einsatzgebiet der Militroperationen entsprechend ausgeweitet. Der Effekt hielt sich jedoch in Grenzen, und dies aus einfachem Grund: Ein Gebiet, das etwa zehnmal so gro ist wie die Bundesre-publik Deutschland, mit einigen wenigen Ma-rineeinheiten zu berwachen, die zudem, wie im Falle von ATALANTA, vornehmlich im Golf von Aden sowie zum Begleitschutz von Schiffen des Welternhrungsprogramms ein-gesetzt werden, ist kaum mglich. 15 Mit der Ausweitung des Aktionsradius verdoppelten sich 2009 die Angriffszahlen gegenber 2008 mit 217 verzeichneten Attacken, wobei 47 Schiffe und 867 Seefahrer entfhrt wurden. 16

    Motivationen und Organisationsstrukturen

    Dieser berblick ber die Entwicklung der so-malischen Piraterie verdeutlicht einmal mehr, dass diese ein zunehmend organisiertes Verbre-chen ist, getrieben durch Lsegeldeinnahmen. Diese haben sich in den vergangenen Jahren ra-pide erhht: Wurden in den 1990er Jahren noch einige Hunderttausend US-Dollar pro Schiff bezahlt, so waren es 2009 im Durchschnitt rund 3,4 Millionen und 2010 bereits mehr als 5 Millionen US-Dollar. 17 Jhrlich knnen die Piraten so Lsegeldzahlungen von rund 150 bis 180 Millionen US-Dollar verbuchen, was den Gesamthaushalt Puntlands von etwa 1620 Millionen US-Dollar bei weitem bertrifft. 18 Dabei fliet der grte Teil des Geldes, laut aktuellen Schtzungen etwa 70 Prozent, in die

    15 Ausfhrlich hierzu: Hans Georg Ehrhart/Kerstin Petretto, The EU and Somalia: Counter-Piracy and the Question of a Comprehensive Approach, Ham-burg 2012, S. 2631. 16 Vgl. International Maritime Bureau (Anm. 12), S. 56.17 Vgl. Financial Action Task Force, Organised Ma-ritime Piracy and Related Kidnapping for Ransom, Paris 2011, S. 8. 18 Hintergrundgesprch der Autoren mit Offiziellen aus Puntland, Oktober 2011; zudem: Die Lsegeld-zahlungen mssen ein Ende haben, www.ims-ma-gazin.de/index.php?p=artikel&id=1322049300,1,dnp (22. 10. 2012).

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    Kassen der Organisatoren im Hintergrund, an lokale Autoritten oder Mitglieder regionaler Administrationen sowie an Milizen, die die je-weilige Region kontrollieren. 19 Doch auch fr das Fuvolk der Piratengruppen lohnt sich das Geschft: Whrend ein Angehriger der puntlndischen Sicherheitskrfte rund 50 bis 70 US-Dollar im Monat verdient, kann ein Pi-rat ein Vielfaches dessen einnehmen. 20 Gleich-wohl erhalten die Angreiferteams der Piraten nur dann Geld, wenn sie zuvor erfolgreich ein Schiff entfhren konnten. Sie sind somit fast schon gezwungen solange anzugreifen, bis sie erfolgreich sind. Die Gewinnbeteiligung rich-tet sich innerhalb der Gruppen zumeist antei-lig nach der Stellung des Einzelnen sowie nach zuvor ausgehandelten Richtlinien. Die organi-sierten Syndikate knnen dabei grob ber vier Hierar chieebenen charakterisiert werden. In-vestoren, die erhebliche Summen fr die Be-schaffung von Skiffs, Ausrstung, Logistik und Schutzmanahmen bereitstellen, sowie fr die Dauer der Lsegeldverhandlungen die notwendigen Auslagen ttigen, stehen an ers-ter Stelle. Sie erhalten ihr Investment mit teils erheblichen Gewinnmargen zurck. Auf der zweiten Stufe finden sich lokale Anfhrer, die fr das operative Vorgehen zustndig sind und dabei oft mehrere Angreifertrupps organisie-ren. Die eigentlichen Piraten auf See knnen in einer dritten Gruppe verortet werden, wo-bei sich auch hier der Anteil an der jeweiligen Rolle des Einzelnen orientiert etwa zwischen dem Koch auf einem Mutterschiff oder dem Piraten, der als erster ein Schiff entert. Auf der letzten Stufe finden sich diejenigen, welche die entfhrten Schiffe sowie die Ausgangsbasen an Land absichern. 21

    Aktuelle Trends

    Blieben die Zahlen 2010 auf nahezu glei-chem Niveau wie im Vorjahr (219 Angriffe,

    19 Geopolicity: The Economics of Piracy. Pirate Ransoms & Livelihoods off the Coast of Somalia, 2011, S. 11, www.geopolicity.com/upload/content/pub_1305229189_regular.pdf (22. 10. 2012).20 Schtzungen zufolge rund 10 000 bis 15 000 US-Dollar nach erfolgter Lsegeldzahlung in Hhe von einer Million US-Dollar. Vgl. International Expert Group on Piracy off the Somali Coast; Final Report 2008, S. 17.21 Hintergrundgesprch der Autoren mit NATO-Offiziellen sowie Angehrigen der Bundeswehr, Mrz/Mai 2011.

    49 Schiffsentfhrungen und 1016 entfhrte Crewmitglieder), ist seit 2011 ein Rckgang bei den erfolgreichen Angriffsversuchen fest-zustellen: Zwar wurden immer noch 237 At-tacken registriert, diese verliefen jedoch mit 28 entfhrten Schiffen in lediglich 12 Pro-zent der Flle aus Sicht der Piraten erfolg-reich. Dieser rcklufige Trend setzt sich seitdem fort und schlgt sich seit Frhjahr 2012 erstmals auch in den Angriffszahlen nieder: Fr das gesamte erste Halbjahr 2012 wurden nur 69 Angriffe und 13 Schiffsent-fhrungen registriert, whrend im gleichen Vorjahreszeitraum bereits 163 Angriffe und 21 Entfhrungen erfolgt waren. 22 Zwischen Juli und August 2012 wurde kein einziger Angriff durch somalische Piraten gemeldet eine Premiere seit nunmehr vier Jahren. 23 Zwar werden aus versicherungstechnischen Grnden Angriffe durch die Reeder mittler-weile oft nur dann gemeldet, wenn ein Scha-den am Schiff nachweisbar ist beziehungs-weise Mitglieder der Besatzung verletzt oder gettet wurden. 24 Dennoch ist eine leichte Entspannung der Lage vor der somalischen Kste nicht von der Hand zu weisen. Worin die Grnde hierfr liegen ist allerdings bis-lang nicht eindeutig zu klren. Der vermehr-te Einsatz von privaten bewaffneten Sicher-heitsteams an Bord der Handelsschiffe in den zwei Jahren gilt, neben dem Druck der militrischen Missionen, 25 als mageblich. Denn bislang konnte noch kein Schiff ent-fhrt werden, das bewaffnetes Personal an Bord hatte. 26 Sogenannte passive Abwehr-manahmen 27 haben sich hingegen bislang nicht als ausreichende Mittel zur Abwehr der Piraten erwiesen. Der Einsatz von bewaff-neten Sicherheitsteams bedarf allerdings ei-

    22 Vgl. International Maritime Buereau (Anm. 12), S. 58.23 Vgl. Mike Planz, Piracy attacks drop to zero for first full month in five years, 8. 8. 2012 www.tele-graph.co.uk/news/worldnews/piracy/ 9462185/Pi-racy-attacks-drop-to-zero-for-first-full-month-in-five-years.html (19. 10. 2012).24 Hintergrundgesprche der Autoren mit Mitar-beitern privater Sicherheitsfirmen, Juli und August 2012. 25 Die Einheiten von NATO und EU hatten unter anderem seit dem Frhjahr 2010 ihre Prsenz vor den bekannten Piratendrfern verstrkt und seegehende Mutterschiffe frhzeitig abgefangen.26 Vgl. M. Planz (Anm. 21).27 Vgl.: Best Management Practices for Protection against Somalia Based Piracy, Edinburgh 2011, on-line: www.gard.no/webdocs/BMP4.pdf (19. 10. 2012).

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    ner uerst kritischen Betrachtung: Zum ei-nen besteht das Risiko, dass diese gem dem Motto shoot first, ask questions later agieren und somit auch unschuldige Personen wie lo-kale Fischer zu Schaden kommen. Zudem be-stehen keinerlei nationale oder internationa-le Mechanismen, die eine berwachung ihrer Einstze an Bord ermglichen wrden. Da die Piraten bislang auf alle Gegenmanah-men durch eine Anpassung ihrer Vorgehens-weise reagiert haben, kann zum anderen trotz der aktuell niedrigen Angriffsraten nicht aus-geschlossen werden, dass sie Taktiken entwi-ckeln, um den bewaffneten Schutz der Schiffe zu berwinden. Die Folge knnten mehr Ver-letzte und Tote sowie eine erneute Erhhung ihrer Erfolgsquote sein.

    Neben dem Druck von See sehen sich die Piraten auch an Land mit zunehmender Ge-genwehr konfrontiert, was sich gerade auf lange Sicht als effizienter und effektiver er-weisen knnte: Puntland ging im Frhjahr 2012 erstmals mit eigenen, neu aufgestellten Sicherheitskrften den Puntland Maritime Police Forces (PMPF) gegen einige bekann-te Sttzpunkte der Piraten vor und es gelang ihnen, ehemalige Piratendrfer wie Eyl zu si-chern. Auch die lokale Bevlkerung entlang der nordstlichen Kste setzte sich teilweise gegen Piratengruppen zur Wehr und verwei-gerte ihnen den Zugang zu ihren Drfern. In-nerhalb der Piratengruppen ist ebenfalls ein Wandel erkennbar. Der Verlust von Rck-zugsbasen durch landgesttzte militrische und polizeiliche Manahmen hat sie zur bes-seren Zusammenarbeit gezwungen. Zudem haben einige Piratengruppen nicht nur ihren Operationsradius erweitert, sondern auch ihre Angriffstaktik an die verschrften Ge-genmanahmen auf den Schiffen angepasst: Sie greifen vermehrt mit mehreren Skiffs gleichzeitig an, um den Besatzungsmitglie-dern und etwaigen privaten Sicherheitsteams die Abwehr zu erschweren und verfgen ber bessere technische Ausrstung wie Satelli-tentelefone oder GPS-Gerte. 28

    Durch die zurckgehende Erfolgsquote sind die Piraten obendrein gezwungen, im-mer hhere Lsegelder zu akquirieren, um ihre eigenen Investitionen zu decken. Dies fhrte dazu, dass sich die Dauer der Lse-

    28 Hintergrundgesprch der Autoren mit einem Mit-arbeiter der Vereinten Nationen, Oktober 2011.

    geldverhandlungen seit 2008 erheblich ver-lngerte. Wurde 2008 und 2009 noch relativ selten von gewaltsamen bergriffen der Pira-ten auf ihre Geiseln berichtet, so wenden die Gruppen nun auch deutlich hufiger Gewalt an, um den Druck auf die Reeder im Zuge der Verhandlungen zu erhhen. Zudem wer-den auch nach einer Lsegeldzahlung teilwei-se einige Besatzungsmitglieder zur Erfllung weiterer Forderungen zurckbehalten. Und nicht zuletzt haben einige Gruppen aufgrund des eingegrenzten Handlungsspielraums auf hoher See ihr Geschftsmodell auf die Ent-fhrung von westlichen Urlaubern aus ke-nianischen Luxusressorts und Mitarbeiter internationaler und nationaler Hilfsorgani-sationen ausgeweitet. 29

    Fazit

    Die Entwicklung der somalischen Piraterie seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 basiert auf einer regionalen und lokalen Ge-mengelage soziopolitischer und konomi-scher Faktoren sowie der Initiative kriminel-ler Akteure zur Etablierung eines lukrativen Geschftsmodells zur See. Das internatio-nale politische Engagement zur Pirateriebe-kmpfung sttzt sich bislang vorrangig auf seeseitige, militrische Abschreckungsma-nahmen, den Aufbau beziehungsweise Aus-bau von Strafverfolgungsmechanismen in der angrenzenden Region sowie, mit der Unter-sttzung der bergangsregierung in Moga-dischu, auf einen state-first Ansatz. Sicherlich kann vor allem militrisches Engagement ab-schreckend auf die Piraten wirken und hat auch bereits zu einer Verbesserung der Lage gefhrt. Ein langfristiger Erfolg im Sinne ei-ner tatschlichen Unterbindung der somali-schen Piraterie ist damit jedoch nicht gesi-chert. Die schiere Gre des Einsatzgebietes, Priorisierungen im Mandat sowie nationale Vorbehalte setzen den Militrkrften bereits enge Grenzen. Vor allem aber gilt sowohl ihr als auch der Einsatz der privaten Sicher-heitskrfte allein der Abwehr von Angriffen,

    29 Dabei sind die Gruppen nicht notwendigerweise direkt in die Entfhrung selbst involviert, sondern bernehmen die Geiseln und fhren Lsegeldver-handlungen. Vgl. United Nations Security Council, Report of the Monitoring Group on Somalia pur-suant to Security Council resolution 751 (1992) and 1907 (2009), S/2012/544, New York 2012, S. 212.

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    whrend die Ursachen des Problems an Land nach wie vor kaum angegangen werden: Lo-kale Sicherheitsstrukturen und Initiativen zur Bekmpfung der Aktivitten von Piraten wurden bisher entweder kaum wahrgenom-men oder kritisch beugt statt aktiv gefr-dert. 30 Ebenso sind Programme zur Krimi-nalittsprvention in den Kstendrfern bislang kaum vorhanden.

    Gleichwohl bietet die derzeitige Situation mit einer rcklufigen Angriffs- und Entfh-rungsquote Chancen, die politisch genutzt werden knnen: Da die bergangsregierung bislang in keiner der Regionen Einfluss ent-falten konnte, aus denen heraus die Piraten operieren, sollte nun im Sinne einer Somali-sierung verstrkt in einem Mehrebenenan-satz mit regionalen und lokalen Autoritten und Gemeinschaften vor allem in Puntland und im Mudug zusammengearbeitet wer-den. Dabei knnte die Bildung landbasierter Kstenwachen und Milizen zur Sicherung der Kstendrfer ebenso untersttzt wer-den 31 wie die Strkung lokaler, oftmals tra-ditioneller, Mechanismen zur Ahndung von Verbrechen und der Aufbau legaler Beschf-tigungsmglichkeiten. Wichtig ist dabei vor allem die Anknpfung an bereits bestehende Strukturen und eine Einbindung der Bevl-kerung. Denn diese bildet nicht nur die pri-mre Rekrutierungsbasis fr Piraten, son-dern auch die Zukunft des Landes fr die nur sie allein, und nicht auslndische Investo-ren, Entwicklungshelfer oder Staatsvertreter verantwortlich sind. Um Piraterie wieder in die Welt der Geschichtsbcher und Abenteu-erromane zu verbannen und die durchaus ro-mantisch anmutenden Kstenstreifen Soma-lias wieder in ihre Hnde zu geben, bedrfen daher in erster Linie die Bewohner Somalias einer Untersttzung.

    30 Vgl. ebd., S. 249281.31 Als ein Schritt in diese Richtung knnte sich die neu initiierte zivil-militrische Mission Regional Maritime Capacity Building for the Horn of Africa and the Western Indian Ocean (EUCAP NESTOR) der EU erweisen. Sie sieht vor, in ausgewhlten Staa-ten der Region Marineeinheiten, Kstenwachen und Polizeikrfte zum Schutz der Kstengebiete auszu-bilden. Vgl. www.consilium.europa.eu/eeas/securi-ty-defence/eu-operations/eucap-nestor (19. 10. 2012).

    Hannes Siegrist

    Geistiges Eigen-tum und Piraterie in historischer Perspektive

    Hannes Siegrist Dr. phil., geb. 1947; Professor fr Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des modernen Europa, geschfts-fhrender Direktor des Instituts fr Kulturwissenschaften der Universitt Leipzig, Beethoven-strae 15, 04107 Leipzig. [email protected]

    Die Einfhrung des geistigen Eigentums gehrt zu den groen institutionellen und rechtlichen Innovationen des spten 18. und frhen 19. Jahr-hunderts. Moderne Gesellschaften dyna-misierten damals mit-hilfe von Copyrights, Urheber- und Erfin-dungsrechten den ge-sellschaftlichen Um-gang mit Wissen und Ausdrucksformen. 1 Produzenten, Nut-zer und Vermittler von Ausdrucksformen, geistigen Werken und neuem Wissen wollten so ihre jeweiligen Son-deransprche gegen die Ein- oder bergriffe unbefugter Dritter durchsetzen. Die propri-etre Institutionalisierung der Beziehungen in der Kultur, Wissenschaft und Marktwirt-schaft erfolgte unter liberalen Vorzeichen. Sie richtete sich gegen die traditionelle stn-dische Herrschaft und gegen Zunft- und Pri-vilegienwirtschaft. Die legitime oder legale Nutzung von Kulturgtern, symbolischen Darstellungen und technischem Wissen soll-te durch Leistungskriterien, brgerliche Mo-ral, Gesetz und Vertrag begrndet werden.

    Die nicht autorisierten Verwerter und Nut-zer wurden in den Gebieten des britischen See-Imperiums und der USA als Piraten be-zeichnet und auf dem europischen Kontinent als Nachdrucker, Raubdrucker, Nachahmer, Flscher oder Bcherdiebe. 2 Den Pionieren des geistigen Eigentums ging es darum, die-sen das Handwerk zu legen, indem sie ge-rechtere Regeln fr den Umgang mit geis-tigen Werken und technischen Lehren bereitstellten. Geistiges Eigentum war da-

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    mals ein Kampf- und Emanzipationsbegriff, der den Schutz individueller Leistungen und Erwartungssicherheit in den wissenschaftli-chen, kulturellen und wirtschaftlichen Bezie-hungen versprach. Es sollte fr Fortschritt, Bildung, Gerechtigkeit, Wohlstand und so-zialen Ausgleich sorgen und die Beziehungen in der Welt des Wissens und der Kultur mo-ralisieren. Alles in allem sind die Leistungs-fhigkeit und der Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz der Institutionen des geistigen Eigentums im Laufe der Geschichte erheb-lich gestiegen. Piraten und Raubdrucker ha-ben langfristig an Bedeutung verloren, sind aber nicht verschwunden.

    Eigentumsfrmige Institutionalisierung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft

    Das Konzept des geistigen Eigentums stammt ursprnglich aus der Formationsperio-de der modernen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft und des modernen Flchen- und Rechtsstaats. Es handelt sich um eine insti-tutionelle und rechtliche Innovation, mit der die fortgeschrittenen Industrie- und Kultur-staaten Europas und Amerikas kreative und unternehmerische Leistungen dynamischer Gruppen des Besitz- und Bildungsbrger-tums schtzten, die im bergang von der traditionellen aristokratischen und berufs-stndischen zur modernen Markt- und Klas-sengesellschaft ihre Ansprche auf eine gesellschaftliche, rechtliche und kulturel-le Sonderposition sicherten. Exklusive Ver-wertungs- und Nutzungsrechte fr geistige Werke werden seitdem mithilfe von Begrif-fen wie Individualitt, Autonomie, Investiti-

    1 Vgl. Hannes Siegrist, Globalisierung des geistigen Eigentums in historischer Perspektive, in: Corinne Michaela Flick (Hrsg.), Wem gehrt das Wissen der Welt, Mnchen Frankfurt/M. 2011; ders., Strategi-en der Propertisierung kultureller Beziehungen, in: Stefan Leible et al. (Hrsg.), Wissen Mrkte Geis-tiges Eigentum, Tbingen 2010; Margrit Seckelmann, Industrialisierung, Internationalisierung und Patent-recht im Deutschen Reich, 18711914, Frankfurt/M. 2006.2 Vgl. Irmtraud Gtz von Olenhusen/Albrecht Gtz von Olenhusen, Geistiges Eigentum von der Pira-tenflagge zum globalen Spinnennetz, in: dies. (Hrsg.), Von Goethe zu Google. Geistiges Eigentum in drei Jahrhunderten, Dsseldorf 2011; Justin Hughes, Co-pyright and Incomplete Historiographies: of Piracy, Propertization and Thomas Jefferson, in: California Law Review, 79 (2006) 5, S. 9931084.

    on, Originalitt, Neuheit, Ntzlichkeit und Vertragsfreiheit begrndet. Gesellschaftliche und kulturelle Konventionen, Vertragsmus-ter und Geschftspraktiken, die sich auf die Herstellung, Vervielfltigung, Verbreitung und kommerzielle Verwertung von Text-, Bild- und Notenwerken beziehen, werden durch allgemeine gesetzliche und rechtliche Bestimmungen standardisiert. Die Copy-norms der aufstrebenden oder herrschen-den Kreise werden so zu allgemein geltenden nationalen Copyrights. 3 Literarische und knstlerische Eigentumsrechte regeln die Be-ziehungen auf den expandierenden Mrkten fr Kultur- und Wissensgter und geistige Ausdrucksformen. Neue und ntzliche Er-findungen und/oder technische Lehren wer-den durch das Patenrecht geschtzt.

    Die Verbreitung und Ausdifferenzierung des geistigen Eigentumsrechts erfolgt im Kontext der groen institutionellen Revo-lutionen und Reformen zwischen 1770 und 1870. Die eigentumsfrmige Institutionali-sierung kultureller, wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse und Beziehungen wird mit der Nationalisierung und Libera-lisierung von Kultur, Wirtschaft und Politik verknpft. Der Nationalstaat korrigiert un-erwnschte Effekte, indem er den Umfang und die Reichweite individueller geistiger Ei-gentumsrechte auf seine kultur-, bildungs-, rechts-, wirtschafts- und gesellschaftspoliti-schen Ziele abstimmt. Mithilfe der zeitlichen Befristung geistiger Eigentumsrechte defi-niert er eine dynamische Grenze zwischen geschtzten und gemeinfreien Kultur- und Wissensbestnden. Einmal etabliert, breitet sich das Konzept des geistigen Eigentums seit dem spten 19. Jahrhundert in konfliktrei-chen Prozessen in immer mehr Gegenstands-bereichen, kulturellen Sparten, industriellen Sektoren, gesellschaftlichen Teilbereichen und Regionen aus. Das geistige Eigentums-recht differenziert sich immer weiter aus. Die sachliche und soziale, zeitliche und rumli-che Reichweite der Schutzrechte nimmt zu. Die Auseinandersetzungen ber kultur- und wissensbezogene Exklusivrechte und den Ausgleich zwischen partikularen und allge-meinen Zugangs- und Nutzungsansprchen werden vermehrt in der Sprache des geis-

    3 Vgl. Mark F. Schultz, Copynorms: Copyright Law and Social Norms, 27. 9. 2006, http://dx.doi.org/ 10.2139/ssrn.933656 (9. 11. 2012).

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    tigen Eigentums ausgetragen. Die Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des geis-tigen Eigentums zeigt, wie derartige Exklu-sivrechte im jeweiligen historischen Kontext die Macht-, Markt-, Einkommens- und kul-turellen Einflusschancen des Rechteinhabers bestimmen und warum sie immer auch durch den Nutzen fr die Allgemeinheit begrndet werden mssen. Der Konflikt ber das Ver-hltnis zwischen exklusiven individuellen Herrschafts- und Nutzungsrechten einerseits und allgemeinen Teilhabe- und Zugangsrech-ten andererseits ist ein Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft und Kultur.

    Geistiges Eigentum begrndet in der Mo-derne nicht nur die Macht-, Verfgungs- und Nutzungsansprche des Rechteinhabers, sondern prgt in mannigfaltiger Weise die Beziehungen in Gesellschaft, Kultur, ffent-lichkeit und Wirtschaft. In modernen und dynamischen Gesellschaften wird es zu ei-nem allgemeinen Leitprinzip, zugleich aber auch zu einer vieldeutigen und multifunk-tionalen Institution. Es regelt den sozialen Umgang mit symbolischen Formen und kul-turellen Artefakten, die Verteilung sozialer Chancen und die Zuordnung kultureller und wirtschaftlicher Handlungsrechte. Aus kul-tur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftli-cher Sicht interessiert geistiges Eigentum des-halb nicht nur als Rechtsfigur oder rechtliche Norm, sondern auch als Kulturmuster, als ein Bndel von Einstellungen, Werten und Pra-xisformen, und als soziale und wirtschaftliche Institution. Indem es sich verbreitet, werden Beziehungen in der Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft verstrkt zu eigentumsbasierten oder eigentumshnlichen Beziehungen.

    Die damit einhergehenden sozialen, kul-turellen und rechtlichen Prozesse werden im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der Propertisierung untersucht. Im besonde-ren Fall von Kultur- und Wissensgtern ver-weist Propertisierung auf soziale und sym-bolische Strategien und Prozesse, die darauf hinauslaufen, den gesellschaftlichen Umgang mit Ausdrucksformen und Wissen unter Ver-weis auf das Prinzip des geistigen Eigentums zu regeln. 4 Beziehungen in der Kultur, Wis-

    4 Vgl. Hannes Siegrist, Die Propertisierung von Gesellschaft und Kultur, in: ders. (Hrsg.), Entgren-zung des Eigentums in modernen Gesellschaften und Rechtskulturen, Leipzig 2007; Hannes Siegrist/

    senschaft und Wirtschaft werden moralisch und rechtlich strker als eigentumshnliche Beziehungen begriffen. Die rumliche und zeitliche Geltung proprietrer Rechte und Regeln wird ausgedehnt. Berufs- und Sta-tusgruppen, Interessenverbnde, National-staaten, internationale Organisationen und supra staatliche Verbnde tendieren dazu, das Funktions- und Geltungsspektrum des geis-tigen Eigentums im nationalen und globalen Rahmen auszuweiten. Alternative und kom-plementre Prinzipien und Institutionen wie Schenkung, Verwandtschaft, Freundschaft, berufliche Solidaritt, brokratische Herr-schaft oder Gemeineigentum werden da-durch verdrngt oder untergeordnet.

    In der Moderne ist die Dynamik der Pro-pertisierung und De-Propertisierung der so-zialen und kulturellen Beziehungen ganz wesentlich durch das Ineinandergreifen von Nationalisierungs- und Globalisierungspro-zessen bestimmt. Die Geschichte der eigen-tumsfrmigen Institutionalisierung kultu-reller und wissenschaftlicher Beziehungen beginnt im modernen Territorialstaat, insbe-sondere im Zeitalter des Nationalstaats. Geis-tige Eigentumsrechte sollen im Territorium des Nationalstaats unter marktwirtschaftli-chen Bedingungen fr Erwartungssicherheit in den Kooperations- und Wettbewerbsbe-ziehungen sorgen. Piraten und Raubdrucker sind deshalb unter nationalen wie propriet-ren Gesichtspunkten unerwnscht. Im Falle des Vereinigten Knigreichs sorgt das Copy-right-Gesetz von 1710 fr die Integration und Disziplinierung der sogenannten schottischen Raubdrucker. Die Angleichung der Nach-druckregeln im Deutschen Bund in den 1830er und 1840er Jahren und schlielich das geistige Eigentumsrecht des Deutschen Reichs dienen nicht zuletzt der Eindmmung des von den nord- und mitteldeutschen Verle-gern immer wieder beklagten Nachdruckwe-sens in den sddeutschen Staaten.

    Isabella Lhr, Intellectual Property Rights between Nationalization and Globalization. Introduction, in: dies., Intellectual Property Rights and Globalizati-on, Leipzig 2011 Aus rechtlicher Sicht: Thomas Drei-er, Verdichtungen und unscharfe Rnder, in: Hannes Siegrist (Hrsg.), Entgrenzung des Eigentums in mo-dernen Gesellschaften und Rechtskulturen, Leipzig 2007; Margrit Seckelmann, From the Paris Conventi-on to the TRIPS Agreement, in: Isabella Lhr/Han-nes Siegrist (Hrsg.), Intellectual Property Rights and Globalization, Leipzig 2011.

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    Propertisierung und Nationalisierung sind teils alternative, teils komplementre Institu-tionalisierungsprozesse. Der moderne Rechts- und Kulturstaat weist Autoren und Verlegern, Erfindern und Industriellen individuelle Ex-klusivrechte fr geistige Werke und Erfindun-gen zu, die er fr gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich relevant hlt, aber nicht in eigener Regie herstellt und vermittelt. Staatli-che und gesellschaftliche Eliten stimmen mit-hilfe der Konzepte geistiges Eigentum und Nation ihre partikularen Interessen aufei-nander ab, um die Leistungsfhigkeit der na-tionalen Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft zu strken. Nach und nach wird der zunchst pragmatisch, moralisch oder philosophisch begrndete Anspruch von Autoren und Er-findern auf ein Naturrecht an ihren Leistun-gen durch Verfassungsbestimmungen, Geset-ze, und spezifische Rechtstheorien spezifiziert und untermauert.

    Im Unterschied zu dem sich historisch gleichzeitig durchsetzenden Sacheigentum ist das geistige Eigentum von Anfang an zeit-lich befristet. Lange umstritten bleiben auch der rechtliche Status und die rechtsdogmati-sche Begrndung der neuen kulturellen und technisch-wissenschaftlichen Exklusivrech-te. Je nach Ort, Zeit, Gegenstandsbereich und Rechtskultur werden diese als Eigentums-, Vervielfltigungs-, Wettbewerbs-, Investiti-onsschutz- oder Monopolrechte begriffen und normiert. In jedem Fall steht lange der ver-mgensrechtliche Schutz oder das pekunire Recht im Vordergrund. Erst im 20. Jahrhun-dert wird die vermgensrechtliche Dimensi-on des geistigen Eigentumsrechts in Europa durch persnlichkeitsrechtlich begrndete moralische Rechte des Autors und des ange-stellten Erfinders ergnzt. 5 Lange Zeit regelt das geistige Eigentumsrecht nur ausgewhl-te Funktionen und Nutzungsformen. Das li-terarische und knstlerische Eigentumsrecht standardisiert Funktionen und Beziehungen in der Buchwirtschaft und Elitenkultur. Das Patentrecht gewinnt in technisch innovativen und wirtschaftlich dynamischen Bereichen der Industrie und Wissenschaft an Bedeu-tung. Der Gesetzgeber begrenzt die individu-ellen geistigen Eigentumsrechte im ffentli-chen und staatlichen Interesse, indem er diese zeitlich befristet, durch sogenannte Schran-

    5 Vgl. Louis Pahlow, Geistiges Eigentum, in: Enzy-klopdie der Neuzeit, Bd. 4, StuttgartWeimar 2006.

    kenregeln im Urheberrecht und Patentrecht relativiert, und in die Kultur-, Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik einbettet. Im nationalen Mastab war die Geschichte des geistigen Eigentums von Anfang an durch die Suche nach einem anerkennungsfhigen Aus-gleich zwischen partikularen und allgemeinen Interessen bestimmt.

    Propertisierung und Globalisierung

    Als sich im 19. Jahrhundert die internationa-len Beziehungen in den Kultur-, Medien- und Wissensindustrien intensivierten, wird die Frage des Interessenausgleichs in den grenz-berschreitenden Beziehungen akut. Durch die Verknpfung von Propertisierungs- und Internationalisierungsstrategien soll die Pi-raterie im globalen Mastab ausgetrocknet werden. Piraterie meint in dem Fall, dass im Ursprungsland geschtzte kulturelle Gter jenseits des eigenen Territoriums ohne Einver-stndnis der Rechteinhaber nachgedruckt, be-arbeitet, bersetzt und kommerziell verwertet oder patentrechtlich geschtzte Herstellungs-verfahren im Ausland frei benutzt werden. Das heit, geistige Eigentumsrechte verflch-tigten sich jenseits der Staatsgrenzen. Die von Nachahmung Betroffenen bezeichnen das als Piraterie, knnen aber wenig dagegen ausrich-ten, da die Regulierungsmacht des souver-nen Staates an der Grenze endet. Propertisie-rungsstrategien nationaler Reichweite reichen nicht aus. Die von der aufstrebenden liberalen Eigentmergesellschaft beschworene Auffas-sung, dass es sich bei den materiellen wie den immateriellen Eigentumsrechten um univer-selle Exklusivrechte handelt, droht zu einer Illu sion zu werden.

    Als Ende des 19. Jahrhunderts der grenz-berschreitende Austausch von Kultur- und Wissensgtern zunimmt und im Gefolge der Freihandelspolitik Handels- und Zollschran-ken abgebaut werden, setzen die Staaten ver-mehrt auf die Institutionen des geistigen Ei-gentums und auf bilaterale Handelsvertrge. Das geistige Eigentumsrecht wird zu einem Instrument der Auenhandels- und Auen-kulturpolitik und schlielich des Vlkerrechts. Einige west- und mitteleuropische Indust-riestaaten und die USA bestimmen dabei die Standards. Schlielich verstndigen sich fh-rende Industrie- und Kulturexportstaaten wie Frankreich, Deutschland und Grobritannien

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    im spten 19. Jahrhundert gemeinsam mit tra-ditionellen Piratenstaaten wie Belgien und der Schweiz darauf, literarische und knstle-rische Werke sowie technische Erfindungen mithilfe multilateraler Vertrge zu schtzen. 6 Die moralischen, rechtlichen, institutionellen und organisatorischen Fundamente fr den internationalen Schutz geistiger Eigentums-rechte werden in den 1880er Jahren gelegt: Die 1883 gegrndete Pariser Verbandsberein-kunft regelt den internationalen Patentschutz, die 1886 gegrndete Berner Union den inter-nationalen Schutz des literarischen und knst-lerischen Eigentums.

    Das internationale geistige Eigentumsre-gime beruht fortan auf den Prinzipien der ge-genseitigen Anerkennung nationaler Urheber-rechtstitel, der Gleichstellung von Auslndern und Inlndern im jeweiligen nationalen Pa-tent- und Urheberrecht und der Angleichung des Rechts. Problemlos setzen sich die interna-tionalen Standards allerdings nicht durch. Auf dem europischen Kontinent wird die Anglei-chung der geistigen Eigentumsrechte aufgrund divergierender Interessen sowie unterschiedli-cher rechtlicher Traditionen und institutionel-ler Prferenzen bis zum Ersten Weltkrieg im-mer wieder massiv gebremst. Industrielnder wie Deutschland, die Schweiz und die Nieder-lande zgern bis um 1900 mit der vollstndigen Anerkennung der internationalen Patentkon-ventionen. Vielvlkerreiche wie sterreich-Ungarn und das russische Zarenreich bleiben der Berner Konvention zum Schutz des lite-rarischen und knstlerischen Eigentums fern, da die Verleger monieren, dass die Kosten fr die bersetzung und die Honorierung ausln-discher Autoren angesichts des beschrnkten Marktes in den kleinen Sprachen in keinem Verhltnis zu den zu erwartenden Ertrgen stnden. Auch die Staaten Nord- und Sd-amerikas treten der Berner Union nicht bei, sondern schlieen unter dem Dach der Pan-amerikanischen Union eine Reihe multilatera-ler Abkommen ab und verweigern nicht-ame-rikanischen Staaten den Beitritt.

    Zu einem neuerlichen Propertisierungs-schub kommt es nach dem Ersten Weltkrieg,

    6 Vgl. Isabella Lhr, Die Globalisierung geistiger Ei-gentumsrechte, Gttingen 2010; Milos Vec, Weltver-trge fr Weltliteratur, in: Louis Pahlow/Jens Eisfeld (Hrsg.), Grundlagen und Grundfragen des Geistigen Eigentums, Tbingen 2008.

    als der Beitritt der aus dem Habsburgerreich hervorgegangenen ostmitteleuropischen Na-tionalstaaten zur Berner Union im Rahmen der Friedensvertrge erfolgt. Mit dem Vl-kerbund kommt in den 1920er Jahren ein neu-er Akteur ins Spiel, der Propertisierungs- und Globalisierungsstrategien in der Kultur, Wis-senschaft und Wirtschaft systematisch ver-knpfte und energisch frderte. Nach einer Phase der Stagnation und massiver Rckschl-ge in der Weltwirtschaftskrise und vor allem im Zweiten Weltkrieg, greifen nach 1945 die UNESCO, die Berner Union, die Pariser Ver-bandsbereinkunft und magebliche westliche Industrielnder die Propertisierungsprojekte der Zwischenkriegszeit wieder auf und setz-ten diese bis zu den 1970er Jahren um. Seit den 1960er Jahren partizipieren auch immer mehr Lnder der sozialistischen Welt und der soge-nannten Dritten Welt an den internationalen Abkommen zum Schutz des geistigen Eigen-tums, insbesondere an dem 1952 gegrndeten Welturheberabkommen mit seinen moderaten Schutzstandards. 1967 bernimmt die World Intellectual Property Organisation (WIPO) als neue Dachorganisation den Fhrungsan-spruch beim Ausbau eines Regimes geistiger Eigentumsrechte mit globaler Reichweite.

    Mittel der Herrschaft oder Emanzipation?

    Auch im 20. Jahrhundert bleibt die Proper-tisierung in vielen Fllen eine globale Herr-schaftsstrategie der fhrenden westlichen Nationen. Die fhrenden europischen In-dustrie- und Kulturexportstaaten unterstt-zen damit die Verwertungsinteressen ihrer nationalen Kultur- und Wissensindustrie, si-chern ihre wirtschaftliche Macht, ihren kul-turellen Einfluss und ihre Vorherrschaft in weiten Teilen der Welt. Sie verbreiten so ihre Waren, Werte, Kreativitts- und Innova-tions kon zepte sowie ihre wissenschaftlichen und technischen Standards.

    Bis in die jngste Zeit behandeln sie tra-ditionelles Wissen und Ausdrucksformen nicht-westlicher oder indigener Kulturen als gemeinfreie Gter, da diese real oder angeb-lich nicht auf einer individuellen schpfe-rischen Leistung beruhen. 7 In jngster Zeit

    7 Siehe auch den Beitrag von Ren Kuppe in dieser Ausgabe (Anm. der Red.).

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    sind sie deshalb in den Verdacht geraten, Pi-raten zu sein. Gegenwrtig zeichnet sich eine Wende ab: Die Vertreter traditioneller Kul-turen haben gelernt, die Vorstellungen von subjektiver Kreativitt und individuellem geistigen Eigentum fr ihre eigenen Zwe-cke zu nutzen. 8 Der Umgang mit sogenann-ten indigenen Ausdrucksformen, traditio-nellem Wissen, Naturressourcen und Genen in den Peripherien Indiens, Amerikas, Russ-lands und Afrikas ist strker denn je zuvor eigentumsfrmig geregelt. Daran beteiligen sich nicht mehr nur global agierende westli-che Rechteinhaber, Unternehmen und Staa-ten, sondern auch Unternehmen, Regierun-gen, Eliten, Interessengruppen und lokale Gemeinschaften aus den Schwellen- und Ent-wicklungslndern. Seit einigen Jahrzehnten berufen sich Akteure in den ehemaligen Pe-ripherien der Welt bei der Aushandlung ihrer moralischen und rechtlichen Ansprche ver-mehrt auf das geistige Eigentum.

    Die Weltsprache des geistigen Eigentums wird mitunter auch schon von den Reprsen-tanten ethnischer Gruppen und Dorfgemein-schaften verwendet, um ihr Sonderwissen zu schtzen und zu verwerten. Damit globali-sieren sich dann aber auch die Konflikte ber exklusive und inklusive Verfgungs- und Nutzungsrechte in neuer Weise. Die Erwar-tungen an die geistigen Eigentumsrechte sind seit den 1980er Jahren noch einmal ganz er-heblich gestiegen. Die Welthandelsorganisa-tion (WTO) verstrkt seit 1994 mithilfe des TRIPS-Abkommens ber handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums den Druck auf staatliche und nicht-staatliche Akteu-re, welche die internationalen Standards un-ter Verweis auf damit verbundene Gerechtig-keitsdefizite beziehungsweise wirtschaftliche und kulturelle Benachteiligungen ablehnen oder einschrnken mchten. 9

    8 Vgl. Rosemarie J. Coombe, The cultural life of in-tellectual properties 1998; Michael Brown, Can cul-ture be copyrighted?, in: Current Anthropology, 39 (1998) 2, S. 193223. 9 Vgl. Peter Drahos/John Braithwaite, Information Feudalism. Who Owns the Knowledge Society, Lon-don 2007; Christopher May, A Global Political Eco-nomy of Intellectual Property Rights. The New En-closures?, London 2002.

    Annette Kur

    Wer ist Pirat? Probleme des Im-materialgterrechts

    Annette Kur Dr. jur., geb. 1950; wissen-schaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut fr Immaterialgter- und Wettbe-werbsrecht, Marstallplatz 1, 80539 Mnchen. [email protected]

    Als im Frhjahr 2012 Zehntausende deutschlandweit auf die Strae gingen, um gegen das Piraterie-Abkommen ACTA 1 zu protestieren, war die Storichtung klar: Das Abkommen wr-de zu permanenter berwachung jegli-cher digitaler Kommu-nikation fhren und dadurch die Freiheit des Internets bedro-hen dagegen woll-ten sich die Demonstranten zur Wehr setzen. Die Botschaft der Befrworter von ACTA war hingegen eine ganz andere: Ziel des Ab-kommens sei es, die stndig steigende Flut ge-flschter Waren einzudmmen und dadurch den Schutz von Gesundheit und Sicherheit von Verbrauchern zu verbessern. Nicht al-lein im Hinblick auf die positive oder negative Einschtzung von ACTA wurden daher vl-lig unterschiedliche Standpunkte vertreten; es gab auch keine bereinstimmung darber, wo der Schwerpunkt des Abkommens zu se-hen ist: Nach Auffassung der Netzgemein-de sind dies die Regelungen zur Verbreitung und sonstigen Nutzung urheberrechtlich ge-schtzter Inhalte ACTA wurde daher in der Presse auch hufig als Urheberrechtsabkom-men bezeichnet , whrend offizielle Stellen und die Industrie in erster Linie die Bekmp-fung der Markenpiraterie als Ziel des Abkom-mens herausstellten. Dies zeigt, dass sich die Diskussion um das Fr und Wider verstrkter Rechtsdurchsetzungsmanahmen im Bereich

    1 Anti-Counterfeiting and Piracy Agreement. ACTA wurde am 10. 12. 2010 von der EU und sieben Nationen unterzeichnet und soll nach seiner Ratifi-zierung durch sechs Mitglieder in Kraft treten. Bis-her sind die innerstaatlichen Vorbereitungen fr die Ratifizierung von ACTA nur in Japan abgeschlossen worden; in der EU wurde die Ratifizierung im Juli 2012 vom Europischen Parlament abgelehnt.

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    des geistigen Eigentums nicht auf eine be-stimmte Rechtsfrage oder auch ein bestimm-tes Rechtsgebiet verengen lsst. In diesem Beitrag frage ich daher nicht allein nach dem rechtlichen Hintergrund der in jngerer Zeit besonders heftig aufgeflammten Auseinander-setzungen um die fortdauernde Berechtigung des Urheberrechtsschutzes im digitalen Zeit-alter. Ich befasse mich darber hinaus auch mit anderen Bereichen des Immaterialgter-rechts Markenrecht, Patentrecht wobei der Begriff der Piraterie und seine undifferenzier-te, unreflektierte Verwendung auf allen diesen Feldern den Ausgangspunkt der berlegun-gen und ihre gemeinsame Klammer bildet.

    Hintergrnde der Diskussion

    Es ist unklar, wann genau die Begriffe Pirat und Piraterie zu allgemein gebruchlichen Bezeichnungen fr die Verletzung von Imma-terialgterrechten 2 geworden sind. Fest steht jedoch, dass es sich um einen Begriff von hoher Suggestivkraft handelt: Er ruft das Bild anar-chi scher Freibeuter wach, die fremde Schif-fe plndern und ihre Angriffe auf hoher See unternehmen, wo sie sich vor Verfolgung und Strafe sicher fhlen. Nicht ganz zufllig klingt dabei auch an, dass die historischen Freibeu-ter nicht allein private Eigner um ihren Besitz brachten, sondern dass erfolgreiche Kaperun-gen in der Regel zugleich die Staatskasse tra-fen, da ein Teil der entwendeten Reichtmer in den Staatshaushalt (oder die Taschen des Sou-verns) geflossen wre. Umgekehrt behielten die Piraten ihre Beute hufig nicht allein fr sich, sondern leisteten Regierungen Tribut, von denen sie sich einen gewissen Schutz und Rckendeckung fr Ihre Taten erhofften.

    Die Parallelen sind deutlich: Wie das Pln-dern von Schiffen kann Kopieren in groer Zahl zu volkswirtschaftlichen Schden fh-ren und die internationalen Handelsbilan-zen zugunsten von Lndern verzerren, die dem Treiben tatenlos zuschauen. Mit diesem Argument wurde das Thema in den 1980er Jahren auf die Agenda internationaler Han-delsgesprche gesetzt und fhrte zum er-wnschten Erfolg: Mit dem Abkommen ber handelsrelevante Aspekte des geistigen Ei-

    2 Im Englischen bezieht sich piracy alle


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