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paraplegie_Hilfsmittel_d

Date post: 06-Mar-2016
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16 | Paraplegie, Juni 2012 16 | Paraplegie, März 2012 Unendlich mehr Möglichkeiten Einst schrieb man Briefe von Hand und mussten Telefongespräche ins Ausland bei einer Zentrale angemeldet werden. Dann, vor rund 65 Jahren, wurde der digitale Computer geboren. Es begann ein neues Zeitalter. In dessen Verlauf half moderne Kommunikations-Technologie, vielerlei Grenzen und Schranken aufzuheben – vor allem auch zum Wohl von Menschen mit Behinderung.
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16 | Paraplegie, Juni 201216 | Paraplegie, März 2012

Unendlich mehr Möglichkeiten

Einst schrieb man Briefe von Hand und mussten Telefongespräche ins Ausland bei einer Zentrale angemeldet werden. Dann, vor rund 65 Jahren, wurde der digitale

Computer geboren. Es begann ein neues Zeitalter. In dessen Verlauf half moderne

Kommunikations-Technologie, vielerlei Grenzen und Schranken aufzuheben – vor

allem auch zum Wohl von Menschen mit Behinderung.

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Paraplegie, Juni 2012 | 17Paraplegie, März 2012 | 17

RepoRtage

Unendlich mehr Möglichkeiten

Bild aufgenommen im Planetarium, Verkehrshaus der Schweiz, Luzern

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RepoRtage

wie ein normales Smart Phone aussehen, das auf leichte Berührungen mit dem Finger re-agiert. Das Innenleben hingegen ist speziell auf Bedürfnisse von Menschen im Rollstuhl ausgerichtet. Sie werden auf eine ganze Reihe neuer und zusätzlicher Funktionen zählen können.

Anstoss aus dem Hinterhof

Für Betroffene sind die umwälzenden Verände-rungen in der Informations-Technologie sowie unzählige Fortschritte an der Peripherie in den letzten Jahrzehnten tatsächlich ein Segen. Heu-tige Hilfsmittel ermöglichen ihnen, mit dem Rest der Welt selbstständig zu kommunizieren und sich in dieser freier zu bewegen. Insbeson-dere gilt dies für Menschen, die mit äusserst starker Einschränkung der Funktionsfähigkeit von Armen und Händen kämpfen. In Sachen Unabhängigkeit, Mobilität, Chancen im Beruf und Lebensqualität insgesamt hat sich für sie enorm viel verbessert. Die Stiftung FST hat dazu regelmässig bahnbrechende Ideen gelie-fert und deren Realisierung angestossen.Begonnen hatte die bemerkenswerte Ge-schichte der gemeinnützigen Institution in den späten 70er-Jahren in einer Garage im Neu-enburger Jura. Jean-Claude Gabus, Sohn eines

Uhrmachers aus Le Locle, mochte schon als jun-ger Ingenieur nicht zusehen, wie behinderte Menschen von der Kommunikation abge-schnitten wurden. Beflügelt durch entspre-chende Erlebnisse in seiner persönlichen Um-gebung, tüftelte er unermüdlich an Geräten, die den Betroffenen das Schreiben, Kommunizie-ren und das Dasein überhaupt erleichtern soll-ten. Gabus war später mehr als 20 Jahre lang Denker und Lenker der FST. Sein Erfindergeist und seine Ausdauer ebneten den Weg zu teils revolutionären Innovationen, für die er mehr-fach ausgezeichnet wurde.

Kompetenz vor der Haustüre

Schlüssel zum Erfolg war und bleibt die enge Zusammenarbeit mit diversen Forschungs-stätten und spezialisierten Unternehmen. Ei-ner der wichtigsten Partner ist das zur Eidge-nössischen Technischen Hochschule (ETH) Lausanne gehörende IMT. In dessen Büros und Werkstätten herrscht kreative Stille; Wissen-schafter aus dem In- und Ausland produzieren hier künstliche Intelligenz. Man spürt förm-lich, wie akribisch sie den Dingen auf den Grund gehen und mit allen Eventualitäten spie-len. Auf Feinheiten und Kleinigkeiten, auf das Geschick, Logik und Vorstellungsvermögen zu

In einem Vorführraum des Institute of Mic-roengineering (IMT) in Neuenburg hat sich

eine Handvoll Menschen versammelt und schaut gebannt auf die Leinwand. Die Augen der Fachleute beginnen leicht zu glänzen, wäh-rend die neugierigen Laien staunen. Sie werfen gerade einen Blick in eine kleine Ecke der Hightech-Welt von heute. Der Film zeigt einen Rollstuhlfahrer, der sich auf einer imaginären Strasse vorwärtsbewegt: Mal geradeaus, mal nach links oder rechts abbiegend, mal slalom-fahrend oder einen Kreisel umrundend. Das ist an sich nichts Spektakuläres. In diesem Falle aber schon, denn das Gefährt wird weder mit den Händen noch mit einem Joystick gelenkt – sondern allein mit Bewegungen der Augen. Das Geheimnis dafür liegt in dem 2011 entstan-denen System namens Computer Wheelchair Interface (CWI). Es repräsentiert ein jüngeres Gemeinschaftswerk der Stiftung für Elektroni-sche Hilfsmittel FST (Fondation Suisse pour les Téléthèses), des IMT und weiterer Beteiligter.

Spielfeld für Utopisten

Michel Guinand, Direktor der Stiftung FST, hat das CWI-Video schon mehrmals gesehen. Trotzdem kommt er immer wieder aufs Neue ins Schwärmen: «Einfach fantastisch, was mo-derne Technologie kann. Grenzen sind kaum ersichtlich und das Potenzial ist noch riesig.» Bald schon, glaubt er, werde es für ganz be-stimmte Anwendungen Geräte und Systeme geben, die sozusagen alles könnten; an Leis-tung und Komfort wenig zu wünschen übrig liessen und kaum grösser als eine Kreditkarte sein würden. In seiner Prognose ein Stück weit bestätigt, fühlt er sich bei der Firma ER Systems in Le Landeron. Dort haben Elektroniker und Programmierer in aufwändiger Arbeit einen Prototypen der vierten Generation des Umfeld-Kontrollsystems «James» entwickelt. Nach ausgiebigen Tests soll das Gerät gegen Ende dieses Jahres in Produktion gehen. Es wird

Text: Roland Spengler | Bilder: Remo Nägeli, Walter Eggenberger

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1 Dranbleiben: Michel Guinand (links), Direktor der Stiftung FST, glaubt an den Fortschritt und sieht noch viel Potenzial.

2 Präzision: In dem zur ETH Lausanne gehörenden Institute of Microengineering (IMT) in Neuenburg, stehen modernste Apparate im Einsatz.

3 Kontrolle: Durch hochempfindliche Mikroskope lassen sich auch minimste Fehler erkennen.

4 Geschick: Ganz ohne Handarbeit kommen Wissenschafter und Ingenieure nicht aus.

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«In der Technologie liegt riesiges Potenzial»

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kombinieren, auf Präzision und letztlich ergo-nomisches Design kommt es in dieser Branche an. Deren Verwurzelung in der Schweiz, vor allem im Kanton Neuenburg, hat den hervor-ragenden Ruf des IMT mitbegründet. Michel Guinand: «Hier forschen und lehren einige der besten Köpfe, die es auf diesem Gebiet gibt.

Hohe Kompetenz in der praktischen Umset-zung liefern zahlreiche kleinere Betriebe in der Region. Wir haben so direkten Zugang zu erst-klassigen Quellen und können alle voneinan-der profitieren.» Das sieht Pierre-André Farine, Professor und Abteilungschef im IMT, genau gleich: «Unsere Leute bringen spezifische

Kenntnisse und Erfahrungen aus der For-schung sowie multidisziplinären Projekten mit der Industrie ein. Anderseits lernen sie bei Aufgaben, wie sie die Stiftung FST an uns her-anträgt, immer Neues hinzu, das sich später häufig auch anderswo verwenden lässt.»

Lasten breit verteilen

Der aktuelle Katalog enthält mehr als 130 un-terschiedlichste Hilfsmittel. Das Angebot wird fraglos weiter wachsen; auch dank der Stiftung FST. Diese will ihre Dienstleistungen laufend optimieren und weiterhin Motor von Entwick-lung und Herstellung sein. Vorne dabei bleiben bedeutet umgekehrt nicht, alles selber zu machen. Das ist ohnehin illusorisch, weil die

Die Stiftung für Elektronische Hilfsmittel

FST (Fondation suisse pour les Téléthèses)

wurde 1982 von der Schweizer Paraplegi-

ker-Stiftung und der Stiftung Cerebral ge-

gründet. Sie hat ihren Hauptsitz in Neu-

enburg und verfügt über Zweigstellen in

Nottwil, Basel, Zürich und Brissago. Das

Unternehmen beschäftigt 22 Personen

und gehört zu den Pionieren auf dem Ge-

biet der Forschung, Entwicklung und Ver-

mittlung von elektronischen Hilfs mitteln

für Menschen mit Behinderung. Die Tä-

tigkeit konzentriert sich auf drei Bereiche:

Unterstützte Kommunikation, alternative

Eingabesysteme für Computer und Um-

feldkontrolle.

Weitere Informationen:

FST Stiftung für

Elektronische Hilfsmittel

Charmettes 10b

2006 Neuenburg

Telefon 032 732 97 97

www.fst.ch

pionier-Unternehmen

Einfach und zweckmässig sollen Hilfsmittel für

Behinderte gemäss Leitsatz der Invalidenversi-

cherung (IV) sein. Vor 30 und mehr Jahren noch

gab es selten Zweifel, was damit gemeint sei.

Das Angebot an Kommunikations-Hilfsmitteln,

insbesondere fürs Schreiben, war eher beschei-

den. Tetraplegiker etwa, die darauf angewie-

sen waren, erhielten meist simple Tipphilfen.

Die einen bestanden nur aus einem Holzstab

mit Gummikopf; andere aus Plexiglas mit ei-

nem kurzen Gummischlauch am vorderen Ende.

Beide können ihren Zweck weiterhin erfüllen.

Weit stärker verbreitet ist mittlerweile jedoch

die Anwendung raffinierter, multifunktioneller

Kommunikationssysteme.

abklärungen wegweisendModern und ausgeklügelt, oder traditionell und

einfach? Beatrice Flückiger kennt die Probleme,

die bei der Wahl des richtigen Hilfsmittels auf-

tauchen, hinlänglich. Sie leitet die Aussenstelle

der Stiftung FST im Schweizer Paraplegiker-Zen-

trum (SPZ) Nottwil, wo sie mit unterschiedlich-

sten Anliegen und Ansprüchen von Menschen

im Rollstuhl konfrontiert wird. «Jeder Fall ist

an ders gelagert. Das hat nicht nur mit der Be-

hinderung, sondern auch mit vielen anderen

Faktoren zu tun; mit Alter und Geschlecht, mit

beruflicher Tätigkeit, mit Perspektiven und dem

Umfeld der jeweiligen Person.» Zuerst kommen

daher sorgfältige Bedarfsanalyse und gründ-

liche Abklärungen. Hierfür setzt sich die 42-jäh-

rige Beraterin mit Ergotherapeuten der Spezial-

klinik sowie dem Patienten und dessen Ange -

hörigen zusammen. Mitunter dauert es sogar

mehrere Wochen oder Monate, bis man genau

weiss, über welche Fähigkeiten zu elementaren

Handlungen ein Mensch noch verfügt, und wel-

che spezifischen Anforderungen mit Blick auf

die Zukunft zu berücksichtigen sind. Der Faktor

Zeit ist in diesem Prozess aber nicht entschei-

dend. Im Mittelpunkt steht, durch ressourcen-

bezogenes Vorgehen eine ausgewogene Lösung

zu finden – und eine eventuelle Über ver sorgung

Unabhängigkeit erhöhen

Unscheinbar: Ein Reflektor auf der Brille ermöglicht das Schreiben auf PC mittels feiner Kopfbewegungen.

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RepoRtage

finanziellen Reserven der Stiftung limitiert sind. Umso mehr ist Michel Guinand darauf bedacht, für die meist aufwendigen Projekte viele Interessierte zu gewinnen: «Wir müssen Eigenmittel konzentriert und zielgerichtet einsetzen. Zudem verfolgen wir aufmerksam, was anderswo passiert, und kaufen Geräte im Ausland ein, sofern sie geeignet sind.» Selber exportiert man wenig, und wenn, sind es hauptsächlich Lizenzen. Das grösste Hindernis überhaupt, erklärt der Marketing-Fachmann, «ist ein vergleichsweise kleiner Markt welt-weit. Zwar gibt es immer mehr Menschen mit Behinderung. Aber zu wenig, als dass es grosse Stückzahlen lohnte, die zu einer massgebli-chen Produktverbilligung führen würden.»

zu verhindern. Beatrice Flückiger: «Es liegt im

Interesse aller Beteiligten, vor allem jedoch des

Patienten, dass noch vorhandene Funktionen

aktiv gehalten und sogar gefördert werden.

Schliesslich geht es um die Erhöhung der Selbst-

ständigkeit, und nicht um die Schaffung zusätz-

licher Abhängigkeiten.»

Unabhängigkeit erhöhen

Testen. Beatrice Flückiger (rechts) berät Patienten im SPZ Nottwil.

Die SPS engagiert sich seit 30 Jahren für die Stiftung für

Elektronische Hilfsmittel (FST). Weshalb?

Im Rahmen unseres Auftrages, der ganzheitlichen Rehabilitation von Menschen mit Querschnittlähmung, erachten wir es als notwendig, Institutionen wie die FST zu unterstützen. Durch die Anwendung elek-tronischer Hilfsmittel sind in den vergangenen Jahrzehnten bedeutsame Fortschritte erzielt worden. Das gilt ins besondere für die Selbstständig-keit und damit auch für bessere Chancen bei der Wiedereingliederung in die Arbeitswelt.

Lohnt sich der Aufwand in Forschung und Entwicklung im

Verhältnis zum Nutzen?

Die Geschichte der FST belegt, dass sich Investitionen letztlich für alle Beteiligten bezahlt machen. Schweizer gehörten zu den Pionieren in diesem Sektor und setzen starke Akzente in der Weiterentwicklung. Schon darum sollte man das vorhandene Wissen hier behalten, ergän-zen und für spezifische Projekte einsetzen. Sonst würden wir vom Aus-land abhängig. Das hiesse wohl auch, dass das Angebot geschmälert würde oder nur noch einheitlich gefertigte Massenartikel erhältlich wären.

Wäre das nicht im Sinne der IV-Revision, die Einsparungen

bei Hilfsmitteln vorsieht?

Die Invaliden-Versicherung, die für die Hilfsmittel grösstenteils auf-kommt, hat Interesse an tieferen Preisen und mehr Wettbewerb. Dage-gen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Sparen darf hier aber nicht auf Kosten der Qualität oder massiv eingeschränkter Auswahl erfolgen. Wenn doch, litten darunter zuerst die Direktbetroffenen. Später müsste man wegen ungenügender oder ausbleibender Mittel einen Entwick-lungsstopp befürchten.

Stimmt denn die Richtung der derzeitigen Entwicklung?

Der Trend hin zu sehr leistungsfähigen Multifunktionsgeräten ist unverkennbar und nicht aufzuhalten. Das ist durchaus positiv, weil Breitband-Funktionen gerade die Autonomie und Lebensqualität von Menschen mit Behinderung deutlich erhöhen. Man darf nicht verges-sen, dass zahlreiche unter ihnen auf den Einsatz moderner Technologie im Beruf oder anderswo wirklich angewiesen sind.

Sinnvolle Investitionen

Daniel Joggi ist Präsident der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS). Seit 1977 querschnittgelähmt, hat er die Ent wick - lung von elektronischen Hilfsmitteln für Menschen mit Behinderung auf merksam mitver folgt.