C PÄDAGOGISCH HANDELN IN GRUPPEN
6 Best Practice
Best Practice meint laut Duden die
„bestmögliche [bereits erprobte] Methode,
Maßnahme o. Ä. zur Durchführung, Umset-
zung von etwas“. Bei Best Practice handelt
es sich um einen Begriff aus dem Englischen.
„Best“ hat die Bedeutung „beste/bestes“ und
„practice“ bedeutet Praxis oder Verfahren.
(vgl. www.duden.de)
Die folgenden Darstellungen bieten einen Einblick in die
Möglichkeiten und Ausgestaltungsformen der Arbeit mit
Kindern unter 3 Jahren in Kindertageseinrichtungen. Bei-
spielhaft berücksichtigt wurden hier die Reggio- und die
Montessori-Konzeption.
Die Auswahl der Einrichtungen erfolgte aus den Praxiser-
fahrungen und Hospitationen von Autorinnen dieses Bu-
ches, welche die dargestellten Praxisstätten als gelunge-
ne Beispiele für die Arbeit mit unter 3-Jährigen ansehen.
6.1 Die Reggio-Kindertagesstätte
„Niki de Saint Phalle“
Die Kindertagesstätte „Niki de Saint Phalle“ wurde am
01.04.1975 als Betriebskindertagesstätte des Universi-
tätsklinikums in Münster gegründet (vgl. UKM, Konzeption
3/2011, S. 6). 2011 zog die Kindertagesstätte in ein neu-
es Gebäude und wurde sowohl in Bezug auf die Anzahl
der betreuten Kinder (von vorher 43 betreuten Kindern
auf heute 150 Kinder) als auch in Bezug auf die Mitarbei-
terzahl (ursprünglich zwölf, heute 54 Mitarbeiter) deut-
lich erweitert. Auch die Öffnungszeiten wurden ergänzt
und weitergehend an die Arbeitsrealität der Mitarbeiter
des Universitätsklinikums angepasst. Die Einrichtung ist
nun von 6:15 Uhr bis 20:00 Uhr geöffnet, wobei pro Kind
ein Tagessatz von 12 Stunden und wöchentlich maximal
50 Stunden nicht überschritten werden darf.
Bereits vor dem Umzug in das neue Gebäude, hatte sich
die Einrichtung der Reggio-Pädagogik verschrieben und
intensiv nach dieser Erziehungsphilosophie gearbeitet. In
der Planung des neuen Gebäudes und der zukünftigen Ar-
beit war die Philosophie der Reggio-Pädagogik richtungs-
weisend, weshalb sie zunächst kurz vorgestellt werden
soll. Im Weiteren erfolgt eine Vorstellung des Bereichs für
unter 3-jährige Kinder. Derzeit werden hier – aufgeteilt
auf zwei Bereiche und insgesamt fünf Gruppen – 50 Kin-
der betreut.
Bereits von außen präsentiert
sich die Einrichtung bunt,
übersichtlich, einladend und fast
„aquarisch schillernd“.
242
Best Practice 6
6.1.1 Basiswissen Reggio-Pädagogik
→1←
Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine
Einführung, nicht um eine umfassende Darstellung der
Arbeit nach Reggio. Die Arbeit mit weiterführender Lite-
ratur wird in Bezug auf ein umfassendes Verständnis der
Reggio-Pädagogik empfohlen.
Grundsätzliches
Die Reggio-Pädagogik ist eine Erziehungsphilosophie
aus Reggio Emilia, einer Stadt in Norditalien. Sie wird
auch bezeichnet als „‚Pädagogik des Werdens', die sich
in permanenter Interaktion zwischen Erwachsenen, Kin-
dern und deren sozialer und gegenständlicher Um- und
Mitwelt entwickelt“ (Ullrich/Brockschnieder 2009, S. 7).
Reggio bietet demnach nicht einfach zu übernehmende
Handlungsweisen und Materialien, sondern erfordert
eine intensive Auseinandersetzung mit pädagogischen
Fragen und Überlegungen, insbesondere zum Bild des
Kindes sowie dem Miteinander von Erwachsenen und
Kindern. Anders formuliert: „Reggio ist keine Erziehungs-
theorie, sondern eine Erziehungsphilosophie“ (Ullrich/
Brockschnieder 2009, S. 7).
Nichtsdestotrotz ist auch die Erziehungsphilosophie aus
Reggio geprägt von einigen „unumstößlichen Grundüber-
zeugungen“ (Brockschnieder 2007, S. 42).
Diese beinhalten,
→ das Bild vom Kind (siehe nächster Unterpunkt)
→ dass die vorschulische Arbeit nicht ohne Kom-
munikation und Dialog möglich ist (vgl. ebd.).
Gemeint ist hier nicht nur das Ernstnehmen,
Zuhören und Kommunizieren zwischen Erwach-
senem und Kind sondern auch im Team und mit
allen an der Erziehung des Kindes Beteiligten.
→ die Annahme, dass sich Pädagogik in Theorie
und Praxis weiterentwickelt und „ständig in der
Entstehung begriffen“ (ebd.) ist.
Nach Reggio arbeiten bedeutet demnach also:
→ Kinder als Gestalter ihrer Entwicklung zu begrei-
fen,
→ im ständigen Austausch miteinander zu stehen,
Kommunikation und Dialog auch mit anderen Kindern sind Grund-
lagen gemeinsamen Lebens und Lernens.
→ alle am Leben des Kindes interessierten Men-
schen an pädagogischen Entscheidungen zu
beteiligen,
→ offen zu sein für Input und Veränderung.
In der Entstehung der Reggio-Pädagogik und deren Um-
setzung spielt der Ort, an welchem die Kinder und Er-
wachsenen aufwachsen und leben eine wichtige Rolle
(www.dialog-reggio.de), denn er ist Teil der Interaktion
und der Möglichkeiten des Arbeitens. Demzufolge wird
die Umsetzung der Reggio-Pädagogik an unterschiedli-
chen Orten auch unterschiedlich ausfallen. In Bezug auf
die Arbeit in der Kita „Niki de Saint Phalle“ ist hierbei
hervorzuheben, dass die Kindertagesstätte neben den
Türmen des Universitätsklinikums liegt und somit an den
Campus und das Leben des Krankenhausbetriebs in etli-
chen Bereichen angegliedert ist (siehe auch 6.1.2.).
Das Kind und seine Entwicklung
Das Kind wird in der Reggio-Pädagogik als vollwertiger,
sozialer Mensch gesehen, der seine eigene Identität
und Kultur hat und damit ein grundsätzliches Recht auf
Partizipation an der Gesellschaft, in welcher er lebt (vgl.
Brockschnieder 2007, S. 42 f.).
Loris Malaguzzi (1920–1994), der wohl bekannteste Mit-
begründer der Reggio-Pädagogik, betonte zudem, dass
Kindern viele (Ausdrucks-) Möglichkeiten, über die ge-
sprochene Sprache hinaus, zur Verfügung stehen. Kin-
dern sollte demnach die Möglichkeit geboten werden,
sich auf vielen Wegen ausdrücken zu dürfen (vgl. ebd.,
S. 43).
243
Best Practice 6
244
→2←
Die Reggio-Pädagogik betrachtet das Kind als aktiven
„Konstrukteur seiner Entwicklung und seines Wissens
und Könnens“ (www.dialog-reggio.de) und sieht Kinder in
diesem Zusammenhang als Forscher:
1. Als Forscher möchte das Kind die gesamte Welt um
sich herum „verstehen und in eine Beziehung zu sich
bringen“ (Knauf 2005, www.kindergartenpaedagogik.
de).
2. Auch experimentiert dieser Forscher, um seine per-
sönliche Handlungskompetenz zu erweitern (vgl.
ebd.).
Bei der kindlichen Forschung geht es zudem nicht dar-
um, dass die Kinder inhaltlich richtiges Wissen erwerben,
sondern dass sie Strategien erproben und testen, um
sich der Wahrheit anzunähern (vgl. www.dialog-reggio.
de).
Das freie Spiel und das thematische Arbeiten gehen häu-
fig ineinander über (vgl. Brockschnieder 2007, S. 46) und
entwickeln sich aus- und miteinander weiter.
„Projekte sind keine Sonderveranstaltun-
gen in der Kindertageseinrichtung. Sie gehö-
ren zu den Alltäglichkeiten der Kita-Praxis“
(Knauf 2005, www.kindergartenpaedagogik.de).
Unter Projekten versteht man eine intensive
Auseinandersetzung der Kinder mit einem
Thema oder Objekt, wobei sich die Schwer-
punkte einer Auseinandersetzung im Laufe
eines Projektes auch verlagern können.
Ein Projekt kann von zwei Stunden bis zu
einem Jahr dauern und wird meist von einer
Kleingruppe durchgeführt, wobei im Prozess
Kinder in das Projekt einsteigen bzw. dieses
auch verlassen können (vgl. Knauf 2005, www.
kindergartenpaedagogik.de). Erwachsene „ha-
ben für die Projektarbeit Vorstellungen, aber
keinen festen Plan“ (Krieg 2004, S. 59).
Reggianer gehen davon aus, dass im Bildungsprozess die
Auswahl des Gegenstandes nicht so entscheidend ist,
„wie der Prozess der Aneignung selbst“ (Brockschnieder
2007, S. 45). Das bedeutet, jedes vom Kind gewählte Ob-
jekt oder jede gewählte Thematik sind bedeutsame und
lohnende Forschungsbereiche. Daher orientiert sich die
Auswahl von Projektthemen vollständig an den Interes-
sen der Kinder.
Die Projektarbeit
Statt „richtig
malen“ müssen –
forschen dürfen
Es gibt unterschiedliche Wege, die zur Entstehung eines
Projektes führen:
→ Ideen, Fragen, Anregungen und Diskussionen der
Kinder führen häufig zu Projekten. Zum Beispiel
im Kinderparlament, wo unter anderem bespro-
Die Projektarbeit ist das „Herzstück der pädagogischen
Arbeit in Reggio“ (Brockschnieder 2007, S. 46). Grund-
sätzlich teilt sich auch bei Reggio die pädagogische Ar-
beit in die drei Bereiche:
→ freies Spiel
→ thematisches Arbeiten
→ Projektarbeit.
chen wird, womit die Kinder sich in Zukunft
auseinandersetzen wollen.
→ Projekte entstehen durch Beobachtungen der
Erzieherinnen, die feststellen, dass ein besonde-
rer Inhalt für die Kinder von Interesse ist. Dieses
Interesse unterstützen sie oder schaffen durch
weitere Impulse oder in Form von Fragen und/
C PÄDAGOGISCH HANDELN IN GRUPPEN
245
oder Material weitere Möglichkeiten zu einer
intensiven Auseinandersetzung.
→ Nicht zuletzt entstehen Projekte durch Input von
außen, indem z. B. etwas mit in die Einrichtung
gebracht wird, was das Interesse der Kinder
weckt und Anreiz für weiterführende Erforschung
bietet. (vgl. Krieg 2004, S. 59 f.)
Die Rolle der Erwachsenen
Nach Reggio zu arbeiten, bedeutet auch, viele Menschen
in die Arbeit mit Kindern einzubeziehen und das Leben
miteinander zu gestalten. In Reggio selbst sind an der
pädagogischen Arbeit nicht nur Erzieherinnen oder Mit-
arbeiterinnen mit pädagogischer Ausbildung beteiligt,
sondern auch die „Atelierista“, sprich die Werkstattlei-
terin, sowie die Köchinnen und Wirtschaftskräfte (vgl.
Brockschnieder 2007, S. 43).
Wichtig ist jedoch weiterhin der Aspekt der Bindung. So
sind Wirtschaftskräfte nicht fern ab in Küchen tätig, son-
dern die Kinder können durch Mitwirkung an Nahrungs-
zubereitung eine Beziehung zu den dort tätigen Frauen
und Männern aufbauen.
Aber auch weitere Menschen in Reggio sind an der Erzie-
hung und Bildung der Kinder sowie an der Weiterentwick-
lung der Pädagogik beteiligt (vgl. Ullrich/Brockschnieder
2009, S. 7), zum Beispiel indem sie sich bei Projekten
als Experten innerhalb und außerhalb der Einrichtung zur
Verfügung stellen.
Dem Erwachsenen und insbesondere den Erzieherinnen
werden in Reggio drei wesentliche Rollen zugeschrieben:
→ „Begleiterin
→ Forscherin und
→ Zeugin.“ (www.dialog-reggio.de)
Der Aspekt der Begleiterin betont die aktive Rolle des
Kindes. Begleitung wird durch „Zeit, spezielle Räumlich-
keiten, Zuwendung, Interesse, herausfordernde Fragen,
Ideen oder Gegenstände“ (ebd.) angeboten.
Als Forscher begeben sich die Erwachsenen mit den Kin-
dern auf die Suche nach Antworten. Sie versuchen so-
wohl die Sichtweisen des Kindes wahrzunehmen und zu
klären als auch den Gegenstand der Auseinandersetzung
selbst zu verstehen (vgl. Brockschnieder 2007, S. 48).
Erwachsene begleiten kindliche Forschungen.
Als Zeuge beobachtet und dokumentiert der Erwach-
sene Projekte und bereitet diese alleine oder mit Hilfe
der Kinder auf. Den Kindern und Außenstehenden soll so
ermöglicht werden, beschrittene Wege nachzuvollziehen
und diese auch reflektieren zu können.
Die Grundhaltung des Erwachsenen sollte dabei geprägt
sein von:
→ Freude und Engagement
→ Neugierde
→ Identifikation
→ der Bereitschaft Offenheit auszuhalten und Un-
bekanntes als Bereicherung wahrzunehmen (vgl.
ebd., S. 47 f.).
Der Raum als „dritter Erzieher“
Räumen und deren Ausstattung werden in der Reggio-
Pädagogik eine besondere Bedeutung beigemessen.
„Wie die erwachsenen Erzieher erfüllt der Raum für Kin-
der zwei Hauptaufgaben: Er gibt Kindern Geborgenheit
(Bezug) und zum anderen Herausforderung (Stimulati-
on)“ (Knauf 2005, www.kindergartenpaedagogik.de). Man
spricht hier vom Raum als „dritter Erzieher“ (Krieg 2004,
S. 68).
Baulich sind Reggio-Einrichtungen häufig daran zu er-
kennen, dass sie viele Einblicke erlauben, d. h. stark mit
Fenstern und Durchblicken, auch in Türen und Wänden
und auf unterschiedlichen Höhen, gearbeitet wurde. Ins-
gesamt spielt das Thema Licht eine große Rolle, denn
neben großen Fenstern werden den Kindern Materialien
und Geräte zur Verfügung gestellt, welche eine Beschäf-
tigung mit Licht und Schatten ermöglichen (Overhead-
und Diaprojektoren, Lichttische, Taschenlampen usw.).
Best Practice 6
246
Spiegel (Wandspiegel, Spiegelpyramiden, Handspiegel,
Zerrspiegel usw.) und Podeste erlauben das Experimen-
tieren mit der eigenen Wirkung sowie mit unterschiedli-
chen Perspektiven.
Bei der Ausstattung der Räume fällt zudem auf, dass
Möbel für Kinder und Erwachsene zur Verfügung stehen
und dass es Möbel aus unterschiedlichen Epochen gibt
(vgl. Brockschnieder 2007, S. 44 f.). Malaguzzi prägte für
die beschriebenen baulichen Gestaltungsmerkmale den
Begriff „‚schillernde Aquarien‘“ (Ullrich/Brockschnieder
2009, S. 77).
In den meisten Einrichtungen in der Stadt Reggio gibt es
neben den Gruppenräumen jeweils ein Mini-Atelier, in
welchem die Kinder verschiedene Materialien (z. B. Pa-
pier, Ton, Federn, Stifte) sowie Arbeitswerkzeug (wie Pin-
sel, Sägen, Stempel, Schwämme) in unterschiedlichen
Behältern vorfinden. Zudem gibt es meist ein zentrales
Atelier, welches von einer Atelierista geleitet wird (vgl.
Brockschnieder 2007, S. 44).
Arbeitswerkzeug aus dem Mini-Atelier einer U3-Gruppe der Kita
„Niki de Saint Phalle“
Auch typisch für Reggio-orientierte Einrichtungen ist
die „Piazza“, ein offener (Eingangs-) Bereich, welcher
als Zentrum der Einrichtung fungiert. Dieser Bereich
ist, ähnlich wie die gleichnamigen Plätze in italienischen
Kleinstädten, ein Treffpunkt sowie Spielplatz und Aus-
stellungsraum in einem (vgl. Brockschnieder 2007, S. 44).
Auch wenn es so klingen mag, gibt es für Reggio-Einrich-
tungen „keine standardisierten Lösungen“ (Krieg 2004,
S. 69), sondern die „Kindertagesstätte ist vielmehr ein
‚lebender Organismus‘“ (ebd.), der durch seine Bewohner
geprägt wird.
6.1.2 Eine in vieler Hinsicht besondere Einrichtung
Die für eine Kindertageseinrichtung eher ungewöhnli-
che Dimension der Kita „Niki de Saint Phalle“ wird für
den Besucher bereits auf der Straße vor dem Gebäude
deutlich. Das große, eckige, backsteinrote Haus mit
seinem großzügig bemessenen Außengelände, steht im
Größenverhältnis zu den im Hintergrund sichtbaren Tür-
men des Klinikums. Je näher man dem Gebäude kommt,
desto mehr Hinweise auf die in der Einrichtung gelebte
Pädagogik scheint es zu geben. Der rote Backstein ist
gesprenkelt mit unifarbenen Backsteinen in weiß sowie
pastelligem gelb, blau, orange, pink und grün, was dem
großen Bau eine gewisse Leichtigkeit verleiht. Man meint
hier die „hundert Sprachen“ des Kindes und die Beto-
nung der ästhetischen Bildung bereits in der Gestaltung
des Baus erkennen zu können. Typisch für Reggio, geben
große Fensterfronten Einblick in warm gestaltete Räume,
in denen Licht durch teilweise bunte Fensterelemente
und viele Glasscheiben in den Innenraum fällt.
Farben, Formen, Gestalt – Niki de Saint Phalle inspirierte die Kinder
und damit den Namen der UKM-Kita.
Im Eingangsbereich wird man von einem Kunstwerk
im Stil der Künstlerin Niki de Saint Phalle begrüßt. Seit
2000 trägt die Einrichtung, mit dem Einverständnis der
Künstlerin, deren Namen. Inspiriert wurde diese Wahl
durch das große Interesse der Kinder an einem Bildband,
welcher viele Skulpturen der Künstlerin enthielt und die
Kinder zu eigenen Arbeiten inspirierte (vgl. UKM 3/2011,
S. 9 f.).
→3←
247
C PÄDAGOGISCH HANDELN IN GRUPPEN
Der Grundriss der Kindertagesstätte „Niki de Saint Phalle“
Auch die Büros der Kita-Leitung sind einsehbar und
durch eine große Glasfront mit dem Eingangsbereich ver-
bunden.
In einer Einrichtung mit 150 Kindern erwarten die meis-
ten eins: Lärm. Aber dieser bleibt, neben der normalen
Betriebslautstärke einer Regelkindertageseinrichtung,
aus. Die Gründe hierfür sind vielfältig:
→ Die Aufteilung des Gebäudes in vier Bereiche
(zwei Bereiche für Kinder über 3 und zwei
Bereiche für Kinder unter 3) unterstützt einen
annehmbaren Lärmpegel, da jeder Bereich beim
Eintreten fast wie eine eigene Einrichtung wirkt.
→ Die pädagogische Orientierung sorgt fast
durchgehend für eine geschäftige Arbeitsatmo-
sphäre. Natürlich darf getobt, gerufen und
gekreischt werden, aber vorwiegend sieht man
Kinder in Räumen, Nischen und im Außenge-
lände in der intensiven Auseinandersetzung mit
Material, im Gespräch miteinander oder ins Spiel
vertieft.
→ Lange Öffnungszeiten und ein sehr guter Per-
sonalschlüssel (meist drei Erzieherinnen pro
Gruppe) sorgen dafür, dass die Erwachsenen
für die Kinder Zeit haben und dadurch kaum
Aufmerksamkeit durch Lautstärke erkämpft
werden muss.
Die Besonderheiten einer Betriebskindertagesstätte
Wie bereits erwähnt, ist „Niki de Saint Phalle“ eine Be-
triebskindertagesstätte des Universitätsklinikums Müns-
ter. Alle Kinder der Einrichtung haben mindestens einen
Elternteil, der in dem Klinikum arbeitet. Dabei sind Kinder
fast aller Berufsgruppen in der Einrichtung vertreten. Ne-
ben Kindern von Ärzten und Krankenpflegepersonal, be-
suchen auch Söhne und Töchter von Schreinern, Köchen
und Hauswirtschaftern, Reinigungskräften, Sekretärin-
nen und Physiotherapeuten die Einrichtung, denn das
Universitätsklinikum verfügt über eine eigene Schreine-
rei, Wäscherei, Küche und eine Rechtsabteilung, um nur
einige Bereiche zu nennen. In ihrer Funktion ähnelt die
Betriebskindertagesstätte demnach eher einer Kinder-
tageseinrichtung in einer multinationalen Kleinstadt (der-
zeit besuchen Kinder aus 21 Nationen die Einrichtung).
Dass die Kindertagesstätte auf dem Gelände des Klini-
kums liegt, schafft weitere Rahmenbedingungen für die
(pädagogische) Arbeit:
→ In Absprache mit den einzelnen Abteilungen ist
es möglich, diese auch zu besuchen oder die dort
vertretene Fachkompetenz zu nutzen.
→ Anders als in Reggio, wo eine Köchin das Essen
in der Einrichtung, häufig unter Mithilfe inter-
essierter Kinder zubereitet, wird „Niki de Saint
Phalle“ von der Küche des Universitätsklinikums
versorgt. Ergänzt wird das „angelieferte“ Essen
durch frisches Obst und Snacks, welche von
einer Hauswirtschafterin und einer Küchenhilfe
in Vollzeit sowie zwei Küchenhilfen in Teilzeit für
die Kindertagesstätte in einer zentralen Küche
innerhalb des Kita-Gebäudes zubereitet werden.
Generell ist zur Essensversorgung zu sagen, dass
vom Frühstück bis zum Abendessen alle Mahl-
zeiten von der Einrichtung zur Verfügung gestellt
werden.
248
Best Practice 6
→ Das für das Klinikum genutzte Qualitätsma-
nagementsystem, genannt KTQ (Kooperation für
Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen),
findet auch in der Kindertagesstätte Verwen-
dung.
→ Die Erzieherinnen machen keine Wäsche, da die
benötigten Handtücher, Lätzchen und Wasch-
lappen in der zentralen Wäscherei gereinigt
werden.
Wie der Name „Reggio“ andeutet, ist der Ort, an dem
eine Pädagogik gelebt wird, für deren Umsetzung wichtig.
Neben der „Kleinstadt UKM“ spielt natürlich die Tatsa-
che, dass sich die Tageseinrichtung in Münster befindet
eine Rolle, da auch Einrichtungen der Stadt (z. B. der
Markt und der Aasee) als Teil des (Lebens-)Raumes und
prägende Forschungsstätte der Kinder betrachtet wer-
den.
Ein Rückbezug auf die Stadt Münster findet sich bereits
in der Namensgebung der einzelnen Gruppen (s. Grund-
riss). Jede Gruppe in „Niki de Saint Phalle“ ist nach ei-
nem bekannten Ort in Münster benannt: zum Beispiel
die Lambertis (benannt nach der Lamberti-Kirche),
die Dombauer (benannt nach dem Münsteraner Dom)
usw.
6.1.3 Die Gruppen für Kinder unter 3
Die Gruppen der unter 3-Jährigen werden von Kindern
zwischen vier und ca. 36 Monaten besucht. Da in den
höheren Gruppen Kinder bereits ab 2 Jahren aufgenom-
men werden, wechselt ein Teil der Kleinkinder im Alter
von 2 Jahren zum neuen Kindergartenjahr die Gruppe,
andere Kinder bleiben bis zu ihrem dritten Lebensjahr
bei den unter 3-Jährigen.
Die Räumlichkeiten
Das gesamte Erdgeschoss wird von fünf Gruppen für Kin-
der unter 3 bewohnt. Das Geschoss ist zudem zweigeteilt
in einen Bereich mit drei Gruppen und einen Bereich mit
zwei Gruppen. Jeweils eine Bereichsleitung ist für einen
Abschnitt zuständig. Jeden einzelnen Bereich kann man
von der Grundfläche her mit einer einzelnen Kindertages-
stätte vergleichen.
Typisch für Reggio gibt es in jedem der zwei Gebäude-
teile einen Eingangsbereich, welcher auf eine große Pi-
azza zuführt. Diese ist mit Tischen und Hockern sowie
einem Spielbereich ausgestattet. Der offene Flur bietet
Sitzmöglichkeiten für Erwachsene und Kinder und Bänke
zum An- und Ausziehen mit Spinden für die persönlichen
Dinge der Kinder. An den Wänden finden sich Dokumen-
tationen von Ereignissen und Projekten im typischen Stil
der „sprechenden Wände“ (siehe auch Kapitel D 2.1.2).
Die Piazza bietet Ein- und Ausblicke.
Vom Eingangsbereich und der Piazza gehen zur einen
Seite die Gruppenräume, zur anderen Seite Mehrzweck-
sowie Büroräume und in einem Bereich die hauseigene
Bibliothek ab. Fensterelemente in unterschiedlichen
Formen bieten Blicke in und aus jedem Raum. Einzig die
Schlafräume sind hiervon ausgenommen.
Jedem Gruppenraum sind ein Waschraum, ein Schlaf-
raum und ein Mini-Atelier zugeordnet. Die Waschräume
sind mit einer großen rechteckigen Waschrinne, einer
Dusche, einem Wickelbereich und einer kleinen Toilette
ausgestattet.
249
C PÄDAGOGISCH HANDELN IN GRUPPEN
Die großen
Waschräume
laden zu
ausgedehnten
Wasserexperi-
menten ein.
Ebenfalls charakteristisch für Reggio sind die als Mini-
Ateliers genutzten Nebenräume. Hier finden sich Ma-
terialregale, niedrige Tische mit Arbeitswerkzeug, ein
Kinder-PC, Staffeleien, Trockenständer und ein Wasch-
becken mit aufklappbarem Spiegel. Mittags wird der
Raum für das Mittagessen der Kleinsten genutzt.
Durch die Versorgung mit Wäsche durch das Univer-
sitätsklinikum stehen im Waschraum jederzeit Handtü-
cher und Waschlappen zum Waschen und Abtrocknen
bereit.
In den Schlafräumen werden den Kindern unterschied-
liche Schlafmöglichkeiten angeboten. Wer Kuscheln
möchte, schiebt seine Matratze auf der großen Liegeflä-
che mit einem anderen Kind zusammen. Wer lieber al-
leine schläft, findet Platz in einer der ausziehbaren und
bettähnlichen Schubfächer, welche zum Schlafen heraus
gezogen werden. Träumer und Hochschläfer machen es
sich hinter den bunten Gucklöchern der zweiten Ebene
gemütlich.
Für jedes
Schlafbedürf-
nis gibt es
einen eigenen
Platz.
Anregung für
Selbstporträts
In den Ateliers des Krippenbereichs ist bei „Niki de Saint
Phalle“ keine Atelierista tätig. Diese Entscheidung be-
gründen die Pädagogen damit, dass für die Babys und
Kleinkinder die Bindung zu ihren Bezugspersonen in der
Einrichtung oberste Priorität hat und eine weitere Be-
zugsperson eine Überforderung wäre. Ziel der Arbeit in
den Ateliers ist ein erstes Heranführen an unterschied-
liche Materialien und Werkzeuge. Hierbei können gera-
de die Bezugserzieherinnen am besten einschätzen, auf
welcher Stufe die Kinder bereits mit dem Material und
Werkzeug vertraut sind und auch, ob hier ein kreativer
Schaffensprozess oder ein sinnliches Vertrautmachen
mit neuen Dingen von den Kinder gewünscht wird. Im
U3-Bereich erwerben die Mädchen und Jungen einen
Wissensschatz, den sie später zum kreativen Umsetzen
ihrer Ideen nutzen können.
Kittel, Papier,
Stifte und
Füllwatte
laden im Mini-
Atelier zum
Gestalten und
Erkunden ein.
Best Practice 6
250
Ausstattung
In den Gruppenräumen finden sich wenig fest verankerte
Möbelstücke. Einzig ein Regal mit den Dokumentationen
der Kinder und einigen Utensilien der Erzieher sowie eine
Deckenschiene für Schaukelelemente sind unveränder-
bar angebracht. Ansonsten haben viele Elemente Rollen
oder sind, wie zum Beispiel Podeste, ohnehin zum Kons-
truieren und Umgestalten gedacht.
Flexible Podeste ermöglichen jederzeit eine Umgestaltung des
Raumes.
Auch wenn in jedem Gruppenraum die gleichen Möbel
vorhanden sind, so werden diese doch unterschied-
lich genutzt. Bestes Beispiel ist ein rollbares Regal mit
Schubladenelementen, welches zum Beispiel in einer
Gruppe mit unterschiedlichen Konstruktions- und Spiel-
materialien gefüllt ist, in der anderen Gruppe mit Eigen-
tumsfächern der Kinder bestückt wurde.
Wer in „Niki de Saint Phalle“ Gesellschaftsspiele sucht,
wird enttäuscht. Weder „Memory“ noch „Obstgarten“
werden angeboten. Den Kindern werden Elemente zum
Klettern und Konstruieren von Bewegungslandschaften
zur Verfügung gestellt (Rutsche, Podeste, Polster, Kissen
etc.). Neben den Materialien des Ateliers, finden sich in
Kisten und Körben Alltagsgegenstände wie Korken, Be-
cher, Schraubdeckel, Tücher und Wäscheklammern. In
Regalen stehen Bücher, es gibt Musikinstrumente wie
Triangeln und Windspiele und Utensilien für Rollenspiele
(Töpfe, Schuhe, Handtaschen, Hüte, Puppenwagen und
Körbe). Häufig werden hier ausgemusterte Kleidungs-
stücke und Gegenstände zur Verfügung gestellt. Immer
mal wieder sieht man etwas, das von einem nicht ganz
alltäglichen Impuls herzurühren scheint, wie einen ech-
ten Reitsattel oder eine größere Anzahl entrindeter Holz-
stämme.
→4←
Konstruktion mit Licht und Farbe
Die Nutzung der Möbel wird individuell in den Gruppen gestaltet.
Reggio-typisch finden sich auch im Bereich für die unter
3-Jährigen zahlreiche Materialien und Arbeitsgeräte zur
Auseinandersetzung mit Licht und Schatten, z. B. Holz-
bausteine mit eingearbeitetem buntem Plexiglas, Over-
headprojektoren, Tücher, Taschenlampen und Leucht-
tische. In allen Räumen hängen, stehen und liegen die
oben erwähnten unterschiedlichen Spiegel.
C PÄDAGOGISCH HANDELN IN GRUPPEN
251
Spieglein, Spieglein an der Wand, fast hätt‘ ich mich nicht erkannt.
6.1.4 Alltag in „Niki de Saint Phalle“
Der Tag in den Gruppen der unter 3-Jährigen ist stark
individualisiert, besonders infolge der langen Öffnungs-
zeiten und der damit verbundenen freien Bringzeiten (le-
diglich von 12 bis 13 Uhr ist das Bringen und Abholen
nicht möglich, um die Mittagsruhe zu garantieren). Fest-
gelegt sind Frühstücks- (bis 9:00), Mittagessens- (Kleine
11:20, Große: 11:45) und Abendessenszeiten. Der Alltag
verlangt demnach den Erwachsenen viel Flexibilität ab.
Routinen und Rituale
Dennoch prägen Routinen und Rituale auch den Alltag im
Krippenbereich von „Niki de Saint Phalle“:
1. Ankommen: Wer ankommt, dem wird Zeit gewidmet.
Über fast den gesamten Tag verteilt kommen Kinder in
der Einrichtung an. Für jedes Kind hat die Bezugserzie-
herin Zeit und heißt es willkommen. Es findet ein kurzer
Austausch mit dem jeweiligen Elternteil statt. Dann un-
terstützt seine Bezugserzieherin das Kind beim Verab-
schieden von seinen Eltern und beim Ankommen in der
Einrichtung.
2. Sing- und Redekreis: In fast allen Gruppen findet täg-
lich ein Zusammentreffen am Morgen mit den bis dahin
angekommenen Kindern statt. Hier werden alle Kinder
begrüßt und anhand von Fotos wird geklärt, wer da ist
und wer noch kommen wird. Danach werden gemeinsam
ein bis zwei Lieder gesungen. Im Bereich der 3- bis 6-Jäh-
rigen wird dieser Rede- oder Singkreis vom Kinderparla-
ment abgelöst.
3. Frühstück: Jeden Tag wird den Kindern in der Einrich-
tung ein gesundes Frühstück angeboten. Freitags gibt es
in der Einrichtung das sogenannte „Schokofrühstück“.
An diesem Tag dürfen Kakao, Schokocreme, Brötchen
und Ei verputzt werden.
4. Mittagessen: Das Mittagessen wird in zwei Gruppen
eingenommen. Die kleineren Kinder der Gruppe neh-
men es zusammen in ihrer Kleingruppe in Begleitung ei-
ner ihnen vertrauten Erzieherin im Mini-Atelier ein, die
größeren Kinder essen gemeinsam mit den Kindern der
anderen Gruppe(n) auf der Piazza. Das Essen wird an-
sprechend in Schüsseln serviert. Die Kinder nehmen sich
möglichst selbst und räumen ihr Geschirr auch selbst-
ständig ab.
Was es zu essen gibt, kündigen Bildkarten an.
6. Abendessen: Angepasst an die langen Öffnungszei-
ten wird in „Niki de Saint Phalle“ auch ein Abendessen
angeboten. Im Bereich der unter 3-Jährigen findet dieses
Abendessen derzeit gruppenübergreifend statt, da die
Zahl der noch anwesenden Kinder einer Gruppenstärke
entspricht und sich eine Abend-Kindergruppe gefunden
hat.
7. Abschied: Wer abgeholt wird, wird nach individuellen
Bedürfnissen verabschiedet. Ein elektronisches Stem-
pelsystem sorgt dafür, dass über den Computer leicht
einsehbar ist, wie lange die Kinder in der Einrichtung ver-
weilen.
Best Practice 6
252
Partizipation und Selbstständigkeit
Kinder unter 3 Jahren an den Entscheidungen und Pla-
nungen des Alltags teilhaben zu lassen und ihnen das
Gefühl von Selbstwirksamkeit zu vermitteln, ist eine Her-
ausforderung. In der Kita „Niki de Saint Phalle“ wird hier
viel mit Fotos gearbeitet. Teilweise werden die Kinder
über dieses Medium über Aspekte informiert (siehe „Mit-
tagessen“), an anderen Stellen nutzen die Erwachsenen
Bildkarten, um Wünsche abzufragen. Ein gutes Beispiel
ist eine Sammlung von Bildkarten, bei denen jede ein
Lied des Sing- und Redekreises symbolisiert. Wer den
Namen des Liedes nicht sagen kann oder behalten hat,
der nutzt die Bildkarten.
Bilder als Hilfsmittel um die Kinder partizipieren zu lassen.
Des Weiteren wird jedes Kind in seinen Entscheidungen
wertgeschätzt und ernstgenommen. Auch wenn dies
selbstverständlich scheint, so soll es hier doch Erwäh-
nung finden, denn dieses Prinzip ist richtungsweisend in
„Niki de Saint Phalle“. So sucht sich das Kind selbst aus,
wer es wickelt, es wählt seine Ansprechpartner, und bei
seinen Erzählungen wird intensiv zugehört und nachge-
fragt. Die Entscheidung für die Beteiligung an Aktivitäten
und Projekten wird dem Kind überlassen und die Erwach-
senen sind intensiv bemüht, die Bedürfnisse der Kinder
ernst- und wahrzunehmen.
Kleine Kniffe in der Raumgestaltung ermöglichen selbst
kleinen Kindern ein möglichst selbsttätiges Tun. So gibt
es im Waschraum neben der bekannten Treppe zum Wi-
ckeltisch, winzige Toiletten und einen Treppeneinstieg in
die Dusche. Im Gruppenraum können Podeste verscho-
ben werden um an attraktives Material zu gelangen, wo-
bei ohnehin fast alles auf Krabbelhöhe angeboten wird.
Ungewöhnlich sind die Kindertüren, welche zwischen
den Räumen Durchkriechmöglichkeiten für Krabbelkin-
der schaffen. Selbst bei geschlossener Erwachsenen-Tür
können Kinder zwischen den Bereichen wechseln.
Selber machen, dank Krabbeltüren
Beobachtung und Dokumentation als Teil der
täglichen Arbeit
In der Einrichtung „Niki de Saint Phalle“ vergeht kein Tag,
an dem nicht irgendwo Fotos geschossen, gesichtet,
ausgedruckt, betrachtet, umgehängt oder für eine Doku-
mentation zusammengestellt werden. Wohin man blickt,
begegnen einem Bilder und Dokumentationen.
Neben dem oben beschriebenen Aspekt, die Kinder so-
weit wie möglich an Planungen und Abläufen partizipie-
ren zu lassen, nimmt der Part der Beobachtung und Do-
kumentation den größten Raum der Arbeit mit Fotos ein.
Projekte, Ausflüge und sogar die Gestaltung des Abends
(16 bis 20 Uhr) finden sich als „sprechende Wände“ wie-
der. Zumeist werden zwei bis vier Fotos pro Seite genutzt
und durch einen kurzen erklärenden Text ergänzt. Hier-
bei kann es sich um Kinderaussagen, Erklärungen der
Kinder beim Betrachten der Fotos oder Beobachtungen
der Erzieherinnen handeln. Auch entstandene Kunstwer-
ke werden ergänzend zu den Dokumentationen ausge-
stellt. Um den Urheber des Bildes zu erkennen, werden
Fotos der Kinder auf die Werke geklebt.
Die Dokumentationen besonders zentraler und von den
Kindern häufig thematisierter Projekte werden laminiert
und als selbst gestaltetes Buch zusammengestellt in der
Gruppe oder dem Bereich ausgelegt. Dies ermöglicht
Erwachsenen und Kindern einen weitergehenden Aus-
tausch über das Geschehene und Gesehene und kann
als Anreiz oder Vertiefung dienen.
C PÄDAGOGISCH HANDELN IN GRUPPEN
253
Die Dokumentationen werden auch für die Portfolios der
Kinder genutzt. Ein Kind erhält jeweils die ausgestellte
Dokumentation in seinen Ordner und für die anderen be-
teiligten Kinder wird ein weiterer Ausdruck abgeheftet.
Für die Eltern wird jeden Tag ein Tagesplan erstellt. Dafür
stehen Magnetbilder jedes Kindes zur Verfügung, welche
auf wiederbeschreibbare Tafeln geheftet und mit Infor-
mationen darüber versehen werden, was das Kind an die-
sem Tag getan hat. Pro Kind stehen mehrere Fotomagne-
te zur Verfügung, um möglichst alle wichtigen Aktivitäten
aufgreifen zu können.
Zum Zwecke der Beobachtung werden neben Fotos auch
Filme gedreht und Protokolle angefertigt. Jeden Tag wird
als Dokumentation zudem ein Gruppenprotokoll angefer-
tigt. Dieses gleicht einer Art Klassenbuch, in welchem die
wichtigsten Aspekte des Tages kurz festgehalten werden.
6.1.5 Impulse und Projekte
Pädagogische Impulse und Projekte haben eine wichtige
Funktion in der Reggio-Pädagogik. Im Folgenden werden
ein offener Impuls sowie zwei Projekte vorgestellt.
Wasser – ein offener Impuls
Im Alltag fällt den Erzieherinnen immer wieder auf, dass
die Kinder ein enormes Interesse am Element Wasser ha-
ben. Beim Händewaschen würden sie am liebsten stun-
denlang am Hahn verweilen und auch die Dusche wird
immer wieder thematisiert. Um diesem Interesse nach-
zukommen und den Kindern eine Möglichkeit der inten-
siven Auseinandersetzung mit dem spannenden Element
Wasser zu ermöglichen, bieten die Erwachsenen regel-
mäßig das Element Wasser an. Z. B. wird eine Situation,
in der mit Wasser experimentiert werden kann, einzel-
nen Kindern in Kleingruppen ermöglicht, um ein speziel-
les Forschungsinteresse (z. B. Wohin läuft das Wasser?)
(weiter) zu verfolgen. An anderen Tagen dürfen alle Was-
serhähne und Duschen angestellt werden und alle Kinder
können entscheiden, ob sie das Wasser genießen und
erkunden wollen.
Schon nach kurzer Zeit ist der Waschraum voller Kinder
und jedes verfolgt allein oder mit einem Partner eine
eigene Forschung. Zwei kleine Jungen (2 ¼ und 2 ½)
stehen unter der warmen Dusche und versuchen das
Wasser, das aus dem Duschkopf schießt, in einen großen
Schlauch umzuleiten. Ein anderer Junge (2 Jahre) steht
am Seifenspender und drückt immer wieder auf den He-
bel. Die Seife schmiert er über seinen Körper. Eine Erzie-
herin kommt hinzu und bietet ihm Malseife an. Als blaue
und rote Seife aus den Tuben kommt, jauchzt er vor Freu-
de. Einer der Jungen aus der Dusche kommt hinzu und
beginnt ebenfalls, mit der Seife zu schmieren. Ein Mäd-
chen (8 Monate) sitzt in der Waschrinne. Sie versucht,
das Wasser mit den Händen zu fangen, aber es rinnt ihr
immer wieder durch die Finger. Als ein anderes Kind (2 ½
Jahre) sich Schwämme holt, um das Wasser aufzufangen
und dazu die Plastikkiste mit den Schwämmen ausschüt-
tet und in die Waschrinne stellt, beobachtet das Mädchen
gebannt, wie sich die Kiste mit Wasser füllt. Quietschend
schlägt sie auf den sich bildenden Wasserspiegel. Nach
45 Minuten ebbt das Interesse ab. Nach und nach bitten
die Kinder darum, abgetrocknet zu werden.
Vielleicht wird einer der Jungen mit den Schläuchen am
Nachmittag mit diesen weiter experimentieren, vielleicht
wird er weiter mit Wasser arbeiten oder er wird Murmeln
hindurch rollen lassen oder die Schläuche im Außenbe-
reich mit Sand testen. Vielleicht wird das Experiment mit
der Seife später auf Papier mit roter und blauer Farbe
noch einmal aufgearbeitet. Vielleicht werden die Kinder
aber auch nichts dergleichen tun und der Impuls mit
Wasser hat bereits alles an Auseinandersetzung geboten,
was die Kinder brauchten.
Au Kacke – ein kurzes Projekt
Es ist Herbst. Drei Kinder zwischen 2 und 2½ Jahren
werden von ihrer Erzieherin zu einem Ausflug in die nah
gelegenen Felder eingeladen. Sie möchte sehen, was die
Kinder interessiert: Wo bleiben sie stehen? Was fotogra-
fieren sie? Worüber kommen sie ins Gespräch?
Nach einigen Metern bleiben die Kinder stehen. Ein
großer alter Baum fesselt ihre Aufmerksamkeit. Ein Ge-
spräch darüber, dass der Baum „groß“ und „dick“ ist, be-
ginnt unter den Kindern. Gemeinsam mit der Erzieherin
entwickeln die Kinder die Idee, den Baum abzumessen,
indem sie sich um ihn herum stellen und einander die
Hände reichen. Drei Kinder braucht es, um den Baum zu
vermessen. Das Interesse ist befriedigt, die Kinder zie-
hen weiter.
Best Practice 6
254
Nach kurzer Zeit, sieht ein Kind etwas auf dem Boden,
„Kacke“ stellt ein anderes Kind fest. Man überlegt: Wer
könnte hierhin gemacht haben? Warum liegt der Haufen
dort? Die Kinder meinen, der Haufen kommt von einem
Hund und stinkt. Aber sie wollen weiter suchen.
Der Ausflug entwickelt sich zu einer Ausscheidungs-
Safari. Die Kinder suchen, fotografieren und analysieren
allen Kot, den sie finden. Nichts wird angefasst, aber sie
diskutieren heftig, wer welchen Haufen gemacht hat, wa-
rum ihn keiner wegräumt, und sie stellen fest, wie un-
terschiedlich gefärbt die Ausscheidungen der Tiere sind.
Nach ungefähr zwei Stunden scheint jeder Haufen in
unmittelbarer Nähe der Kindertagesstätte gefunden und
fotografiert. Die Kinder wollen zurück.
Aus den Fotos der Kinder fertigt die Erzieherin ein kleines
Buch an. Die Kinder sind begeistert und wollen immer
wieder ihren Ausflug Revue passieren lassen. Auch den
auf Foto gebannten Kot betrachten sie aufmerksam und
vergleichen ihre Funde. Über dieses Betrachten hinaus
besteht jedoch kein weiteres Interesse daran, sich mit
Ausscheidungen auseinanderzusetzen. Die bereitgestell-
te Knete findet keinen Anklang und auch eine Übertra-
gung auf die eigenen Ausscheidungen findet nicht statt.
→5←
Holz – ein langes Projekt
Bei einem offenen Kreativimpuls im Mini-Atelier gestal-
ten die 2½-Jährigen mit Krepppapierstreifen. Ein Kind
schiebt immer wieder Kreppstreifen zu einem Haufen
zusammen und sagt „Holz, Holz“. Um zu testen, ob bei
dem Kind ein weiteres Interesse an Holz besteht, gibt die
begleitende Erzieherin den Impuls, dass in der Kita Holz
zur Verfügung steht: im Atelier der großen Kinder.
Der Impuls wird von den Kindern aufgegriffen. Mit Hilfe
von großen Kindern und Erwachsenen wird Holz aus dem
Atelier in die Gruppe geholt. Nun beginnt eine vielseitige
intensive Auseinandersetzung mit dem Material. Einige
Kinder prüfen das Material in physischer Hinsicht: sie rol-
len die Stämme, testen Gewicht und Größe und stapeln
sie aufeinander, um zu sehen, was hält. Ein zweijähriges
Mädchen wäscht das Holz intensiv und begibt sich in ein
Rollenspiel, in dem sie als Mutter die Stämme reinigt. Ein
anderes Kind tropft aus einer Quietscheente Wasser auf
das Holz. Später werden die Stämme auf ihre Eignung
als Werkzeug getestet: Die Kinder schlagen Holz auf Holz
und hämmern mit Holz auf Metalldeckel. Einen ganzen
Vormittag dreht sich alles um die Stämme.
Am nächsten Tag beginnt ein Kind die Rinde der Stämme
abzuknibbeln. Zunächst nutzt es dazu die Finger – mit
mäßigem Erfolg. Eine herbeigeholte Schere erzielt den
gewünschten Effekt. Nach kurzer Zeit arbeiten mehrere
Kinder daran, die Stämme von der Rinde zu befreien. Zwi-
schendurch werden Scheren verglichen. Als alle Stämme
nackt sind, wird die Rinde zerschnitten und in kleinere
Stücke geteilt.
Selbst gewählte feinmotorische Höchstleistung: mit einer Schere
Baumrinde zerschneiden.
Das Projekt endet mit diesem Zerteilen der Rinde. Die
Pädagogen erstellen auch hier eine Fotodokumentati-
on, die die Kinder mehrfach betrachten, ihre Erlebnisse
nacherzählen und Erkenntnisse besprechen. Noch lange
steht die Rinde in einer Kiste im Mini-Atelier und wird
zum Gestalten genutzt.
→6←
6.1.6 Dankeschön Ein herzliches Dankeschön an das Team der Kindertages-
stätte „Niki de Saint Phalle“, das nicht nur bereit war die
Türen zu öffnen, sondern sich auch geduldig Zeit genom-
men hat, jede noch so kleine Frage zu beantworten und
mit ansteckender Begeisterung von der Arbeit erzählt
hat. Hier möchte man gerne Kind sein!
C PÄDAGOGISCH HANDELN IN GRUPPEN
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1
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3
6
→·← AUFGABEN UND ANREGUNGEN
Lesen Sie zunächst die Einführung zur Reggio-
Pädagogik.
a) Halten Sie fest, welche grundsätzlichen
Vorstellungen diese Konzeption prägen.
b) Nutzen Sie weitere Literatur (z. B. Berke-
meier u. a.: „Kein Kinderkram!“, 2013), um
sich weitergehend mit der Konzeption vertraut
zu machen. Ergänzen Sie Ihre Notizen.
c) Nutzen Sie diese Aufzeichnungen, um
bei der Erarbeitung des vorliegenden Ka-
pitels Konzeption und Umsetzung miteinander
b) [ggf. erst nach Erarbeitung der Infor-
mationen zur Einrichtung „Niki de Saint
Phalle“ bearbeiten] Nehmen Sie auf der Basis
Ihres Wissens über die Künstlerin Niki de Saint
Phalle, Reggio-Pädagogik und die Einrichtung
„Niki de Saint Phalle“ Stellung dazu, ob der
Name der Einrichtung gut gewählt wurde oder
nicht.
Gehen Sie durch ihre Praxiseinrichtung und
schauen Sie genau hin:
zu vergleichen.
2 chen“ von Loris Malaguzzi.
nen.
a) Gibt es Elemente aus der Reggio-Päd-
agogik und/oder der Kita „Niki de Saint
Beschaffen Sie sich das Gedicht „100 Spra- Phalle“ die Sie in Ihrer Einrichtung wiedererken-
a) Lesen Sie das Gedicht. Arbeiten Sie her-
aus, was Malaguzzi in diesem Gedicht kon-
kret ausdrückt.
b) Denken Sie an Ihre eigene Kindheit zu-
rück: Durften Sie Ihre „100 Sprachen“
nutzen?
c) Welche Erfahrung haben Sie zu „100
Sprachen“ in Kindertageseinrichtungen
gemacht?
Sammeln Sie Informationen und Bilder zur
Künstlerin Niki de Saint Phalle und ihren Ar-
beiten.
a) Überlegen Sie, was Kinder an den
Skulpturen und der Künstlerin selbst fas-
zinieren könnte.
b) Gibt es bei Ihnen für eine Kindertages-
einrichtung ungewöhnliche Gegenstände,
die in Bezug auf Ihre Einrichtung eine Geschich-
te erzählen?
Lesen Sie sich das Projekt „Au Kacke“ genau
durch.
a) Nehmen Sie begründet Stellung dazu,
ob Sie sich vorstellen könnten, ein sol-
ches Projekt zu begleiten.
b) Sammeln Sie weitere Ideen, wie das In-
teresse der Kinder an Ausscheidungen päd-
agogisch angemessen und hygienisch einwand-
frei weiter aufgegriffen werden könnte.
Überlegen Sie, was die Kinder wohl aus
dem Projekt „Holz“ an Fähig- und Fertig-
keiten mitnehmen.
TIPPS ZUM WEITERLESEN →→
→ Loris Malaguzzi Burkhard Gauly, in: kindergarten heute 3/2012 (S. 26–31)
→ Reggio-Pädagogik auf einen Blick, Einführung für Kita und Kindergarten Wolfgang Ullrich/Franz-J. Brockschnieder, Herder, Freiburg 2009