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Passagen Nr. 54

Date post: 06-Mar-2016
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Kulturmagazin
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passagen DAS KULTURMAGAZIN VON PRO HELVETIA, NR. 54, AUSGABE 3/2010 Gäuerle und Chlefele: Schweizer Volkskultur in Argentinien S. 6 Exotisch und durchgeschüttelt: Chopin als moderne Oper S. 36 Auf Dichterspuren: Stadtschreiber in Buenos Aires S. 41 Computerspiele: die Kunst der Zukunft
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passagen

daS KUltUrMagaZiN VoN pro HelVetia, Nr. 54, aUSgaBe 3/2010

Gäuerle und Chlefele: Schweizer Volkskultur in Argentinien S. 6Exotisch und durchgeschüttelt: Chopin als moderne Oper S. 36

Auf Dichterspuren: Stadtschreiber in Buenos Aires S. 41

Computerspiele: die Kunst der Zukunft

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3 EDITORIAL Next Level: Kunst

Von Pius Knüsel

4 PRO HELVETIA AKTUELL Auf der Suche nach einer neuen

Identität / Literatur reist um die Welt / Schöpferische Zerstörung / Schweizer Filmexperimente in

Indien

6 REPORTAGE Chlefele für Anfänger Von Hans Moser (Text) und Marco Vernaschi (Bilder)

36 ORTSZEIT Warschau: Chopin im Orient – ein

moderner Traum Von Florence Gaillard

Paris: Bücherschatz im Marais-Quartier

Von Florence Gaillard

39 PARTNER Kulturstiftung Landis & Gyr:

Frühe Pionierarbeit Von Brigitte Ulmer

40 IMPRESSUM PASSAGEN ONLINE AUSBLICK

41 KOLUMNE Wo ist César Aira? Von Christoph Simon

42 SCHAUFENSTER Plattform für Künstlerinnen und

Künstler Horizonville Von Yann Gross

Kunstvoll gestaltete Computerspiele: Unser Schwerpunkt zeigt Abschluss-arbeiten des Studiengangs Game-design der Zürcher Hochschule der Künste.

12 The world is not enough Von Nicolette Kretz

16 Dem Heiligen Gral auf der Spur Von Marc Bodmer

18 GameCulture – das Programm von Pro Helvetia

24 Die Kunst der Versenkung Von Martin Burckhardt

28 «Ohne Förderung von Proto-typen läuft nichts»

Malte Behrmann im Gespräch mit Raffael Schuppisser

32 Der Homo ludens im digitalen Zeitalter

Von Thierry Wendling

10 – 35 Thema:COMPUTERSPIELE: DIE KUNST DER ZUKUNFT

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Titelbild:Mirage Computerspiel von Mario von Rickenbach, ZHdK 2010

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Als der Buchdruck erfunden war und die ersten Bücher erschienen, ging das Klagen der Mächtigen los: Untergang und Zerfall predigten sie, geschuldet der Geduld des Papiers. Das Ergebnis war die Einrichtung der Zensur. Die Entstehung der Literatur war nicht zu stoppen.

Als der Film in die Welt kam, gerieten die Hüter der Kultur in Rage. Von Barbarei war die Rede, vom Ende der abendländischen Kultur ange-sichts eines Mediums, das mit Obszönitäten faszinierte. Das Ergebnis war die Indienstnahme des Films als Propaganda-Instrument. Doch der Film als Kunst entzog sich alsbald der Politik.

Nun sind die Computerspiele da. Und wieder erklingen die Vorwürfe von Verrohung, von moralischem Niedergang und Verführung zur Ge-walt.

Pro Helvetia wäre eine untaugliche Kulturförderin, wäre sie nicht da-von überzeugt, dass der kreative Geist aus jedem neuen Medium nach einer Zeit der Reife das Beste herausholen wird. Das trifft auch auf die Computerspiele zu.

Die Hälfte der jungen Menschen unter 25 spielt regelmässig. Die Vi-sion der Interaktivität, von vielen Künstlern geträumt, geht endlich in Erfüllung. Sie wird den Umgang der nächsten Generationen mit Kunst prägen. Das Computerspiel erhebt das Ich zum Regisseur in einem fan-tastischen Theater.

Die erste Generation von Gamedesignern, die jetzt von den Schweizer Kunsthochschulen strömt, hat ein ebenso künstlerisches Selbstverständ-nis wie Komponisten und Schriftsteller. Sie entwickelt das Spektrum der Computerspiele weit über die Killerspiele hinaus, die die öffentliche Wahrnehmung beherrschen. Es gibt grafische Spiele, Kombinationsspie-le, Spiele, die komplexe Geschichten erzählen, die vertrackte Entschei-dungssituationen schaffen, die Moral auf die Probe stellen. Nicht zu-schauen ist angesagt, sondern selber durchleben.

Zeit, dass die Kulturförderung sich mit dem dominanten Kulturphä-nomen der Gegenwart beschäftigt. Zeit, die kreativen Kräfte im Lande zu wecken und dafür zu sorgen, dass neben den Blockbusters auch schöne, witzige, herausfordernde, kunstvolle Games entstehen. Mit dem Pro-gramm GameCulture (2010–2012) sondiert Pro Helvetia ein Stück kultu-relle Zukunft. Diese Passagen-Nummer ist Teil davon. Spielen Sie mit!

Pius KnüselDirektor Pro Helvetia

editorial

Next Level: Kunst

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Literaturübersetzungen sind für Verlage ein kostspieliges Unterfangen. Deshalb werden Schweizer Autorinnen und Autoren ausserhalb ihrer Sprachregi-on oft kaum wahrgenommen. Hier setzt das Projekt Swiss List an, das Pro Helvetia im Rahmen des Übersetzungsschwer-punkts Moving Words lanciert. Mit Hilfe ihrer Verbindungsbüros sowie von Über-setzern und Literaturvermittlern, knüpft sie ein weltweites Netz von Verlagen, die eine literarische Schweizer Reihe veröf-fentlichen. Möglich wird dies, indem die Kulturstiftung die Übersetzungskosten übernimmt und einen Beitrag an die Pro-motion leistet. So bringt das Translation Publishing House in Shanghai zehn Schweizer Titel auf Chinesisch heraus, darunter Rolf Lapperts preisgekrönten Ro-man Nach Hause schwimmen. Ebenfalls eine Swiss List publizieren der norwegi-sche Verlag Ganesa und der indische Verlag Seagull Books. Auch die Kinderlite-ratur hat im Programm ihren Platz: So hat Franz Hohlers Sammlung von Kinder-geschichten Das grosse Buch bereits ein spanisches und ein katalanisches Lese-publikum gefunden.

Literatur reist um die Welt

Franz Hohlers Kindergeschichten für ein spanisches Lesepublikum.

Die Globalisierung drückt unserer Gesellschaft den Stempel auf. Struktu-ren, die sich über Jahrhunderte entwi-ckelt haben, geraten ins Wanken. Immer mehr Menschen fühlen sich durch Mig-ration entwurzelt. Sprach- und Heimat-losigkeit sind die Folge, aber auch die Suche nach einer neuen Identität. Die-ser globalen Zeiterscheinung spürt die Ausstellung Dislocación in all ihren Fa-cetten nach: Rund 15 bekannte Gegen-wartskünstlerinnen und -künstler aus der Schweiz und aus Chile zeigen ihre ganz persönliche Sicht auf das Thema – darunter Ursula Biemann, Juan Castillo, Alfredo Jaar und Thomas Hirschhorn. Begleitet wird die Schau von Konferen-zen, Kinovorführungen und Publikatio-nen. Als Kuratorinnen wirken die gebür-

tige Chilenin Ingrid Wildi Merino, die heute in Genf lebt und in der Ausstel-lung gleichzeitig als Künstlerin auftritt, sowie Kathleen Bühler vom Kunstmu-seum Bern.

Bis im November liess sich das bi-national angelegte Projekt in Santiago de Chile verfolgen. Vom 15. März bis 19. Juni 2011 gastiert die Ausstellung im Kunstmuseum Bern. Sie ist Teil des Pro-Helvetia-Kulturprogramms mit Chile und Argentinien, das aus Anlass der Bicentenarios, der Feierlichkeiten zur 200-jährigen Unabhängigkeit in Lateinamerika, gestaltet wird.

www.dislocacion.cl

Auf der Suche nach einer neuen Identität

Die Ausstellung Dislocación thematisiert globalisierte Wirtschaft und Migration.

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Schöpferische Zerstörung

Under Destruction lautet der sinni-ge Titel einer Gruppenschau, die zur Zeit im Basler Museum Tinguely und ab März 2011 im Swiss Institute New York gezeigt wird. Anlass ist der 50. Geburts-tag von Jean Tinguelys Zerstörungsper-formance im Museum of Modern Art in New York. Mit rund zwanzig Arbeiten von internationalen Künstlerinnen und Künstlern lotet die von Swiss-Institute-Direktor Gianni Jetzer und Chris Sharp kuratierte Ausstellung die Rolle der Zer-störung in der zeitgenössischen Kunst aus. In ihren Anfängen in den 1960er-Jahren war Auto-Destructive Art vor al-lem eines: Spektakel, Protest, politisches Statement. Auch die zeitgenössischen Werke von Under Destruction haben ei-nen grossen Schauwert: Zerstören ist hier aber kein Synonym für kaputt ma-

chen. Die Gruppenausstellung führt vor Augen, wie sehr Destruktion mit dem kreativen Akt verbunden ist und welche künstlerischen Funktionen sie über-nehmen kann: Zerstörung als memento mori, als poetische Transformation oder schöpferische Kraft. Zu sehen sind u.a. Werke von Monica Bonvicini, Jimmie Durham, Michael Landy, Liz Larner, Christian Marclay, Roman Signer und

Johannes Vogl. Under Destruction ist im Museum Tinguely in Basel noch bis zum 23. Januar 2011 zu sehen, dann vom 2. März bis 30. April im Swiss Insti-tute in New York.

www.tinguely.chwww.swissinstitute.net

In Jonathan Schippers Installation wird die Technik sich selbst zum Feind.

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Das Filmland Schweiz hat mehr zu bieten als exotische Bergkulissen für Bollywood. Den Beweis dafür tritt Pro Helvetia New Delhi diesen Winter mit einem lebendigen Kurzfilmprogramm an. Die Schweizer Filmexperimente 1962–1974 sind ab Ende Februar wäh-rend zwei Wochen in Pune, Mumbai und weiteren indischen Metropolen zu Gast. An Filmvorführungen, Workshops und Diskussionsrunden erhält das Publi-kum einen Einblick in eine wenig be-kannte Epoche der Schweizer Filmge-schichte. Ob politisches Statement zum Vietnamkrieg oder halluzinogene Bil-

Schweizer Filmexperimente in Indien

Zu sehen in Indien: Kurzfilm von Werner v. Mutzenbecher

derreigen – in der Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre entdeckten zahlreiche Kunst schaffende das Medium Film. Die jungen Wilden scherten sich nicht um Konventionen und liessen ihrer Kreativität freien Lauf. Mit ihren Experi-menten wurden sie zu den Wegbereitern des Neuen Schweizer Films, zu dem international bekannte Namen wie Alain Tanner, Fredi M. Murer und Markus Imhoof gehören.

Im Jahr 2006 waren die Kurzfilme erstmals wieder auf der Leinwand zu sehen, nachdem sie jahrzehntelang in Archiven und auf Dachböden geschlum-mert hatten. Aufgespürt und restauriert hat sie das Kuratorenkollektiv reservoir um den Zürcher Filmwissenschaftler Fred Truninger, der die Schweizer Filmexperimente in Indien persönlich präsentieren wird. Detailprogramm: www.prohelvetia.in

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Chlefele, Fahnenschwingen, Peitschenknallen und Gäuerle – mit diesen Bräuchen aus der Schweizer Volkskultur war eine Künstlergruppe in Argentinien zu Gast. Die argentinischen Jugend lichen betraten das kulturelle Neuland mit Begeis-terung. Für die ältere Genera-tion der Auswanderer war es eine zuweilen melancholische Wiederbegegnung mit einem Stück Heimat.

Von Hans Moser (Text) und Marco Vernaschi (Bilder)

Beim vierten Anlauf klappt es schon ganz gut mit der Aussprache. «Chlefele», sagt Robert Kessler noch einmal, und die Schüler wiederholen im Chor und mit leicht spanischer Akzentfärbung das in ihren Ohren ausgesprochen exotisch klingende Wort. Nach zehn Minuten können die Ge-schickteren den beiden Holzplättchen auch einige Klänge entlocken. Dann zeigt ihnen der Gast aus der Schweiz, wie ein Meister des Faches die schweizerische Version der Kastagnetten handhabt, und die 20 Jugend-lichen versuchen, es ihm nachzumachen. «Wie lange mussten Sie üben, bis Sie das so perfekt beherrschten?», will der 13-jährige Nicolá wissen. «Ein Jahr», antwortet Kess-ler, bevor er zu einem Schwingbesen greift und mit diesem rhythmisch eine Holzkiste traktiert. «Die Familien in den Schweizer Bergen hatten kein Geld, um richtige In-strumente zu kaufen», erzählt er, «deshalb benutzten sie alle mög lichen Haushaltsge-räte, um Musik zu machen.» Wie gut sich auf diese Weise musizieren lässt, können die Schüler dann selber ausprobieren. Kessler drückt jedem von ihnen hölzerne Kochlöf-fel, zwei leere Glasflaschen, einen Reisbesen und ein Stück Holz, eine Rira oder eben Chlefele in die Hand. Seine Aufforderung nicht in erster Linie laut, sondern richtig zu spielen, hören die meisten nicht mehr, weil sie voll und ganz in ihren Part im improvi-sierten Konzert vertieft sind. Die Misstöne dominieren, dennoch haben Nicolá und

Chlefele für Anfänger

Ein flotter Walzer im Club Suizo in Ruiz de Montoya. Barbara Betschart (Violine), Markus Flückiger (Schwyzerörgeli) und Stephan Keiser (Bass) präsentieren in Argen tinien Schweizer Volksmusik.

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seine Klassenkameraden ihren Spass an der kurzen, aber intensiven Be-gegnung mit einer Welt, die die meis-ten von ihnen vorher bestenfalls vom Hörensagen kannten.

Schweizer Brauchtum trifft auf argentinisches Temperament

Der Workshop in der land-wirtschaftlich-technischen Berufs-schule Instituto Linea Cuchilla in der argentinischen Provinz Misiones ist Teil des Projektes Volkskultur heute, das die Schweizer AAA-Kulturma-nagementagentur und der Brauch-tumsspezialist Johannes Schmid-Kunz im Auftrag von Pro Helvetia entwickelten. Zusammen mit fünf weiteren Künstlern ist er für drei Wo-chen nach Südamerika gereist, um an Schulen, in Vereinen, am traditi-onellen Fest der Einwanderer in der nordargentinischen Stadt Oberá so-wie bei weiteren öffentlichen Auftrit-ten in Argentinien und Chile Schwei-zer Volkskultur von einst und heute zu vermitteln.

In der Mehrzweckhalle des Instituto Linea Cuchilla bringt Schmid-Kunz einer Gruppe von Jugendlichen die Schritte eines Volkstanzes bei. Vor allem die Kna-ben bewegen sich zunächst zögerlich und un gelenk. Doch unter der Anleitung ihres Tanzlehrers, der musikalischen Begleitung der Geigerin und Musiklehrerin Barbara Betschart und des Schwyzerörgelispielers Markus Flückiger verlieren die Schüler rasch ihre Scheu. «An dieser Schule herrscht eine erfreuliche Tanzkultur», stellt Projektleiter Schmid-Kunz am Ende des Workshops fest, «auch wenn es manchmal so laut war, dass man die Musik nicht hörte.»

Dass Kinder in einer südamerika-nischen Schule temperamentvoller und spontaner reagieren als ihre Kameraden in der fernen Schweiz, erfährt auch der Sän-ger und Jodler Stephan Keiser, als er mit seinen Gruppen das Volkslied Det obe of em Bergli einstudiert. Das Wort «Chueh» kommt ihnen fast genauso schwer über die Lippen wie «Chlefele», aber das scheint ihre Faszination eher noch zu steigern. Die Melodie sitzt schnell und mit dem einen oder anderen Versprecher schaffen sie schliesslich alle drei Strophen. Keiser be-lohnt sie mit einem Jodel und schmunzelt

breit, als ein Schüler auf die Frage, ob sie wüssten, was das sei, ohne zu zögern, ant-wortet: «eine Oper.»

Wiederbegegnung mit einem Stück Heimat

Nach den Workshops sind fast nur po-sitive Stimmen zu hören. Manche Jugend-lichen freuen sich schlicht über die Ab-wechslung, die der Besuch aus der Schweiz in den Schulalltag bringt und für einmal die Mathestunde oder den Geschichtsun-terricht ersetzt. Der 13-jährigen Patricia hat vor allem das Tanzen gefallen. Ihr leb-hafter Klassenkollege Alejandro hingegen fand die Demonstrationen rund ums Chle-fele toll: «Verrückt, was der alles aus ganz einfachen Instrumenten herausholt, und wir konnten mitmachen. Ich habe schon im Fernsehen Schweizer Volksmusik ge-hört, aber live ist es natürlich besser.» Schuldirektor Martin Günthardt äussert sich ebenfalls lobend: «Unter den 430 Ab-solventen unserer internationalen Schule sind etwa 10 Prozent Kinder mit Schweizer Nationalität», sagt er. «Ihnen, aber auch al-len anderen versuchen wir mit freiwilligem Deutschunterricht und anderen Aktivitä-ten, Wissen und Verständnis hinsichtlich der kulturellen Eigenheiten der Schweiz zu vermitteln. In den Kurzworkshops haben

fast 150 Schülerinnen und Schüler Gele-genheit bekommen, Schweizer Volksmusik kennenzulernen, einen Schottisch zu tan-zen und typische Schweizer Schlaginstru-mente auszuprobieren.»

Während die meisten Jugendlichen in den Stunden mit den Gästen aus der Schweiz kulturelles Neuland betreten, kommt es am Abend im örtlichen Club Suizo von Ruiz de Montoya und einen Tag später bei der Schweizer Vereinigung im anderthalb Autostunden entfernten Eldo-rado vor allem für die älteren Mitglieder zu einer Wiederbegegnung mit einem Stück Heimat. Viele von ihnen haben die Schweiz vor Jahrzehnten verlassen, weil sie dort kein Auskommen fanden, und sich in Mi-siones als Landwirte oder Handwerker eine neue Existenz aufgebaut haben. Sie sind Argentinier geworden und doch Schweizer geblieben, die einen mehr, die anderen we-niger. Im etwas düster wirkenden Lokal in Ruiz de Montoya herrscht anfänglich eine eher gedrückte Atmosphäre. Als Aussen-stehender glaubt man eine vage Wehmut zu spüren, aber auch etwas von der Müh-sal eines Einwandererschicksals. Nachdem Robert Kessler kräftig mit der Peitsche ge-knallt und danach mit seiner Frau Margrit einen flotten Gäuerle (traditionellen Wer-betanz) aufs Parkett gelegt hat, ist der

reportage

Lustiger als Mathe: Die Mädchen der landwirtschaftlich-technischen Berufsschule üben sich im Schweizer Volkstanz.

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Bann jedoch gebrochen, die Stimmung gelöster. Mit Fahnenschwingen, Jodeln, Liedern, Chlefele-Demonstationen und Tän zen präsentiert die Künstlergruppe ei-nen kleinen Ausschnitt aus dem reichhal-tigen Fundus an Schweizer Volkskultur. Zu ihrem Repertoire zählt auch ein Stück, das der Schwyzerörgelivirtuose Markus Flückiger selbst komponiert hat. Der 41-jährige Profimusiker ging mit Formati-onen wie Pareglish, die einen Mix aus Volksmusik verschiedenster Länder spielt, neue Wege innerhalb der Szene. Es ver-mischen sich Ländler mit Klassik, Polka mit Rock, Schwyzerörgeli mit Elektronik. Flückiger greift auch auf Elemente altüber-lieferter Volkskultur zurück, interpretiert

diese aber zeitgemäss, ohne den Respekt vor der Tradition zu verlieren.

Zur Modernisierung der Schweizer Volkskultur gehört auch, dass das Alphorn von Stephan Keiser aus Karbon hergestellt wurde und sich für den Transport wie ein Teleskop-Fernrohr auf ein handliches For-mat verkleinern lässt. Wäre das bei einem Kontrabass ebenfalls möglich, hätte die Gruppe auch dieses Instrument aus der Heimat mitgebracht. Kurz vor Konzert-beginn in Ruiz de Montoya ist dann nach längerer Suche doch eines vorhanden; eine Familie hat den Kontrabass, den Ein-wanderer 1938 nach Misiones mitgebracht hatten, auf dem Estrich ihres Hauses auf-ge stöbert.

«Todo genial»Die Auftritte in Oberá mit einem

Fahnenschwingkurs für Jugendliche und Erwachsene sowie einem spontanen Tanz happening mit der schweizerischen Volkstanzgruppe des Ortes werden zu ei-nem Erfolg. Die Leiterin, die einige Jahre in Winterthur gelebt hat, organisiert kur-zerhand per SMS ihre Tänzerinnen und Tänzer. Rasch stellt sich heraus, dass Ein-heimische und Gäste die gleichen Tänze kennen, und so bestreiten sie am Abend den grossen Auftritt an der Fiesta de los Inmigrantes gemeinsam. «Die Leute von

Oberá haben alles, was wir spielten, tanz-ten und sangen, aufgenommen wie ein ausgetrockneter Schwamm», zieht Johan-nes Schmid-Kunz Bilanz. «Das Interesse, mehr aus der Schweiz zu erfahren, ist gross.» Auch Corina Steinmann, Ge-schäftsführerin der schweizerisch-argen-tinischen Kulturstiftung in Buenos Aires und Mitorganisatorin der Tournee in Ar-gentinien, freut sich: «Beim gemeinsamen Auftritt am Fest ist ein echter Kulturaus-tausch zustande gekommen.» Alles in al-lem ist der Besuch der Schweizer in Argen-tinien jedoch eher eine Kulturauffrischung für Ausgewanderte als ein wirkliches Ge-ben und Nehmen. Bestimmt nimmt die Schweizer Gruppe von dieser Reise nach-haltige Eindrücke mit in die Heimat. Für einen tatsächlichen Austausch hätte das Projekt aber auch den Gästen den Blick für die Veränderungen in der argentinischen Volkskultur stärker öffnen müssen.

Beim Gastspiel der Schweizer Gruppe im Chalet Suizo in Esperanza, in der Pro-vinz Santa Fe, ist das Lokal dann bis auf den letzten Platz besetzt. Hier ist das Pub-likum gleich begeistert. Auch bei den Kur-sen tags darauf in zwei Schulen staunen die Musiker und Tänzer aus der Schweiz, wie viel grösser dort das Interesse der 12- bis 13-jährigen Jugendlichen an der Volks-kultur ist als bei Gleichaltrigen in der Schweiz. Am Schluss verlangen die Schü-ler von den Künstlern sogar Autogramme. «Todo genial – alles genial», fasst Luis Megevand, der lokale Organisator, seine Eindrücke zusammen.

Hans Welti, der seit sechs Jahrzehnten in Misiones lebt, hat sich ein paar Tage zu-vor beim Auftritt in Eldorado weniger eu-phorisch ausgedrückt, auf seine zurückhal-tende Art aber der Gruppe aus der Schweiz ebenfalls ein Kompliment gemacht: «End-lich», meinte der 85-Jährige anerkennend, «habe ich wieder einmal richtige Schwei-zer Musik gehört.»

Hans Moser war von 2001 bis Ende 2009 Korrespondent des Tages-Anzeigers für Lateinamerika. Er lebt weiterhin in Buenos Aires und ist freischaffend für verschiedene Medien tätig.

Marco Vernaschi stammt aus Italien und lebt seit 2005 in Buenos Aires. Der mehrfach ausgezeichnete Fotograf arbeitet vor allem in Afrika und Südamerika u.a. für GEO, Newsweek und National Geographic. www.marcovernaschi.com

Das Wort «Chueh» kommt ihnen fast genauso schwer über die Lippen wie «Chlefele», aber das scheint ihre Faszination eher noch zu steigern.

Kochlöffel, Schwingbesen, Schlaghölzer, Chlefele, Blockflöte und Rira: Die einfachen Gerätschaften überraschen mit oft erstaunlichen Klängen.

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Computerspiele: d ie Kunst der ZuKunft

Vom Spiel zur Kunst

Colorize  von Christoph Jörg, ZHdK 2010

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Computerspiele: d ie Kunst der ZuKunft

Vom Spiel zur Kunst

Computerspiele gehören zur Alltagskultur und sind aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken. Gamedesigner, Drehbuch­autoren und Komponisten arbeiten vereint an den digitalen Para diesen, die zwischen Kunst und Kommerz oszillieren. Lesen Sie in unserem Passagen­Dossier, wie eine eingefleischte Gamerin ihre Ferien mit der virtuellen Familie verbringt, wo Wissen­schaftler am lebensechten Avatar tüfteln und warum die Computer spiele die Kunst­form der Zukunft sein könnten.

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anchmal ist die Welt einfach nicht genug. Manchmal ist das ein­fach nicht so ganz das, was man sich vorgestellt hat, als die andern sag­

ten: «Das wird schon!» Dann lesen Sie ein Buch. Sie gehen ins Kino. Sie gehen ins Theater. Sie schalten den Fernseher ein. Sie nehmen Drogen. Davon raten Ihnen aber die Gesetze ab. Oder Sie legen ein Computerspiel in Ihren Diskdrive. Davon rät Ihnen zwar das Feuilleton ab.

Mein Milieu hat es mich jedoch nicht anders gelehrt. Die Eltern anderer Kinder waren in Freikirchen, mein Vater war bei IBM. Das ist durchaus vergleichbar. Bei­des prägt eine Kindheit und, daran hängend, ein ganzes Leben. Genau wie die Brü­dervereintöchter und die Pfingstgemeindesöhne sonn­tags zur Kirche gingen, mussten wir am Wochenende mit Papa ins Büro. Während er anstehende Arbeiten er­ledigte, durften wir uns an einen freien PC setzen. Wir daddelten Styx, Digger, Q-Bird, Frogger, allesamt ein­fachste Geschicklichkeits­spiele mit rudimentärer Grafik, nerviger einstimmi­ger Musikuntermalung und hohem Suchtpotenzial.

Wenn der Securitas­Mann auf seiner Runde vorbeikam, zeigten wir verschüch­tert auf Papa in der anderen Ecke des braun­beigen Grossraumbüros. Schon da­mals hatten wir das dumpfe Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, oder jedenfalls etwas am Rande, wenn nicht gar am Abgrund der Gesellschaft. Doch heute bin ich froh über diese Erfahrung. Wie die Kinder von Bauern keine Allergien und keine Angst vor grossen Tieren haben, kann ich’s eben heute ganz gut mit technischen Geräten und sehe in ihnen nicht grundsätzlich et­was Böses. Auf Pixel starren wurde mir so­zusagen in die Wiege gelegt. Solange mor­gens mein Laptop nicht eingeschaltet ist, fühle ich mich nicht ganz wach. Und eine Zugfahrt ohne mein Handy als Spielzeug grenzt an Folter.

So kommt es, dass ich mir in verreg­neten Ferien durchaus mal in einem

Game Shop statt in einer Buchhandlung ein Mittel zur Realitätsflucht suche. Und neulich hüpfte ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht und Die Sims 3 in der Hand­tasche nach Hause. Während Sie von ei­nem Buch bereits im Tram die ersten Sei­ten lesen können, braucht ein Game ein bisschen mehr Vorbereitung. Doch nach ein paar Klicks ist die Festplatte aufge­räumt, das Spiel installiert und es kann losgehen. Ich nehme mir vor, den Anwei­sungen des Herstellers Folge zu leisten: «Man sollte nicht spielen, wenn man müde ist oder nicht genug Schlaf gehabt hat. Bei der Benutzung eines Computer­

oder Videospiels sollte jede Stunde eine Pause von 10–15 Minuten eingelegt wer­den.» Mm­mhm.

*

Wenn Sie Computer Game hören, denken Sie wahrscheinlich an «rumballern» oder an «Goldstücke/Äpfel/Edelsteine einsam­meln». Nicht so bei den Sims. Hier steuert man eine Familie in ihrem weitgehend re­alitätsnahen Alltag. Man erklärt ihnen, wann und was sie essen sollen, wann es Zeit zum Schlafen ist, und dass sie bei starkem Harndrang geschwind aufs Töpf­chen müssen. Und wie in der Realität gibt man sich auch hier nicht damit zufrieden, planlos in den Tag hineinzuleben, sondern man möchte etwas erreichen. Karriere, Bildung, Familie und Freundeskreis müs­sen gepflegt werden, denn jeder Sim hat

sein eigenes Lebensziel wie: besonders be­liebt sein, internationaler Spitzenspion werden, den perfekten Garten haben … Aber wie im richtigen Leben geht der grösste Teil des Tages sowieso dafür drauf, sich selbst und sein Haus in Stand zu hal­ten: essen, schlafen, Toilette, duschen, aufräumen, putzen, Altpapier entsorgen, essen, schlafen, Toilette, duschen, aufräu­men, putzen, Altpapier entsorgen. Und schon kommt eine Meldung, die beste Freundin fühle sich vernachlässigt – im Spiel und im richtigen Leben.

Die Protagonisten dieses zweidimen­sionalen Puppenhauses kann man sich

optisch und charakterlich selber zusammenstellen. Ich entscheide, bei meinem ers­ten Versuch keine Kapriolen zu machen, und designe mir ein ziemlich durchschnittli­ches Paar: Sie, nennen wir sie Sonja, hat Sinn für Hu­mor, lässt sich schnell be­geistern, ist eine gute Küsse­rin, jedoch etwas chaotisch. Er, nennen wir ihn Michail, ist ein charismatischer, künstlerisch begabter Work­aholic. Sein Lebensziel: total beliebt sein, was in der virtu­ellen Welt heisst, mindestens 20 Freunde zu haben. Ihr Le­benswunsch heisst «Goldene Zunge, goldene Finger», was nichts mit der Eigenschaft

«gute Küsserin» zu tun hat, sondern be­deutet, dass sie die Fähigkeiten «Cha­risma» und «Gitarre» perfektionieren will: eine virtuose Unterhalterin also. Als junge Erwachsene (so der Name der Lebens­phase) haben die beiden erst wenig Er­spartes und können sich nur ein kleines Häuschen leisten. Schlafzimmer, Wohn­zimmer mit offener Küche, Bad und ein bisschen Umschwung. Nett, mit ein wenig Deko und Fantasie sogar gemütlich, aber kein Ort, um alt zu werden.

*

Als erstes muss ein Job gefunden werden, sonst wird das Geld bald knapp. Michail wählt die Politik. Ein Job als Podiumspo­lierer ist in der Zeitung ausgeschrieben. Von da wird er schon bald zum Stimmen­auszähler aufsteigen. Sonja soll eine Mu­

The world is not enough

Ein bisschen Realitätsflucht ist das Salz in der Suppe des Alltags. Doch wer sich in der

virtuellen Welt der Sims einnistet, dessen Game-Life-Balance gerät bald einmal gefährlich ins

Wanken. Bericht einer Spielerin über den ganz gewöhnlichen Alltag hüben wie drüben.

Von Nicolette Kretz

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sikkarriere anstreben. Ich lasse sie also so lange Zeitung und Internet durchsuchen, bis sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Nach ein paar Tagen ist … nun ja … eine Stelle als Fan ausgeschrieben. Na dann. Jetzt

tropft das Geld zwar langsam rein, doch das macht das Leben nicht nur einfacher. Wie auch wir im richtigen Leben ist ein Sim dann am besten im Job, wenn er aus­geschlafen, wohlgenährt, geduscht und gut gelaunt aufkreuzt. Und ein Sim­Tag hat auch nur 24 Stunden. Man braucht also schon ein ganz gutes Zeitmanage­ment, um allein für die Basisfunktionen der Sims zu sorgen, damit die Bedürfnis­anzeigen für Hunger, Harndrang, Energie, Sozialleben, Hygiene und Spass im grünen Bereich bleiben.

Mein Ehrgeiz wächst. Sonja kaufe ich eine Gitarre, damit sie überhaupt Chancen hat, Rockstar zu werden. Michail lasse ich vor dem Spiegel Reden üben. Ich will nun alles! Karriere, tolles Haus, Kind, und zwar in dieser Reihenfolge. Mein Plan ist es, mich möglichst schnell hochzuarbeiten, genügend Geld zu scheffeln, um ein grös­seres Haus zu kaufen und dann sofort ein Kind zu machen. Und das klappt ganz gut mit den beiden: Michail durchläuft in wenigen Wochen seine Karriere vom Stimmenzähler über den Kampagnen­Praktikanten zum Stadtratsmitglied und Bürgermeister bis hin zum Gouverneur. Sonja beginnt als Roadie, wird Bandmana­gerin, Texterin, Backgroundsängerin und schliesslich Leadgitarristin. So hat mein Paar schon bald genügend Einkommen, um sich eine Haushaltshilfe zu leisten. Dann beginnen die beiden, regelmässig Partys zu veranstalten. Das fördert die Be­liebtheit. Mein Szene­Chick und Mr. Popu­lar sind nun endlich das, was man in den meisten Kreisen «erfolgreich» nennt.

Plötzlich ist alles so, wie ich es mir vorgestellt habe. Doch ehe ich mich ver­sehe, werden meine Sims von «jungen Erwachsenen» zu «Erwachsenen». Das heisst, oh Schreck, die nächste Station ist «Senioren»! Ich muss mich also beeilen, denn schliesslich muss ja noch ein Kind

her. Ich lege Sonja und Michail also aufs Bett und klicke auf «Baby machen». Doch, was ist denn das? Die beiden wehren ab und schütteln genervt, ja empört den Kopf. Bei der ganzen Karriereförderung und den Partys habe ich völlig vergessen, die Bezie­hung zu pflegen! Also wird erst mal ein paar Tage gehätschelt, geknutscht und massiert. Und beim dritten Anlauf klappt es: Die beiden springen in einem Wölkchen aus Herzen unter die Decke, turnen und kichern vergnügt. Nach einer Weile tau­chen sie lächelnd wieder auf. Genau wie’s sein muss!

*

Machen Sie sich keine Sorgen, wenn ich «ein paar Tage» schreibe, meine ich Sim­Tage, die dauern … ja, wie lange eigent­lich? Man verliert im Spiel sofort das Zeit­gefühl. Vergessen sind die Anweisungen des Herstellers. Überhaupt vergisst man ziemlich vieles. Teetassen werden in der Küche noch mit dem Beutel drin kalt, E­Mails häufen sich in der Inbox an, Mutter macht sich Sorgen, weil man nie anruft. Nach ein paar Tagen verspüre ich ein un­gewohntes Zucken im rechten Oberarm. Ich bin einen Moment lang beunruhigt, nehme dann die Maus aber mal einen Tag

auf links. So kann ich locker weiterma­chen. An eine Pause ist nicht zu denken, nicht jetzt, wo es gerade so gut läuft!

Das Spielen gewinnt schnell die Ober­hand und statt zwischendurch ein biss­chen zu gamen, organisiere ich nun mein (richtiges) Leben in kurzen Spielpausen, wenn der Computer lädt oder meine Sims schlafen. Und während ich zu Beginn im Spiel das gemacht habe, was ich im richti­gen Leben auch tue, dünkt mich jetzt, dass ich in echt das mache, was meine Sims auch tun. Ich gehe zum Kühlschrank. Ich rufe Freunde an. Ich putze das Klo, und

wenn es wirklich nicht mehr anders geht, lege ich mich ins Bett. Ich sehe sogar vor meinem geistigen Auge meine Bedürfnis­anzeige in den roten Bereich fallen, ehe ich zur Toilette renne. Wenn ich mich doch einmal mit Freunden treffe, merke ich, dass ich nicht viel zu erzählen habe. Dass meine Sims einen neuen Fernseher ge­kauft haben, scheint sie nicht gross zu in­teressieren.

Die Dramaturgie des Spiels ähnelt je­ner einer guten Soap. Nie sind mal gerade alle Probleme gelöst, sodass man das Spiel beenden könnte. Stets gibt es ein Ziel, das noch zu erreichen ist. Jetzt, wo Sonja und Michail beruflich erfolgreich sind (sie ist jetzt Pop­Ikone, er Vorsitzender der Freien Welt), ist der kleine Wojcek da (Charakter­eigenschaften: Genie und Wahnsinn), der alles noch vor sich hat. Ich setze mir zur Sicherheit eine Kalender­Benachrich­tigung auf das Ende meines Urlaubs. Da­nach vergrabe ich das Spiel im Garten. Es muss auch mal genug sein.

Nicolette Kretz (*1977) lebt in Bern. Sie arbeitet als freie Autorin und Text­ Performerin sowie als Dramaturgin für das Theaterfestival auawirleben.

Die Eltern anderer Kinder waren in Freikirchen,

mein Vater war bei IBM. Das ist durchaus vergleichbar.

Aber wie im richtigen Leben geht der grösste Teil

des Tages sowieso drauf, sich selbst und sein Haus in

Stand zu halten: essen, schlafen, Toilette, duschen,

aufräumen, putzen, Altpapier entsorgen…

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Crowned  von Gregor Falk, ZHdK 2010

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enn der kleine Robo­ter Wall-E zwischen Bergen von Müll her­umkurvt, um die Erde aufzuräumen, beglei­tet ihn eine feine

Staubwolke. Ist doch logisch, wird sich mancher Kinofan gesagt haben, der Boden ist ja knochentrocken, und Antriebsraupen wirbeln nun mal Staub auf. Dass Nebel, Rauch oder eben Staub in einem Anima­tionsfilm oder Computergame nach hoch komplexen Berechnungen ver­langen, darüber machen sich die wenigsten Zuschauer Ge­danken. Kopfzerbrechen be­deutet es aber für manchen Wissenschaftler, der in einer kleinen, frisch renovierten Villa arbeitet, die einen guten Steinwurf entfernt vom Haupt­gebäude der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich steht. Wie viele Ge­bäude in der Gegend gehört auch sie zum Hochschul­Cam­pus, doch im Unterschied zu den anderen grinst von der sil­bergrauen Adressplakette eine Micky Maus: Disney Research, Zürich (DRZ) heisst es da.

Im Büro von Bob Sumner, Senior Research Scientist, lockt die alte Hexe aus Schneewitt­chen mit einem köstlich vergif­teten Apfel die Besucher, wäh­rend sich im Bücherregal Titel wie Game Design Workshop, Action! Cartooning und The Animators Survival Kit den Platz streitig machen. «Unsere Büros wurden von einem Disney­eigenen Innenarchitekten gestal­tet», sagt Sumner und verweist darauf, dass jeder Raum ein eigenes Trickfilm­thema hat.

Gamestudios rund um den GlobusDisney Research Zürich ist eines von

weltweit zwei externen Forschungslabors der Walt Disney Company. Das andere steht bei der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, USA. Warum gerade Zürich, drängt sich die Frage auf. – «Die ETH ist die beste technische Hochschule Europas und eine der besten in der Welt», erklärt Markus Gross, Direktor von Disney Re­search Zürich, dessen Arbeitsplatz mit Sze­

nen und Skizzen aus Peter Pan dekoriert ist. «Disney sichert sich so den Zugriff auf neue Talente und einen grossen Wissens­pool.» Zum international hervorragenden Ruf massgebend beigetragen hat Markus Gross selber. Seit über 20 Jahren ist er im Bereich der Computergrafik tätig und hat Mitte der 90er­Jahre an der ETH einen ent­sprechenden Forschungsschwerpunkt auf­gebaut. «Viele der bereits damals gemach­ten Arbeiten waren für Disney interessant», sagt Gross.

Zurzeit arbeiten 26 Personen bei Dis­ney Research und acht Doktoranden von der ETH. «Letztere werden ganz oder teil­weise von Disney bezahlt», so Gross. «Das ist Teil des Vertrags und natürlich super.» Aktuell wird an rund 70 Projekten gearbei­tet, die von der Umrechnung verschiedener Videoformate über die Optimierung von 3­D­Darstellungen bis zu Technologien für Freizeitparks wie Disneyland reichen. «Das Labor zerfällt in verschiedene Bereiche, deren Gravitationszentren die Senior Re­searcher sind», erklärt Bob Sumner, der die Bereiche Animation und Interactive Graphics leitet, die auf Video­ und Compu­terspiele spezialisiert sind. «Unser Ziel ist es, die Künstler zu unterstützen, damit sie noch ausdrucksvoller arbeiten können.

Nicht zuletzt deshalb freut mich die Game-Culture­Initiative von Pro Helvetia sehr, die Games den kulturell gleichen Status verleiht, wie Film ihn innehat.»

Die Videospiel­Abteilung Disney In­teractive verfügt über sechs Gamestudios rund um den Globus. «Das waren früher kleinere, unabhängige Studios, die Disney im Laufe der letzten Jahre aufgekauft hat», fährt Sumner fort. Das dem Zürcher For­schungslabor am nächsten gelegene ist das Blackrock Studio in Brighton, Grossbri­

tannien. Die Engländer mach­ten in diesem Jahr mit dem Autorennspiel Splitsecond auf sich aufmerksam. Hat das DRZ zum Erfolg des Raser­ Titels beigetragen? – «Nein, nicht direkt», sagt Sumner. «Wir kümmern uns um For­schungsfragen, die über den gemeinen Produktionsalltag hinausgehen.» So besucht Sumner regelmässig die verschiedenen Studios und spricht mit den Mitarbeitern über ihre Projekte und an­stehenden Schwierigkeiten, denn selbst die scheinbar allmächtige Computergrafik stösst an ihre Grenzen. Aus den Gesprächen filtert der Wissenschaftler dann die Problemstellungen heraus: «Die eine Hälfte unseres Bei­trags liegt in der Eingrenzung des Problems, die andere im Finden einer Lösung. Schon allein, dass wir auf eine

Schwierigkeit aufmerksam werden, hat wissenschaftlichen Wert.»

Der Ehrgeiz, die perfekte Illusion zu kreieren

Von Beginn weg zeichnet Disney die Eigenschaft aus, technologische Innova­tionen in den Dienst der audiovisuellen Unterhaltung zu stellen. So zählte Steam-boat Willie (1928), der erste vertonte und öffentlich vorgeführte Animationsfilm mit Mickey Mouse, zu den ersten Zeichentrick­filmen mit Ton. Damals stellte sich für Fir­mengründer Walt Disney die Frage, ob je­mand glauben würde, dass eine gezeichnete Figur überhaupt Töne produzieren kann. Sein Ziel war es, eine möglichst realisti­sche Szene zu schaffen. Dieser Ehrgeiz, die

Dem Heiligen Gral

auf der Spur Das menschliche Gesicht oder eine Staub wolke

möglichst naturgetreu darzustellen, gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben

der Entwickler von Animations filmen und Computerspielen. Im neu eröffneten Forschungslabor von Disney Research

in Zürich entsteht das technische Fundament für die Computerspiele von morgen.

Von Marc Bodmer

W

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perfekte Illusion zu kreieren, besteht im Haus der Maus bis heute und beseelt auch den Forschergeist des Ablegers an der ETH Zürich. Hier werden die technischen Fun­damente für die Zukunft des Animations­films und der Videospiele gelegt.

Grundsätzlich ist die zur Anwendung kommende Technik bei Computeranima­tionsfilmen und Videospielen, die in ihrer Darstellung immer realistischer werden, die gleiche. Doch wie Bob Sumner sagt, steckt der Teufel im Detail und er weist auch auf grundlegende Unterschiede hin: «Bei einem Game muss alles in Echtzeit berechnet werden. Man weiss nicht, wel­cher Blickwinkel als nächster gewählt wird, das bestimmt der Spieler. Die Ka­mera muss also dem spontanen und indi­viduellen Input folgen, während im Film alles von vornherein festgelegt ist.» Ge­meinsamkeiten finden sich beim Bedürf­nis nach einem schnellen und effizienten Arbeitsablauf. «Kein Grafiker möchte über eine Stunde warten, bis ein Bild vom Computer fertiggestellt ist.» Dieser Ablauf, das Rendering, ist eine eigene Disziplin. Ih­rer nehmen sich auch Spezialisten wie Wojciech Jarosz im Disney Research Zü­rich an. Diffuses Licht in einer Computer­animation erfordert eine Unzahl von Be­rechnungen, wird doch das Licht durch die verschiedenen winzigen Partikel auf un­zählige Arten gebrochen, zurückgeworfen und wieder gespiegelt. Solcherlei Effekte zu verarbeiten, war bis dato höchst zeitauf­wendig, doch: «Dank einer neuen, von uns entwickelten Technologie können wir das Rendering nun viel effizienter gestalten, was den Künstlern mehr Gestaltungs­freiheit gibt», erklärt Bob Sumner.

44 Muskeln für 5000 verschiedene Gesichtsausdrücke

Ähnlich kompliziert zu berechnen wie die Lichtdiffusion durch Nebel ist das Er­scheinungsbild der menschlichen Haut. Geht man nur ein paar Jahre zurück und schaut sich Computeranimationen von Menschen an, so erscheint ihre Körper­hülle flächig, hart wie Plastik. Wenn Licht auf unsere Haut fällt, so wird dieses nicht einfach reflektiert, sondern dringt in diese ein, wird verstreut zurückgeworfen und partiell aufgrund ihrer Unregelmässigkei­ten sogar absorbiert. Computer «mögen» nichts weniger als Abweichungen von ei­nem bestehenden Muster, müssen diese

doch frisch berechnet und interpretiert werden. Die Verfahren, die zur Anwendung kommen, stammen teilweise aus der As trophysik und dienten ursprünglich der Interpretation von aussergalaktischen Sternnebeln.

Doch nicht nur die Haut des Menschen stellt die Forscherinnen und Wissenschaft­ler des ETH­Labors vor immer neue Her­ausforderungen. Ein Schwerpunkt des DRZ ist die Modellierung von menschlichen Ge­sichtern, laut Markus Gross noch immer der «Heilige Gral» der Filmanimation. Da­für hat eine seiner Forschungsgruppen einen Scanner entwickelt, mit dem ein menschliches Gesicht bis zu 60 Mal pro Sekunde mit mehreren Kameras von un­terschiedlichen Positionen aus optisch ab­getastet werden kann. Durch diese Form der Hochgeschwindigkeitsfotografie wer­den minimale mimische Veränderungen sichtbar gemacht. 44 Muskeln bewegen das menschliche Gesicht, das zu 5000 Ausdrü­cken fähig ist, die zum Teil äusserst subtil ausfallen. Kommen noch Einwirkungen von aussen dazu, wie zum Beispiel eine Ohrfeige, dann erweist sich – wie es der Lei­ter des DRZ formuliert – «die Deformati­onsphysik des Gesichts als hoch komplex». Wie nach einem Meteoriteneinschlag im Meer rollt ein wahrer Falten­Tsunami über die Visage und lässt Wangen wie Lippen für Sekundenbruchteile nur so schlackern. Diese unzähligen, kleinen und feinen visu­ellen Informationen nimmt das mensch­liche Auge unentwegt wahr, und das über Jahrtausende in Überlebenstechnik ge­schulte Hirn liefert die entsprechenden Interpretationen dazu. Diese sehr präzise Form der Wahrnehmung macht es denn auch so schwierig, eine perfekte Illusion ei­nes Menschen zu generieren. Oft endet der Versuch im «uncanny valley», dem un­heimlichen Tal, das sich auf dem Weg zur realitätsnahen Computeranimation auf­tut. In diesem Graben wohnt das unange­nehme Gefühl, das einen befällt, wenn eine

auf den ersten Blick realistische, aber den­noch ein gutes Stück vom Original ent­fernte Animation entlarvt wird. Als beson­ders tückisch erweist sich die Simulation von Augen. Meist erscheinen sie bei Com­putergrafiken leblos, starr. Aber gerade bei der Einschätzung des Gegenübers lie­fern die Augen am meisten Informationen über dessen Gefühlsverfassung. Dennoch ist Bob Sumner überzeugt, dass das «un­canny valley» überwunden werden wird: «Man wird den Unterschied zwischen ei­nem richtigen Menschen und einem Ava­tar nicht mehr erkennen.»

Zusammenarbeit mit den Zürcher Hochschulen

Während dies noch Zukunftsmusik sein dürfte, setzt sich ein Team mit dem trendigen Thema der 3­D­Darstellung aus­einander, die nach ihrem Siegeszug im Kino auch die Welt der Games erobern will. «Die stereoskopische Forschung ist sehr wichtig», findet Markus Gross. «Der Ste­reoeffekt sollte immer in der Komfortzone sein und angenehm bleiben.» Erfahrungs­gemäss erweisen sich schnelle Sequenzen als problematisch, was sich insbesondere bei Videospielen zeigt. «Bei schnellen Sze­nen muss der Tiefeneindruck geändert beziehungsweise verringert werden, damit die Qualität nicht darunter leidet.» Eben­falls eine entscheidende Rolle bei der Wahr­nehmung der vorgeflunkerten Dreidimen­

sionalität – gut 10 Prozent der Menschen sehen den Effekt übrigens nicht – ist die Synchronisation der Kamerasysteme: «Ist sie schlecht, wird den Zuschauern übel», erklärt der ETH­Professor.

Doch die Mitarbeiter des Disney Re­search Labors widmen sich nicht nur der Forschung im High­Tech­Bereich, sondern unterrichten auch an der ETH. Im Zent­rum des Visual Computing Bachelor­ und Masterstudiengangs steht ein projektba­sierter Game­Entwicklungskurs. Auf diese

«Bei einem Game muss alles in Echtzeit berechnet werden. Man weiss nicht, welcher Blickwinkel als

nächster gewählt wird, das bestimmt der Spieler…»

Wie nach einem Meteo-riteneinschlag im Meer rollt ein wahrer Falten-Tsunami

über die Visage und lässt Wangen wie Lippen für

Sekundenbruchteile nur so schlackern.

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Weise werden Themen aus der Computer­wissenschaft und speziellere Formen der Computergrafik vertieft. So wird mit Hilfe des Programms XNA von Microsoft ein ei­gentliches Videospiel umgesetzt, das sich im Idealfall über die Online­Plattform von Microsofts Spielkonsole Xbox 360 weltweit vertreiben lässt. «Dass sie für eine richtige Hardware­Plattform programmieren kön­nen, begeistert die Studenten», sagt Bob Sumner. «Dadurch investieren sie gerne mehr Zeit in die Aufgaben, was die Ent­wicklungen erfolgreicher macht und den Lerneffekt verstärkt.» Beim DRZ sind auch immer wieder namhafte Sprecher zu Gast wie Ed Catmull, Mitbegründer und Präsi­dent der Pixar Animation Studios (Toy Story, Wall-E). Eingeladene Designer und Programmierer von Disney Interactive Studios geben zu den Projekten der Stu­

denten an der ETH und des Gamedesign­kurses der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) konkrete Kritik und Tipps ab.

Wer für den grössten Unterhaltungs­konzern der Welt forscht, sieht sich nicht nur laufend kniffligen Problem stellungen gegenüber, sondern kann der Lösung eines Tages beim vergnüglichen Kinoabend, beim Spielen eines Computergames oder beim Besuch eines Disneylands begegnen. Ein befriedigenderes Gefühl dürfte es im sonst eher trockenen Gebiet der Informa­tik wohl kaum geben.

Marc Bodmer (*1963) ist ausgebildeter Jurist und arbeitet seit über 25 Jahren als frei­schaffender Journalist mit dem Spezialgebiet Videospiele und digitale Medien. Seit 2009 leitet er das Entwicklungsprojekt Medienkompe-tenzförderung an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

«Man wird den Unterschied zwischen einem

richtigen Menschen und einem Avatar nicht mehr

erkennen.»

Anspruchsvolle und raffiniert gestaltete Computerspiele haben sich weltweit als neue Kunst­ und Unterhaltungsform etabliert. Die künstle­rischen, inhaltlichen und technischen Möglichkeiten der Games sind jedoch noch längst nicht ausgeschöpft. Bei den digitalen Spielwelten handelt es sich um eigentliche Gesamtkunstwerke, an denen Designer, Drehbuchautorinnen, Animatoren und Komponistinnen zusammen­arbeiten. Die Verbindung von darstellenden Künsten, Musik und Film machen die Games auch für die Kulturförderung zum Thema. Mit dem Programm GameCulture will sich Pro Helvetia während zweier Jahre den ästhetischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen rund um Computerspiele widmen. Auftakt des Programms, das ein Gesamt­budget von 1,5 Mio. Franken umfasst, bildete der Call for Projects: Swiss Games, den die Stiftung im Herbst lancierte – zusammen mit dem Bundesamt für Kultur, dem Internationalen Festival für Animationsfilm Fantoche und der SUISA­Stiftung für Musik. Gesucht sind innovative Computerspiele mit künstlerischem Anspruch. Projekte können noch bis zum 15. März 2011 eingereicht werden.

Ausstellungen und DiskussionsforenDas Programm GameCulture wird begleitet von Ausstellungen

und Diskussionsforen, welche die Computerspiele aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Im Stapferhaus Lenzburg ist bis im November 2011 die Ausstellung HOME – Willkommen im digitalen Leben zu sehen, die sich vom Chatten, übers Googeln und Simsen bis hin zum Gamen der zunehmenden Digitalisierung unseres Alltagslebens widmet. Ab Herbst 2011 zeigt die DVD­Wanderausstellung Swiss Game Design das hel vetische Schaffen im Bereich der Computerspiele, Gametechno­logien, Simulationen und Serious Games. Die Maison d’Ailleurs in Yver­don eröffnet schliesslich im Januar 2012 die Ausstellung Playtime/Game mythologies. Zu Diskussionen über Computergames laden im Juli 2011 das Festival des Fantastischen Films in Neuenburg sowie das Festival für Animationsfilm Fantoche im September in Baden ein, wo zudem die Preisträger des Wettbewerbs bekannt gegeben werden.

www.gameculture.chDie Onlineplattform www.gameculture.ch informiert nicht nur

über sämtliche oben erwähnten Programmanlässe, sondern bietet auch wertvolle Hintergrundinforma tionen. So beantwortet eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften die brisanten Fragen nach dem Gewalt­ und dem Suchtpotenzial der Games, und eine Bestandesaufnahme der Zürcher Hochschule der Künste vermittelt einen Einblick in die wenig bekannte Schweizer Gamedesignszene. Die Plattform gibt zudem Aufschluss über die Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich Gamedesign und wird von Pro Helvetia gemeinsam mit ihren Partnern geführt. Das sind: die Zürcher Hochschule der Künste, die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft, der Schweizer Computerspiel­Entwickler­ Verband und das Swiss Gamers Network.

GameCulture – das Programm von Pro Helvetia

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Mirage  von Mario von Ricken bach, ZHdK 2010

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Dainas Herbarium von Dario Hardmeier und Raffaele de Lauretis, ZHdK 2010

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Dainas Herbarium von Dario Hardmeier und Raffaele de Lauretis, ZHdK 2010

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önnten Computerspiele die Kunstform der Zukunft darstellen? Gewiss. Warum aber ruft schon der Ge­danke daran eine grosse Verhinderungskoalition

auf den Plan? Das bürgerliche Publikum schreckt instinktmässig vor dem Neuen zurück, und die etablierten Künste fühlen sich von der technologisch überlegenen Bastardkunst abgestossen. Letztlich, so lautet das Vorurteil, handle es sich um Ef­fekthascherei gröbster Art, die von einer profitgierigen Industrie ausgenützt werde, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich hier der militärisch­industrielle Kom­plex seine willfährigen Ego­Shooter heranzüchte. Mögen diese Vorwürfe hier und dort ins Schwarze treffen, so führt die Exkursion ins Pan dämo­nium der Scheusslichkeiten doch nur dazu, dass man sich den Blick auf das Neu­artige des Mediums verstellt. Diese Ignoranz wiederum hat Tradition. Schreitet man nur ein bisschen in der Ge­schichte zurück, sieht man, dass auch die Kunstgattun­gen, denen wir diesen Ruh­mestitel zuerkennen (die Fotografie oder der Film bei­spielsweise), einst unter je­nem Makel zu leiden hatten, mit dem das Computerspiel heute zu kämpfen hat.

Wenn dem Grossmeister des Films, Alfred Hitchcock, noch in den 40­Jahren der Ruf eines Pulp-Fiction-Regisseurs anhaf­tete, so bezeugt diese Geringschätzung den zweifelhaften Charakter, den man der Filmkunst damals zusprach: eine Hybrid­gattung, die nur dort, wo sie sich explizit auf die Hochkultur berufen konnte (auf Li­teratur und Theater), Kunstgeltung bean­spruchen konnte. So wurde zur Kunst, was abgefilmtes Theater war, während sich die wahren Gesetze der Filmkunst untergrün­dig entfalteten. Nun ist die Ignoranz der Zeitgenossen keineswegs neu. Schon Wal­ter Benjamin hat sie aufgespiesst, als er ketzerisch danach fragte, was die Deut-schen lasen, als ihre Klassiker schrieben. Und da man sich in dieser Perspektive nicht mit Goethe und Schiller, sondern mit

dem Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini hätte beschäftigen müssen, wäre die klas­sische Ausgangsposition eigentlich die vollständige Gegenwartsblindheit: das Un­vermögen, das Vibrierende und Veränder­liche der Kunst zu begreifen.

Das Computerspiel als Gesamtkunstwerk

So wie man die nackte Leinwand nicht fragt, was ein Bild ist, so ergibt die Frage nach dem Kunstcharakter eines Compu­terspiels nur insofern Sinn, als sie zu er­kunden versucht, was denn Computer­spiele Neues zur Kunst beizutragen haben. Wirft man einen unvoreingenommen Blick

auf diese schöne neue Welt, öffnet sich ein Fenster zur Zukunft, das im Grunde alle Forderungen an das «offene Kunstwerk» (Umberto Eco) erfüllt. Denn mit den Möglichkeiten des Mediums stellen sich Fragen, die (auf der Seite der Autoren zu­mindest) noch niemals gefragt, gibt es Antworten, die noch niemals gedacht wor­den sind. Umso erstaunlicher mutet es an, dass dem Computerspiel im Diskurs ein wesentlich asoziales Moment, die Paria­rolle, assoziiert wird. Diese Randständig­keit bezieht sich nicht nur auf die Gegen­wart, sondern führt auch dazu, dass man übersieht, dass hier eine Tradition fortge­schrieben wird. Denn lässt man die Ge­schichte der modernen Kunst im Zeitraffer

an sich vorüberziehen, begreift man, dass ein wesentliches Movens in der Verschrän­kung der Kunstformen liegt: So gesehen wäre das Computerspiel als die technische Einlösung der Gesamtkunstwerkfantasie aufzufassen – das Pfingstwunder eines transmedialen, synästhetischen Sinnesap­parates (der zudem die Möglichkeit belie­biger Wiederholung und Variation in sich trägt).

Dennoch hat die Einlösung dieser Sehnsucht eher Schrecken erzeugt denn Lust hinterlassen. Warum? Ein Grund da­für liegt wohl darin, dass sich im Compu­terspiel die Position des Autors aufgelöst hat. Haben die Künstler bislang damit ko­

kettieren können, dass es doch eigentlich der Leser oder Zu­schauer sei, der einen Text schreibe oder eine Sichtweise entfalte, so hat die Inversion der Autorenschaft im Compu­terspiel eine fast beängsti­gende Realität angenommen. Nicht nur, dass der Autor ver­schwunden scheint, darüber hinaus begreift der Nutzer, der sich in einer virtuellen Welt bewegt, schon gar nicht mehr, dass jede seiner Bewegungen nichts weiter ist als die Reali­sierung eines vorgefertigten Programms.

Immersion: die vollständige Umhüllung des Spielers

Wenn der Spieler wähnen kann, dass er derjenige ist, der all dies bewirkt, begegnen wir einem Paradox: dass nämlich

die höchste Kunst darin bestehen könne, sich selbst zum Verschwinden zu bringen. Tatsächlich hat genau diese Effektsteige­rungslogik schon Richard Wagner dazu bewogen, seine Orchestermusiker im Or­chestergraben, also in der Versenkung, verschwinden zu lassen. Andererseits ist genau dieses Verschwinden des Künstlers der Grund für die Faszination, die das Spiel auf viele Jugendliche ausübt: Denn nun sind sie es, die sich ungehindert in das Spiel versenken können. Wenn der Joystick in der Hand vibriert wie der Steuerknüppel eines Jeeps, wenn sich die Unebenheit der Strasse auf den Körper überträgt, wenn der Motor heult und die 3­D­Brille dem Auge Raumtiefe vorspiegelt, so befindet

Die Kunst der Versenkung Ob es sich bei Computerspielen um Schund

oder Kunst handelt, darüber scheiden sich die Geister. Für den Kulturtheoretiker

Martin Burckhardt liegt der künstlerische Wert der Games in der Sinnestäuschung, die

den Spieler gänzlich ins Geschehen eintauchen lässt. Für die perfekte Illusion sorgen die

Spiel-Ingenieure mit verführerischen Räumen.

Von Martin Burckhardt

K

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sich der Spieler nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern ist, wie Alice, durch den Spiegel gegangen. Der Kunstgriff, mit dem diese Illusion bewerkstelligt wird, lautet «Immersion» (ein Terminus technicus, den man getrost als eine Form des Sichver­senkens übersetzen kann). Konkret ist mit

Immersion die vollständige Umhüllung des Spielers gemeint, die ihm für die Dauer des Spiels das Gefühl gibt, in einem Raum­schiff zu sein oder in schwindelnder Höhe auf dem First eines Daches zu balan­cieren. Hat die gegenständliche Malerei sich nur auf das Trompe-l’Œil, die Augen­täuschung, bezogen, so ist die Sinnestäu­schung im Computerspiel komplett. Sie schliesst nicht nur den Sinnesapparat, son­dern auch die Erinnerung und das Fühlen der Menschen ein. Im Grunde gibt es gar keinen radikaleren Kunstanspruch als eben diesen: Man fordert, dass die Geräu­sche­Landschaft, in der sich der Spieler be­wegt, ihn in Gedanken in eine andere Welt entführt, ebenso wie die Räume, durch die er sich hindurchbewegt, eine eigene Evi­denz und Überzeugungskraft annehmen sollen.

Das Genie der Ingenieure Wenn also der Kulturkritiker warnend

von einer medialen Verwahrlosung spricht, könnte man ebenso gut vom Triumph der Kunst sprechen. Denn ihr gelingt es, den Spieler aus seiner Alltagswelt in eine fan­tastische Wunderwelt zu entführen, in der die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben scheinen. Allerdings konfrontiert uns das Computerspiel mit der Tatsache, dass man es hier weniger mit dem Werk von Künst­lern, als vielmehr mit dem Genie der Inge­nieure zu tun hat: all jenen namenlosen Geistern, die die Maschinen für den 3­D­Sound, die Lichtschattierung (das Shad­ing) und die Tangibilität der Objekte (die Physik­Engine) entwerfen. Würdigt man diese Leistung als blosse Technik herab,

vergisst man leicht, dass auch die Renais­sance­Malerei eine solch technische Seite hatte – und dass sich nicht wenige Maler der Camera obscura und damit eines be­waffneten Auges bedient haben. Allerdings bewegen wir uns hier nicht im Bereich der Manufaktur, sondern an der Spitze der technischen Abstraktion. Nicht zufällig nimmt die Computerspiel­Industrie hier eine Avantgardeposition ein, ohne die etwa die Historien­ oder Fantasyfilme des letz­ten Jahrzehnts undenkbar gewesen wären. Ob es sich um die Herr-der-Ringe-Trilogie handelt, Filmepen wie Scorseses Aviator oder auch so altmodische Produktionen wie Clint Eastwoods Letters from Iwo Jima – stets rührt die visuelle Überzeugungs­kraft dieser Filme von jenen virtuellen Räumen her, die sie der Welt der Compu­terspiele verdanken, obwohl sie dem Film zugerechnet werden.

Tatsächlich ist das Set­Design (oder wie der Terminus technicus lautet: das Le­vel­Design) der meisten Computerspiele der wohl sinnfälligste Ausweis dieser neuen Welt. Denn hier haben wir begehbare Bil­der vor uns, die uns erlauben, in vollstän­dig durchdachte (man könnte auch sagen: nüchtern halluzinierte) Räume einzustei­gen. Leider hat der Kunstbetrieb die An­kunft dieses neuen Bildtypus verpasst. Ge­wiss: Man mag die eintönige Spielmechanik eines Ego­Shooters wie Half Life II bekla­genswert finden. Die Art und Weise jedoch,

wie das Spiel die Atmosphäre der postsozi­alistischen Tristesse hervorruft, ist gross­artig, genauso wie die Revitalisierung des mittelalterlichen Jerusalem in Assassins Creed, die Raumschiff­Architektur von Mass Effect oder die Erweckung des Wil­den Westens im neuen Spiel Read Dead Redemption. War das Aussehen der frühen Computerspiele noch weitgehend von Filmkulissen inspiriert, so hat sich dieses Verhältnis nun umgekehrt. Nicht nur, dass Räume entstanden sind, die ganz ohne

Beispiel sind, darüber hinaus sind diese Räume metamorph: Sie vermögen sich (wie der tibetanische Tempel in Uncharted II) in etwas anderes zu verwandeln. In die­sem Sinn zeugt es von einer neu erworbe­nen Souveränität, dass es in den zeitgenös­sischen Spielen schon gar nicht mehr darauf ankommt, die visuelle Opulenz zu unterstreichen, sondern dass hier eindeu­tig das Erlebnis des Spielers im Vorder­grund steht.

Die totale VerführungWenn Immersion die vollständige

Versenkung in eine andere Welt bedeutet, so ist klar, dass man es nicht bei körperli­chen Sinnestäuschungen bewenden lassen kann. Gewiss ist das Level­Design ein we­sentliche Vorbedingung für das Gelingen dieser Illusion, so wichtig wie eine über­zeugende Musik und Geräuschwelt, flüs­sige Animationen und Cutscenes (also jene filmischen Zwischensequenzen, die als Handlungsträger dem Spielverlauf einge­schoben werden und wie die Zwischentitel im Stummfilm funktionieren). Um dem Spieler jedoch das Gefühl zu geben, er sel­ber sei der Held der Geschichte (also derje­nige, der sie in diesem Augenblick schreibt), bedarf es einer noch grösseren Anstren­gung. Denn diese Illusion stellt sich nur ein, wenn man die Imagination des Spie­lers zu besetzen vermag, ohne dass er diese Besetzung als Zwang empfindet. Mit dieser Aufgabe wird die genuine Kunstfrage sicht­bar, die mit dem Computerspiel verbunden ist. Sie lautet: Wie kann man eine Ge­schichte erzählen, die nicht bereits von vornherein festgelegt ist, sondern in wel­cher der Entscheidung des Spielers eine gewichtige Rolle zukommt? Oder positiv formuliert: Wie ist es möglich, dass der Spieler selbst zum Helden der Geschichte werden kann?

Genau an dieser Frage seien Compu­terspiele bislang gescheitert, könnte der Kritiker einwenden. Das mag stimmen, bloss wäre darauf zu entgegnen, dass jedes Scheitern die Gattung stets einen grossen Schritt vorangebracht hat. Als interessan­tes Beispiel sei an dieser Stelle der franzö­sische Regisseur David Cage erwähnt, der mit Heavy Rain nun sein drittes Spiel vor­gelegt hat. Was daran imponiert, ist Cages Bereitschaft, sich der Problematik der Erzählung zu stellen. Folgen die meisten Computerspiele einer relativ schlichten

Das bürgerliche Publikum schreckt instinktmässig

vor dem Neuen zurück, und die etablierten Künste

fühlen sich von der techno-logisch überlegenen

Bastardkunst abgestossen.

So gesehen wäre das Computerspiel die

technische Einlösung der Gesamtkunstwerkfantasie – das Pfingstwunder eines transmedialen, synästhe-tischen Sinnesapparates.

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Angebotslogik, bei der die freie Beweglich­keit des Spielers im Vordergrund steht, re­duziert Cage die Kontrolle des Spielers, ja er zwingt ihn systematisch in Situationen hinein, in denen er eine moralische Ent­scheidung treffen muss. Und da der Spieler begreift, dass diese Entscheidung keines­

wegs marginal ist, sondern den Spielver­lauf entscheidend gestaltet, lädt sich das Moment der Interaktivität moralisch auf. Der Kunstgriff, dessen sich Cage bedient, bedeutet demnach eine Inversion des bis­herigen Settings. War Interaktivität in der Regel gleichzusetzen mit einer Enthem­mung, einer license to kill, nötigt Cage sei­nem Spieler ein Opfer ab. So wird er – als Vater eines entführten Kindes – dazu auf­gefordert, sich einen Finger abzuschnei­den, will er denn sein Kind lebend wieder­sehen. Auf diese Weise macht Cage die Spielmechanik zu einer moralischen An­stalt, genauer: zu einem Labor, in dem der Spieler verschiedene Dramen durchspielen kann. Damit rückt der einzelne Spieler ins Blickfeld – und zwar als verletzlicher Autor und nicht als gefühlloser Konsument. Wenn das Publikum dieses Spiel trotz aller Regelverletzungen begeistert aufgenom­men hat, so deswegen, weil Heavy Rain ein Begehren einlöst: das Begehren danach, dass das eigene Tun eine Rolle spielt. Denn anders, als eine bloss auf Verkäuflichkeit bedachte Industrie gemutmasst hat, be­deutet Interaktivität keineswegs nur, dass der User töricht auf einem Button herum­drücken und wahllos irgendwelche Gegner abschlachten will. Sie bedeutet vor allem, dass der Spieler in die Haut eines anderen schlüpfen will, um komplexe Handlungs­ und Deutungsmuster erleben zu können, die der Alltag ihm verwehrt.

Nun ist gewiss, dass die moralischen Dilemmata, die Cage seinen Spielern prä­sentiert, nicht der Weisheit letzter Schluss sein werden. Vielmehr sind sie der Anfang einer neuen Erzähltechnik, die sich in Zu­kunft sehr viel subtilerer Mittel bedienen

wird. Wenn aber das Sichversenken in eine Geschichte die eigentliche Faszination ausmacht, wird ein Bezug deutlich, der häufig übersehen wird – gerade der Film­ähnlichkeit der meisten Spiele wegen. Denn nicht die Netzhaut des Spielers ist das Hauptorgan, auf die das Computerspiel trifft. Es ist vielmehr jene oft vernach­lässigte Grösse, die man Fantasie nennt. In diesem Sinn hat jedes Spiel (das man in schöner Verkennung dieses Charakter­zuges «Videospiel» nennt) mehr mit einem Roman als mit einem Kinofilm zu tun. Denn nicht die Opulenz der Umgebung ist der Orientierungsrahmen, sondern viel­mehr das Gefühl, in ein bestimmtes Hand­lungs­ und Bedeutungsgefüge eingewoben zu sein. Aus diesem Grund kann das Spiel auf die Überwältigungsstrategien, wie die schnellen Schnitte oder die rasanten Ver­folgungsjagden, verzichten, die das Kino perfektioniert hat. Anders als Filme haben die Computerspiele viel Zeit – so viel Zeit, wie nur ein Roman sie besitzt. Hat sich der klassische Leser in eine Romanfigur hin­einfantasiert, steht es dem Spieler frei, sich in die Figur seiner Wahl hineinzu­versetzen. Und genau das ist das Novum der Gattung: ein Roman, in den man ein­steigen kann.

Martin Burckhardt (*1957) ist Kulturtheoretiker und Medienautor und lebt in Berlin. Er verfasste eine mehrbändige Kulturgeschichte zur Genealogie der Maschine. Zuletzt erschienen: 68. Die Geschichte einer Kulturrevolution, 2009, und Eine kleine Geschichte der grossen Gedanken, 2008.

Hat die gegenständliche Malerei sich nur auf

das Trompe-l’Œil, die Augen-täuschung, bezogen, so

ist die Sinnestäuschung im Computerspiel komplett.

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Icebox carrots von Michael Burgdorfer, ZHdK 2010

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Herr Behrmann, Sie setzen sich für die staatliche Förderung von Computer­spielen ein. Was macht Games förde­rungswürdig?

Computerspiele sind aus drei Grün­den relevant für die Gesellschaft: Sie sind ein wichtiger technologischer Baustein. Schliesslich wurde die Entwicklung von Computerhardware – etwa im Bereich der Prozessorleistung – in den letzten 20 Jahren massgeblich durch Computer­spiele vorangetrieben. Sie sind aber auch ökonomisch wichtig, denn die Bran­che wächst rasant: In Deutsch­land waren unter den fünf schnellstwachsenden Unter­nehmen letztes Jahr gleich zwei Computerspiel firmen. Der wichtigste Punkt für die Förde­rung von Computerspielen ist aber ihre kulturelle Bedeutung. Computerspiele beeinflussen unsere Denkstrukturen und die Art, wie wir Dinge wahrneh­men. Dieses einflussreiche Medium ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken.

Welches sind die Qualitätskri­terien, die ein Spiel kulturell förderungswürdig machen?

Es gibt verschiedene Krite­rien: Ein Ansatz ist der des Narrativen, das unsere westli­che Kultur stark geprägt hat. Das fing schon beim griechi­schen Drama an. Insofern ist es sinnvoll, auch von Computer­spielen eine narrative Dimen­sion einzufordern. Ein anderer Ansatz ist der des Ludischen. Er rückt das Gameplay respektive den Interaktionsprozess in den Vordergrund. Ein dritter Ansatz ist die Innovation: Ein gutes Spiel sollte auch etwas Neues versuchen und nicht nur ein bewährtes Konzept aufbrühen. Aber man kommt bei der Förderung natürlich schnell an den Punkt, wo es auch um den persönlichen Geschmack geht.

Was ist denn, konkret, eine «gute» Narration? Und was ist ein «innovati­ves» Spiel?

Das muss man anhand von konkre­ten Projekten diskutieren. Das Spiel

Heavy Rain ist beispielsweise besonders bekannt für seine Narration. Beim Gameplay hängt es vom Genre und von der Zielgruppe ab. Innovationen gibt es oft auch im Bereich der Schnittstelle Mensch – Maschine, wie beispielsweise bewegungssensitive Steuerungen.

Wie werden in Deutschland Computer­spiele gefördert?

Auf nationaler Ebene kämpfen wir nach wie vor für eine sinnvolle Förde­rung. Immerhin gibt es nun seit zwei

Jahren den Deutschen Computerspiel­preis. Der Bund verleiht diesen jedes Jahr für das beste in Deutschland entwickelte Computerspiel. Er ist mit insgesamt 500 000 Euro dotiert, aufgeteilt in ver­schiedene Kategorien. Die Gewinner sind verpflichtet, das Geld in neue Projekte zu investieren. Dieses Modell ist aus der Filmindustrie bekannt: In den 50er­Jah­ren wurde zum ersten Mal der Deutsche

Filmpreis verliehen, aber erst 15 Jahre später ist die erste Filmförderungsanstalt entstanden. Auf eine ähnliche Entwick­lung ist bei der Computerspielförderung zu hoffen. Auf Länderebene ist die Förde­rung schon weiter fortgeschritten, dort gibt es diverse Projekte.

Auf welche Projekte fokussieren denn die Bundesländer ihre Förderung?

Sie betreiben hauptsächlich Proto­typenförderung. Ein Prototyp ist die erste spielbare Rohfassung eines Spiels. Um

einen Verleger von einem Projekt zu überzeugen, muss ein Prototyp präsentiert wer­den können. Dessen Produk­tion erfordert jedoch bereits einen Stamm von Mitarbeitern und ist eine kostspielige Ange­legenheit – durchschnittlich geht es um 200 000 Euro. Deshalb sollte man Entwick­lerstudios mit erfolgverspre­chenden Projekten bereits in der Anfangsphase unter­stützen. Wenn es den Studios dann gelingt, einen Vertrag mit einem Verleger abzu­schliessen, müssen die Förder­gelder im Regelfall zurück­bezahlt werden.

Läuft das unter Kultur­ oder Wirtschaftsförderung?

Das ist unterschiedlich. In Hamburg geht es um reine Wirtschaftsförderung; in Bayern und Berlin ist es eine kombinierte wirtschaftlich­kulturelle Förderung. Über eine reine Technologieförde­rung wird zurzeit in Baden­Württemberg diskutiert.

Woher stammt das Geld für die Förderung und um

welche Summe geht es?Das Geld stammt aus dem Bundes­

respektive dem Landeshaushalt: Die Länder bezahlen vielleicht drei bis fünf Millionen für die Förderung. Der Bund zahlt mit seinem Anteil an den Compu­terspielpreis nur etwa 300 000 Euro.

Frankreich gilt als besonders fort­schrittlich im Bereich der Computer­

«Ohne Förderung

von Prototypen

läuft nichts» In der Förderung von Computerspielen sind

die deutschen Nachbarn der Schweiz voraus: Die Bundesländer investieren jedes

Jahr mehrere Millionen Euro in die Games. Ein Gespräch mit Malte Behrmann,

Geschäftsführer des Deutschen Branchenverbands der Computerspiele-

Entwickler, über die deutsche Förderpolitik und was die Schweiz daraus lernen kann.

Interview: Raffael Schuppisser

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Computerspiele: d ie Kunst der ZuKunft

spielförderung. Wie machen es denn die Franzosen?

Der französische Staat stellt pro Jahr vier Millionen Euro für Prototypen ­ för derung zur Verfügung. Damit werden jährlich 20 verschiedene Projekte finan­ziert. Zudem gibt es sogenannte Tax­ Credits, also Steuerzuschüsse für Produktionsleistungen, in Frankreich.

In der Schweiz wird die Computerspiel­förderung erst jetzt auf die kultur­politische Bühne gehievt. Welche Art Förderung braucht die Schweiz?

Ich kenne die Schweizer Entwickler­szene zu wenig, um diese Frage fundiert beantworten zu können. Es könnte aber sinnvoll sein, sich zuerst auf einen be­stimmten Bereich zu konzentrieren. Zum Beispiel auf Kinderspiele oder auf kultu­rell besonders wertvolle Spiele.

Oder auf Mobile­Games, wo die Entwicklungskosten geringer sind?

Das würde ich für einen Fehler hal­ten. Klar, momentan boomt die Mobile­Games­Industrie. Doch ich habe in den letzten sieben Jahren drei komplette Zusammenbrüche dieses Industriezwei­ges gesehen. Mobile­Games sind ein sehr volatiles Geschäft, weil die Handy­Be­triebssysteme ständig wechseln. Mobile­Games haben zwar durchaus Potenzial; ich halte aber den Wirbel, der momentan um das iPhone gemacht wird, für eine Modeerscheinung.

Eine Studie im Auftrag von Pro Helvetia hat ergeben, dass in der Schweiz durchaus Computerspielentwicklung stattfindet, dass aber die Szene sehr schlecht vernetzt ist. Was kann ein Branchenverband hier leisten?

Das Wichtigste, das wir mit dem G.A.M.E. und dem EGDF, dem euro­päischen Dachverband, erreicht haben, ist, dass die Spiele­Entwickler mehr an sich glauben und mit einem gesunden Selbstverständnis ans Werk gehen. Als wir den G.A.M.E.­Verband vor sieben Jahren gegründet haben, waren die Spielentwickler in Deutschland eine Gruppe von versprengten Nerds. Dane­ben gibt es die politischen Erfolge, etwa die kulturelle Anerkennung des Compu­terspiels im Koalitionsvertrag der Regie­rung oder die wirtschaftliche Förderung

der Industrie. G.A.M.E. ist übrigens nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich und die Schweiz zustän­dig. Wir haben auch österreichische, zurzeit aber keine schweizerischen Mit­glieder.

Könnte die Verleihung eines Schweizer Computerspielpreises der hiesigen Industrie helfen?

Wenn er hoch genug dotiert ist, auf jeden Fall. Von einem symbolischen Preis allein halte ich aber nicht viel.

Würden mit einem hoch dotierten Preis nicht bloss bereits etablierte Spielentwickler gefördert?

Auch ein etabliertes Studio, das einen Preis gewonnen hat, steht vor dem Problem, dass es für die Entwicklung eines neuen Projekts wieder viel Geld braucht. Ein Erfolg reicht dazu selten aus. In den letzten zwei Jahren mussten mit Ascaron und Radon Labs gleich zwei Deutsche Studios Insolvenz anmelden, die bereits erfolgreiche Spiele im Laden stehen hatten.

Und wie fördert man neu gegründete Spielschmieden?

Mit Prototypenförderung. Dabei sollte man aber bei den förderungswürdi­gen Studios genau hinsehen, damit auch tatsächlich etwas herauskommt und das Geld nicht einfach nur verstreut wird.

Konkret: Braucht es Prototypenför­derung, damit sich in der Schweiz eine nationale Game­Industrie etablieren kann?

Auf jeden Fall. Ohne Förderung von Prototypen läuft nichts.

In der Schweiz wird über den Sinn eines Verbots von sogenannten «Killerspie­len» gestritten. Deutschland debattiert darüber schon länger. Kann eine solche Diskussion helfen, letztlich auch die Spielförderung zum Thema zu machen?

Ganz sicher. Die politische Strategie von G.A.M.E war immer, unsere Förder­anliegen über die «Killerspiele»­Dis­kussion an die Öffentlichkeit zu bringen. Es ist uns offensichtlich gelungen, einen Wandel in der Einstellung gegen­über der Spielindustrie zu bewirken – von der totalen Ablehnung hin zu einer eher

positiven Sichtweise. Die Kulturdebatte schlägt letztlich die Killerspieldebatte, weil sie eine Perspektive bietet und nicht nur auf Verboten aufbaut: «Fördern statt verbieten» war immer unser Slogan. Das scheint mir auch der Weg zu sein, den die Schweiz gehen muss.

Sollen sich Förderinstitutionen von gewalthaltigen Spielen gänzlich distanzieren oder können auch diese förderungswürdig sein?

Das wurde bei der Verleihung des diesjährigen Deutschen Computerspiel­preises diskutiert. Es ist kein Geheimnis, dass die Jury einem Spiel, das nur für Erwachsene freigegeben war, den Haupt­preis geben wollte. Mit immensem politi­schem Druck wurde die Jury dann dazu gebracht, ihren Entscheid zu ändern und einem gewaltlosen Spiel den Preis zu geben. Ich glaube, dass diese Diskussio­nen notwendig sind und dass wir auch eine gewisse Toleranz den verschiedenen Meinungen gegenüber walten lassen müssen. Wir sind jedoch als Wirtschafts­verband – ich spreche nun als Geschäfts­führer des G.A.M.E. – klar der Meinung, dass es auch kulturell wertvolle Spiele mit gewalthaltigem Inhalt geben kann.

Malte Behrmann ist Geschäftsführer des Bundesverbandes der Entwickler von Com pu­ter spielen G.A.M.E. und Generalsekretär des Europäischen Spiele­Entwickler­Verbandes EGDF. Er arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin und lehrt als Dozent an mehreren Instituten in Frankreich sowie an der Games Academy in Deutschland. Publikation: Kino und Spiele, 2005. Raffael Schuppisser lebt in Baden und schreibt als freier Journalist für die Neue Zürcher Zeitung und die NZZ am Sonntag über Computerspiele und Internetthemen.

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Beat Fleet von Filip Kostovic, ZHdK 2010

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ie derzeitige digitale Re­volution stellt einen der grossen Momente der Menschheitsgeschichte dar. In Fortsetzung der in­dustriellen Entwicklung

im 19. Jahrhundert hat die Informatik heute praktisch sämtliche Lebensbereiche erfasst. Auch das Spiel – ein wesentliches Element des menschlichen Daseins – ist von dieser technologischen Umwälzung nicht verschont geblieben; man könnte so­gar sagen, es habe diese seinerseits stark gefördert. Denn die Freude am Computerspiel ist wohl in vielen Fällen das wichtigste (eingestan­dene oder heimliche) Motiv für die Anschaffung eines neuen PC, der mehr Speicherkapazität hat, schneller rechnet, eine schönere Grafik besitzt und mehr Sozial­prestige verspricht.

Seit der Ankunft von Pong, dem 1972 eingeführten ersten kommerziellen Videospiel, löst dieses neue Unterhaltungsme­dium eine nie da gewesene Be­geisterungswelle aus, die den Er­findungsgeist der Programmierer von elektronischen Spielen nach­haltig beflügelt. So wie die Er­findung des Buchdrucks den Aufschwung der Kartenspiele be­günstigte, so hat die Informatik die Entstehung neuartiger Spiel­formen ermöglicht und zu um­wälzenden Neuerungen bezüg­lich der Dynamik und Soziabilität des Spielens geführt.

Zwischen Verbot und Leidenschaft

Obwohl Spiele in der einen oder anderen Form in allen Kul­turen allgegenwärtig sind, mes­sen ihnen die Gesellschaften unterschied­liches Gewicht bei. Während die klassischen Buchreligionen oft harsche Kritik an den Spielen geäussert haben, bringen ihnen viele andere traditionelle Religionen grosse Wertschätzung entgegen, indem sie bei­spielsweise rituelle Spiele in Bestattungs­zeremonien einbeziehen. Es ist jedoch schwierig, die Einstellung einer Gesell­schaft zum Spiel pauschal zu beurteilen, da fallweise ein Spiel von den religiösen oder politischen Instanzen positiv beur­

teilt, ein anderes aber heftig bekämpft wird, ein Spiel vernachlässigt, ein anderes dagegen leidenschaftlich gepflegt wird. Am nachhaltigsten prägen historische, technologische und wirtschaftliche Ent­wicklungen die Haltung der Gesellschaf­ten gegenüber ihren Spielen. So hat im 20. Jahrhundert etwa der Sport sehr breite Anerkennung gefunden, eine Erschei­nung, die in der «Versportlichung» man­cher Computerspiele deutlichen Nieder­schlag fand. Andererseits wurde die Ge ringschätzung, mit der man dem Spie­

len in westlichen Ländern begegnete, auf die Com puterspiele übertragen, indem man behauptete, diese führten zu drama­tischen Verwechslungen zwischen Virtua­lität und Realität und förderten Gewalt­bereitschaft und Suchtverhalten.

Einige instruktive Vergleiche mögen dazu dienen, diese Kritiken zu relativieren. Leider trübt der Gegensatz Virtualität – Realität den Blick für das Wesen des Com­puterspiels, dem man nachsagt, seine Er­lebniswelt unterscheide sich radikal von

allen anderen Erfahrungen, die man mit der sogenannten Lebensrealität verbindet. Inwiefern sollte aber die Beziehung zu ei­nem anderen Spieler mittels Computer­spiel virtueller und weniger real sein als ein Telefongespräch? Unterscheiden sich die Bilder eines Online­Spiels wirklich funda­mental von denen eines Zeichentrickfilms? Statt radikale Unterschiede zu postulieren, sollte man besser davon ausgehen, dass Computerspiele durchaus mit der Realität zu tun haben, und die Praktiken und Ge­bräuche dieser Repräsentationen gründ­

lich untersuchen. Desgleichen beruht die

angebliche Gefährlichkeit der Computerspiele auf zwei sich er­gänzenden Interpretationen: So heisst es, der Spieler zerstöre sich selber oder richte die den Videospielen innewohnende Ge­walt auf andere Menschen. Auf der einen Seite wird der ausser­gewöhnliche Fall eines Süd­koreaners, der 2005 in einem In­ternetcafé mehr als 50 Stunden Starcraft spielte und an Erschöp­fung starb, ewig wiedergekäut. Auf der anderen Seite vergisst man, die durch Computerspiele bedingten Todesfälle mit den Unfallstatistiken anderer Frei­zeitbeschäftigungen zu ver­gleichen (beispielsweise dem Skifahren, das jährlich von meh­reren Todesfällen überschattet wird). Anders gesagt: Der Hin­weis auf die Gefährlichkeit von Computerspielen deutet weniger auf die effektive Bedrohung als vielmehr auf deren mehr oder weniger ausgeprägte soziale Le­gitimität hin.

Oft wird auch angeführt, dass Serienverbrecher mit Vi­

deospielen aufwuchsen, gleichzeitig aber übersehen, dass 99,99 Prozent der Fans von Counter-Strike (oder anderen Kriegs­spielen) sich völlig normal verhalten, wo­durch jeder direkte Kausalzusammenhang widerlegt ist.

Was die Diagnose des Suchtverhal­tens anbelangt, so ist es interessant, diese in ihren sozialen Nutzungskontext ein­zubetten. Erhebt man die Computerspiel­sucht zu einer neuen Krankheitskategorie, so schafft das eine Spezialisierung, die es

Der Homo ludens

im digitalen Zeitalter

Das Spiel, ein Urphänomen der menschlichen Existenz, hat mit der Digitalisierung unserer Welt eine Wiedergeburt erlebt. Diskussionen

um Suchtgefahr und Realitätsflucht zum Trotz haben sich die Computerspiele

in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts fest etabliert. Pacman, Supermario und Sims

sind zu den allzeit verfügbaren Spielgefährten des modernen Menschen geworden.

Von Thierry Wendling

D

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Computerspiele: d ie Kunst der ZuKunft

gewissen Psychiatern und Psychologen er­laubt, sich eine neue Klientel zu schaffen. Eltern und Erzieher wiederum machen sich über das Verhalten ihrer Kinder oder Jugendlichen manchmal Sorgen, die sie mit einer mutmasslichen Spielsucht in Verbindung bringen, die aber andere Ur­sachen haben.

Animiert von der Werbung und unter dem Druck der Pausenhöfe, gehörten Kin­der und Jugendliche zu den Ersten, die be­gierig waren, den neuen Kontinent der Computerspiele zu erkunden und sich die­sen unbekannten Leidenschaften hinzu­geben. Eltern und Erziehende gerieten da­bei oft in eine Zwickmühle, weil sie sich

gleichzeitig in der Rolle von Beschaffern (von PCs, Spielkonsolen etc.) wie auch in derjenigen von Zensoren befanden. Dabei fürchteten sie die Praktiken umso mehr, je weniger sie darüber Bescheid wussten.

Die Ankunft neuer Elterngeneratio­nen, die oft selber vom digitalen Fieber be­fallen sind, weniger harte Urteile seitens der Psychologie sowie der Aufschwung dieses Wirtschaftssektors, dessen Umsätze jene der Kinoindustrie überflügelt haben – all dies hat dazu beigetragen, dass die Computerspiele zu einem festen Bestand­teil der Weltkultur geworden sind. Heute prägt das Videospiel die kollektive Fantasie und die Sozialbeziehungen und ist eine selbstverständliche Begleiterscheinung der technologischen und wirtschaftlichen Um­wälzungen.

Vom stillen Sudoku zur mythologischen Schlacht

Diese Feststellung könnte aber leicht über die grosse Vielfalt der computerba­sierten Spielformen hinwegtäuschen. Wo­rin besteht die Gemeinsamkeit eines Su-doku-Rätsels, das jemand allein auf seinem Handy ausfüllt und einer mythologischen Schlacht, die eine Gruppe von Online­Spie­lern gegen ein Monster von World of War-craft führt? Was haben die taktischen Pro­

bleme, welche die künstliche Intelligenz bei einem digitalen Schachspiel aufwirft, mit den spielerischen Wortgefechten ge­mein, die sich die Teilnehmer von Internet­foren und Chatrooms liefern?

Das gemeinsame Charakteristikum ist rein technischer Natur: Die Aktivitäten spielen sich auf einem Bildschirm ab und werden durch manuelle Manipulationen ausgelöst. Anders gesagt: All diese elektro­nischen Spiele basieren auf dem Einsatz von Auge und Hand. Diese beiden ur­menschlichen Werkzeuge stellen eine enge Verbindung her zwischen der Fähigkeit, sich in Repräsentationen hineinzuverset­zen, und dem Willen, die Welt zu beein­flussen. Ausserdem wird die Handlung im­mer mittels einer Tastatur, einer Maus oder eines Joysticks ausgeführt, was unserer kognitiven Veranlagung, die Handlung in ihr Ergebnis zu projizieren, sehr entgegen­kommt.

Die Vielfalt der Spiele, die heute über die Bildschirme flimmern, ist so unüber­schaubar und ihre Klassifikationskriterien sind so variabel, dass ich hier nur sehr all­gemeine Hinweise geben kann. Viele der heutigen Computerspiele sind im Grunde nicht neu, sondern existierten bereits vor dem elektronischen Zeitalter. Schach, Poker, ebenso wie Memory oder alle quiz­artigen Spiele gehören zur Kategorie der logisch­mathematischen Spiele, die sich schon mit den ersten Computerprogram­men leicht digitalisieren liessen. Obwohl sich diese Spiele im Wesentlichen gleich blieben, bewirkte das neue Medium – ins­besondere durch die Konfrontation mit nicht menschlichen Gegnern – Verände­rungen in der sozialen Praxis und im affek­tiven oder kognitiven Bereich. Spektaku­läre Sportarten und beliebte Freizeitspiele dienten als Grundlage für Computersimu­lationen von Pingpong über Fussball bis hin zu Autorennen. Auch wenn die Strate­gien weitgehend gleich bleiben, so ändert sich doch die Natur des Spiels radikal, in­dem nunmehr vom bequemen Sessel aus Fussball oder Tennis gespielt wird.

Während Fangen­Spielen und viele andere traditionelle Kinderspiele derzeit nicht als Videospiele umsetzbar sind, gibt es doch einige Games aus dem grossen Re­pertoire der Cowboy­ und Indianerspiele, die so neuartige Entwicklungen durchge­macht haben, dass sie besondere Aufmerk­samkeit verdienen. Diese Spiele unter­

liegen dem Prinzip des Kampfes, indem es in erster Linie darum geht, seine Gegner ausser Gefecht zu setzen. Feuerwaffen, Schwerter, schwarze Magie – solche Hilfs­mittel werden vielfältig dekliniert, vom simplen Ballerspiel (Shoot them all) bis hin zum beliebtesten Computerspiel dieser Kategorie World of Warcraft (WoW). Jedes Spiel bietet dem Nutzer das Vergnügen, in die Rolle eines anderen zu schlüpfen, wäh­rend der Dauer des Spiels einen Champion, einen dämonischen oder glorreichen Hel­den zu verkörpern. Alle Kinder auf dieser Welt träumen in ihren Spielen davon, ein gros ser Jäger, Eroberer oder Kosmonaut zu sein. In WoW schlüpft der Spieler in die Rolle eines Avatars und zieht – zunächst allein, später in der Gruppe – aus, um Monstren jeglicher Art in einem mittel­alterlich­fantastischen Universum zu be­kämpfen. Es handelt sich somit um eine Verbindung von Kampf­ und Rollenspiel. Aufgrund der Komplexität des Spielge­schehens, der spezifischen Interaktion zwischen den Teilnehmern und der gleich­zeitigen Präsenz Tausender von Teilneh­mern haben wir es hier jedoch mit einer völlig neuartigen Spielform zu tun.

Andere Spiele waren jedoch vor dem Aufkommen der Informatik undenkbar. Plattformspiele (mit fiktiven Personen wie Mario oder Sonic), Spiele wie Pacman oder Tetris, die man als «Bürospiele» bezeich­nen könnte, weil sie ein kleines Intermezzo während eines Arbeitstages am PC ermög­

lichen, – solche Spiele bieten eine eigen­ständige Dynamik, indem der Spielende (oder genauer sein Avatar bzw. seine Hand­lung) sich in einer ständig ändernden Um­gebung bewegt.

Diese relativ einfachen und abstrak­ten Spiele gibt es aber auch in wesentlich elaborierteren Formen mit Simulationen komplexer Umgebungen, bei denen der Spieler eine Familie, eine Stadt, eine Kul­tur oder eine «Rasse» (d.h. eine Gruppe von Wesen mit spezifischen Eigenschaf­

Viele der heutigen Computerspiele sind im

Grunde nicht neu, sondern existierten bereits

vor dem elektronischen Zeitalter.

Inwiefern sollte aber die Beziehung zu einem

anderen Spieler mittels Computerspiel virtueller

und weniger real sein als ein Telefongespräch?

«Ohne Prototypenförderung läuft nichts»Malte Behrmann, S. 28

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ten) verwaltet und dabei – in Spielen von Sims bis Starcraft – mit anderen Spielern wetteifert. Aber nur ein Computer ist in der Lage, die ständigen Modifikationen der Hunderten oder Tausenden von Objekten, aus denen diese Universen bestehen, in Echtzeit zu verarbeiten.

Der Junge zerstört Monster, das Mädchen zieht Mäuse auf

In vier Jahrzehnten hat sich eine for­menreiche Computerspiel­Kultur heraus­gebildet, die auf Tausenden von Spielen beruht, die ihrerseits in zahlreichen Seri­

enversionen abgewandelt und an die diver­sen verfügbaren Hardwareausrüstungen wie Arcade­Spielautomaten, Mobiltelefone, PCs oder Multi­ und Mono­Spielkonsolen wie Tamagotchi angepasst wurden. Diese kulturelle Entwicklung ist durch ein hohes Mass an Kreativität im grafischen und im sprachlichen Bereich gekennzeichnet. Neue Lebensformen wurden in originellen Dekors erfunden und manche Spieler be­wegen sich in den Landschaften von WoW oder Second Life wie in den Parks ihrer Wohngegend.

Zu beobachten sind auch zahlreiche sprachliche Neuschöpfungen, die sich ent­weder auf Computerspiele im allgemeinen beziehen – meist aus dem Englischen ent­liehen wie z.B. Gameplay (Spielbarkeit) oder Gamer (passionierter Computerspie­ler) – oder ein bestimmtes Spiel betreffen. Im Falle von WoW tönt das dann etwa so: «Als ich ihn im 25­er downte, lag ich bei 9k3 dps: ein harter Brocken, dieser Boss!» Bei aller Unverständlichkeit für Aussen­stehende zeugt dieser sprachliche Erfin­dungsreichtum von den vielen Stunden, die die Gamer nicht nur mit dem Spiel, sondern auch mit dem Diskutieren darü­ber verbringen.

Aufgrund ihrer leichten Zugänglich­keit und ihrer Unmittelbarkeit verändern

die Computerspiele auch das soziale Kon­taktverhalten und die Interaktionen. In Anlehnung an den Philosophen Pascal könnte man sagen, dass mit dem Compu­terspiel heute jedermann ein Linderungs­mittel gegen die modernen Plagen Ein­samkeit und Langeweile besitzt. Diese Beschäftigung kostet wenig und bietet einen Reichtum an Emotionen: Der Junge zerstört Terroristen oder Monster, das Mädchen zieht Mäuse oder Pferde auf, der Erwachsene verbringt einige Augenblicke als Minenräumer oder einige Stunden an einem virtuellen Pokertisch, wo er um re­ales Geld spielt. Das Spektrum reicht von Spielen mit einfachster Grafik bis zu Sze­nerien von verblüffendem Realismus (so­weit man diesen Ausdruck für die meist imaginären Figuren und Landschaften überhaupt verwenden kann), aber dies hat auf die Spielleidenschaft kaum einen Ein­fluss. Pong, bei dem ein Pixel den Ball dar­stellt, ist auch heute noch aktuell, denn das Wichtigste für den Spielenden ist es, sich auf die Repräsentationen der Spiel­welt einzulassen; dies erklärt, weshalb es im Zeitalter von WoW immer noch Spieler gibt, die sich für rein textbasierte Aben­teuerspiele begeistern können.

Die Interaktion mit den anderen Spie­lern ist von besonderer Bedeutung in ei­nem Kontext, der dadurch gekennzeich­net ist, dass diese nur aufgrund ihrer Aktionen auf dem Bildschirm wahrnehm­bar sind. Mit traditionellen Maskenfiguren haben die Avatare von Computerspielen gemein, dass sie vor allem ein Mittel zur Projektion und Idealisierung sind. Der Spieler inszeniert eine wirkliche oder ein­gebildete Facette seiner Persönlichkeit und interpretiert die Reaktionen der an­deren Spieler darauf. So gesehen bieten diese Spiele Orientierungshilfen in einer digital regierten Welt, in der immer häu­figer nichtmenschliche Akteure auftreten: mit zunehmender Erfahrung entwickelt der Gamer ein Gespür dafür, ob sich hin­ter einem Avatar ein Mann oder eine Frau, ein hardcore gamer oder ein casual ga-mer, ein menschliches Wesen oder ein KI­gesteuerter bot (Roboter) verbirgt.

Zahlreiche Faktoren erklären, warum Videospiele heutzutage so beliebt sind. Hier treffen Menschen auf Spielgefährten, die jederzeit verfügbar sind, – was mich da­ran erinnert, dass unsere urgeschichtli­chen Vorfahren einst wohl aus ähnlichen

Motiven Tiere zu domestizieren begannen. In einer stimulierenden interaktiven Situ­ation experimentieren sie ausserdem sehr pragmatisch damit, was eine Repräsenta­tion ist und welcherlei Interaktionen mit menschlichen oder elektronischen Akteu­ren über Repräsentationen möglich sind.

Wie stark schliesslich die Computer­spiele Eingang in die Kultur des 21. Jahr­hunderts gefunden haben, lässt sich an ih­rem Einfluss auf Kunst und Wissenschaft ermessen. Die Ikonen der grossen Klassi­ker wie Pacman, Space Invaders oder Te-tris finden sich in Installationen der Street art oder in Videoperformances wieder. Dass die Spiele kulturell und wirtschaftlich legitimiert sind, beweist der Umstand, dass heute Schulen für ein Berufsfeld errichtet werden, das – nach Kino, Fernsehen und Comics – von manchen als «zehnte Kunst» bezeichnet wird. Unter der Bezeichnung Game studies ist ausserdem ein neues aka­demisches Forschungsgebiet entstanden. Da Computerspiele weitgehend sprachen­ und kulturenunabhängig gespielt werden, sind sie zu einem Wahrzeichen der Welt­kultur geworden.

Thierry Wendling arbeitet als Forscher am Centre National de la Recherche Scientifique im Laboratoire d’Anthropologie et d’Histoire de l’Institution de la Culture in Paris. Als Anthropologe untersucht er die Praktiken der Ludik – vom Schach über Computerspiele bis hin zu Fresswettbewerben.

Aus dem Französischen von Ernst Grell

In Anlehnung an den Philosophen Pascal könnte man sagen, dass mit dem

Computerspiel heute jedermann ein Linderungs-mittel gegen die modernen

Plagen Einsamkeit und Langeweile besitzt.

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Dainas Herbarium Das Abenteuerspiel entführt den Spieler in die märchenhafte Welt einer überwucherten In­sel, die es zu erkunden gilt. Welche verbor­gene Macht brachte die einstigen Bewohner dazu, von diesem augenscheinlich wunder­baren Ort zu fliehen? Das Sammeln und Zubereiten besonderer Kräuter, Blumen und Pilze hilft dabei, die beschwerliche Reise durch Buschwald und Grasland zu erleich­tern. Das von Hand aufwendig gestaltete Spiel richtet sich primär an Kinder und stellt den Ent deckergeist und die Geschichte in den Vor dergrund. Ein Spiel für PC/Mac von Dario Hardmeier und Raffaele de Lauretis.

Icebox carrots Was passiert, wenn im Kühlschrank das Licht ausgeht? Nein, die Lebensmittel gehen nicht schlafen, sondern es wird richtig ungemüt­lich in der dunklen Truhe. Die Karotten wer­den plötzlich lebendig und aufgetaute Kreatu­ren aus der obersten Etage lauern hinter Milch, Butter und Eiern auf das vitaminreiche Gemüse. Icebox Carrots ist direkt an die Platt­form Facebook an geschlossen: Jede eingela­dene Kontaktperson wird zum Mitspieler und präsentiert sich dort als Karotte. Icebox Car-rots ist ein Online­Browser­Spiel von Michael Burgdorfer und über Facebook erhältlich.

Beat Fleet Die Entwicklung der Turntable­Engine Beat Fleet ermöglicht es, Musik, Raum und Zeit in Einklang zu bringen. Der Spieler bedient zwei DJ­Plattenspieler und steuert mit der Bewe­gung seiner Hände die Geschwindigkeit des Beats und die sich stetig verändernde Land­schaft aus abstrakten Formen, Farben und Musik. Das Spiel von Philip Kostovic wird auf PC/Mac gespielt, aber über zwei DJ­Platten­spieler bedient, die den Computer ansteuern.

Colorize In dieser kosmischen Kugelwelt gilt es die richtigen Farbstimmungen zu erzeugen. Durch geschicktes Umfärben von schweben­den Kugeln werden so viele Punkte wie mög­lich gesammelt, um den «Keycode» für das nächste Level zu erreichen. Doch Vorsicht, denn das Färben aktiviert auch Objekte, die einem gehörig ins Handwerk pfuschen… Co-lorize ist ein Spiel für PC/Mac von Christoph Jörg.

Crowned Das Strategiespiel Crowned parodiert humor­voll das Pathos epischer Heldensagen. In der Tradition der Sandalenfilme wird im antiken Griechenland heftig gestritten und gekämpft. Dabei sind die kriegerischen Katastrophen wie ein Bühnendrama inszeniert, und stets von einem ironischen Augenzwinkern beglei­tet, geht es doch darum, diese möglichst ef­fektvoll aus verschiedenen Blick winkeln in Szene zu setzen. Crowned ist ein Spiel für PC/Mac von Gregor Falk.

Mirage In Mirage baut der Spieler ein Wesen aus mensch lichen Körperteilen, die sich zu einer surrealistisch anmutenden Collage verbin­den. Am Anfang ist da nur ein Hut. Mit weite­ren individuell kombinierbaren Körperteilen, einem Auge, einer Nase, einem Mund oder einem Fuss, erlangt das flüchtige Wesen einen ganz eigenen Charakter und verschafft dem Spieler so zusätzliche Sinne und Fähigkeiten. Mirage ist ein Spiel für PC/Mac von Mario von Rickenbach.

Die Bilder unseres Schwerpunktes Computerspiele zeigen eine Auswahl aus den Abschlussarbeiten des aktuellen Bachelor-Studiengangs Gamedesign der Zürcher

Hochschule der Künste (ZHdK).

Gamedesign aus der Schweiz

Informationen unter http://gamedesign.zhdk.ch/bachelor/10

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Chopin im Orient – ein moderner Traum

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Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterhält ein weltweites Netz von Aussen-stellen. Sie dienen dem Kultur-austausch mit der Schweiz und erweitern die kulturellen Netzwerke.

Inspiriert von Frédéric Chopin bringt Christian Garcia in Warschau eine «moderne Oper» auf die Bühne. Wenn ein Westschweizer Experimental-popmusiker in Polen eine Hommage an eine einheimische Ikone inszeniert, so ist das Grund genug für einen Besuch bei den Proben.

Von Florence Gaillard, Warschau – Der Zug überquert die Weichsel und hält in der Nähe der Schreinerei des Teatr Dra-matyczny, wo das Bühnenbild für Glis-sando entsteht. Es ist August, brütend heiss, und noch liegt die Premiere in wei-ter Ferne. Christian Garcia und sein Büh-nenbildner Serge Perret diskutieren mit dem polnischen Schreiner über Ecken, die abgerundet werden müssen, und die rich-tige Form des Schaumstoffs auf einem riesigen Pferdeschädel. Das Teatr Drama-tyczny befi ndet sich in einem Flügel des monumentalen stalinistischen Kulturpa-lasts, der seit 1955 im Zentrum Warschaus in den Himmel ragt. Seither hat der Zahn der Zeit nicht nur an den grossen Ambiti-onen von einst genagt, sondern auch an den Wänden im Innern deutliche Spuren hinterlassen. Neonlicht und endlose Kor-ridore prägen die Atmosphäre in diesem seltsamen sowjetischen Gebäude, das die meisten Polen verabscheuen.

«Die polnischen Darsteller halten mich für leicht verrückt»

Christian Garcia sorgt im Alleingang für Regie und Musik des Stücks, dem Cho-pin weniger als Thema denn vielmehr als Ausgangspunkt dient. In Auftrag gegeben wurde Glissando von den Leitern des Fes-tivals Warszawa Centralna; diese zeigten sich von Requiem begeistert, einer Perfor-mance des Trios Velma (dem Garcia ange-hört), die 2008 in Warschau zu sehen war.

Im laufenden Jahr steht die polnische Kulturlandschaft ganz im Zeichen von Chopins 200. Geburtstag. Namhafte Pia-

Orientalisch-rockige Klänge: Klara Bielawka spielt die Laute als E-Gitarre.

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odischen Nebel, in dem sich die einzelnen Stimmen su-chen und finden. Garcia zeigt einen Chopin nach Art mini-malistischer Komponisten wie Glenn Branca oder Arvo Pärt. Doch nicht alles an Glissando ist auf ein Mini-mum reduziert. In einer Szene spielen gleich alle neun Darsteller auf je einer Saz, einer orientalischen Laute, die manche von ihnen dabei wie eine E-Gitarre und an-dere wie eine Harfe halten. Da Chopin engen Kontakt mit dem Maler Delacroix pflegte, ist das Bühnenbild vom Tod des Sardanapal und anderen opulenten Gemäl-den inspiriert. «Die letzten zehn Jahre habe ich nur an Projekten mitgewirkt, bei denen die Darsteller Turn-schuhe trugen und Nacktheit nur in ihrer groben Form vorkam», erzählt Garcia. «Dieses Mal wollte ich mehr Wärme, mehr Ästhetik.»

Eine Vorahnung davon geben die Skizzen von Aga, der jun-

gen Kostümbildnerin mit den pinkfarbe-nen Augenbrauen.

Ob die Polen diese Reise ihres Volks-helden in orientalische und experimentelle Gefilde goutieren werden? «Dieses Wagnis gehen wir ein», meint dazu Julia Asperska, die Verantwortliche für internationale Be-ziehungen des Festivals. «Chopin ist eine nationale Ikone. Seine Musik ist Teil unse-rer Kultur, wie der Geruch der Pierogi, und natürlich gibt es an ihr noch Neues zu ent-decken. Wir freuen uns darauf, einen tüch-tig durchgeschüttelten, exotischen Chopin serviert zu bekommen.»

Glissando: 16.–19. Dezember 2010 in Warschau, 18./19. März 2011 im Espace Nuithonie in Fribourg. Florence Gaillard, von 2001 bis 2008 Journalistin bei Le Temps, betreute als Redaktionsleiterin mehrere Ausgaben der Publikation Le Phare des Centre Culturel Suisse in Paris und ist heute als freie Journalistin tätig. Aus dem Französischen von Reto Gustin

schen Theaters: «Sobald ich zu kontrolliert agiere, klingt es falsch. Dieses Loslassen ist ebenso beängstigend wie faszinierend.»

Ein tüchtig durchgeschüttelter ChopinDer Begriff «Glissando» bezeichnet

die gleitende Verbindung der Noten, wie sie für Chopins Musik typisch ist. Dieses Glei-ten charakterisiert das gesamte Stück, das sich von einem Thema Chopins über Im-provisation und A-cappella-Gesang bis zu orientalischen und rockigen Klängen be-wegt. Ausgangspunkt ist die Etüde Nr. 6, Opus 10, ein äusserst schwieriges Stück, sowohl in seiner ursprünglichen Form für Klavier als auch in der Chorfassung von Garcia. Um sich in diesem Labyrinth der Halbtöne nicht zu verirren, braucht es ein ausgezeichnetes Gehör. «Chopin eignet sich von Natur aus eigentlich gut für Gesang», findet Kijowska, «aber diese A- cappella-Version ist eine echte Herausfor-derung. Das Folkloristische, das sonst bei Chopin immer durchschimmert, ist hier völlig verschwunden.» Die Melodie geht in eine sonore Meditation über, einen psalm-

nisten geben unzählige Kon-zerte, und an der Flaniermeile Nowy Swiat spielen sogar die Sitzbänke Chopin, wenn man sich auf ihnen niederlässt. «Chopin hat auf meinen bis-herigen musikalischen Werde-gang keinen besonderen Ein-fluss gehabt», gibt Garcia zu, der über das Saxofon zur Mu-sik kam und sich unter ande-rem eingehend mit Punk, Rock und Klassik beschäftigt hat. «Was ich bei diesem Auf-trag von Anfang an ausschloss, war ein Stück über die Person Chopin. Das szenische Repro-duzieren von realen Personen interessiert mich nicht. Das kann das Kino ohnehin viel besser! Meines Erachtens sollte das Theater ein Ort für zufälligere und fragilere Er-fahrungen sein.»

Entsprechend gibt es in Glissando keinen tuberkulö-sen Helden mit widerspensti-ger Haarsträhne, dazu wenig Text und keine Dialoge. Garcia lässt aus Chopins Musik sze-nische Bilder entstehen, die seine neun Darsteller (aus der Schweiz, Frankreich, Spanien, Italien und Polen) singend, spielend und tanzend umsetzen. «Für diejenigen Mitglieder des Ensembles, die mit Christians Arbeit noch nicht ver-traut waren, war anfangs manches sehr verwirrend. Wir mussten deshalb zuerst eine gemeinsame Sprache entwickeln», er-klärt Stéphane Noël, Produzent und Dra-maturg des Projekts. Dies bestätigt auch Garcia: «Die polnischen Darsteller halten mich für leicht verrückt. Ich gebe ihnen keinen Text, an dem sie sich festhalten kön-nen. Stattdessen verlange ich von ihnen, dass sie singen und sich bewegen – und trotzdem ist das Stück weder eine Tanzper-formance noch ein Konzert oder ein Musi-cal.» Am ehesten könnte man wohl von ei-ner «minimalistischen Gegenwartsoper» sprechen, irgendwo zwischen den Welten von Christoph Marthaler und Heiner Goebbels, mit einem besonderen Akzent auf dem Schwebenden, Langsamen. «Ich muss lernen, nichts zu tun – das Schwie-rigste, was je von mir verlangt wurde!», seufzt Julia Kijowska, Jungstar des polni-

Julia Kijowska und Gianfranco Poddighe im düsteren Opernfinale.

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Das Centre Culturel Suisse in Paris hat seine Bibliothek in eine Buchhandlung verwandelt. Besucher können hier Werke über Kunst und Architektur erstehen, Zeitung lesen und Buchraritäten aus der Schweiz entdecken.

Von Florence Gaillard, Paris – «Also Bücher machen können die Schweizer, das muss man ihnen lassen!» Solche Kommen-tare sind seit der Eröffnung der Buchhand-lung des Centre Culturel Suisse (CCS) in Paris im Mai dieses Jahres an der Tagesord-nung, weiss Emmanuelle Brom. Hin und wieder bekommt die Buchhändlerin und gute Seele der neuen Librairie aber auch eine ganz bestimmte Beschwerde zu hören: «Gibt’s keine Milch für den Kaffee?»

In der Rue des Francs-Bourgeois 32 war 25 Jahre lang die Bibliothek des CCS untergebracht, die ausser einigen Stamm-gästen kaum Besucher anzog. Olivier Kae-

ser und Jean-Paul Felley, die Ende 2008 die Leitung des Zentrums übernahmen, be-schlossen, diesen Räumlichkeiten neues Leben einzuhauchen. «Wir wollten die aus-gezeichnete Lage an einer der belebtesten Strassen des Marais-Quartiers besser nut-zen und eine attraktive Plattform für Schweizer Verleger und Autoren schaffen», erklärt Felley. Der Raum wirkt seit dem Um-bau deutlich grösser und freundlicher und

zieht viel mehr Passanten an. Dass sich die Neugestaltung gelohnt hat, beweisen die rund 1200 Besucher pro Monat, welche die Buchhandlung bereits in den ersten Som-mermonaten nach der Eröffnung zählte.

Grafi k, Design, zeitgenössische Kunst und Literatur

Alle angebotenen Bücher haben einen Bezug zur Schweiz, sei es durch den Verlag, den Autor oder das Thema. Die Librairie will jedoch kein nationales Schaufenster sein und führt deshalb auch weder Reise-führer noch politische Bücher, sondern eher ein Marktplatz für zeitgenössische

Schweizer Kultur. «Der neue Raum ist Spiegelbild und Ergänzung der Aktivitäten des CCS», so Emmanuelle Brom. «Viele Be-sucher unserer Ausstellungen und Auffüh-rungen schauen danach noch hier vorbei, kaufen sich ein schönes Buch oder bedie-nen sich bei den aufl iegenden Program-men.» Das breite Sortiment reicht von Gra-fi k und Design über zeitgenössische Kunst bis zu Literatur. «Am besten laufen – trotz ihrer hohen Preise – Werke über Architek-tur und Bücher über Typografi e sowie ei-nige Klassiker, etwa signierte Ausgaben von Robert Frank oder Nicolas Bouvier.»

Für die beiden Direktoren ist die Umnutzung der alten Bibliothek Teil des Bestrebens, das CCS als moderne und dy-namische Institution zu präsentieren. Zu diesem Zweck haben die Architekten Ja-

kob + MacFarlane, die schon meh-rere bedeutende Kulturbauten in Frankreich realisiert haben, einen zugleich radikalen und sanften Kos-mos geschaffen. Ihr Fokus lag dabei auf Leichtigkeit und Klarheit, mit unregelmässig geschnittenen Rega-len, die sich wie Alpengletscher durch den Raum ziehen.

Das Sortiment wird ständig er-weitert und könnte dereinst neben Büchern, DVDs und CDs auch De-signobjekte umfassen. Bleibt noch die Frage nach der fehlenden Milch … «In erster Linie sind wir eben doch eine Buchhandlung und kein Café», entschuldigt sich Brom. Von den Besuchern, die sich in der Café-Ecke der Lektüre von Zeitungen und Fachzeitschriften aus der Schweiz und Frankreich widmen, wird der Espresso des CCS dennoch sehr geschätzt. Für sie werden in

Zukunft auch Milchkännchen bereitstehen – versprochen!

Rue des Francs-Bourgeois 32, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa/So 13–19 Uhr.

Florence Gaillard, von 2001 bis 2008 Journalistin bei Le Temps, betreute als Redaktionsleiterin mehrere Ausgaben der CCS-Publikation Le Phare und ist heute als freie Journalistin tätig.

Aus dem Französischen von Reto Gustin

Bücherschatz im Marais-Quartier

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Regale wie Alpengletscher: Die neue Buchhandlung des CCS von Jakob + MacFarlane.

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Die Zuger Kulturstiftung Landis & Gyr ist eine der wichtigsten privaten Kultur-förderinnen in der Schweiz. Mit den Gastateliers in europäi-schen Metropolen und dem Austauschprogramm mit Osteuropa hat sie Pionierarbeit geleistet.

Von Brigitte Ulmer – Als prägende Wegmarke in ihrem Leben beschreiben die meisten Schweizer Kulturschaffenden ih-ren Aufenthalt in den Ateliers an der Smi-thy Street im Londoner East End. Für den Schriftsteller Tim Krohn ist seine resi-dency in East London «eine der wertvolls-ten Zeiten meines Lebens». Der Maler Uwe Wittwer schwärmt von der inspirierenden Umgebung, vom grossartigen Atelierraum mit dem Glasdach und dem interdiszipli-nären Austausch mit seinen Nachbarn. Die Liste der Gäste, die hier, inmitten von Cur-rydüften der Bangladeshi Community, re-sidierten, arbeiteten und schliefen, liest sich wie ein Who is Who der Schweizer Kunst- und Literaturszene: Die Künstlerinnen An-nelies Štrba, Carmen Perrin und Christine

Streuli verbrachten ein Jahr da, die Foto-künstler Thomas Flechtner, Walter Pfeiffer und Hans Danuser, die Schriftsteller Lukas Bärfuss, Markus Werner, Peter Stamm und Peter Weber. Zu verdanken haben das die über 160 Schweizer Kulturschaffenden, die seit 1988 ein Jahr oder ein Semester in ei-nem der Ateliers residieren durften, der Zu-ger Kulturstiftung Landis & Gyr. Sie hat die fünf typisch britischen Reihenhäuschen im multikulturellen Londoner East End in den 80er-Jahren erworben und stellt sie seither Schweizer Kulturschaffenden für einen Auslandaufenthalt zur Verfügung.

Jährlich 2,5 Millionen für die KulturSeither sind neun weitere Gastateliers

in Berlin, Budapest, Bukarest und Zug hin-zugekommen. Die artists residencies ge-hören zu den Eckpfeilern der Kulturförde-rung der Stiftung Landis & Gyr und stehen Kulturschaffenden der Sparten visuelle Kunst, Komposition, Fotografie, Literatur und Kulturkritik zur Verfügung. Die un-entgeltliche Nutzung und der Lebens-kostenzuschuss bedeuten Freiraum im Berufsalltag und die Möglichkeit, einmal nicht ergebnisorientiert arbeiten zu müs-sen. Denn eine Gegenleistung wird nicht verlangt.

Mit diesem Modell leistete die Kultur-stiftung Landis & Gyr echte Pionierarbeit. «Anfang der Achtzigerjahre hatten die Städte und Kantone noch keine Ateliers im Ausland, wie heute üblich. Wir besetzten damit eine Nische», sagt Regula Koch, die Geschäftsführerin der Kulturstiftung Lan-dis & Gyr. Die Zuger Firma, die auf die Her-stellung von Stromzählern spezialisiert war, rief die Stiftung 1971 mit einem Kapi-tal von 7,5 Millionen Franken ins Leben – ursprünglich, um die Firmenräume mit Kunst zu gestalten. Die Stiftungsziele änderten sich mit den Jahren in Richtung Kulturförderung, das Stiftungskapital wurde mehrmals um erkleckliche Sum-men aufgestockt, bis das Unternehmen 1988 verkauft und die Stiftung als eigen-ständiges Organ herausgelöst wurde. Heute werden vom Stiftungskapital, das

rund 50 Millionen Franken beträgt, jähr-lich rund 2,5 Millionen Franken an Kunst-schaffende und Institutionen entrichtet.

«Wir fördern das Neue, Junge, Experimentelle»

Zum zweiten Schwerpunkt gehört der Austausch mit Mittel- und Osteuropa. Da-bei konzentriert man sich auf die Unter-stützung von Institutes for Advanced Study in Bukarest, Budapest und Sofia im Be-reich der Geistes- und Sozialwissenschaf-ten. Je 20 bis 25 jungen Wissenschaftlern und künftigen Universitätsprofessoren wird ermöglicht, nach ihrem Studium pos-tuniversitäre Forschung nach westlichem Standard zu betreiben. Ob es sich um städ-teplanerische Diskurse, den rumänischen Film oder eine Studie über die Gesellschaft unter Ceaucescus Regime in Rumänien handelt; hier werden Vergangenheit und Gegenwart gleichermassen erforscht. «Mit unserer finanziellen Unterstützung leisten wir einen Beitrag dazu, dass das Bildungs-wesen von oben her reformiert und ver-bessert wird», sagt Regula Koch.

Sie ist als Geschäftsführerin seit ei-nem halben Jahr im Amt und hat als ehe-malige Kultur beauftragte des Kantons Zug das Kulturförderwesen von innen her ken-nengelernt. 750 bis 800 Fördergesuche gehen jährlich über ihren Tisch, welche sie nach einer ersten Triage in Absprache mit dem Expertengremium behandelt. «Die Interessenten reichen vom Laienchor bis zur Opernhaus-Produktion», sagt Regula Koch. Da versteht es sich von selbst, dass die Absagequote hoch ist und ebenso der adminis trative Aufwand. Prioritär werden Gelder in Projekte von Kulturschaffenden gesteckt, die bereits mit Institutionen zu-sammenarbeiten. Häuser wie das Theater Neumarkt und das Schauspielhaus Zürich, das Luzerner Theater und das Théâtre Vidy in Lausanne erhalten für spezielle, von jun-gen Künstlern geschaffene Produktionen Unterstützung aus Zug. «Wir fördern vor allem das Neue, Junge, Experimentelle», sagt die Leiterin. «Eine Traviata kann sich gut von der Privatwirtschaft sponsern las-sen. Aber Unbekanntes und Innovatives hat es schwerer.»

www.kulturstiftung-lg.ch Brigitte Ulmer ist Historikerin und Kunst-publizistin. Sie schreibt unter anderem für Du und die Neue Zürcher Zeitung.

PARTNER: KULTURSTIFTUNG LANdIS & GyR

Frühe Pionierarbeit

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Informieren Sie sich über Kunst und Kultur aus der Schweiz, verfolgen Sie aktuelle Projekte von Pro Helvetia und lesen Sie über den Kulturaus-tausch der Schweiz mit der Welt.

Passagen erscheint dreimal jährlich in deutscher, französischer und englischer Sprache und erreicht Leserinnen und Leser in über 60 Ländern.

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Internationale KulturarbeitOb ein Künstleraufenthalt in einem

ausländischen Gastatelier, eine inter-nationale Theaterproduktion oder ein Gastland an der Buchmesse: Der Kultur-austausch über Landesgrenzen und Kontinente hinweg eröffnet neue Hori-zonte. Wie sieht internationale Kultur-arbeit im Zeitalter von Multikulturalität und Globalisierung aus? Wann ist sie nachhaltig? Und welche Rolle spielt die Kulturarbeit auf dem diplomatischen Par-kett? Lesen Sie mehr dazu in der nächs-ten Ausgabe von Passagen. Wir besuchen eine schweizerisch-argentinische Thea-terproduktion in Buenos Aires, berichten über kulturelle Stolpersteine im Aus-tausch mit China und statten dem Pro-Helvetia-Verbindungsbüro in New Delhi einen Besuch ab. Die nächsten Passagen erscheinen Ende April 2011.

PassagenZuletzt erschienene Hefte:

Kunst macht glücklich!Nr. 53

Die RedewenderNr. 52

Die Kunst(ver)führerNr. 51

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DAS KULTURMAGAZIN VON PRO HELVETIA, NR. 51, AUSGABE 3/2009

Neue Aussichten: Kunst geht bergwärts S. 6Warschau: Alltagsgeschichten für die Bühne S. 36

Kunst in der Krise: Optimismus um jeden Preis S. 41

Die Kunst(ver)führer

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DAS KULTURMAGAZIN VON PRO HELVETIA, NR. 52, AUSGABE 1/2010

Alice im Zululand: Berner Musiker auf Afrika-Tournee S. 6 Transatlantische Wahlverwandtschaft: Adolf Dietrich in New York S. 38

Kunst im öffentlichen Raum: Die eierlegende Wollmilchsau S. 41

Die Redewender:Zur Kunst des Übersetzens

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DAS KULTURMAGAZIN VON PRO HELVETIA, NR. 53, AUSGABE 2/2010

Bekenntnisse in der Petrischale: Der Künstler im Labor S. 6Sprechende Wände: Schweizer Klangkunst in San Francisco S. 36

Rom inspiriert: Die Zeit in Kunst verwandeln S. 38

Kunst macht glücklich!

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DAS KULTURMAGAZIN VON PRO HELVETIA, NR. 53, AUSGABE 2/2010

Bekenntnisse in der Petrischale: Der Künstler im Labor S. 6Sprechende Wände: Schweizer Klangkunst in San Francisco S. 36

Rom inspiriert: Die Zeit in Kunst verwandeln S. 38

Kunst macht glücklich!

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Von Christoph Simon – Was ich – ein Schriftsteller aus dem beschaulichen Bern – in der 13-Millionen-Stadt Buenos Aires zu suchen habe? Der offizielle Auftrag lau-tet, die Sitten und Gebräuche der heimi-schen Literaturszene zu erkunden, um über diese an der Buchmesse in Frankfurt, wenn Argentinien dort Gastland ist, mit neutralem Blick zu berichten. In Wahrheit aber stürze ich mich aus einem anderen Grund ins Getümmel und Gelichter von Buenos Aires: Um den Dichter César Aira aufzuspüren. Um vor dem genialen Verfas-ser von Varamo auf die Knie zu sinken. Um ihm, aus Mangel an Weihrauch und Reich-tümern, ein Kilogramm Schweizer Scho-kolade zu überbringen.

Von César Aira berichten die Klappen-texte seiner Bücher knapp: «Nacio en Coro-nel Pringles en febrero de 1949. Desde 1967 reside en Buenos Aires.» Was werde ich also in Erfahrung bringen über den geheimnis-vollen César Aira? Wer ist er, wie lebt er? Und vor allem: Wo steckt er? Gustavo, mein Taxifahrer vom Flughafen hinein in die

Stadt, kennt Aira nicht. Paula, meine Putz-frau, spricht lieber über ihre Familie in Bo-livien als über die nächtliche Erleuchtung des Beamten Varamo in Panama. Der An-tiquar im Huemul in der Santa Fe erklimmt eine achtstufige Leiter, um zu den Werken unter dem Buchstaben «A» zu gelangen, aber mit geografischen Koordinaten kann auch er mir nicht weiterhelfen.

«Er empfängt selten Besucher und geht kaum aus», berichten mir Autorin-nen der Sociedad Argentina de Escritores nach einem «Diálogo abierto» in der Cafe Bar La Poesia im Viertel San Telmo. «Je-den Mittwoch nimmt César in der Bar an der Ecke einen Cognac und spielt ein paar Stunden Schach mit den Honoratioren von Flores…» Liliana, Noemi und Ester trinken Bier aus Einliterflaschen und empfehlen mir die Buchhandlung Eterna Cadencia an der Honduras 5574, denn: «Aira kauft seine Bücher dort.»

Und tatsächlich: Jede Cuadra in Buenos Aires hat zwar ihre Buchhandlung (die gleichzeitig ein Antiquariat ist), aber

egal, wen man fragt – die Bibliotheksleite-rin des Goethe-Instituts oder die Roman-ciers Ariel Magnus und Alan Pauls –, für geistige Anschaffungen empfehlen einem alle die Eterna Cadencia.

An jenem Donnerstag, als ich den lan-gen Weg hinaus nach Palermo auf mich nehme, verpasse ich die Anwesenheit César Airas – wie man mir bedauernd mitteilt – um eine halbe Stunde. «Wieso gelingt es mir nicht, César Aira zu treffen?», frage ich Ariel Magnus, der alles ist, was ein Schrift-steller sein möchte: produktiv und klug und ins Rumänische, Hebräische und Chi-nesische übersetzt. «César aufzuspüren ist eine wahrhaft schwierige Wissenschaft, und Versager gibt es ohne Zahl», raunt Don Ariel.

Dienstag um neun stelle ich meiner bolivianischen Putzfrau als kleinen Imbiss ein Kilogramm Schweizer Schokolade hin. «Gracias!», sagt sie. «Sie reisen heute ab? Haben Sie diesen Schriftsteller getroffen, den Sie treffen wollten?» – «César Aira? Nein. Ich hatte Angst, dass die Begegnung eine Enttäuschung für uns beide sein könnte. César liegt auf dem Sofa, die Beine ausgestreckt, und reibt die Fussknöchel aneinander. Er blickt von seinem Buch auf und starrt den Störenfried gequält an.» «Sie machen sich Sorgen um nichts. Be-stimmt sitzen dauernd Freunde bei ihm herum und geniessen es, bei ihm herum-zusitzen und dann zu sagen, dass sie bei ihm herumgesessen sind.»

Man sieht nie alles wie zuvor, wenn man aus einer anderen Welt zurück nach Hause kommt. Weshalb sind Buchhand-lungen und Antiquariate bei uns getrennte Geschäfte? Wieso werden zu unseren Le-sungen nicht massenhaft Schulklassen an-geschleppt? Und ganz allgemein: Weshalb funktioniert hier jede Strassenlampe? Wes-halb ist’s hier so still um Mitternacht? Wa-rum vergittert niemand die Fenster? Eine Zeitlang macht dies den Reiz der Rückkehr aus: Man vermisst einen Menschen, den man nie getroffen hat, und die Nacht fühlt sich an, als würde man in der eigenen Stadt auswärts schlafen.

Christoph Simon (*1972) ist freier Schriftsteller und lebt in Bern. Zuletzt erschien der Roman Spaziergänger Zbinden. Im Mai 2010 war er als Stadtschreiber in Buenos Aires.

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Wo ist César Aira?

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Plattform für Künstlerinnen und KünstlerRothis Western City, 2005 Foto von Yann Gross aus der Serie Horizonville

Die Fotoserie Horizonville zeigt den American Way of Life in der Schweiz. Auf einer Mopedreise durch das Walliser Rhonetal hat der Westschweizer Fotograf Yann Gross in einer Art ethnographischen Studie eine Gruppe von Menschen porträtiert, die weitab von den Rocky Mountains ihren amerika-nischen Traum leben. Yann Gross (*1981) hat 2007 die ECAL (École Cantonale d’Art de Lausanne) abgeschlossen und beschäftigt sich in seinen Arbeiten vorwiegend mit dem Thema Identität. 2008 gewann er den DescubrimientoPreis des Festivals PhotoEspaña. Zur Einzelausstellung Horizonville ist in diesem Jahr bei JRP/Ringier ein Buch erschienen. www.yanngross.com

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«Inwiefern sollte die Beziehung zu einem anderen Spieler mittels Computerspiel virtueller und weniger real sein als ein Telefongespräch?»

«So gesehen wäre das Computerspiel die technische Einlösung der Gesamtkunstwerkfantasie – das Pfingstwunder eines transmedialen, synästhetischen Sinnesapparates.»

«Die Kulturdebatte schlägt letztlich die Killerspiel debatte, weil sie eine Perspektive bietet und nicht nur auf Verboten aufbaut.»

«Die Eltern anderer Kinder waren in Freikirchen, mein Vater war bei IBM. Das ist durchaus vergleichbar.» The world is not enough

Nicolette Kretz, S. 12

Die Kunst der VersenkungMartin Burckhardt, S. 24

Der Homo ludens im digitalen ZeitalterThierry Wendling, S. 32

«Ohne Förderung von Prototypen läuft nichts», Malte Behrmann, S. 28

Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund um die Welt.


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