MELDUNGEN
Schriftsteller gegen Unrecht der BesatzungDavid Grossmann brachte im Sommer dreißig israelische Schriftsteller dazu, eine Kampagne gegen „die zynische und habsüchtige Besatzung“ zu unterschreiben. Amos Oz und Yoram Kaniuk gehören dazu. Fünfzig Autoren aus aller Welt schlossen sich an, auch die Nobelpreisträ ger Herta Müller, Seamus Heaney, Mario Vargas Llosa und Orhan Pamuk. Konkret geht es in der Kampagne um acht Dörfer des südlich von Hebron gelegenen Gebietes Masafer Yatta. Gegen diese liegt ein Räumungsbefehl des israelischen Verteidigungsministerium von 2012 vor. Durch dieses zu einem militärischen Truppenübungsplatz erklärte Gebiet („Firing Zone 918“) wird die landwirtschaftliche Tätigkeit für die Bewohner nahezu unmöglich.Im September ordnete das Oberste Gericht in Jerusalem ein Mediationsverfahren an, dem die Dörfer, das Verteidigungsministerium und die Zivilverwaltung der israelischen Armee im besetzten Westjordanland zustimmten. ck
Rim Banna aus Nazareth preisgekröntDer palästinensischen Sängerin und Komponistin Rim Banna wurde am 15. November in Berlin der Ibn Rushd Preis für Freies Denken in der arabischen Welt verliehen. In der Begründung heißt es, Musik sei ihr Mittel für kulturelle Selbstbehauptung, mit der sie Respekt und Würde für ihr Volk fordere. Für ihr Album zum zweiten Jahrestag der arabischen Revolutionen „Revelation of Ecstasy and Rebellion“ hat sie dem rebellischen Geist in der Dichtung des Orients nachgespürt und ausgewählte Lyrik vertont. Der Preis wurde für Musiker ausgeschrieben, die kritisches und kreatives Gedankengut, das für gesellschaftlichen Wandel unabdingbar ist, poetisch kondensieren und deren Liedtexte sich mit dem Streben nach Freiheit, Bürgerrechten und Demokratie befassen. Ibn Rush Fund
Marienikone von Ian Knowles auf der Mauer um Bethlehem Foto: Martha Tonsern
Karikatur des palästinensischen Künstlers Naji el-Ali
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Von Christian Sterzing
I sraels Netanyahu konnte es nicht schnell genug gehen. Unter Mis
sachtung eines ausdrücklichen Beschlusses des Obersten Gerichtshofes ließ er nach zwei Tagen Bab al-Shams im Morgengrauen räumen, das Zeltdorf, das etwa 250 palästinensische Aktivisten aus Protest gegen die israelische Siedlungspolitik zwischen Jerusalem und Ma’aleh Adumim im Januar 2013 errichtet hatten. Immerhin hatte es die gewaltfreie Protestbewegung in den palästinensischen Gebieten damit endlich auch in die Meldungen der internationalen Medien geschafft.
Die Überwindung der Aufmerksamkeitsschwelle ist eines der Probleme des zivilen Widerstandes gegen die israelische Besatzung. Es muss Tote geben, damit ein Ereignis berichtenswert erscheint. Hinzu kommt der Kampf gegen eine in vielen Medien vorhandene selektive Wahrnehmung. Sie ist in der Region vor allem auf gewalttätigen „Aufruhr“ und Selbstmordanschläge, auf islamistischen oder palästinensischen Terror geeicht. Palästina und gewaltfreier Widerstand? Ziviler Ungehorsam gegen die Besatzung? Das scheint irgendwie nicht zusammen zu passen.
Aber das Zeltdorf Bab al-Shams („Sonnentor“) blieb kein Einzelfall. Mindestens fünf weitere Zeltdörfer wurden inzwischen errichtet – und meist ebenso schnell vom israelischen Militär geräumt. Schon lange vorher hatte es Versuche gegeben, mit der symbolischen Errichtung von Häusern, Zelten oder Wohncontainern gegen die Beschlagnahme
der wachsenden jüdischen Einwanderung zum Generalstreik und zum Boykott der britischen Mandatsverwaltung aufgerufen. Gleichzeitig hatten sich Widerstandsgruppen gebildet, die den bewaffneten Kampf arabischer Freischärler gegen Juden und Briten unterstützten.
Auch die Erste Intifada war nicht gewaltfrei. Steine gegen Soldaten und militärische Einrichtungen gehörten zu den Mitteln des Protestes. Doch dieser Aufstand war im Kern ein Bürgeraufstand gegen die israelische Herrschaft, geprägt durch vielfältige Formen des gewaltfreien Widerstandes: Streiks, Boykott israelischer
Fortsetzung Seite 2
Ziviler WiderstandNeue Perspektiven im Kampf gegen die Besatzung?
palästinensischen Bodens zu protestieren.
Darüber hinaus haben in den letzten Jahren auch die Demonstrationen gegen den Mauerbau zugenommen. Die seit Jahren in Bil’in stattfindenden Freitagsdemonstrationen sind die bekanntesten. Aber auch die palästinensischen Dörfer Ni’lin und Budrus, Ma’asara, Nabi Saleh und Kufr Qaddum sind Schauplätze regelmäßiger Demonstrationen. Märsche auf checkpoints finden statt, Hungerstreiks in Solidarität mit streikenden palästinensischen Gefangenen, der Wiederaufbau zerstörter Häuser, Kunstaktionen an der Mauer.
Viele MöglichkeitenAktivistinnen und Aktivisten des gewaltfreien Widerstandes sehen sich heute in der Tradition des Arabischen Aufstandes von 1936 bis 1939 und der Ersten Intifada von 1987 bis 1993. In den 30er Jahren hatte das Arabische Hohe Komitee angesichts
Waren, Steuerverweigerung, Aufbau alternativer Infrastrukturen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Versorgung und Ernährung, Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Besatzungsbehörden.
Bil’in Demonstration Foto Johannes Zang
SAND IN DAS UNRECHTSGETRIEBE
Liebe Leserin, lieber Leser,
im Sinne der Vereinten Nationen sind alle Völker gleich, gleich in ihren Rechten und Pflichten. Nur der Staat Israel und seine Bevölkerung werden leider meist anders gesehen. Deshalb dauert die gewaltbestimmte Besetzung und israelische Kolonisierung des palästinensischen Restlandes nun schon seit fast fünfzig Jahren, ohne dass es begründete Hoffnung auf Beendigung dieses Zustands gibt. In dieser Situation befasst sich diese Ausgabe mit dem Recht und den Formen von palästinensischem Widerstand, wobei die israelische Initialgewalt immer präsent ist. Die Erfahrung von massiver Gewalt ruft in jedem Fall Widerstand hervor. Schließlich gibt es auch die Widerstandspflicht für jeden, der für eine Familie, für ein Dorf, für eine Stadt, für ein größeres Gemeinwesen mitverantwortlich ist, wenn diese unter Gewaltherrschaft stehen. Aber selbst gewaltfreier Widerstand ist für das jüdische Staatswesen höchst unerwünscht und führt oft zum Tode von friedlichen Demonstranten. Werden die aktuellen „Friedensverhandlungen“ – im Rahmen eines angeblichen, seit Jahren dahinsiechenden Friedensprozesses – etwas bringen? Gewiss nicht, denn eine ZweiStaatenLösung ist durch Israel mit aller Macht und großem Geschick praktisch unmöglich gemacht, und eine EinStaatLösung lehnt Israel vehement ab.
Was ist dann die Lösung? Es wird weiter geschehen, was schon lange geschieht: Stück für Stück und mit viel Geschick raubt der jüdische Staat weitere Teile vom palästinensischen Restgebiet, vor allem in den CGebieten des Westjordanlandes (62 Prozent). Die Palästinenser werden in acht Zentren zusammengedrängt, vergleichbar den Bantustans und Townships in Südafrika. Und Gaza bleibt abgeschnitten und eingeschlossen. Wer gebietet diesem Prozess Einhalt?
Unrecht gedeiht lange, aber nicht ewig. Stützen wir die noch schwachen RechtSchaffenden, die es gibt im Staat Israel, in den palästinensischen Gebieten, in Deutschland und der Welt. Schütten wir Sand in das Unrechtsgetriebe, zwar ohne konkrete, aber mit ausdauernder Hoffnung.
Ihr Peter Bingel
PalästinaIsraelZeitungfür Völkerrecht und Menschenrechte
herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Völkerrecht und Menschenrechte in Palästina und Israel e. V.Nr. 4 • Dezember 2013 www.palaestina-israel-zeitung.de
IN DIESER AUSGABE
Völkerrechtler Norman Paech im Interview Seite 3
Verweigerin des Militärdienstes Seite 4
Boykott als friedlicher Widerstand Seite 4
Impressum Seite 4
Gaza ohne Strom Seite 5
Buch und Film Seite 6
Mark Braverman über die Deutschen Seite 7
Veranstaltungen Seite 8
WIDERSTAND
Fortsetzung von Seite 1
Ziviler Widerstand
Gewalt gegen GewaltlosigkeitFreitag für Freitag protestieren Palästinenser und israelische Friedensaktivisten gegen die Mauer
So können die gewaltlosen Widerstandsaktionen der Palästinenser heute an eigene Traditionen anknüpfen. Es gab immer wieder zivile Aktionen gegen Besatzung und Annexion wie die Verweigerung israelischer Identitätskarten durch die Drusen auf dem Golan, die Ablehnung der israelischen Staatsbürgerschaft durch die Palästinenser in OstJerusalem, Demonstrationen gegen den Mauerbau, den Boykott der Kommunalwahlen im arabischen Teil Jerusalems, die Ablehnung der Zusammenarbeit mit israelischen Organisationen.
Erinnert sei auch an Mubarak Awad, den vergessenen „Vater“ der palästinensischen Gewaltfreiheitsbewegung. 1983 legte er in seiner Schrift Gewaltfreier Widerstand: Eine Strategie für die besetzten Ge-biete zentrale Überlegungen für neue Formen eines effektiven kollektiven Widerstandes nieder. 1985 gründete er das Palästinensische Zentrum zum Studium der Gewaltfreiheit in Jerusalem. Die wachsenden Aktivitäten des Zentrums wurden offenbar von der israelischen Regierung in der Anfangsphase der Ersten Intifada als so gefährlich eingeschätzt, dass sie Awad, der auch amerikanischer Staatsbürger ist, 1988 auswies.
Gewalt war üblichDie Entwicklung des israelischpalästinensischen Konflikts wurde in entscheidenden Phasen auch von unverhältnismäßiger und illegitimer Gewalt beeinflusst. In vielen Darstellungen wird die nahöstliche Geschichte als eine Kette von Krieg und
Gewalttaten nachgezeichnet. Auch die palästinensische Nationalbewegung blickt im Allgemeinen mit Stolz auf die unterschiedlichen Phasen ihres bewaffneten Kampfes zurück.
Über Jahrzehnte hinweg hat Gewalt das Bild des palästinensischen Widerstandes dominiert: Terroranschläge, Selbstmordattentate, Entführungen, Kommandoaktionen.
Auch wenn die Legitimität von Protest und Widerstand gegen eine völkerrechtswidrige Besatzung grundsätzlich kaum bestritten werden kann, so ist zweifellos nicht jede Form des Widerstandes völkerrechtlich zulässig und legitim. Angriffe auf Zivilisten sind auch in einem asymmetrischen Konflikt nicht zu rechtfertigen.
derartige Domestizierungsbemühungen als hilfreich erweisen, um zu verhindern, dass sich der zivile Ungehorsam nicht nur gegen die Besatzung, sondern womöglich auch gegen die eigene palästinensische Führung und autoritären Herrschaftsstrukturen wendet.
Gewaltloser Widerstand bedarf in der Gesellschaft der breiten und dauerhaften Unterstützung und Beteiligung. Was wir in den palästinensischen Gebieten erleben, ist jedoch keine Massenbewegung. Es ist auch keine pazifistische Bewegung. Gemeinsame politische Zielvorstellungen etwa zur ZweiStaatenRegelung und strategischer Konsens etwa über Bündnisse mit Juden fehlen. Eine Bewegung in Bewegung!
Vor allem sind es viele junge Menschen, die nach dem Scheitern des Friedensprozesses und der Zweiten Intifada aus Enttäuschung über die lähmende Rivalität ihrer politischen Führung und die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft das Potential zivilen Widerstands wiederentdecken. Sie entwickeln es weiter, um den Palästinensern eine neue Perspektive des nationalen Befreiungskampfes zu eröffnen.
Christian Sterzing ist Publizist, Ju-rist und Sozialpäd-agoge, war Bun-destagsabgeord-neter (1994-2002) und Leiter des Büros der Hein-rich-Böll-Stiftung in Ramallah (2004
bis 2009). Zuletzt veröffentlichte er als Herausgeber zusammen mit der Heinrich Böll-Stiftung: „Palästina und die Palästinenser. 60 Jahre nach der Nakba“, Berlin 2011, 376 S.
Weite Teile der palästinensischen Befreiungsbewegung haben es aus falsch verstandener Solidarität versäumt, zwischen legalem Widerstand und illegitimer Gewalt zu unterscheiden. Damit haben sie politische Sympathien eingebüßt. Wegen der Dominanz der Gewalt sah nicht nur die israelische Regierung die Gewalt der Palästinenser als das zentrale Problem des Nahen Ostens und nicht als Folge der andauernden völkerrechtswidrigen Besatzung und der Verweigerung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts an. Doch es hat immer auch die nichtmilitärischen Formen des Protestes und des Widerstandes gegeben. Über Jahre hinweg haben verschiedene Nichtregierungsorganisationen darauf hingearbeitet. Das hat Früchte getragen. Die Zusammenarbeit zwischen Aktionsgruppen hat zugenommen, die Aktionen sind besser organisiert und koordiniert, Aktivistinnen und Aktivisten werden auf geplante Aktionen vorbereitet, eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit sorgt für mediale Beachtung. Zum Instrumentarium gehört auch die BoykottKampagne BDS. Am wichtigsten aber: In der palästinensischen Gesellschaft wird vermehrt über die Strategie des zivilen Widerstandes diskutiert: als Alternative oder Ergänzung zum bewaffneten Kampf oder zur Strategie der Verhandlung und der Internationalisierung.
Welche Attraktivität dieser Volkswiderstand ausstrahlt, mag man an den vielfältigen Versuchen politischer Akteure wie der Fatah ablesen, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Auf diese Weise lässt sich zum einen die eigene friedenspolitische Ratlosigkeit und Strategieunfähigkeit verbergen, zum anderen könnten sich Bil’in – Soldaten verhindern das Pflanzen eines Olivenbaums Foto: Johannes Zang
von Johannes Zang
B il’in, besetztes Palästinensisches Westjordanland, im Jahre 2005.
Kerstin Sodergren, eine Israelin mit schwedischen Wurzeln, nennt die freitägliche Demonstration ohne Umschweife ein „Versuchslabor für neue Waffen.“. Konkret: Waffen namens Schwamm und Bohnensäckchen rufen ihrer Erfahrung nach Hautablösungen hervor. Gelegentlich setze die israelische Armee zudem hohe Lärmfrequenzen ein, um Demonstranten zu vertreiben.
Gleich nach dem muslimischen Freitagsgebet zieht sie mit etwa 150 Demonstranten aus dem Dörfchen hinaus, begleitet von einem halben Dutzend Journalisten. Als wir um die Kurve am Ortsausgang biegen, sehen wir auf dem gegenüberliegenden Hügel die israelische Armee. Plötzlich knallt es, und augenblicklich ringe ich um Luft.
Was ist das? Tränengas! Das hatte ich schon am Rahelsgrab in Bethlehem kennengelernt, aber dieses hier scheint aggressiver zu sein. Ich keuche. Meine Lungen scheinen zu brennen. Ich gehe, tief aus und einatmend, ein paar Schritte in Richtung Dorf zurück. Ein japanischer Korrespondent wischt sich die tränenden Augen trocken. Andere halten eine Zwiebel oder Zitrone vors Gesicht. Allmählich setzt sich der Pulk doch wieder in Bewegung.
Wir erreichen die Soldaten, ohne weitere Tränen zu vergießen. Zwei Stunden lang demonstriert die Menge, ruft Parolen, verliest eine Erklärung, einige diskutieren friedlich mit
Soldaten. Diese schreiten erst ein, als einige Palästinenser einen Olivenbaum pflanzen wollen. Irgendwann wird plötzlich wieder mit Tränengas geschossen. Angeblich hat jemand einen Stein in Richtung Soldaten geworfen.
üblich wie die Ausweisung ausländischer Friedensaktivisten. Seit 2010 erklären israelische Befehlshaber Gebiete, in denen Demonstrationen abgehalten werden, zu militärischen Sperrgebieten. Hier darf sich niemand aufhalten. Außerdem wurde
von gummiummantelten Kugeln und Tränengasgranaten.
Gezielte VerletzungAm 19. Juli traf es Sarit Michaeli in Nabi Saleh. Der Sprecherin von B’Tselem wurde eine gummiummantelte Kugel in den Oberschenkel geschossen, als sie eine freitägliche Demonstration filmte. Aus fünfzehn bis zwanzig Metern, so schätzt sie, schoss ein Grenzpolizist auf sie. Der gesetzliche Mindestabstand beträgt fünfzig Meter.
Michaeli erklärt, dass einige Kinder Steine in Richtung der Sicherheitsstreitkräfte geworfen hatten, jedoch nicht aus ihrer unmittelbaren Umgebung. „Um auf mich zu schießen, musste der Grenzpolizist seine Waffe bewusst in meine Richtung oder die eines Sanitäters und zweier palästinensischer Demonstrantinnen in meiner Nähe richten“, schrieb Michaeli in einer Erklärung.
In punkto Waffenanwendung ist ihre Menschenrechtsorganisation längst zu der Überzeugung gelangt: Israelische Sicherheitskräfte wenden umfassende und großflächi ge Maßnahmen an, um Menschenmassen kontrollieren zu können. Auch bei Demonstrationen auf bewohntem Gebiet, dessen Grenzen nicht überschritten werden dürfen. B’Tselem sind Fälle bekannt, in denen die Sicherheitskräfte im Umgang mit Demonstrationen „verstärkt tödliche Waffen einsetzten, statt Mittel zur Kontrolle von Menschenaufläufen.“
Trotz der „Strangulierung des Dorfes” halten die Freunde von Freiheit und Gerechtigkeit Bil’in an ihrer
gewaltlosen Gesinnung fest: „Zusammen können wir Grenzen abbauen und Barrieren überqueren. Zusammen können wir Brücken des Vertrauens bauen und Gerechtigkeit erreichen. Durch unsere Freunde können wir eine verheißungsvolle Zukunft erkennen, eine Zukunft, in der alle in Frieden, Sicherheit und Würde leben, eine Zukunft ohne Rassismus, in der alle das Recht auf ein volles und freies Leben haben.“
Infos: www.btselem.org
Aktivistin Kerstin Sodergren bei der Demonstration in Bil’in Fotos: Johannes Zang
„Wir sind nicht Euer Feind“: Plakat einer palästinensischen Demonstrantin in Bil’in
„Der neue Widerstand gegen die (zu) alte Besatzung – Eine aktuelle Analyse aus den besetzten Gebieten“: Vortrag von Dr. Helga Baumgarten, Politikpro-fessorin in Ramallah, und Fadi Quran, palästinensischer Aktivist der Men-schenrechtsorganisation Alhaq im Juli 2013 in Berlin: www.youtube.com/watch?v=kVCHCQ2IePA
Demonstrierende rennen zurück. Auch ich mache mich buchstäblich aus dem Staub. Hinter einem Olivenbaum suche ich Schutz. Immer wieder wird in unsere Richtung geschossen, auch mit Gummigeschossen. Dieser Name ist irreführend: Nur außen ist Gummi, innen besteht das Geschoss aus einem Metallkern. Die Demonstration endet leider, wie sie begonnen hat: gewaltsam. Dazwischen lagen immerhin hundert Minuten friedlichen Protestes.
Immer dasselbeSeit diesen Ereignissen sind acht Jahre vergangen. Nun sind Verhaftungen der Organisatoren ebenso
der Befehl Nr. 101 von 1967 bezüglich des Verbots der Aufwiegelung und feindseliger Propagandaaktio-nen wiederbelebt. Er schränkt das Recht von Palästinensern, Demonstrationen zu organisieren oder an ihnen teilzunehmen, stark ein.
Bis heute hat das 1800SeelenDorf Bil’in fast sechzig Prozent seines Landes verloren – aufgrund israelischen Siedlungsbaus und Israels „Apartheidmauer“. Bei Protesten gegen deren Verlauf auf palästinensischem Boden sind bis heute in Bil’in, Nil’in, Nabi Saleh und anderen Orten fünfzehn Palästinenser von isra elischen Sicherheitskräften getötet worden, darunter je zwei
PalästinaIsraelZeitung2 Nr. 4 / Dezember 2013
INTERVIEW
Zur PersonNorman Paech, Jahrgang 1938, ist emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik und Experte für Völker-recht. Er war Abgeordneter und von 2005 bis 2009 außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Gegen Krieg und für die Einhaltung der Men-schenrechte weltweit hat er sich sein Leben lang engagiert. Im Mai 2010 war er auf einem der Schiffe der Gaza Flotille, die die Blockade des Landstreifens durch das israelische Militär mit Hilfslieferungen überwinden wollte.
Er wurde Zeuge des brutalen Überfalls der israelischen Marine auf die Schiffe, bei der mit völlig unnötiger Gewalt auf der Mavi Marmara neun Passagiere getötet und vierzig verletzt wurden. Sein völkerrechtliches Gutachten darüber findet sich in dem
„Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den israeli-schen Angriff auf die Gaza-Hilfsflotille“, Melzer Verlag, Neu Isenburg 2011, heute Zambon Verlag, Franfurt am Main. Paech schreibt mit spitzer und engagierter Feder Reden und Artikel, gerade auch zum Thema Nahost. ck
www.norman-paech.de.
Gewalt gegen das Völkerrecht Professor Norman Paech beantwortet Fragen zu Israel und Palästina
Herr Professor Paech, Sie haben sich intensisv mit Palästina und Israel befaßt. Dort erleben wir viel Gewalt von allen Seiten. Wie paßt das mit dem Gewaltverbot der Vereinten Nationen zusammen?Das ist ja nicht nur in Israel so. Wir erleben derzeit eine Welt, die schwer durch militärische Gewalt in Afrika, aber auch in Asien gezeichnet ist. In Israel ist dies allerdings seit der Eroberung des Westjordanlandes 1967 Alltag geworden. Die andauernde Besatzung palästinensischen Territoriums ist permanente Gewalt. Sie verstößt gegen alle Grundsätze der UNOCharta, wie Interventionsverbot und Gewaltverbot.
Nun gibt es gewisse Ausnahmen vom Gewaltverbot. Ist die Gewalt auf israelischer Seite durch eine die-ser Ausnahmen gedeckt?Die israelische Regierung beruft sich in der Tat auf das Selbstverteidigungsrecht. Sie sagt, weil sie immer wieder angegriffen werde vom palästinensischen Territorium aus, sei sie berechtigt, Gewalt gegenüber den Palästinensern anzuwenden. Es gibt viele Gewaltformen von der täglichen Gewalt an den zahlreichen Kontrollstellen bis hin zu gezielten Tötungen und Überfällen durch Siedler. Dieses alles ist durch ein Selbstverteidigungsrecht nicht gedeckt, weil der Grundtatbestand die völkerrechtswidrige Besatzung ist. Wer sich völkerrechtswidrig in einem Gebiet festgesetzt hat, kann sich nicht auf Selbstverteidigung berufen, wenn derjenige, der besetzt worden ist, sich wehrt.
Von Israel werden gelegentlich auch Angriffskriege geführt. Könnte man die noch als Selbstverteidigung be-zeichnen?Das ist auch hier die Begründung der Israelis. Sie sagen, sie müßten losschlagen, weil es für sie unerträglich sei, wenn sie immer wieder mit Raketen beschossen werden. Dieses ist juristisch genauso unsinnig, denn der Grundtatbestand ist die völkerrechtswidrige Besatzung, und zwar nicht nur des Westjordanlandes, sondern auch Gazas. Gaza ist zwar von israelischen Truppen befreit, wird aber wegen der absoluten Abschnürung
des Territoriums international immer noch als besetzt angesehen.
Wie steht es mit Kriegsdrohungen, zum Beispiel gegenüber dem Iran?Nach Art. 2 Ziffer 4 UNCharta ist nicht nur die Anwendung, sondern schon die Androhung von Gewalt völkerrechtswidrig. Die Beziehungen zwischen den Staaten müssen so geordnet sein, dass kein Staat angegriffen wird noch unter der Drohung steht, angegriffen zu werden. Israel verstößt dagegen fast täglich
Ist die Gewalt von palästinensicher Seite durch die Ausnahmen vom Ge-waltverbot gedeckt?Die Ausnahmen sind ja nur dann gegeben, wenn man sich selbst verteidigt (Art. 51 UNCharta) oder wenn man ein Mandat des UNOSicherheitsrats hat (Art. 42 UNCharta). Letzteres ist nicht der Fall, aber hier ist die Frage der Selbstverteidigung durchaus relevant. Denn wer rechtswidrig besetzt wird, gegen wen rechtswidrig Gewalt ausgeübt wird, der ist in der Tat zum Widerstand befugt. Das ist eine ähnliche Situation, wie wir sie während der Dekolonisierung durch die Befreiungsbewegungen in Afrika gehabt haben. Auch die Palästinenser sind befugt, Gewalt auszuüben in einem legalen Widerstandsrecht gegen rechtswidrige
Besatzung. Allerdings darf sie sich nicht gegen zivile Einrichtungen und Personen Israels richten. Der Beschuß israelischen Territoriums mit Raketen ist insofern völkerrechtswidrig, als er nicht auf militärische Einrichtungen begrenzt wird.
Sind die Pastinenser ein Völker-rechtssubjekt?Ja, sie haben eine begrenzte Völkerrechtssubjektivität, weil sie nicht nur über Territorium und Bevölkerung verfügen, sondern auch durch die PLO, durch Mahmoud Abbas und seine Regierung international vertreten werden. Die PLO ist bereits 1974 ähnlich wie die Befreiungsbewegungen in Afrika als legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt worden. Insofern hat die PLO auch eine Völkerrechtssubjektivität erreicht, die sie handlungsfähig macht. Das Problem ist nur die internationale Anerkennung, die bisher noch nicht den Grad erreicht hat, wie bei den übrigen Staaten. Die volle Anerkennung als Staat wird Palästina immer noch vorenthalten.
Ist der berechtigtete Widerstand der Palästinenser gegen die Besatzung gleichzusetzen mit Widerstandbe-wegungen in der Vergangenheit? Er-gäbe sich daraus eine völkerrechtli-che Wirkung?Die völkerrechtliche Wirkung zeigt sich heute darin, dass das Wi
wie die staatliche Organisation der dort lebenden Bevölkerung eingerichtet wird. 1947 votierte die UNO für ein ZweiStaatenModell. Das hat Israel dadurch abgelehnt, dass es weitere Landesteile gegen den Widerstand der arabischen Staaten erobert hat. Dieses ist von der UNO niemals anerkannt worden. Die biblischen oder mythologischen Ansprüche auf ganz Palästina sind völkerrechtlich völlig irrelevant.
Hat eine Besatzungsmacht be-stimmte völkerrechtliche Verpflich-tungen gegenüber den Besetzten?Ja, das ist unbestritten seit den Haager Konventionen von 1907, aber auch den Genfer Konventionen von 1949. Eine Besatzungsmacht hat ganz eindeutige Pflichten gegenüber den Besetzten. Eine Besatzung darf völkerrechtlich immer nur auf begrenzte Zeit bestehen. Deshalb muß die Besatzungsmacht dafür sorgen, dass das betreffende Territorium und seine Bevölkerung in die Unabhängigkeit entlassen werden. Zu diesen Pflichten gehört insbesondere, dass man die Basisbedürfnisse der Bevölkerung voll erfüllt, was Israel derzeit nicht tut. Es darf auch keine Verschiebung der Bevölkerung geben, indem eingesessene Bevölkerung vertrieben wird oder Bevölkerungsteile der Besatzungsmacht im besetzten Gebiet angesiedelt werden. Das ist verboten.
Kann man die Vorgänge im Westjor-danland als Kolonialismus bezeich-nen?Das ist zweifelsohne eine korrekte Bezeichnung. Dies ist die Kolonisierung eines fremden Landes, welches nicht zu Israel gehört und das besiedelt wird, weil man es auf Dauer behalten will. Die israelische Politik strebt erkennbar die vollständige Integration und Annektion dieses Gebietes mit Hilfe permanenter Besiedlung an. Das ist völkerrechtswidrig.
Es liegt noch nicht lange zurück, da war alle Welt gegen Kolonien. Die Dekolonisierung wurde gefördert und angeblich abgeschlossen. Müßte man nicht jetzt den Blick nach Pa-lästina richten?Es gibt ja immer noch einen Dekolonisierungsausschuss in der UNO, der sich aber nur noch mit wenigen Territorien beschäftigt. Palästina spielt dort so gut wie keine Rolle, müßte es allerdings, denn hier liegt eine widerrechtliche Besatzung vor wie bei jeder Kolonisierung. Das ist durchaus vergleichbar mit dem früheren Siedlerkolonialismus in Afrika, der kein Recht auf ewige Existenz im jeweiligen Gebiet hat. Dieses bedeutet nicht, das Existenzrecht Israels, wohl aber das Recht auf Besetzung Palästinas zu bestreiten.
Das Interview führte Karl-Otto Körber.
Prof. Norman Paech
Israelischer Friedensplan Zeichnung: Carlos Latuff
Das Gewaltverbot gilt in erster Li-nie zwischen Staaten. Ist Israel ein Staat? Es gibt drei Voraussetzungen für einen Staat: ein Territorium, eine Bevölkerung und eine national wie international souverän handlungsfähige Regierung. Diese Kriterien werden von Israel erfüllt. Es ist allerdings ein nicht nur politisches, sondern auch juristisches Problem, dass sich Israel immer noch weigert, seine 1948 von der UNO festgelegten Grenzen anzuerkennen, die nicht die jetzt besetzten Gebiete umfassen.Ein Staat ohne definierte Grenzen mit expansiven Gebietsansprüchen ist immer ein Problem.
Ist Palästina ein Staat?Eine schwierige Frage. Palästina hat sich als Staat konstituieren wollen. Es hat eine Bevölkerung, es hat ein Territori1um, aber noch keine Regierungsorganisation, die in der Lage ist, nach innen und nach außen vollkommen souverän zu handeln. Man kann das aber auch anders sehen: Mit der Ausrufung eines palästinensischen Staates, die schon 1988 erfolgte, ist dieser Staat konstituiert. Dazu bedarf es nicht der Zustimmung der UNO oder Israels. Politisch ist das zur Zeit allerdings in der Schwebe. Die UNO zögert unter dem Druck der USA und Israels, Palästina anzuerkennen. Es wird wohl noch eine Zeitlang dauern, ehe man von einem palästinensischen Staat in gefestigten Grenzen sprechen kann.
der standsrecht der Palästinenser gegen die Besatzung legitim ist, dass auch ihr Anspruch, einen eigenen Staat zu haben, legitim ist. Die politische Frage stellt sich nur, ob das ein separater Staat sein soll oder ob sich Israel in einer EinStaatLösung mit den Palästinensern in einem gemeinsamen Staat vereinigt. Der Anspruch der Palästinenser, von der Besatzung befreit zu werden, ist aber vorrangig und völkerrechtlich wie politisch völlig eindeutig.
Manche Israelis behaupten, es han-dele sich nicht um eine Besatzung, sondern um die Rückkehr in ein an-gestammtes Gebiet.Die Inbesitznahme des Westjordanlandes wird zwar mit biblischen Ansprüchen mythologischer Herkunft begründet, die aber im Völkerrecht überhaupt keine Bedeutung haben. Völkerrechtlich geht es nur darum,
Die Mavi Marmara 2010
PalästinaIsraelZeitung Nr. 4 / Dezember 2013 3
UNO-Charta Artikel 24. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede ge-gen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unverein-bare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
IV. Genfer Konvention von 1949, Artikel 49(1) Einzel- oder Massenverschickungen sowie Verschleppungen von geschütz-
ten Personen aus besetztem Gebiet nach dem Gebiet der Besatzungsmacht oder dem irgendeines anderen besetz-ten oder unbesetzten Staates sind ohne Rücksicht auf deren Beweggrund unter-sagt. [relevant wegen tausender palästinen-sischer Gefangener in israelischen Ge-fängnissen – die Redaktion]
(5) Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet verschleppen oder verschicken.
Foto: Kevin Neish
ENGAGEMENT
IMPRESSUMHerausgeber: Arbeitsgemeinschaft Völ-kerrecht und Menschenrechte in Paläs-tina und Israel e. V. :Redaktion: Dr. Karl-Otto Körber – kö, Christian Kercher – ck (viSdP), Peter Bingel – bgBestellung: Christian Kercher, Christstr. 42, 14059 Berlin, [email protected]: redaktion@palaestina- israel-zeitung.deDie einzelnen Artikel geben nicht not-wendigerweise die Meinung der Redak-tion wieder. Im Fall von offenen Copy-rightfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktion.Druck: Henke Pressedruck, BerlinAuflage: 4500Gefördert durch Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst
Die VerweigerinVom Militärdienst in Israel
Von Eva Baumgärtner
Für die jüdische Israelin Noam Gur ist es eine Autofahrt, die ihr Geschichtsbild bröckeln lässt. Vom nordisraelischen Nahariya, ihrer Heimatstadt, fährt sie mit ihrem Vater nach Haifa, zu Verwandten. So sitzt sie neben ihm und sieht ihr Land am Autofenster vorbeiziehen. Auf dem Weg nach Haifa tauchen die Ruinen des Dorfes alSumayriyya auf. So oft hat sie die schon gesehen, doch an jenem Tag nehmen ihre Augen sie wirklich wahr.
Damals ist Noam 16 Jahre alt. Niemand lebt mehr in dem Dorf, seit 1948 die Bewohner, Palästinenser, vertrieben wurden. „Ich habe nur die halbe Geschichte gelernt“, sagt die heute Zwanzigjährige. Ich treffe die junge Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und den wachen Augen in einem Cafe in Westjerusalem. Sie erzählt mir von ihrer Suche nach Antworten. Sie wollte damals wissen, was man ihr verschweigt – die Eltern, die Lehrer. In Diskussionsforen im Internet findet Noam schließlich Gleichgesinnte, die von einer Besetzung des Westjordanlandes sprechen.
„Warum sollte ich da mitmachen wollen?“An einem Freitag schwänzt sie die Schule und nimmt an einer Demonstration gegen die Besetzung in Bil’in teil, nicht weit von Ramallah. Ihren
Eltern verrät sie nichts davon. Die Demonstration verläuft anders, als Noam sich das vorgestellt hat. Soldaten der israelischen Armee rücken an, die Luft füllt sich mit Tränengas, das Atmen fällt plötzlich schwer.
Es ist die Zeit, in der für Noam die Entscheidung ansteht, in welcher Einheit sie nach der Schule dienen wird. Noam ist in der elften Klasse,
als die Soldaten fast jede Woche in die Schule kommen, um für ihre Einheit zu werben. Das Band zwischen Schule und Militär wird eng geknüpft in Israel. Das Anrücken der Armee während der Demonstration in Bil’in macht Noam klar: „Ich will nicht zum Militär. Warum sollte ich da mitmachen wollen?“.
Ihre Gründe hält sie schriftlich fest: Sie ist gegen die Besetzung, gegen die Waffen, gegen das Tränengas. Knapp drei Wochen muss sie dafür ins Militärgefängnis Nummer Sechs in Atlit, in der Nähe von Haifa. Das war im Jahr 2012. Juristisch beraten und unterstützt wurde Noam in dieser Zeit von New Profile. Als israelische Nichtregierungsorganisation betreut New Profile Wehrdienstverweigerer, gibt Hilfestellung bei Verhaftungen und prangert die Militarisierung der israelischen Gesellschaft an.
Die Lücke im Lebenslauf Seit der Staatsgründung ist das Militär das Herzstück der israelischen Gesellschaft, welches das Überleben des kleinen Landes stets gesichert hat. Daher gehört der Wehrdienst zum Lebenslauf eines jeden Israeli. Wo die meisten den Namen ihrer Einheit eintragen, hat Noam nun eine Lücke. Die Familie tut sich anfangs schwer, die Entscheidung zu verstehen. Noams Mutter hat den Militärdienst abgeleistet, der Vater kämpfte im LibanonKrieg von 1982, die
Schwester war während ihres Wehrdienstes als Grenzpolizistin am Gazastreifen eingesetzt.
Die Mutter will nicht wissen, wo Noam gerade demonstriert, nur, ob alles gut verlaufen ist. Sie macht sich Sorgen um die Tochter. Es ist diese Selbstverständlichkeit, die den Militärdienst in Israel auszeichnet und das Unverständnis, das jenen entgegenschlägt, die sich dagegenstellen. Noam gehört zu den jungen Menschen, die den Dienst verweigern, als öffentlichen Appell gegen die israelische Besatzungspolitik.
GefängnisstrafeDie Entscheidung, aus politischen Gründen zu verweigern, treffen eine Handvoll Israelis jedes Jahr. Die Konsequenz ist eine Gefängnisstrafe. Natan Blanc, ein Zwanzigjähriger aus Haifa, hat einen traurigen Rekord aufgestellt: Für mehr als fünf Monate hat ihn seine Verweigerung ins Gefängnis nach Atlit gebracht. Im Juni dieses Jahres kam er schließlich frei.
Um den Dienst zu umgehen, wählen viele eine einfachere Alternative: Sie geben psychische Probleme an. So macht Noam es am Ende auch. Nach ihrer Zeit im Gefängnis wird sie von einem Militärpsychologen vom Wehrdienst freigestellt. Ihr Ziel, eine Öffentlichkeit zu schaffen, war erreicht. Selbst, wenn es in Israel nur eine kleine Minderheit ist, die davon
Notiz nimmt. Noam hätte auch einen anderen Weg einschlagen können: Den Schulabschluss machen, den Wehrdienst leisten, dann eine Auszeit nehmen, um zu reisen. Viele junge Israelis verbringen längere Zeit in Indien oder Mexiko nach ihren Dienstjahren, „um zu vergessen, was sie erlebt haben“, sagt Noam. Stattdessen arbeitet die Zwanzigjährige jetzt für New Profile und steht anderen Wehrdienstverweigerern zur Seite. Das ist eben Noams Weg.
Eva Baumgärtner studierte Politik-wissenschaft an der Freien Univer-sität in Berlin. Im Frühjahr 2013 nahm sie am Ökumenischen Be-gleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) teil. Drei Monate war sie als Menschenrechtsbeob-achterin in Jerusalem. Die ehemali-gen Teilnehmer dieses Programms des Weltkirchenrates in Genf be-richten nach ihrer Rückkehr über ihre Erfahrungen und können zu Vorträgen eingeladen werden. www.eappi-netzwerk.de
„Produkte aus israelischen Siedlungen? Nein, danke!“Christian Eikenberg von der Bonner BDS-Gruppe über den Aufruf zum Boykott israelischer Waren
Worauf bezieht sich BDS?Es steht für Boykott, Desinvestition, Sanktionen. Palästinensische Organisationen rufen seit 2005 dazu auf, sie auf diesem Weg des gewaltfreien Widerstandes zur Durchsetzung ihrer Grundrechte zu unterstützen. Die Erfahrung legt nah: Israels Regierung reagiert nur auf Druck.
Was tun Sie konkret?Wir sammeln Unterschriften für unseren Aufruf an Geschäfte und Kunden, auf den Vertrieb und Kauf von Produkten aus israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten zu verzichten, wie zum Beispiel auf Kosmetika von AHAVA, Wassersprudler von SodaClub, Obst und Gemüse der Exportfirmen Agrexco und Mehadrin. Wir machen regelmäßig einen Infostand im Stadtzentrum und bitten um Unterschriften. Unser Ziel ist eine fünfstellige Zahl, die auch im Bundestag nicht überhört werden kann.
Wie reagieren denn die Passanten?Insgesamt positiv: „Endlich tut mal wer was“, hören wir oft.
Geht es nur um Produkte aus den völkerrechtswidrigen Siedlungen?Teilweise läßt sich die Herkunft der Produkte auf unserer Boykottliste nicht genau ermitteln. Die israelischen Firmen verschleiern sie systematisch. Der Boykottaufruf gilt für alle mit „Made in Israel“ gekennzeichneten Produkte, die auch in den Siedlungen hergestellt sein könnten. Die Beweislast dafür, dass solche Produkte nicht aus den Siedlungen kommen, liegt bei Israel.
Ist nicht ganz Israel für die Sied-lungspolitik verantwortlich, nicht nur die Siedler?Sicherlich, aber in Deutschland müssen wir Rücksicht auf die Lasten der Erinnerung an das Dritte Reich nehmen. Es wäre taktisch unklug, den Boykott auszudehnen. Das würde die Antisemitismuskeule nur beflügeln.
Argumentativ haben wir Schützenhilfe aus Brüssel: Die EULeitlinien
bei der Beantragung von Fördergeldern verlangen von Israel ab 2014 die Zusage, dass sie nicht außerhalb des israelischen Kernlandes verwendet werden, also nicht in den völkerrechtswidrigen Siedlungen. Und was für öffentliche
Gelder gilt, sollte das nicht erst recht für den noch gewichtigeren Handel gelten?
Kritiker werfen Ihnen vor, Ihr En-gagement verbiete sich angesichts der Nazi-Propaganda der 1930er Jahre: „Kauft nicht bei Juden“?Was haben eigentlich die beiden Dinge miteinander zu tun? Es gibt einen Unterschied zwischen der BDS Kampagne zur Isolierung des Staates Israel wegen seiner ständigen Menschenrechtsverletzungen und wegen seines fortgesetzten Landraubs einerseits und der Ausgrenzung der Juden in der Nazizeit bis hin zum Völkermord andererseits.
Welche Prominenten unterstützen die internationale BDS-Bewegung?Die amerikanische Philosophin Judith Butler, der Regisseur Ken Loach, Desmond Tutu aus Südafrika. Stevie Wonder hat Konzerte abgesagt. Der britische Physiker Stephen Hawking hat sich in diesem Jahr geweigert, Vorträge in Israel zu halten.
Gibt es Erfolge?Gerade hat Vitens, eine niederländische Wasserfirma, die Zusammenarbeit mit Israel deswegen abgelehnt,
besetztes Gebiet führt. Israelische Politiker zeigen sich nervös beim Thema Boykott. Es geht vor allem um die internationale Isolierung wie damals bei der Apartheid in Südafrika. Die Fragen stellte Christian Kercher
Zur Unterschriftenaktion: www.bds-kampagne.de
weil es einen großen Teil seines Wassers aus Quellen in den Palästinensergebieten bezieht. Eine Tochterfirma der Deutschen Bahn hat sich nach Protesten über ihre Beteiligung am Bau der Bahnlinie Tel Aviv – Jerusalem zurückgezogen, die durch Sit-in auf dem Bonner Münsterplatz Fotos: privat
Protest vor dem Bonner Kaufhof
PalästinaIsraelZeitung4 Nr. 4 / Dezember 2013
„Kauft bei Juden, aber keine Pro
dukte aus Israel!“
Iris Hefets, Jüdische Stimme für einen ge-
rechten Frieden
Noam Gur in Bil‘in vor Mauer und Siedlung
Foto: Moheeb Barghouti
DOKUMENTATION
Gaza versinkt in Abfall und AbwasserAus dem Wochenbericht der Vereinten Nationen zum Schutz von Zivilisten vom 19. bis 25. November 2013
G aza ist in Energienot. Es fehlt an Sprit, an Strom, an Gas. Der
Bericht des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) für die Woche vom 19. bis zum 25. November 2013 macht deutlich, welches Ausmaß die Krise angenommen hat. Am 1. November musste das einzige Kraftwerk seinen Betrieb fast vollständig einstellen. Es brauchte täglich 650.000 Liter Diesel für den vollen Betrieb.
Seitdem reicht die Energieversorgung für die 1,7 Millionen Palästinenser nur noch für maximal acht Stunden am Tag. Bisher galt der Nachbar Ägypten als Aushilfslieferant. Dreißig Prozent des Bedarfs hat Ägypten mit seinen Brennstofflieferungen gedeckt. Erreichten Gaza bis Juni 2013 noch eine Million Liter Diesel täglich, so kamen im November nur noch geschätzte 20.000 Liter pro Woche an – und das unterirdisch.
Seit Israel den Landstreifen an der Mittelmeerküste nun schon sechs Jahre lang von allen Seiten blockiert, hat ein Tunnelsystem die Beschaffung von Waren ermöglicht. Ob Nahrungsmittel, Kleidung, Waffen, Benzin oder Gas – die Tunnel im Süden Gazas sind das wirtschaftliche Herz der palästinensischen Enklave. Mehrere hundert unterirdische Gänge sollen die beiden Nachbarn verbunden haben. Doch kam die Tunnelwirtschaft in den letzten Monaten zum Erliegen. Nur wenige Gänge
subventionierte Energie aus Ägypten die Haushaltskasse aufgebessert.
Denn die Tunnel versorgen nicht nur die Bevölkerung, sie sind auch die wirtschaftliche Lebensader der Regierung. Für jeden unterirdischen Gang verkauft die Hamas eine eigene
Lizenz an private Tunnelbetreiber. Dazu kassiert sie Zollgebühren für alle Waren, die in Gaza eintreffen, so auch für die Diesellieferungen. Je günstiger die Energie, umso höher der finanzielle Gewinn für die Hamas.
Ohne Strom für die Pumpen überfluten die Straßen in Gaza, wie hier am 5.Dezember 2013
2012 in Ägypten für Gaza lagern sollen. Der Lieferstopp macht den abgeriegelten Gazastreifen nahezu handlungsunfähig – mit lebensbedrohlichen Folgen.
Fällt der Strom aus, trifft das die Krankenhäuser besonders hart. DialyseMaschinen und Beatmungsgeräte stehen still. Die Generatoren, die für die Stromausfälle in Gaza in jedem Haushalt wie auch in den Kran
kenhäusern stehen, bleiben stumm. Seit Juni kommen keine neuen Medikamentenlieferungen in Gaza an. Mit einer Ausnahme: Im November gaben die ägyptischen Behörden ihre Erlaubnis, hundert Tonnen medizinischer Hilfsgüter ins Land zu transportieren. Eine ausreichende medizinische Versorgung ist damit lange nicht sichergestellt.
Sichtbar ist die Strom und Benzinkrise auch in den Straßen von Gaza. Der Landstrich ist übersäht mit Müllbergen. Laut dem UNOCHAReport kommen täglich rund achthundert Tonnen dazu. Die Müllabfuhr musste ihre Arbeit mangels Treibstoff auf das Nötigste reduzieren. In manchen Gegenden dienen nun Esel als Transportmittel, um die Abfälle wegzukarren. Überlaufende Kläranlagen, deren Pumpsystem ohne Strom nicht funktioniert, setzen zudem ganze Straßenzüge unter Wasser.
Streit um Geld Im Konflikt mit Ägypten soll auch der Streit um Geld eine bedeutende Rolle spielen. Bisher hat Kairo seinen Nachbarn mit verbilligtem Treibstoff versorgt. Das soll sich nun ändern. Zu internationalen Marktpreisen will Ägypten in Zukunft liefern. Eine Erhöhung des Preises will die Hamas nicht hinnehmen, schließlich hat die
Foto: AFP auf alhayat.com
Ein- und Ausfuhr von Waren (Kerem-Shalom-Übergang)
Ein- und Ausreisen am Rafah-Übergang
Importe (in Tonnen) Exporte
1.13519.-25. November 2013Wochen-
durchschnitt 2013 1.277
2.807
2
Jan-Mai 2007 (vor der Blockade)
19.-25. November 2013Wochen-
durchschnitt 2013 5
240Jan-Mai 2007
(vor der Blockade)
19.-25. November2013 Ausreisen
Einreisen
Wochendurchschnitt
Januar-Juni 2013 Ausreisen
Einreisen
318
363
4.2964.242
I S R A E L
Ä g y p t e n
Erez
Karni
Rafah
Kerem Shalom
Nahal Oz
Sufa
Khan Yunis
Jabalia
Gaza City
Beit Hanoun
Al Bureij
Deir al Balah
Beit Lahiya
0 4 82Km
United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs
Gazastreifen: Zugang und Sperrzonen
Mitt
elmeer
6-Meilen-Zone
Wohngebiete
Maritime Sperrzone
Gebiet mit hohem Risiko
Sperrzone der isr. Armee (0,5 km)
Geschlossener Grenzübergang
GrenzübergangWaffenstillstandslinie (Grüne Linie)
Von der israelischen Armee getötete Palästinenser im Gazastreifen
Von der israelischen Armee verwundete Palästinenser im Gazastreifen
diese Woche: 0In 2013 (bis jetzt): 9
Gleicher Zeitraum 2012: 253
2
1.82960 2012, gesamt2013, gesamt
2012
diese WocheWochen-
durchschnitt 1
34
sind übrig geblieben, seit das ägyptische Militär die Tunnel flutete oder die Eingänge mit Erde verschloss.
Der Grund dafür: die Sicherheit. Militante Palästinenser aus Gaza seien durch die Schächte auf die ägyptische Seite gelangt. Auf dem Sinai hätten sie die andauernden Unruhen befeuert. Bereits unter Präsident Mohammed Mursi begann die Grenzpolizei mit der Zerstörung der Tunnel. Seit seiner Amtsenthebung geht das ägyptische Militär noch rigoroser gegen die unterirdischen Verbindungen vor. Damit versiegt Gazas wichtigste Quelle zur Energie und zur Außenwelt.
Folgen für die GesundheitAuch befreundete Staaten wie bei spielsweise Katar nutzen die Schäch te, um Gaza mit Brennstoff zu ver sorgen. Aus dem UNOCHABericht geht hervor, dass zwanzig Millionen Liter Diesel aus dem Emirat seit
Ein- und Ausfuhr von Waren (Kerem-Shalom-Übergang)
Ein- und Ausreisen am Rafah-Übergang
Importe (in Tonnen) Exporte
1.13519.-25. November 2013Wochen-
durchschnitt 2013 1.277
2.807
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Jan-Mai 2007 (vor der Blockade)
19.-25. November 2013Wochen-
durchschnitt 2013 5
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(vor der Blockade)
19.-25. November2013 Ausreisen
Einreisen
Wochendurchschnitt
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Einreisen
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363
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Ohne Strom keine Arbeit Energie bekommt Gaza auch auf offiziellem Weg aus Israel. Die kostet rund doppelt so viel wie die ägyptische. Die Arbeitslosigkeit steigt, seit die kleinen Unternehmen nur noch unregelmäßig produzieren können. Von der Keksfabrik bis zur Nähstube stehen die Maschinen in Gaza die meiste Zeit still. Dabei spielt keine Rolle, wann der Strom fließt. Wenn er nachts plötzlich wiederkommt, dann wird nachts gearbeitet.
Seit die meisten Tunnel verschlossen sind, kommen auch keine Baumaterialien mehr ins Land. Weder über noch unterirdisch. Die Baustellen liegen brach. Gemäß dem UNReport hält Israel die Grenzen dafür seit sieben Wochen ununterbrochen geschlossen. Auch für internationale Bauvorhaben werden weder Zement noch Stahl ins Land gelassen. Die Lage in Gaza spitzt sich zu. Die Blockade von beiden Seiten, von israelischer und ägyptischer, hungert den Landstrich immer weiter aus. Und solange in den Häusern Gazas nachts die Kerzen brennen, ist auch die Energiekrise nicht überwunden.
Eva Baumgärtner
Informationen: www.ochaopt.org
PalästinaIsraelZeitung Nr. 4 / Dezember 2013 5
BUCH UND FILM
Katalog des UnrechtsIsrael wird zunehmend als Kolonialstaat erkannt
G egen Ende des 19. Jahrhunderts wanderten die ersten vom po
litischen Zionismus geprägten Juden in Palästina ein. Sie erwarben Land, um es selbst zu bewirtschaften. Schon in dieser frühen Phase kam es zur Verdrängung eingesessener palästinensischer Bauern. Heute erstreckt sich die zionistische Kolonisierung Palästinas bis zum Jordan. Sie umfaßt allein im Westjordanland fast eine halbe Million Siedler in etwa 150 Siedlungen und rund hundert Außenposten.
Im Windschatten der gefeierten Befreiung vor allem afrikanischer
Völker von ihren Kolonialherren gedieh neuer Kol o n i a l i s mus. Dieser wurde bisher in D e u t s c h land nicht zur Kennt
nis genommen. Deshalb wird das von der deutschen Arabistin Petra Wild vorgelegte Buch über den Siedlerkolonialismus in Palästina dringend gebraucht. Die Autorin sieht im Kolonialismus den tieferen Grund für Apartheid und ethnische Säuberung.
Wild stützt sich auf die vorhandene ausländische Literatur, arbeitet wissenschaftlich und überzeugt mit ihren Argumenten. Dazu gehören Vergleiche mit der europäischen Besiedlung Nordamerikas, Neuseelands und Australiens mit den bekannten grausamen Begleiterscheinungen und Folgen für die einheimische Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund befaßt sich die Autorin im einzelnen mit verschiedenen Politikfeldern und weist überall das unheilvolle Wirken des Siedlerkolonialismus nach. Es zeigt sich besonders deutlich im Westjordanland, wo die einheimische Bevölkerung unter Enteignung und Vertreibung leidet. Das von Agrarunternehmen intensiv landwirtschaftllich genutzte Jordantal weist Wild als besonderen Fall ethnischer Säuberung aus.
Auch innerhalb des israelischen Staates sieht die Autorin den Kolonialismus am Werk. Die Folgen reichen von der Diskriminierung des palästinensischen Bevölkerungsteils über den Rassismus jüdischer Israelis bis zur Vertreibung von Beduinen aus ihren angestammten Gebieten im Negev. Apartheid, ethnischer Säuberung und agressiver Judaisierung des alten Jerusalems einschließlich umfangreicher Zerstörungen palästinensischer
Häuser seit den Eroberungen 1948 und 1967 sowie der Annektion 1980 ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Der Katalog des Unrechts endet mit einem Blick auf die Blockade des Gazastreifens.
Das Buch ist gut lesbar geschrieben und in allen Einzelheiten belegt. Die Literaturliste umfaßt etwa achtzig Bücher und Vorträge, ebenfalls achtzig Berichte und Studien von UNO und Nichtregierungsorganisationen, dazu zahlreiche Hinweise auf Beiträge in den Medien. Fünf vom Verlag beigegebene Landkarten sind leider älteren Datums, in den Anhang verbannt und nicht gut lesbar. Im Hinblick auf die Wahrnehmungsblockade in Deutschland ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen.
Karl-Otto Körber
Petra Wild: Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionis-tische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, 238 Seiten, br., Kar-ten, Promedia Druck- und Ver-lagsgesellschaft m.b.H., Wien 2013, 15,90 €
Petra Wild
Gaza – ganz fern?Gaza ist für die allermeisten ganz fern, weil unerreichbar. Selbst Journalisten gelingt es nur unter Mühen, gelegentlich in den schmalen GazaStreifen zu gelangen. Johannes Zang nimmt seit vielen Jahren diese Mühen auf sich und verfolgt so das Schicksal vieler Menschen in dem großen Gefängnis, das so klein wie Bremen ist, aber inzwischen von 1,7 Millionen Menschen bevölkert wird. Nicht mal bei dringend nötiger medizinischer Behandlung haben die meisten eine Chance, das Land, das keines ist, zu verlassen.
Zang berichtet aus eigenem Erleben vor allem von den vergangenen Jahren. Und er lässt Menschen zu Wort kommen, die dort gearbeitet haben oder leben. Allen voran Abed Schokry, der 2007 in seine Heimat zurückkehrte. Und so die israelischen Militäraktionen 2008/2009 und 2012 erlebte, die Machtübernahme der Hamas und das Versagen der Fatah. Im Fokus die Nöte der Menschen, auch der wenigen Christen und Ausländer, die nach wie vor dort leben. Grundsätzliche Fakten der geschichtlichen Entwicklung kommen dabei nicht zu kurz.
Die Kernbotschaft: „Gaza ist der Inbegriff des Mangels.“ Mangel an Reisefreiheit, an Waren, an Wasser. Ein Leben unter Besatzern, die sich hinter einen Zaun zurückgezogen haben und doch in vieler Hinsicht die Kontrolle behalten haben und jederzeit zuschlagen können. So kommt der harte palästinensische Alltag in Gaza dem Leser sehr nah.
Christoph Gocke
Johannes Zang: Gaza – Ganz nah, ganz fern ... Mit Augenzeugenbe-richten von Abed Schokry. AphorismA Verlag, Berlin 2013. 147 Seiten. € 15
Entfremdung Der Politologe Peter Beinart liefert mit diesem Buch differenzierte Informationen über die Haltung in den USA lebender Juden: zum Judentum als Wertegemeinschaft und als religiöser Gemeinschaft, ihre Haltung zum Staat Israel, zu den einflussreichsten jüdischen Organisationen und zu den amerikanischen Parteien.
Indem er die Gewichtsverschiebungen zwischen den wichtigsten Strömungen des amerikanischen Judentums sowie den Wandel ihrer Bindungen gegenüber der Politik Israels nachzeichnet, macht der Verfasser deutlich, welche politischen Lösungen im Nahen Osten dadurch begünstigt oder tendenziell blockiert werden.
Illustriert wird dies anhand der Unterstützung der NahostPolitik von Präsident Obama, insbesondere dessen Eintreten für eine ZweiStaatenLösung.
Das Buch ist der eindringliche Appell eines liberalen, demokratischen, sich in der zionistischen Tradition verstehenden amerikanischen Juden zur Besinnung auf die politischen Grundsätze, die zur Gründung Israels als des ersten jüdischen Staates formuliert worden waren. Mit diesen ist seine Politik unvereinbar, die Millionen Palästinensern jegliche Bürgerrechte vorenthält. An der Haltung zu den Palästinensern entscheidet sich nach Ansicht des Verfassers nicht zuletzt die moralische Legitimität der Politik des Staates Israel.
Eckart Strohmaier
Peter Bei-nart: Die amerikani-schen Juden und Israel. Was falsch läuft., Ver-lag C.H. Beck, Mün-chen 2013, 320 Seiten, 24,95 €
„5 Kaputte Kameras“ Oscarnominierung für Dokumentarfilm
D er im Februar diesen Jahres für einen Oscar nominierte und im
November mit einem Emmi ausgezeichnete Film „5 Broken Cameras“ erzählt auf sehr persönliche Art die Geschichte des friedlichen Protests des Dorfes Bil’in im Westjordanland unweit von Ramallah gegen den Bau und Verlauf der Mauer und die israelische Besatzung.
Der palästinensische Olivenbauer Burnat avanciert im Jahr 2005 mit seiner ersten Kamera zum DorfChronisten. Er filmt fröhliche Ereignisse im Dorf und die ersten Schritte seines jüngsten Sohnes Gibreel. Er filmt auch dann weiter, als israelische Bulldozer die Olivenbäume der Bauern zerstören und über die Hälfte des Landes der Dorfbewohner enteignet wird.
Er filmt gewalttätige israelische Siedler und wie die sich dahin schlängelnde Mauer hochgezogen und Siedlungen expandiert werden. Sein familiäres Umfeld verknüpft sich in den Bildern eng mit dem von zweien seiner Freunde angeführten
gewaltfreien Widerstandes der Dorfgemeinschaft, auf den von Seiten der israelischen Soldaten brutal reagiert wird.
Die Bilder des Films lassen den Zuschauer sprachlos zurück. Burnat besticht durch seinen unaufgeregten, beinahe beiläufigen Erzählstil ebenso wie durch die Subjektivität seiner Bilder. Genau die ist es, die in aller Deutlichkeit die Auswirkungen der israelischen Besatzung auf die palästinensische Zivilbevölkerung zeigt. Sie veranschaulicht schmerzhaft, wie systematisch von Seiten der israelischen Armee versucht wird, die friedlichen Protestmärsche des Dorfes zu unterbinden: Durch Verhaftungen von Erwachsenen, so von Burnat und seinen Brüdern, und von Kindern, durch maßlose Gewaltanwendung der israelischen Soldaten während der friedlichen Demonstrationen bis hin zur Ermordung von Bassem Ibrahim Abu Rahma, der im April 2009 während der freitaglichen Demonstration von einer Tränengasgranate in die Brust getroffen wird und stirbt.
Auch Burnats erste Kamera wird von solch einer Granate getroffen. Vier weitere Kameras gehen im Laufe der Jahre ähnlich zu Bruch. Aber aus über 500 Stunden Material macht Burnat mit dem israelischen CoRegisseur Guy Davidi dieses berührende Filmdokument.
Martha Tonsern, Öffentlichkeits-beauftragte von Kairos Palästina,
Bethlehem
5 Broken Cameras, ein Film von Emad Burnat u. Guy Davidi, Frank-reich, Israel, Palästina 2011, 90 Min., arab. und hebr. mit engli-schen Untertitlen DVD, 21, 99 €
Hoffen auf WunderErst seit drei Jahren beschäftigt sich der gerade pensionierte Politik und Sportlehrer Ekkehart Drost intensiv mit dem Leben in Palästina und Israel. Und hat in dieser kurzen Zeit einen tiefen Einblick gewonnen in das alltägliche Leiden der Menschen vor Ort. Mehrfach hat er sich als „Ökumenischer Begleiter“ des Weltkirchenrats monatelang im Westjordanland aufgehalten und eine bedrückende Fülle an Schikanen, Demütigungen, Gewalt miterlebt.
Durch seine Erlebnisse mit Palästinensern und Israelis dringt er zu zentralen KonfliktThemen durch: militärische Willkür, juristische Willkür, Siedlergewalt, Landraub. In den besetzten Gebieten genauso wie bei Palästinensern und Beduinen im israelischen Kernland. Drost diskutiert, dreht und wendet entscheidende Fragen und schöpft dabei häufig aus persönlichen Begegnungen mit prägenden Vordenkern: Ist Israel ein Apartheidsstaat? Sollte die BoycottDivestmentSanctionsKampagne unterstützt werden? Kann es eine Zwei oder nur eine EinStaatenLösung geben?
In seinen Begegnungen vor Ort und auf seinen Vortragsreisen in Deutschland sucht er nach Spuren von Hoffnung. Auf ein Wunder. Drost ist überzeugt, dass die Besatzung enden wird, dass sich die öffentliche Meinung in Deutschland wandelt, dass Israel sich von seiner „Sicherheitshysterie“ eines Tages abwendet. Er ist so klug, dafür keinen Zeitraum zu nennen. Ekkehart Drost vermittelt ein aktuelles, persönliches, vielfältiges Bild der Menschen und der Lage vor Ort. Ein lebendiges Buch, das tief eindringt in die fast undurchdringliche Materie und in das Empfinden der Leserinnen und Leser.
Christoph Gocke
Ekkehart Drost: Hoffen auf das Wunder. Meine Begegnungen mit Palästinensern, Israelis und Deut-schen. Beiträge zur Internationalen Politik, Bd. 4. 250 Seiten. Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2013. € 21.
Ideales Geschenk
Ein Standardwerk für Reisende und alle, die mehr über Palästina erfahren möchtenAlternative Tourism Group, Paläs-tina Reisehandbuch: Geschichte, Po-litik, Kultur. Meschen, Städte, Land-schaften, 664 Seiten, gebunden, 800 Fotos, 60 Karten und Stadtpläne, Palmyra Verlag, Heidelberg 2013, 29,90 €
Verhaftete Kinder
Gesammelte Augenzeugenberichte, Interviews und Berichte von UNICEF und der Organisation für Kinderrechte Defense for Children International vertiefen das skandalöse Thema unserer vorigen Zeitungsausgabe:
FrauenWegeNahost (hg.), Palästi-nensische Kinder und Jugendliche in den Fängen der israelischen Militärjustiz, 2.Aufl., 72 Sei-ten, Sept. 2013, 5 € plus Versand-kosten. Zu bestellen bei Sabine Werner: [email protected]
PalästinaIsraelZeitung6 Nr. 4 / Dezember 2013
MENSCHEN
Kein Recht aufzugeben
Als erster Palästinenser erhielt Raji Sourani aus Gaza dieses
Jahr den Alternativen Nobelpreis. Seit fast vierzig Jahren setzt sich der palästinensische Anwalt und Bürgerrechtler für die Menschenrechte ein. Vor israelischen Militärgerichten hat er zahlreiche Opfer erfolgreich vertreten.
Seine Arbeit stellte Sourani unter die Leitlinie: „Als Repräsentanten von Opfern haben wir kein Recht aufzugeben.“ Seine Hoffnung setzt er auf den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte
Der Sechzigjährige lebt mit seiner Frau und zwei Kindern im Gazastreifen. Sein Einsatz brachte ihm sechs Mal Haft in israelischen, aber auch in palästinensischen Gefängnissen ein. Zwischen 1977 und 1990 verbot ihm Israel die Ausreise aus den palästinensischen Gebieten. Dutzende Male wurden seine Kanzlei und sein Haus durchsucht. Auch die Hamas verfolgte ihn. Und die Fatah: Als er öffentlich die Palästinensische Autonomiebehörde dafür kritisierte, dass der Osloer Friedensvertrag von 1993 kein Wort über Menschenrechte enthielt, kam er ins Gefängnis. Er hatte stets den Mut, auch sein eigenes Land offen zu kritisieren. „Ich dachte, dass der Kampf gegen die
RAJI SOURANI
Freiheitspreis für BarenboimDer Dirigent und Pianist Daniel Barenboim wurde am 23. Oktober mit dem Freiheitspreis der Freien Universität Berlin ausgezeichnet. Mit der Ehrung wurde das Engagement des Musikers für einen Dialog im Nahen Osten gewürdigt. Barenboim hatte 1999 gemeinsam mit dem palästinenischen Literaturwissenschaftler Edward Said das „WestEastern Divan Orchestra“ gegründet. Es vereint junge Musiker aus Israel, den palästinensischen Gebieten und arabischen Ländern und soll den Dialog und das gegenseitige Zuhören durch das gemeinsame Musizieren fördern. FU Berlin
Katholisches Wohnhaus zerstörtAm 28. Oktober wurde vom israelischen Militar ein kircheneigenes Wohnhaus in Ostjerusalem zerstört. Der Lateinische Patriarch, Fouad Twal, verurteilte diesen „Akt des Vandalismus“. Laut des UnoBüros zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) zerstörte das israelische Militär in diesem Jahr bis zum 9. Dezember 506 Häuser in Ostjerusalem und den CGebieten des Westjordanlandes. 715 Personen wurden dadurch obdachlos. Kipa/apic
MELDUNGEN
Mark Braverman Foto: Liva Haensel
Besatzung das Schwierigste sei, aber ich fand heraus, dass das naiv war. Der Kampf gegen die eigene Regierung um die Anerkennung von De
mokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ist viel komplizierter und schwieriger“, sagte Sourani einmal.
Als Weltbürger ist Sourani nationalistisches Denken fremd. Trotz erheblicher Mobilitätseinschränkungen aus politischen Gründen gelang es ihm, viele Länder zu bereisen und junge, gleichgesinnte Bürgerrechtler über notwendige Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte zu informieren. Als Präsident der Arabischen Organisation für Menschenrechte wirkt er durch Vorbild und konkrete Programme weit über Palästina hinaus.
Neben Ehrungen durch Frankreich und Österreich erhielt Raji Sourani bereits den Robert F. Kennedy Preis für Menschenrechte. Am 26. September verlieh ihm die schwedische Right Livelihood Stiftung als erstem Palästinenser den diesjährigen Right Livelihood Award, den Alternativen Nobelpreis, „weil er unter außerordentlich schwierigen Umständen unerschütterlich für die Herrschaft des Rechts und der Menschenrechte eintritt“. Aref Hajjaj
www.rightlivelihoodaward.orgwww.pchrgaza.org
Braverman spricht am 17.1.14 in Bonn: siehe S. 8
PalästinaIsraelZeitung für Völkerrecht und Menschenrechte
Die Palästina-Israel-Zeitung ist nicht Partei für Israel oder die Palästinenser, sondern für Menschlichkeit im Sinne der Menschenrechte und des Völker-rechts. Solange Unrecht herrscht, kann es keinen Frieden geben, sondern nur fortgesetztes Leid von Millionen Men-schen. Die Palästina-Israel-Zeitung will Verständnis für die komplizierte Realität des Nahostkonflikts vermitteln. Konkre-tes Unrecht muss benannt und bekannt werden, auch gegen den Willen der Ver-antwortlichen.
Zumal von keiner offiziellen Seite Förde-rung zu erwarten ist, ist die Palästina- Israel-Zeitung auf den Einsatz engagier-ter Gruppen und Einzelner für die Ver-breitung und auf die Hilfe vieler Spender angewiesen. Sie kann für eine gezielte Weitergabe in mehreren Exemplaren bestellt werden. Damit ist die Bitte ver-bunden, nach Möglichkeit mindestens 1 € je Exemplar zuzüglich Versandkosten zu spenden.
Arbeitsgemeinschaft Völkerrecht und Men-schenrechte in Palästina und Israel e.V.
Die gemeinnützige AG sammelt und ver-öffentlicht zuverlässige Informationen über die menschen- und völkerrechtliche Situation und Entwicklung in Palästina und Israel. Auf dieser Grundlage gibt sie die Palästina-Israel-Zeitung heraus. Sie sucht die Zusammenarbeit mit Frie-dens- und Menschenrechtsgruppen in Deutschland, Israel und Palästina.
Wir laden ein, Mitglied in der AG zu wer-den, um ihre Arbeit zu unterstützen und in ihr mitzuwirken. Der Jahresbeitrag be-trägt für Gruppen 50 € und für Einzelper-sonen 30 €. Auf Wunsch senden wir die Satzung der AG zu.
Konto: AG Völker- und Menschenrechte Pal./Isr. e.V. Nr. 705 800 014, BLZ 380 601 86 (Volksbank Bonn Rhein-Sieg) IBAN: DE45 3806 0186 0705 8000 14 BIC: GENODED1BRS
Wenn bei Überweisungen eine steuer liche Zuwendungsbestätigung gewünscht wird, ist die Angabe der Postadresse erforderlich.
Palästina-Israel-Zeitung
Hiermit bestelle ich je Exemplare der Palästina-Israel-Zeitung mit drei Ausga-ben bis zum Frühjahr 2015. Wir bitten um eine Spende von mindestens 1 € zuzüg-lich Versandkosten je Exemplar und Ausgabe.
Arbeitsgemeinschaft Völkerrecht und Menschenrechte in Palästina und Israel e. V.
Ich beantrage die Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft. ja nein
Name: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
PLZ/Ort: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn Sie Kontakt wünschen oder den Antrag auf Mitgliedschaft stellen, tragen Sie bitte Ihre Telefon- und E-Mail-Verbindung ein.
E-Mail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Telefon: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Datum/Unterschrift: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Senden Sie diesen Abschnitt bitte an: Zeitungsbestellung: Christian Kercher, Christstraße 42, 14059 Berlin E-Mail: [email protected] Antrag auf Mitgliedschaft: Peter Bingel, Am Ordensgut 2, 53639 Königswinter, E-Mail; [email protected]
PalästinaIsraelZeitung Nr. 4 / Dezember 2013 7
Alternativer Nobelpreisträger Raji Sourani aus Gaza in Stockholm
Foto: Wolfgang Schmidt
Mauern durchbrechenWorum es mir in Deutschland ging
Von Mark Bravermann
An Deutschland gefällt mir besonders die Eisenbahn und das Bier.
Langsam verbessere ich auch mein Deutsch. Zuhause in Philadelphia haben wir schließlich Jiddisch gesprochen. Aber mich fasziniert hier, dass sich mein Feindbild auflöst, mit dem ich aufgewachsen bin: Mein Jüdischsein war eine Bunker und Opfermentalität. Unsere beiden Hauptfeinde waren die Deutschen und die Araber, die einen in der Vergangenheit, die anderen in der Gegenwart. Und deshalb brauchen wir den Staat Israel.
In Deutschland überwinde ich in mir diese psychologische Mauer so wie ich 2006 die Mauer zu den Palästinensern durchbrochen habe. Damals bin ich zum ersten Mal in das Westjordanland gefahren, um Palästinensern zu begegnen. Wichtige Schritte in Richtung Heilung.
Hier kristallisieren sich meine Themen. Ich sehe in den Deutschen mein Spiegelbild. Bei ihnen habe ich das tiefe Bedürfnis gespürt, von ihren Mauern befreit zu werden. In Stuttgart, vor meinem ersten Vortrag in Deutschland letztes Jahr, sagte mir der Veranstalter: „Sagen Sie nichts zum Boykott! Das ist hier hochsensibel!“. Ich nahm seine Bitte ernst, aber ich spürte später den Hunger bei den Zuhörern, dass das ausgesprochen wird, was sie als richtig empfinden, aber nicht sagen dürfen.
Ich fragte sie: „Wer unter Ihnen verwechselt eigentlich die judenfeindliche Gesetzgebung des Dritten Reichs in den 1930er Jahren mit der internationalen Bewegung heute, den Staat Israel wegen des Unrechts an den Palästinensern zu sanktionieren?“ Ich bat nicht um Handzeichen, aber empfand deutlich die nonverbale Antwort: Es war Erleichterung, ja Dankbarkeit. Ich sagte weiter:
„Ich mache mit Ihnen einen Deal: Wenn Ihr als Deutsche aufhört, Euch als die schlimmsten Verbrecher der Weltgeschichte zu sehen, werde ich als Jude aufhören, das größte Opfer der Weltgeschichte zu sein. Es ist an der Zeit für uns alle, loszulassen und die Zukunft zu gestalten.“
Bücher: Braverman. Verhängnisvolle Scham. Israels Politik und das Schwei-gen der Christen, Gütersloher Verlags-haus, 2011 – ders., A wall in Jerusa-lem: Hope, Healing and the Struggle for Justice in the Holy Land, Jericho Books 2013
Abgesehen davon, dass er den Staat Israel mit den Juden gleichsetzt, ist es problematisch dass er beide, Deutsche und Juden, in ihrem Trauma gefangen hält, wenn er so selbstbezogen in seiner Rolle als Täter bleibt, der sühnen muß. Ich sagte ihm, dass ich die „deutsche Besonderheit“ nicht
akzeptiere, aber selbst wenn, solle er die palästinensische Sache zu seiner machen, den Staat Israel mit seinen Menschenrechtsvergehen konfrontieren und ihn von seiner Rolle als Unterdrücker befreien.
Was ich dem Bischof nicht sagte, aber für wesentlich halte, ist, dass es ihm als Vertreter der Institution im Grunde darum geht, seine Kirche, sich selbst und seine Position vor der Zensur durch das jüdische Establishment zu schützen.
Jesus, der beste JudeDagegen waren die Menschen zwischen Ulm und Hannover, die zu meinen Vorträgen kamen, nicht mehr bereit, sich abspeisen zu lassen mit „Es muß aber ausgewogen sein.“ oder „Wir müssen doch unsere Verbindung mit der Wurzel, dem Judentum, ehren“. Das ist ja richtig, aber da fehlt der Jesus der Evangelien, der vor dem Tempel stand und sagte, der wird zerstört und durch meinen Leib ersetzt werden, was bedeutet: Anstelle des Systems von Gier und Unterdrückung wird eine auf Gleichheit und tätigem Mitgefühl beruhende universale Gemeinschaft treten. Jesus war der beste Jude – er stand für die grundlegenden Prinzipien der Torah, gegen die das damalige jüdische Establishment durch Kollaboration mit dem Römischen Reich verstieß. Er forderte die Mächtigen heraus und stand für die Armen und Unterdrückten auf. Matthäus, Kapitel 25! Ich bete für den Tag, an dem die Christen nicht die Erlaubnis eines Juden brauchen, um Jesus wirklich nachzufolgen, aber für den Moment sehe ich das als meine Aufgabe.
Mark Braverman, jüdischer Tabu-brecher, Psychologe und Autor, war im Frühjahr auf Vortragsreise durch Deutschland, eingeladen vom christ-lichen „Netzwerk Kairos Palästina“.
Textdokumentation und Übersetzung: Christian Kercher; autorisiert durch Mark Braverman, Portland, Oregon
Kirchenvolk gegen LeitungEtwas Besonderes bei der diesjährigen Tour war, dass ich Vertreter der Kirchenleitung traf, zum Beispiel einen ehemaligen evangelischen Landesbischof in Bayern. Er drückte die offizielle Haltung der Kirche so aus, dass die Deutschen eine besondere Verantwortung gegenüber Israel haben. Deswegen könne man den Boykott nicht unterstützen und müsse immer im Dialog mit dem jüdischen Volk bleiben.
PalästinaIsraelZeitung8 Nr. 4 / Dezember 2013 BASAR
PRESSESTIMMEN VERANSTALTUNGEN
Bad Boll4. bis 6. Juli in der Evangelischen Akademie Tagung über „Jugend in Israel und Palästina“
Bamberg3.5. Priesterseminar: Lesung von Johannes Zang Informationen: www.jerusalam.info
Bern/Schweiz27.12.13, 1719 Uhr Bundesplatz: 1.400 Kerzen für die Toten von 2008/9. Fünf Jahre nach dem mörderischem Angriff auf Gaza
Celle22.5. Ev. Freikirchliche Gemeinde, Hannoversche Straße 51, 20 Uhr: Vortrag von Ekkehart Drost „Palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung“
Freiburg (Breisgau)19.1. Café Palestine, 16 Uhr: Vortrag von Ekkehart Drost „Palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung“16.2. Café Palestine: Johannes Zang liest aus seinem Buch „Unter der Oberfläche – Erlebtes aus Israel und Palästina“ Informationen: www.jerusalam.info
Heidelberg21. 1. Palästina/NahostInitiative in der Weststadt, 19:30 Uhr: Vortrag von Ekkehart Drost „Palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung“
Königswinter-Oberdollendorf8.2. Evangelisches Gemeindezentrum, Friedensstraße 29, 10:30 Uhr: Ekkehart Drost „Kim Wessel als OPSchwester in Gaza – Buchpräsentation ‚Hoffen auf ein Wunder’“
Mainz3.5. Ökumenische Versammlung, 10:30 Uhr: Vortrag von Ekkehart Drost „Palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung“
Münchenjeden 2. und 4. Freitag im Monat 13 bis 14 Uhr in der Fußgängerzone:
Mahnwache der FRAUEN IN SCHWARZ „Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten – Schluss mit der Besatzung“
Osnabrück6.2. VHS, Bergstraße 8, 19 Uhr: Vortrag von Ekkehart Drost „Palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung“
Rottweil22. 1. Evangelisches Gemeindehaus, 20 Uhr: Vortrag von Ekkehart Drost „Palästinensisches Leben unter israelischer Besatzung“
Stadthagen11.6. Alte Polizei, Obernstraße 29, 19.30 Uhr: Ekkehart Drost liest aus seinem Buch „Hoffen auf ein Wunder“
Straubing19.3. Karmelitenkloster, 19.30 Uhr: Sumaya FarhatNaser stellt ihr neues Buch „Im Schatten des Feigenbaums“ vor, Informationen:www.straubing.de/de/kultursportundfreizeit/veranstaltungen/Kalender
Reisen in das Heilige Land 19. bis 29. Mai sowie 25. August bis 4. Sepember: Pilger und Solidaritätsreisen mit Pater Rainer Fielenbach, Information: www.karmelitenorden.de
6. bis 16. Oktober – Begegnungsreise Palästina und IsraelInformationen: [email protected]
Daoud Nassar (Zelt der Völker) spricht während seiner nächsten Deutschlandreise in folgenden Orten: 22.3. Freiburg, 23.3. Huefingen, 24.3. Herrieden, 25.3. Bamberg, Gymnasium, und in Würzburg, 26.3. WuppertalRonsdorf, 27.3. Dortmund, 28.3. Münster und Schwerte, Haus Villigst, 29.3. Ibbenbüren und Löhne, 30.3. Emden
Aktuelle Termine unter: www.palaestinaheute.de/Veranstaltungen/veranstaltungen.html und www.friedenskooperative.de/nahost.html
RaufboldDie Süddeutsche Zeitung kommentierte am 7. November: „... der Freispruch für ExAußenminister Avigdor Lieberman führt das Land geradewegs nach vorn in die Vergangenheit. Aller Voraussicht nach wird der russophile Raufbold nun ins Amt des Außenministers zurückkehren. Dort hatte er von 2009/ 2012 bereits beträchtlichen Schaden angerichtet und selbst beste Freunde verstört. ... Israel kannn sich einen Chefdiplomaten vom Schlage Liebermans heute noch viel weniger leisten als früher.“
EntscheidungsunfähigDie Frankfurter Allgemeine am 11. November in einem Kommentar zum Iran: „Eine Entschärfung der IranFrage würde unweigerlich die Blicke wieder auf die Verhandlungen mit den Palästinensern richten. Und da ist Netanjahus Koalition schlicht entscheidungsunfähig.“
UnwilligAm 14. November kommentierte die Frankfurter Allgemeine den Streit zwischen Israel und den USA über den Siedlungsbau: „Netanjahus Bau minister will keinen Palästinenserstaat, und einen Unterschied zwischen einem Bauprojekt an der Mittelmeerküste und im Westjordanland sieht er nicht. Der Siedlungsbau wird weitergehen, unabhängig vom Ausgang der Verhandlungen um Irans Atomprogramm. Damit bleibt die Siedlungspolitik eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einem Frieden zwischen Israel und den Palästinensern.“
EntsetzenDie Neue Zürcher Zeitung am Sonntag wies am 24. November in ihrem Kommentar vom zu den Genfer Atomgesprächen auf eine mögliche Folge für Israel hin: „Aber auch bei der Lösungssuche für den israelischpalästinensischen Konflikt dürfte Teheran künftig über ein Mitspracherecht verfügen. Diese Perspektive ist es, die in Israel Entsetzen auslöst und zum einmaligen Schauspiel führt, dass Premier Netanjahu in aller Öffentlichkeit seinem ‚Freund’ Barack Obama in den Rücken zu fallen versucht.“
MELDUNG
In Mandelas GefängniszelleAm 27. Oktober 2013 begann eine südafrikanische Solidaritätsaktion für die Freilassung Marwan Barghoutis. Die Eröffnungszeremonie fand auf Robben Island in der ehemaligen Gefängniszelle von Nelson Mandela statt. Mitträger dieser Aktion ist die AhmedKathradaStiftung, deren Namensgeber ebenfalls langjährig auf der Gefängnisinsel inhaftiert war. Der palästinensische Politiker Marwan Barghouti war 2002 in Ramallah verhaftet und in Israel unter völkerrechtswidrigen Umständen wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Ahmed-Kathrada-Stiftung
Dicke Bretter „... danke ich für die Überlassung der PalästinaIsraelZeitung, die gut gemachte lesenswerte Beiträge zur Meinungsbildung enthält. Das Bohren dicker Bretter vor den Köpfen ist verdienstvoll.“
Rudolf Herrmann, Bad Honnef
VerbissenSo wichtig ich das Anliegen finde, dem deutschen Leser die Hintergründe des Nahostkonflikts verständlicher zu machen: Von der Weise, in der Ihre Zeitung dies versucht, bin ich zunehmend weniger überzeugt. Das fängt schon beim Namen der Zeitung an. In der aktuellen Ausgabe verteidigen Sie ja ausdrücklich Ihren „einäugigen“ Fokus. Name und Untertitel der Zeitung lassen aber etwas anderesvermuten. Ein anderer Punkt, an dem Ihre Zeitung zunehmend
„verbissen“ rüberkommt: In der allerersten Ausgabe war Kulturelles erfreulich stark vertreten. In der aktuellen Ausgabe finde ich davon kaum noch etwas. Das ist schade.
Judith Bader, Berlin
ErkenntnisPersönlich danken möchte ich Sabine Werner, die auf S.7 „Bekenntnisse eines Kriegskindes“ schrieb.
LESERBRIEFE
Siedler in Hebron und palästinensischer Junge mit Wachturm der israelischen Armee Foto: Sarah Milena Jochwed
BauerEin Bauer,Sohn eines Bauern,Habe ich die Arglosigkeit einer Mutter,Und die GerissenheitEines Fischverkäufers.Ich höre nicht auf zu mahlen,Solang im Hals meiner MühleNoch ein einziges Korn steckt.Ich höre nicht auf zu säen,Solange in meinem SackNoch eine HandvollVon Korn ist.
Taha Muhammad Ali (1941 – 2008)
GEDICHT
Taha Muhammad Ali gilt als der bedeutendste palästinensische Dichter mit israelischem Pass. Sein Heimatdorf Saffoura in Galiläa wurde 1948 zerstört. Als Fremder im eigenen Land, als Bürger zweiter Klasse, kam er nach Nazareth. Dort betrieb er einen Souvenirladen, las und schrieb nachts. „Ich werde fortbestehen / Als ein Fleck Blut / Von der Größe einer Wolke / Auf der weißen Weste dieser Welt.“ In diesen Zeilen eines Gedichts von 1973 ist alles enthalten, was ein geplagtes Volk wie das palästinensische der Welt zu sagen hat, schrieb Harald Hartung in der ZEIT.
ck
Ähnlich verlief auch mein Weg zum Begreifen, wer für die Errichtung des Staates Israel weichen mußte, und ich kenne etliche Menschen meiner Altersklasse (geb.1943), die es genauso erlebt haben. Bei mir war es der Gebetstag der Frauen 1993 oder 1994, der das beschämte Erwachen brachte! ... Ich wünsche Ihnen Kraft und langen Atem bei der Gestaltung der Zeitung und Erfolg mit der Arbeitsgemeinschaft „Völkerrecht und Menschenrechte in Palästina und Israel“ – es ist weiterhin dringend nötig.
Gertrud Zeckau, Holzkirchen
ErschütterndDie Berichte über das Verhalten vom israelischen Militär gegenüber Kindern in den besetzten Gebieten sind erschütternd. Es ist – auch um Israels willen – wichtig, dass diese Dinge bekannt gemacht werden, damit sie endlich – zusammen mit der Besatzung – aufhören! Ich bin auch dankbar dafür, dass in Ihrer Zeitung die Stimmen der israelischen Gruppen zu Wort kommen, die für die Menschenrechte und den Frieden eintreten. Die internationale Solidarität mit den Menschen, die unter der israelischen Besatzung zu leiden haben, kann nur in Zusammenarbeit mit Kräften aus Israel selbst etwas bewirken.
Rudolf Hinz, Groß-Kummerfeld
Warum funktioniert der Friedensprozess nicht? Erstens weil Israel keinen souveränen Staat Palästina will und zweitens weil die USA kein ehrlicher Makler, sondern Israels Bankier und Rechtsanwalt sind. Das Wort ‚Nah-ostkonflikt‘ gaukelt vor, dass es sich um zwei gleichrangige Konfliktpart-ner handelt. Aber des Übels Wurzel ist die fortgesetzte Enteignung von Palästinensern und ihre ethnische Säuberung. Wir haben das in Südaf-rika nicht akzeptiert und wir können das hier auch nicht akzeptieren
Mark Braverman
ZITIERT
aus: Taha M. Ali, An den Ufern der Dunkelheit. Gedichte aus Palästina, übersetzt v. Stefan Weidner, Fischer Tb, Frankfurt am Main, 2013, Seite 75
Was bleibt uns? Gemälde des palästinensischen Malers Ibrahim Hazimeh
Nelson Mandela18. Juli 1918 –
5. Dezember 2013
Herausgeber und Redaktion der Palästina
IsraelZeitung sind dankbar für das Le
ben dieses Kämpfers gegen Apartheid
und für Gerechtigkeit in Südafrika. Möge
sein beispielhafter Einsatz in anderen
Regionen der Welt Nachahmer finden.