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Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung: Die ... · ob das Handeln aus der fest etablierten...

Date post: 18-Sep-2018
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Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung: Die Seminarthemen in der Übersicht Thema 1 Der Probeneinstieg und Probenbeginn oder: Anfangen ist eine Kunst für sich Thema 2 Der Probenhauptteil oder: Von der detaillierten Planung zum situativen Ansatz Thema 3 Die Persönlichkeit des Dirigenten oder: Warum es so schwer ist, sich (oder andere zu ändern) Thema 4 Die Qualität des Sprachverhaltens oder: Wie man in den Wald hineinruft, so tönt es zurück Thema 5 Die Qualität der Bewegung und die kinästhetische Intelligenz oder: Die sensomotorische Bewusstheit schärfen Thema 6 Die Qualität der Motivation - Die Menschen stärken, die Sachen klären oder: Von den Stellschrauben der menschlichen Motivation Thema 7 Die Qualität der Interpretation oder: Wirklich etwas über Musik zu sagen haben Thema 8 Die Qualität der Intonation oder: Ich höre was, was du nicht hörst Thema 9 Kommunikation und Interaktion: eine Beziehungsdidaktik oder: Eine ermutigende Gesprächskultur und tragfähige Beziehungen Musik & Pädagogik Michael Stecher Im Schindwasen 8 79379 Müllheim - Britzingen
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Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung: Die Seminarthemen in der Übersicht

Thema 1Der Probeneinstieg und Probenbeginnoder: Anfangen ist eine Kunst für sich

Thema 2Der Probenhauptteiloder: Von der detaillierten Planung zum situativen Ansatz

Thema 3Die Persönlichkeit des Dirigentenoder: Warum es so schwer ist, sich (oder andere zu ändern)

Thema 4Die Qualität des Sprachverhaltensoder: Wie man in den Wald hineinruft, so tönt es zurück

Thema 5Die Qualität der Bewegung und die kinästhetische Intelligenzoder: Die sensomotorische Bewusstheit schärfen

Thema 6Die Qualität der Motivation - Die Menschen stärken, die Sachen klärenoder: Von den Stellschrauben der menschlichen Motivation

Thema 7Die Qualität der Interpretationoder: Wirklich etwas über Musik zu sagen haben

Thema 8Die Qualität der Intonationoder: Ich höre was, was du nicht hörst

Thema 9Kommunikation und Interaktion: eine Beziehungsdidaktikoder: Eine ermutigende Gesprächskultur und tragfähige Beziehungen

Musik & Pädagogik Michael Stecher Im Schindwasen 8 79379 Müllheim - Britzingen

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 1

Der Probeneinstieg und Probenbeginnoder:Anfangen ist eine Kunst für sich

Zu Beginn einer jeden Probensituation werden in unbewussten Hirnteilen zwei Sachverhalte eingeschätzt: die Glaubwürdigkeit und die Motiviertheit der Interaktionspartner. Sind bereits die Probeneinstiege konzeptlos, dann ist eine Gleichgültigkeit zur gemeinsamen Sache des Musizierens zwischen Dirigent und Musikern vorpro-grammiert. Konzepte des Beginnens verlaufen zwischen zwei entgegengesetzten Polen. Einerseits geht es darum, Rituale zu bilden und zu festigen. Bei den Eröffnungs- und Anfangsritualen ist stets aufs Neue zu hinterfragen, ob das Handeln aus der fest etablierten Macht der Gewohnheit brauchbar ist, um die Sinnfindungsprozesse zum Musizieren in Gang zu bringen. Andererseits ist darauf Wert zu legen, die Probenanfänge bewusst aus der Schablonenhaftigkeit herauszuführen. Hier gilt es, Neues an den Anfang zu stellen. Unverhoffte Einstiege sind bewusst inszenierte Irritationen, mit dem Ziel, die Aufmerksamkeitspotenziale klar und deutlich auf die Sache zu lenken. Jeder Ensemble- und Orchesterleiter benötigt beim Beginnen ein Prozess- und Handlungswissen über die möglichen Formen einer gelingenden Irritation. Dabei geht es einerseits um die Verflüssigung von Starrem, ande-rerseits um die Strukturierung von Flüssigem.

Bereits die Einstiegsphase hat großen Einfluss darauf, wie sich Prozesse der Selbständigkeit bei den Musikern anbah-nen und entwickeln. Wird jeder Probe eine eigenständige Phase des gemeinsamen Einspielens und Aufwärmens vorangestellt, dann fördert dies das selbstständige Einspielen der Musiker nicht automatisch. Daher gilt es auch hier, mit zwei Polen zu jonglieren: Einerseits kann das Beginnen mit pädagogischer Literatur als gemeinsames Einschwingen auf die Sache erleichtert werden. Andererseits fördert aber erst das sofortige Beginnen mit dem Probenhauptteil das eigenständige Einspielen. Die Problematik beim gemeinsamen Einspielen liegt darin begrün-det, dass unverzüglich ein Bedeutungskontext und eine Kommunikation zur Musik in Gang zu setzen ist. Dies lässt sich nur mit wirklich guter pädagogischer Literatur erreichen. Sinnstiftende Qualitäten sind immer auch an ästhetische und künstlerisch wertvolle Inhalte gebunden. Wenn wir das wirkliche Zuhören fordern und fördern möchten, dann sollten wir klar erkennen, dass diese Form des aktiven Zuhörens ein geistiger und kein physischer Prozess darstellt. Das Erfahren dieser Bedeutungskontexte am Anfang einer Musiziersituation, ist mit der gängigen Einspielliteratur nur selten zu ermöglichen, denn durch diese Überlegungen werden qualitative Kriterien an ein pädagogisches Medium gestellt; der globalisierte Massenmarkt bedient aber vorrangig die quantitativen Aspekte. Unter dieser Betrachtungsweise müssen beim Beginnen auch die Einstimmrituale unter die Lupe genommen wer-den. Zwei Aspekte sind kritisch anzumerken: Zum einen sind die sinnentleerten und bedeutungslosen Stimmrituale keine Garanten für das aktive Zuhören. Zum anderen führt das monotone und schablonenhafte Einstimmen auf einen Basiston noch längst nicht zu einer angemessenen Intonation. Hier eröffnet sich der große Kontext zum Lernfeld Intonationskunde (vgl. Thema 7).

Musik & Pädagogik Michael Stecher Im Schindwasen 8 79379 Müllheim - Britzingen

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Welche Bedeutung hat der methodische Dreischritt von Pestalozzi für das Beginnen?Was sind suboptimale Symbolisierungen des Anfangens?Welche Rituale sind beim Beginnen viabel und daher stetig zu fördern?Wie werden beim Anfangen sinnstiftende Bedeutungszusammenhänge erfahrbar?Warum stehen Disziplinprobleme auch mit den Ritiualen des Probeneinstiegs in Zusammenhang?Wie kann durch die Qualität des Beginnens die Probenpünktlichkeit gefördert werden?Das Ausbrechen aus der Monotonie: Welche Methoden können helfen?Die Macht der Gewohnheit positiv nutzen: Wie soll das gehen?Welche pädagogischen Aspekte bilden das Fundament beim Anfangen?Warum bewirken Vorbild und Mitmachen mehr als Belehrung?Warum haben beim Anfangen unbewusste Prozesse motivationale Auswirkungen?Was sind Gütekriterien für eine pädagogische Literatur zum Einspielen und Aufwärmen?Warum ist eine ermutigende Kommunikation in Eröffnungsszenen besonders wichtig?Wie überträgt sich die Didaktik auf der Türschwelle auf die Übedisziplin?

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 2

Der Probenhauptteiloder:Von der detaillierten Planung zum situativen Ansatz

Im Alltagsgeschäft des Probens wird immer wieder der Ruf nach Rezepten laut, wie man eine gelingende Probe pla-nen, aufbauen und strukturieren sollte. Die systemische Pädagogik verweist aber darauf, dass gerade die gewinn-bringenden Proben einen hohen Anteil an situativen, intuitiven und spontanen Momenten aufweisen. Das aktive Zuhören und direkte Reagieren auf die tatsächlichen probenmethodischen Erforderniss ist in einem traditionellen Sinne nicht planbar. Das Ausarbeiten von exakten Verlaufsplänen führt nur selten zu den drei zentralen Aspekten des Probenhauptteils. Zum einen geht es um eine Probeneffizienz, bei der genau die Elemente ins Zentrum des Geschehens rücken, die tatsächlich des Probens bedürfen. Zum anderen sollte das Proben möglichst eng mit dem Verstehen von und Denken in Musik verknüpft werden (vgl. Thema 4 IP). Zum dritten kommt es im Probenverlauf ständig darauf an, dass die Dirigenten wirklich etwas über Musik zu sagen haben (vgl. Hauptthemen 7 und 8). Diese drei Säulen verweisen auf die Elemente, für die die Probenleitung bereits im Vorfeld die Verantwortung trägt. Da wäre einerseits das seriöse Partiturstudium. Intuitiv und wirkungsvoll handlungsorientiert kann nur derjenige agieren, der eine gute Kenntnis der Partitur in den aktuellen Probenprozess einbringen kann. Andererseits sollten sich Leitungspersonen in einem Erfahrungsraum bewegen, der sie immer wieder mit der Frage konfrontiert, was Kunst und Musik im Leben eines Menschen eigentlich ausmachen sollten. Dies ist ein unabschließbarer und nie endender „Permanent-Prozess“ und kein zufälliger „Ab-und-zu-Prozess“; er gilt für Amateure genauso wie für professionell Handelnde. Nur aus der eigenen „Bildung zur Musik“ resultiert im täglichen Probehandeln die tra-gende Determinante zu einer wirklich gelingenden Methodik: Die Sache muss mir selber wichtig sein.

Das intuitive Agieren und Reagieren im Probenprozess bedarf eines Gewahrwerdens vielschichtigster Aspekte. Die Frage „Was soll ich als nächstes tun?“ muss stets unter einem stimmigen Verhältnis gegensätzlicher Pole ihre Beantwortung finden. Erst deren Synthese rechtfertigt den wahren situativen Ansatz. Da steht zuerst das Verhältnis zwischen Sprechphasen und Spielphasen auf dem Prüfstand. Das Dirigentensprechen geht immer zu Lasten der praktischen Musikeraktivität. Dann brauchen Proben eine stimmige Balance zwischen Detailarbeit und Durchspiel. Eine Effizienz dieses Gegensatzpaares kann nie am Schreibtisch vorausgeplant werden; sie ist permanent im tatsächlichen Handeln zu erspüren. Gleiches gilt für das Polpaar Lob und Kritik. Die positive Kritikformulierung stellt ohnehin eine rhetorische Kunstform dar, die die Fähigkeit erfordert, noch im Unvollkommensten die Keime des Bessern zu sehen, um diese präzise und deutlich herauszustellen. Die positive Verstärkung hat wenig mit pauschalem Loben zu tun, das meist gar gut gemeint ist, aber ignorant gegenüber dem realen Stand des Erreichten daher-kommt. Letztlich bleibt auch auszuloten, ob das Verhältnis zwischen den Aufforderungen des Dirigenten und den tatsächlichen Umsetzungen der Musiker stimmig erscheint. Schließlich muss sich der eingebrachte Energieeinsatz auf lange Sicht immer auch in der Probeneffizienz niederschlagen. Wäre nämlich dieses Verhältnis dauerhaft unstimmig, dann ginge dies zu Lasten der Motiviertheit beider Parteien. Einseitige Schuldzuweisungen bei moti-vationalen Problemen sind immer müßig. Sie gleichen der Frage, ob denn das Huhn oder das Ei zuerst da waren.

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Hirnphysiologisch bedarf es beim Proben der vollen Bewusstheit. Sind Tätigkeiten aber nicht automatisiert, dann werden die Aufmerksamkeitsprozesse augenblicklich auf einzelne Teiltätigkeiten fokussiert. Das bedeutet immer, dass die Bewusstheit nicht mehr breit gestreut und zeitgleich allen Probenparametern zur Verfügung steht, sondern eben stark gebündelt auf wenige Probenaspekte eingeschränkt wird. Mit anderen Worten: Niemand kann all das, was beim täglichen Proben stattfindet, parallel oder gleichzeitig wahrnehmen. Die Wahrnehmungsprozesse folgen einer Sukzession, sind also nacheinander abzuhandeln. Dirigenten, die breit gefächert Wahrnehmen und quasi „über der Sache stehen“, beherrschen den Umgang mit der rotierenden Aufmerksamkeit. Sie wis-sen einerseits um all die Parameter, auf die es überhaupt zu achten gilt, während sie andererseits ihre bewussten Wahrnehmungen blitzschnell durch das breite Arsenal der Musizieraspekte führen. Wer den Probenhauptteil methodisch unter die Lupe nimmt, sollte viel Zeit in den Umgang mit der rotierenden Aufmerksamkeit investieren. Hier liegt ein Schlüssel zum Erfolg und eine Garantie, warum situative Ansätze oft besser gelingen können, als streng und penibel durchdachte Schreibtischplanungen.

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Was ist situatives Handeln im systemischen Sinne?Was ist tatsächlich planbar und wie kann diese Planung ins Feld geführt werden?Welche Bildung ist von Nöten, um tatsächlich etwas über Musik zu sagen zu haben?Welche emotionalen Grundhaltungen sind kurz vor dem Proben abzurufen?Wie können wir uns verhalten, wenn uns die Felle beim Proben davonschwimmen?Wie wird einem die Sache so wichtig, dass der Funke beim Proben überspringt?Ruhe und Aufmerksamkeit: Mit welcher Methodik werden sie gefördert?Disziplinprobleme: Wie können wir ihnen wirksam begegnen?Die vielschichtigen Aspekte des Probens: Was ist methodisch von Wichtigkeit?Was sind effiziente Proben und wie können diese gefördert werden?Was hat die Hirnforschung zum Thema effizientes Proben beizusteuern?Wo liegen die Mythen der Hirnforschung, die uns keinen Millimeter weiter bringen?Welches sind die Parameter der rotierenden Aufmerksamkeit beim Proben?Wie ist die rotierende Aufmerksamkeit zu schulen?

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 3

Die Persönlichkeit des Dirigenten (oder Lehrers)oder:Warum es so schwer ist, sich (oder andere) zu ändern

In der Pädagogik wird stets betont, dass die Person des Lehrers (des Dirigenten) ins Spiel kommen muss, ja, sie ist gleichsam das stärkste Mittel für die wahrhaft gelingenden Lehr- und Lernbeziehungen. Sollen im Probengeschehen nachhaltige Änderungen zum Tragen kommen, so sind diese immer auch an Veränderungen der beteiligten Personen gebunden. Nun wird aber auf allen Forschungsebenen deutlich, dass es ein sehr schwieriges Unterfangen ist, in oder an uns Menschen Veränderungsprozesse in Gang zu bringen. Offenbar existieren starke Muster in denen wir gehalten sind. Und trotz vieler Ratgeber von ausgewiesenen Experten bis zu dreisten Scharlatanen versu-chen wir (mehr oder weniger erfolglos) auf eine andere Spur zu kommen. Vieles von den Ratschlägen und den Expertenhinweisen funktioniert einfach deshalb nicht, weil es kein „kognitives Problem“ ist, denn wir wissen sehr wohl, was wir verändern könnten, sollten oder müssten, das Problem ist aber: Es geht nicht! Was sind diese

„Bremsklötze“, an was kommen wir nur sehr schwer heran? Es sind unsere Haltungen, Vorstellungen und Einstellungen, unsere Überzeugungen und Wertungen; sie sind offenbar relativ änderungsresistent. Wenn sich wirklich etwas ändern soll, was tatsächlich von bleibendem Wert ist, dann gilt es zu fragen, welche Instanz sich in uns „fügen“ sollte, damit tragfähige Veränderungen möglich werden. Die neuzeitlichen Neurowissenschaften verweisen darauf, dass sich das unbewusste Selbst auf der unteren und mittleren limbischen Ebene verändern muss, damit sich unsere Primärkonstruktionen und routinemäßigen Wahrnehmungen verändern. Das Problem an der ganzen Sache ist aber, dass wir diese subcortikalen Bereiche im Wesentlichen nur nichtrational und nie durch Moralisieren erreichen. Um es unmissverständlich offenzulegen: Es ist mittlerweile durch natur- und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse belegt, dass eine lineare Disziplinierungs-, Moralisierungs- und Belehrungspädagogik nicht taugt, um uns Menschen in unserer Persönlichkeitstypologie nachhaltig zu verändern. Nachhaltig meint, dass uns unsere Bildung so „im Griff hat“, dass wir uns von ihr tatsächlich auch leiten lassen, erst dann besitzt Bildung ihren Wert.

Im Zuge derartiger Überlegungen stoßen wir auf einen der größten Mythen der Hirnforschung. Selbst wenn gebetsmühlenhaft betont wird, dass das menschliche Gehirn zeitlebens form- und veränderbar sei, uns also als neuroplastizites Organ begegnet, dann gilt dies - trotz dieser optimistischen Beteuerungen - nicht für alle Bereiche des menschlichen Daseins. Gerade aus unseren emotional konditionierten Primärkonstruktionen kom-men wir nicht so ohne weiteres heraus, vielleicht sogar zeitlebens nie! Wer leichtfertig derartige Mythen verbreitet handelt populärwissenschaftlich oder er betreibt einen schlechten Journalismus. Seriöse Hirnforscher verweisen immer deutlicher darauf, dass sie auf die hier skizzierten Fragestellungen noch nicht ausreichend abgesicherte Ergebnisse vorlegen können, und dass dies vielleicht auch nie verlässlich möglich sein wird. Das liegt an der vielschichtigen Komplexität des menschlichen Gehirns. Die leidtragenden sind die Pädagogen, die auf die einfache Veränderbarkeit des Menschen setzen, um dann im alltäglichen Lehrbetrieb immer wieder an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Dass diese Ansprüche falsch erhoben sind, dies wird leider zu oft verkannt. Kein Pädagoge kann Veränderungserfolge garantieren und gleichsam ist er aber doch dafür verantwortlich.

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Das ist nun mal die paradoxe Struktur der pädagogischen Aufgabe. Wer sich Denkübungen über die menschliche Persönlichkeit und deren Veränderbarkeit auferlegt, der kommt ohne die Erkenntnisse der systemischen Pädagogik zu keinem fruchtbaren Ergebnis. Die systemisch-komplexe Wechselwirkung der persönlichkeitsbildenden Faktoren beendet die alte Kontroverse zwischen „Anlage“ und „Umwelt“ ebenso, wie diejenige zwischen „Individualität“ und „Sozialität“. Was aber noch wichtiger erscheint ist die Offenlegung, dass die systemische Beschreibung dem immer noch vorherrschenden „Erziehungsoptimismus“ widerspricht. Zwei Aspekte sollten ausführlich klargelegt werden: Zum einen geht es um eine neue Bewusstheit über das menschliche Verhalten mit einer klaren Konturführung, in welchen Bereichen Menschen kaum (oder nur sehr schwer) veränderbar sind. Dieses Wissen um die Unwirksamkeitstoleranzen kann so genutzt werden, dass es zur Grundhaltung einer neuen pädago-gischen Gelassenheit führt. Zum anderen brauchen Führungspersonen Denkanstöße, wie sie lernen können, mit den eigenen Defiziten umzugehen. Das systemische Denken kann hilfreich sein, wenn es im Alltagshandeln darum geht, die suboptimalen Erstreaktionen durch optimierte Zweitreaktionen zu ersetzen. Die Kompetenz die wir dafür benötigen, das wäre erstens die Fähigkeit, Vertrautes aufzugeben, und zweitens der Humor und der Optimismus, um die eigene Stimme des ständigen Bescheidwissens verstummen zu lassen.

Jeder Mensch besitzt zweifelsohne verschiedene Merkmale, die seine Persönlichkeit kennzeichnen und bestim-men. Wenn die Forschung recht behält und davon auszugehen ist, dass der erwachsene Mensch in seinen Primärkonstruktionen und seinen Persönlichkeitsmerkmalen nur äußerst schwer zu verändern ist, dann füh-ren diese Erkenntnisse zu einer wichtigen Frage: Welche Persönlichkeitsmerkmale sind in pädagogischen Führungsrollen (Dirigent oder Lehrer) unverzichtbar, damit Lehr-und Lernprozesse gelingen können? Die syste-mische Pädagogik verweist auf eine klare Messlatte, die für das professionell-pädagogische Handeln anzuset-zen ist. Führungspersönlichkeiten können nur dort Wirkungen beim Gegenüber entfalten, wo ihr Agieren und Reagieren beim anderen Resonanz erzielt. Wer aufgrund seiner Typologie oder Persönlichkeit und aufgrund seiner fest eingespurten emotionalen Konditionierung nur unzureichende Resonanzfähigkeiten besitzt, der sollte sich gründlich überlegen, ob pädagogische Wirkungsfelder für sein Wesen und für sein „In-der-Welt-sein“ die richtigen Aufenthaltsorte sind. Wenn in den Studiengängen an Musikhochschulen primär nur die künstlerische Kompetenz als Einstieg und Eignung für die Musikberufe herangezogen wird, dann wird sich in den pädagogischen Feldern so schnell kaum etwas zum Besseren wenden. Die entscheidenden Persönlichkeitsmerkmale wie Empathie oder Resonanzfähigkeit sind im pädagogischen Alltag oftmals wichtiger als das hochspezialisierte instrumentaltech-nische Können. Leider werden diese menschlichen Kompetenzen nur unzureichend berücksichtigt.

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Warum ist es so schwer, sich oder andere auf eine neue Spur zu bekommen?Wie steht es um die verschiedenen Bereiche der Veränderbarkeit beim Menschen?Anhand welcher Einzelmerkmale wird heute die menschliche Persönlichkeit definiert?Welches sind die tragenden Determinanten der Persönlichkeit?Wie und wann bilden sich die verschiedenen Ebenen der Persönlichkeit aus?Was versteht man unter der emotionalen Konditionierung?Wie kann man seine Primärkonstruktionen entdecken und eventuell verändern?Was ist der Unterschied zwischen Erst- und Zweitreaktionen?Welche Rolle spielen die Gene bei der Entwicklung einer Persönlichkeit?Inwiefern kommt die genetische und die individuelle Hirnentwicklung zum Tragen? Welchen Einfluss hat die Intelligenz auf die Ausformung einer Persönlichkeit?Warum macht Lernen intelligent und warum sind Begabungen zu fördern?Moralisieren und Predigen verändert den Menschen nicht, aber warum ist das so?Wie kann man „Resonanzfähigkeiten“ trainieren und wo liegen die Grenzen?

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 4

Die Qualität des Sprachverhaltensoder:Wie man in den Wald hineinruft, so tönt es zurück

Im Probenalltag stören sich viele Dirigenten am Umstand, dass sie ihre Anweisungen meist bis zu dreimal wieder-holen müssen, bis die Aufforderungen auf der Musikerseite Gehör finden. Bevor hier über wirksame Veränderungen nachgedacht werden kann, sollte zuerst geklärt werden, wo eine der Ursachen für die vielen Sprachwiederholungen liegt. Die unmissverständliche Antwort lautet: Dirigentenäußerungen sind dreimal zu wiederholen, weil sie dreimal wiederholt werden! Aber warum wiederholen Dirigenten ihre Ansagen eigentlich so oft? Auch hier ist die Antwort schnell gegeben: Es ist die Macht der Gewohnheit. Die Wirkungen der Sprachgewohnheiten sind für beide Seiten ein eingeschliffenes Verhaltensritual. Dem Orchesterleiter sind seine Kommunikationsrituale nur selten bewusst und die Musiker haben sich - in gleichfalls oft unbewussten Prozessen - auf dieses Prozedere eingestellt. Das Ausbrechen aus diesen Verhaltenszirkeln ist alles andere als einfach. Hier neue Gewohnheiten ins Feld zu führen ist einerseits für den „Sender“ der Botschaft mit viel Übung verbunden. Andererseits wartet auf die „Empfänger“ ein Lernweg, bis sich ihr Agieren und Reagieren auf die neuen Kommunikationsgewohnheiten eingestellt hat. Letztlich führt an diesen Lernprozessen aber kein Weg vorbei, denn das Proben wird erst dann wirklich effizient, wenn die Qualität des Sprechens unter kommunikationspsychologischen Gesichtspunkten effektiv wird.

Wir stoßen grade auch beim Kommunikationsthema auf die Erkenntnisse der systemischen Pädagogik. Sie verweist mit Recht darauf, dass unsere Schablonen der Alltagskommunikation eng mit unseren Primärkonstruktionen verknüpft sind. So ist es die Regel, dass wir aus unseren „Containern“ heraus kommunizieren. Probleme entste-hen vor allem dann, wenn die Grundmuster unserer Kommunikation mit verschlossenen „Containertüren“ ver-laufen. Wer sich um die Qualität des Sprechens bemüht, der ist beständig daran interessiert, die Türen seines Containers zu öffnen. Die einfachen Türöffner sind schnell erklärbar. Bis sie dann als neue Sprachgewohnheit die Alltagskommunikation beherrschen, ist allerdings einiges an Übung aufzuwenden. Diese Mühe lohnt auf jeden Fall, denn fortan wird die Kommunikation in den Orchesterproben offener und dadurch tragfähiger. Es existieren aber auch äußerst problematische Faktoren: Wer sein Gegenüber im eigenen Urdrama des Öfteren missbraucht, der hat nicht nur sämtliche Türen seines Containers verschlossen, sondern vor diesem Schutzraum auch noch zusätzliche Sperren errichtet. Dieser Aspekt verweist auf das Thema, inwiefern sich Menschen und deren Charakterzüge über-haupt verändern lassen (vgl. Thema 3 PP). Fest steht jedenfalls, dass sich die Persönlichkeit einer Führungsperson immer auch im Sprachverhalten widerspiegelt: positiv und negativ.

Die Qualität des Sprechens verweist direkt auf die pädagogische Einstellung einer Führungsperson. Denn im Sprachverhalten kommt deutlich zum Ausdruck, ob das Agieren des Dirigenten im traditionellen Erziehungsge-danken verhaftet bleibt, oder ob der systemische Beziehungsbegriff die grundlegende Handlungsmotivation darstellt. Es ist die verbale (und die nonverbale) Kommunikation, insbesondere die Qualität der Rückmeldungen und die Beherrschung einer „Metakommunikation“, die maßgeblich am Aufbau einer tragfähigen Beziehungsebene

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zwischen Dirigent und Musiker beteiligt ist. Gleiches spiegelt sich im Umgang mit Konflikten und Widerständen. Konflikte sind in zwischenmenschlichen Beziehungen völlig normal, aber die Qualität der Konfliktbewältigung hat einen enormen Einfluss auf die Qualität der Beziehung. In den derzeitigen Ausbildungsgängen werden die kommunikativen Kompetenzen nur unzureichend trainiert. Somit sind gehäufte Störungen in der Kommunikation der Normalfall. Unausweichlich sind damit zwischenmenschliche Probleme vorprogrammiert. Wer das Miteinander konstruktiv gestalten will, der erkennt das Zusammenspiel zwischen der kommunikativen Qualität und der Beziehungsebene: Beide sind untrennbar miteinander verbunden.

Effektive Proben sind an effektives Sprechen gebunden. Dieser Weg beginnt bei der Einmaligkeit der Äußerung, führt weiter über eine gelungene Balance zwischen Sprachimpulsen und nonverbalen Dirigierimpulsen und mündet in der Kompetenz, nie verbal um Ruhe zu bitten. Hinzu gesellt sich die hohe Kunst, Kritik positiv zu formulieren. Diese positive Verstärkung erfordert eine Fähigkeit, noch im Unvollkommensten die Keime des Besseren zu entdecken,um diese dann klar herauszustellen. Bei dieser rhetorischen Kompetenz geht es nicht um das pauschale Loben, das meist gut gemeint daherkommt, aber ignorant gegenüber dem realen Stand des Erreichten ist. Dass in dieser Probenatmosphäre Spott und Zynismus tabu sind, das versteht sich eigentlich von selbst. Wer sich die rhetorischen Mittel zu eigen machen will, der versucht seine Sprachschablonen zu erkennen und eliminiert nach und nach seine Marottenwörter. Er verzichtet auf die übertriebenen Höflichkeiten und findet mehr und mehr zu seiner Authentizität. Sie sorgt für eine Klarheit in der Kommunikation und ist letztlich förderlich für die zwischenmensch-liche Beziehung. Denn jedes Sprechen bezieht sich nicht nur auf einen Sachaspekt, sondern schließt immer auch die Beziehungsebene mit ein: Was ich über den anderen sage, sagt mehr über mich als über den anderen.

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Warum ist die Qualität der Kommunikation für die Beziehungsebene wichtig?Wie lauten die systemischen Axiome der Kommunikation?Welche Sprachkompetenzen helfen beim Öffnen der Containertüren?Sach- und Beziehungsaspekte: Warum weist jedes Sprechen beide Ebenen auf?Warum sollten wir uns vom „Sender-Empfänger-Modell“ verabschieden?Das „Vier-Seiten-Modell“ der Kommunikation: Wie hilft uns dies weiter?Welche Bedeutung hat die „Metakommunikation“?Wie kann man durch die Qualität des Sprechens Konflikte bewältigen?Wie hilft gezieltes Sprechen beim Minimieren von Widerständen?Mit welchen sprachlichen Methoden werden Orchesterproben effektiver?Die „Fettnäpfchen“ der Kommunikation: Wie sehen diese aus?Welche Sprachschablonen wirken im Probenverlauf demotivierend?Warum sollte man sich seiner Sprachdramaturgie bewusst werden?

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 5

Die Qualität der Bewegung und die kinästhetische Intelligenzoder:Die sensomotorische Bewusstheit schärfen

Über die Qualität unserer Körpersprache steuern wir im Probenalltag weitaus mehr, als uns bewusst wird. Wollen wir mit rein körpersprachlichen Elementen Ruhe und Aufmerksamkeit erzeugen, so bedarf dies einer subtil und hoch entwickelten Körperdramaturgie. Unsere körpersprachlichen Signale greifen auch direkt in die motivatio-nalen Prozesse beim Proben ein, denn mit Mimik und Gestik zeigen wir unsere positive oder negative Gestimmtheit schneller und deutlicher als dies durch verbalen Äußerungen möglich ist. Ferner wird die Beziehungsstruktur zwischen Dirigent und Musiker auch über körpersprachliche Prozesse gelenkt und unterstützt. Zurückhaltung und Bescheidenheit oder Überheblichkeit und Arroganz, all dies sind immer auch komplexe Ausdrucksformen des körperlichen Auftretens. Schließlich steht das gesamtkörperliche Verhalten in enger Beziehung zur pantomi-mischen Wiedergabe der Musik. Ohne kinästhetische Intelligenz ist es uns nicht möglich, rein körpersprachliche Botschaften bezüglich unserer musikalischen Vorstellung und Empfindung zu senden. Eine passende, stimmige und gelungene Bewegung kann oft mehr als tausend Worte ausdrücken. So zeigt eine pantomimisch aussagekräftige Bereitschaftsstellung schon sehr viel über das nachfolgende Musizieren. In den körpersprachlichen Bereichen ste-hen Empfindungs- und Ausdrucksdefizite immer mit weitreichenden Auswirkungen in Verbindung. Sich bewusst mit seinen nonverbalen Signalen auseinanderzusetzen gehört daher zum Grundrüstzeug eines Orchesterleiters.

Dirigieren ist zu großen Teilen eine körperliche Tätigkeit und daher nicht einseitig auf kognitive Prozesse einzuen-gen. Unsere Bewegungen führen die verinnerlichten musikalischen Intentionen nach außen, machen sie also für das Gegenüber sichtbar. Somit ist Proben und Dirigieren immer auch ein Führen und Leiten, ein Impulsgeben und ein Reagieren mit körpersprachlichen Mitteln. Nehmen wir die Ebene des Bewegens ganzheitlich unter die Lupe, so wird uns deutlich, dass wir viel zu wenig von dem wissen, was wir ständig tun. Dies liegt vor allem darin begründet, dass unter dem ganzheitlichen Blick die Motorik allein das Phänomen einer funktional-integrierten Körpersprache und Körperdramaturgie nicht erklären kann. Die Motorik beschreibt die Gesamtheit der aktiven, vom Gehirn aus bewusst gesteuerten und koordinierten Bewegungen unseres gesamten Körpersystems. Dieser einseitige Blick muss auf die Bereiche der Motilität erweitert werden. Die Motilität beschreibt die Gesamtheit der nicht bewusst gesteuerten Bewegungen unseres Körpers und unserer Organe. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass die wahre Autorität eines Dirigenten nicht allein auf seine fachlichen Qualifikationen und Wissenskapazitäten zurückgeführt werden kann, sondern auch aus dem Bewegungsverhalten entsteht, denn unsere Spontaneität beruht auf der Motilität. Natürlich ist unser Körper nicht alles, aber ohne unseren Körper ist nichts. Er zeigt durch die faszinierende Vielgestaltigkeit seiner Ausdrucksmöglichkeiten, dass er die Äußerung unserer Psyche ist. Sobald Dirigieren zu einer körperlichen Angelegenheit wird, hat diese Tätigkeit nicht nur mit einer „Wissens-Intelligenz“ zu tun, sondern auch sehr viel mit einer individuellen „Körper-Intelligenz“.

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Der traditionelle Dirigierunterricht verfolgt eine Bewegungsautomatisation durch motorisches Konditionieren. Mit Hilfe des Denkens wird eine möglichst fehlerfrei arbeitende „Körpermaschine“ gesteuert und programmiert. Dabei rückt das Bewusstsein um die eigene Körperlichkeit in den Hintergrund; ein somatisches Verständnis ist dieser Lehre fremd. Eine funktional-integrative Dirigiermethodik stellt die Entwicklung eines differenzierten Körperbewusstseins in den Mittelpunkt des Unterrichts. Es geht zunächst um die Herausbildung eines klar umrissenen mentalen Bewusstseins vom eigenen Körper, um die Bildung einer Bewusstheit für den Körper und für körperliche Vorgänge, dann aber auch um die Entdeckung unseres einverleibten Wissens, um unsere leibhaftige Vernunft, um die bewusste Weiterentwicklung der Selbstwahrnehmung, also um die Totalität unserer organologischen Intelligenz. Wer den integrativen Weg wählt, der verlässt die Zweiteilung von Körper und Geist. Er betrachtet den Menschen als eine untrennbare psychophysische Einheit. Wir haben nicht nur unseren Körper, sondern wir sind auch unser Körper. Wir werfen dann den Blick auf das tief greifende Erfahrungsbewusstsein unseres Körpers, der im leiblichen Sinn um sich selbst „weiß“. Diese Art des „Körperwissens“ wird in der funktional-integrativen Dirigiermethodik mit dem Begriff der „somatischen Körperlogik“ beschrieben. Unsere unbewusst wissende Körperlichkeit ist omniprä-sent. Auch unsere abstraktesten Denkvorgänge, unser ganzer Intellekt, unsere Ratio und Logik haben als allumfas-sende Grundlage das Soma als Ursprung alles Lebendigen. Eine ganzheitlich verstandene Dirigierdidaktik strebt durch eine Umstrukturierung der Ausbildungsinhalte ein Neulernen der Sensorik an. Dies ist erforderlich, denn wir können dirigiermotorisch nur das verändern, was der Dirigierschüler sensorisch und emotional wahrnimmt.

Dirigieren lernen ist eine Erziehung des komplexen sensomotorischen Systems. Wer nicht „von Natur aus“ kinästhe-tisch dirigiert, muss dieses System umerziehen, da nahezu alle Bewegungsdefizite erlernt sind. Dieses Umlernen ist alles andere als einfach, denn es beginnt nicht beim Verfeinern einer besonderen Dirigierfähigkeit, sondern es ist ein generelles Lernen das erst auf die speziellen Fähigkeiten des Dirigierens vorbereitet. Dabei geht es um Übungen und Lektionen, die zur Integration neuer sensomotorischer Muster in unserem zentralen Nervensystem führen. Dirigierunterricht kann nur dann wirklich gelingen, wenn eine somatische Erziehung zu effizienten Bewegungen gelehrt und gelernt wird. Diese Arbeit am Körper, seinen Talenten und Schwächen, führt zur Selbsterkenntnis und zu Korrekturen im körperlichen, seelisch-geistigen und sozialen Bereich, also zu einem vertieften Lernprozess über seine Identität. Die Beherrschung der Grammatik seines Körpers optimiert viele Lebenssituationen. Veränderungen im Spielraum und in der Qualität von Bewegungen wirken weitreichend.

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Was sind Elemente einer aussagekräftigen Körperdramaturgie?Wie lernen wir die Grammatik unseres Körpers kennen?Wie lässt sich die kinästhetische Intelligenz entwickeln?Was ist der Unterschied zwischen Motorik und Motilität?Wie und warum wirken Körper und Psyche in einer Einheit?Warum erwächst die wahre Stabilität aus einer körperlichen Labilität?Welche Lerninhalte kennzeichnen eine funktional-integrierte Dirigiermethodik?Was ist generelles Körperlernen und welche Methoden werden praktiziert?Wie wirkt sich das generelle Körperlernen auf eine spezielle Dirigierästhetik aus?Was versteht Moshé Feldenkrais unter dem Ansatz „Bewusstheit durch Bewegung“?

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 6

Die Qualität der Motivation - Die Menschen stärken, die Sachen klärenoder:Von den Stellschrauben der menschlichen Motivation

Viele Orchesterleiter fragen sich, wie sie ihre Musiker am besten motivieren können. Diese Frage ist aber nicht richtig gestellt, denn sie gleicht der Fragestellung: Wie erzeugt man Hunger? Jeder weiß, dass sich Hunger normalerweise von sich aus einstellt, dann nämlich, wenn unser Körper zur Aufrechterhaltung seiner Funktionen Nahrung benö-tigt. Folglich wäre bei der Motivation zur Musik eine andere Frage zu stellen: Unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen stellt sich die Freude zur Musik von selbst ein? Die Psychologen würden fragen: Wie entsteht die soge-nannte intrinsische Motivation? Mit anderen Worten: Wir sollten beim Motivationsthema Antworten suchen, die uns zeigen, wie der Mensch eine Tätigkeit um ihrer selbst willen ausführt.

Das Entscheidende vorab: Motivation und Bildung haben etwas gemeinsam, beide Begriffe sind reflexiv, also auf sich selbst rückbeziehend. Es heißt „sich“ motivieren oder bilden und nicht „jemanden“ motivieren oder bilden. Daher sollte deutlich gemacht werden, dass die Musiker immer zuerst an eine eindeutige Eigenverpflichtung für ihre Freude beim Üben und Musizieren gebunden sind. Musiker machen es sich zu einfach, wenn sie sich in die Probe setzen und meinen, dass nun der Dirigent für ihre motivationalen Einstellungen verantwortlich ist. Bei diesen Formulierungen leuchten die Dirigentenaugen, denn die Hauptlast bezüglich der motivationalen Rahmenbedingungen scheint von ihren Schultern genommen. Doch Vorsicht: Die reflexiven Zusammenhänge wirken reziprok, sie gelten auch für den Dirigenten. Er trägt die Hauptverantwortung für seine Motivation zum Musizieren und Proben ebenso in sich selbst. Wenn Orchesterleiter beim Ausbleiben von positiven Rückmeldungen von Seiten der Musiker enttäuscht sind, so ist dies durchaus verständlich. Schließlich möchten ja auch die Dirigenten für ihre gute Arbeit gelobt werden und Anerkennung finden. Dennoch zäumen wir durch diese einseitige und pola-risierende Auffassung das Pferd von der falschen Seite auf. Ehe wir uns versehen, landen wir durch die Fragestellung, warum denn die Musiker ihre Dirigenten so wenig motivieren, in einer Sackgasse. Natürlich ist es nicht so einfach einzusehen, dass gerade auch Personen in Leitungsfunktionen die Hauptstellschraube ihrer Handlungsfreude in sich selbst finden müssen. Führungskräfte können aber nicht einfach darauf warten, dass sie von ihrem Gegenüber für ihr Agieren ständig positiv gestärkt werden. Nein, an erster Stelle steht die Eigenmotivation, die in Leitungspositionen immer auch an die Anforderungen geknüpft ist, die man an sich selbst stellt. Damit stehen wir vor einer qualitativen Fragestellung: Wie fordere ich mich selbst und welche Erwartungen habe ich von meinem persönlichen Agieren im Probenalltag, dass sich in mir eine Zufriedenheit aufgrund meines Tuns einstellt?

Zurück zur Reflexivität der Motivation, denn die obigen Überlegungen müssen eine Fortführung erhalten. Wohl heißt es „Ich motiviere mich“, aber dieser reflexive Aspekt braucht ein Weiterdenken: „Mein Umfeld hilft mir dabei!“. Damit stehen wir vor der pädagogischen Herausforderung, welche Erfahrungsräume den menschlichen Tatendrang unterstützen und fördern. Es sind in erster Linie die Kontexte, die über das Prinzip der Menschlichkeit

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auf Resonanz setzen. Die systemische Pädagogik lehrt uns, dass wir auf andere Menschen keinen direkten Zugriff haben, wir können sie nicht unmittelbar „verändern“. Ausnahmslos jeder Mensch ist ein autopoietisches System, ein in sich vollständig abgeschlossenes Konstrukt. Lebende Systeme sind individuelle Gebilde mit einem ganz entscheidenden Faktum: Für ihre persönliche Weiterentwicklung brauchen sie unbedingt Kontakt zu und mit anderen Systemen. Diese gegenseitige Beziehung kommt über das Prinzip der strukturellen Koppelung zu-stande. Erleben wir diese Resonanz und eine gemeinsame Orientierung an Sinnzusammenhängen, dann zie-hen wir hoch motiviert an einem Strang. Aber noch einmal in aller Deutlichkeit: Wir können diese Entwicklungen nicht von außen erzwingen, nein, sie geschehen immer von innen. Damit dies aber einfacher gelingt, brauchen wir eine neue Pädagogik, wir brauchen Erfahrungsräume, die die Grundzüge einer Beziehungsdidaktik in den Mittelpunkt stellt. Für Dirigenten lautet dann die erste Maxime „Autorität durch Beziehung“ und die zweite trägt den Titel „Motivation durch Resonanz“.

Generell ist die Qualität der Freude, die aus eigener Anstrengung kommt, immer höher als das passive Erlebnis. Wer nach Zufriedenheit strebt, der weiß, wie eng diese Gefühlsmomente mit Selbstüberwindung und Eigenleistung verknüpft sind. Hinzu kommt, dass der Mensch seine wahre Erfüllung meist nicht auf direktem Wege erreichen kann. Erst auf einem indirekten Weg, der uns Energie und Arbeit abverlangt, wird tiefe Zufriedenheit erfahrbar. Die gegenwärtige Konsum- und Wohlstandsgesellschaft preist an allen Ecken den schnellen Lustgewinn ohne allzu große Anstrengung an. Diese direkte Bedürfnisbefriedigung hat allerdings ihre Schattenseiten. Einerseits bewegen wir uns im Terrain der Verwöhnung, andererseits werden Handlungen einseitig über eine Erhöhung der Reizstärke ausgelöst. Motivational beginnt nun ein Teufelskreis. Das liegt zum einen daran, dass sich Reize sehr schnell abschleifen. Über kurz oder lang sind so immer höhere Reize nötig, damit wir uns zum Tun veranlasst fühlen. Zum anderen leidet unter diesen direkten Befriedigungen das wohl wichtigste Motivationsprinzip des Menschen: Die eigene Aufwärtsentwicklung bleibt dabei auf der Stecke. Intrinsische Motivationen sind immer an ein Emporkommen der Person gebunden. Diese aufwärtsgerichtete Entwicklung lässt uns das Gefühl von Kompetenz erfahren. Dabei geht es um die Freude an unseren wachsenden Fähigkeiten. Jeder Mensch, der eine Tätigkeit beherrscht, genießt die gekonnten Fertigkeiten. Biologisch ist dies durchaus ein Lustgewinn, aber ein Lustgewinn mit oder durch Anstrengung und daher immer dem indirekten Prinzip verhaftet. Gleichsam findet der Mensch in dieser Aufwärtsentwicklung und im zielgerichteten Tun einen Sinn, im idealen Fall seinen Sinn.

Psychologen bringen mit der intrinsischen Motivation das viel zitierte flow-Erleben in Verbindung. Wer flow erlebt, der geht in der Tätigkeit voll und ganz auf. Stunden vergehen wie Minuten und Versagensängste werden ausge-blendet. Letztlich kann uns dieses Gefühl über uns selbst hinausführen. Doch auch hier kommt das indirekte Prinzip zu Geltung, denn flow stellt sich nicht ein, wenn man sich entspannt. Wer aus der Tätigkeit des Musizierens seine Motivation schöpft, muss über hohe Fertigkeiten verfügen und auf hohe Anforderungen treffen. Hier schließt sich der Kreis zu den reflexiven Zusammenhängen der menschlichen Motivation, denn Anforderungen können nicht nur von außen an eine Person herangetragen werden, nein, wir können uns durchaus selbst Fordern. Jeder Mensch kann flow erleben, denn diese intrinsischen Motivationserlebnisse sind nicht alleine an die Spitzenleistungen von musikalischen Talenten gebunden. Wer sein subjektives Fähigkeitspotenzial aufwärts entwickelt, sich gleichsam selbst fordert oder sich auf fordernde Erfahrungsräume einlässt, wird tiefe Zufriedenheit spüren, gleichgültig, wel-che Fähigkeitsplattform am Anfang steht. Es wird auch hier deutlich, dass die Bewegung die Substanz des Lebens ist. Es vollzieht sich unter den beiden entgegengesetzten Prinzipien des Wachstums und des Niedergangs. In Wirklichkeit gibt es keinen Stillstand. Es kann keinen Stillstand geben, denn wenn das Wachstum aufhört, beginnt ein Niedergang. Ein Niedergang, der zunächst kaum wahrnehmbar sein mag, aber im Laufe der Zeit immer deut-licher wird. Nur die Bewegung führt uns zum Sinn es Tuns und letztlich zum Sinn des Lebens. Die Sinnfrage obliegt nur uns Menschen, denn sie ist der Ausdruck unserer geistigen Dimension, also das, was den Menschen erst zum Menschen macht. Dabei ist Sinn die gelebte Antwort auf die Frage „Wozu leben?“. Der Schlüssel zum Sinn liegt somit in der Öffnung zum Leben hin. Pädagogisch ist die Frage nach dem Sinn vor allem darum interessant, weil Sinn nicht vermittelt oder einfach jemandem gegeben werden kann, denn dies würde lediglich auf ein wirkungs-loses Moralisieren hinauslaufen. Sinn kann auch nicht direkt erzeugt werden. Unsinn als absurdes Theater der Gegenwart schon. Sinn muss von jedem Einzelnen gefunden und immer wieder neu entdeckt werden.

Hartmut von Hentig hat mit seinem Werk „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ die Zusammenhänge päda-gogisch auf den Punkt gebracht. Er beschreibt die Schwierigkeiten, eine Gesellschaft aufzuklären, die sich für aufge-klärt hält. Dabei stellt er die Frage, ob Vernunft lehrbar ist. Wer sich in den nächsten Jahrzehnten mit menschlicher Motivation auseinandersetzt, kommt nicht umhin, die Grundzüge dieses pädagogischen Ansatzes zu studieren. Sie führen uns zur Umkehrung des Prinzips der Aufwärtsentwicklung, nämlich zur Bescheidung. Die Zukunftsfähigkeit unseres Planeten und somit das Überleben der Menschheit steht auf dem Spiel. Darum sind wir dazu angehalten die Abwärtsentwicklung neu zu denken. Entschleunigung statt Beschleunigung, gründliches Denken statt bloße Information, weniger statt mehr. All dies wären Übungen in praktischer Vernunft. Sie muss letztlich das Fundament der menschlichen Motivation bilden.

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Warum brauchen wir einen ganzheitlichen Blick auf die Motivationsprinzipien?Wie können wir die ganzheitliche Perspektive einnehmen?Welchen pädagogischen Grundprinzipien fördern die intrinsische Motivation?Warum hat die Reflexivität der Motivation eine große Bedeutung?Inwiefern wirkt das systemische Resonanzprinzip auf die Motivation?Warum wirkt das Prinzip Menschlichkeit stark auf die Motivation ein?Was kann die systemische Pädagogik zum Motivationsthema beisteuern? Warum hat die Selbstforderung eine große Bedeutung für die eigene Zufriedenheit?Weshalb ist das Nörgeln an den mangelnden Übeleistungen oft kontraproduktiv?Die Aufwärtsentwicklung ist ein grundlegendes Motivationsprinzip: Warum ist das so?Inwiefern ist die Abwärtsentwicklung neu zu denken? Warum ist das Motivieren über eine Erhöhung der Reizstärke untauglich?Was ist „Funktionslust“ und wie können wir diesen Lustgewinn erfahren?Was ist „flow“ und an welche Bedingungen ist diese Gefühlsebene gebunden?Warum sind Motivationsfragen letztlich immer Fragen nach dem Sinn?Die Menschen stärken, die Sachen klären - was hat das mit Motivation zu tun?

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 7

Die Qualität der Interpretationoder:Wirklich etwas über Musik zu sagen haben

Die letzten Jahrzehnte haben die akustische Landschaft grundlegend verändert. Der musizierende Mensch steht vor neuen Realitäten, die das Musikerleben und das Musikleben unweigerlich beeinflussen. Einerseits werden wir ständig und überall mit Musik und Schall bombardiert. Das Leben unter der akustischen Glocke ist unausweich-liche Realität geworden. Dies hat enorme Auswirkungen auf die musikalische Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit: sie stumpft ab. Und alles flacht ab, nur eines nicht: die Lautstärke. Die Degenerierung der menschlichen Sinne wird durch die medialisierte Konsumgesellschaft ausgelöst. Andererseits haben sich neue Sichtweisen über Musik und deren Interpretation durchgesetzt. Durch diese veränderten Musiziergewohnheiten verändern sich auch die Hörgewohnheiten, denn die Parameter des Musizierens sind einem ganzheitlichen Wandlungsprozess unter-worfen. Diese Revolution wird durch die sogenannte historisch orientierte Aufführungspraxis ausgelöst. Ihre Interpretationsgrundlagen und Denkweisen gilt es kennenzulernen.

Wer sich über die Qualität seiner Interpretationen Gedanken macht, der wird einem Lernprozess zum Zuhören begegnen. Zuhören ist aber ein hoch geistiger und kein rein physischer Prozess. Diese Denkübungen verknüpfen zwei Ebenen: Die intellektuelle Seite (nach Pascal die „raison arithemétique“), sich durchaus auch „wissenschaft-lich“ mit Musik und deren Aufführung auseinanderzusetzen und die emotionale Ebene (nach Pascal die „raison du coeur“), quasi „das Denken des Herzens“. Die Schwierigkeit, sich auf dieses Nachdenken einzulassen, liegt darin begründet, dass wir gerade diesen aktiven Prozess des bewussten Zuhörens verlernt haben. Wir treffen gegenwär-tig auf überwiegend blind gewordene Hörer. Längst hat sich das Hören vom Denken abgespaltet. Die bloße Aufnahme von Musik ist mittlerweile eine suchtartige Sache, die wichtiger ist, als ihre geistige Verarbeitung. Der Anteil an fremdbestimmter Musik wächst unkontrolliert an, während die Zeit und Muße zur selbstbestimmten Musik kontinuierlich abnimmt. Auch auf einer zweiten Ebene hat die Musik Zug um Zug ihre Eigenständigkeit ver-loren: Sie wurde in den letzten Jahrzehnten zu einem Pleonasmus zum Bild. Das Musikhören zu Bildern verflacht zu einem einseitigen Musikhören in Bildern. All diese Prozesse münden in einem musikalischen Analphabetismus. Musik brauchte man nicht zu verstehen, sie soll doch einfach nur schön sein. Wer so denkt, der ist nicht mehr dazu in der Lage, das zu Hören, was durch die Musik gesagt werden könnte.

Durch die Qualität unserer Interpretationen können wir es mit den skizzierten Problemfeldern aufnehmen. Dazu ist aber ein breites Wissen von Nöten, alleine mit unserer Emotionalität gelangen wir bei diesen Fragestellungen nicht auf den Grund. Hier ist das große Kapitel einer gelingenden Bildung zur Musik aufgeschlagen. Denn letzt-lich geht es bei Überlegungen zur Interpretation von Musik immer auch um die Frage „Was ist Kunst?“. Die Art und Weise, wie wir im Alltag mit Kunst und Ästhetik umgehen, hat direkte Wirkungen auf die Motivation zur Musik. Wer mit der motivationalen Einstellung seiner Musiker unzufrieden ist, muss immer auch dieses breite Themenfeld berücksichtigen. Denn die Qualität der Interpretation und die damit verbundene Bildung zur Musik, schließt den

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Kreis zur Sinnfindung. Erst wenn der Mensch in seinem Tun Sinn erfährt, erst dann werden ungeahnte Motivationen frei. Diese Zusammenhänge gelten nicht nur für das professionelle Musizieren, sondern auch für Amateure und Liebhaber. Doch sollte deutlich erwähnt werden, dass man auch mit hohem technischen Können äußerst unbe-dacht Musizieren kann. Andererseits kann man durch ein Denken über Musik und durch bewusstes Hinhören mit nur durchschnittlichen Spielfertigkeiten enorme Veränderungen im Tonzusammenhang als persönlichen Ausdruck erzielen.

Die Qualität der Interpretation steht in enger Beziehung zum Lernfeld „Stilkunde und Vortragslehre“. Dieses Lernfeld lässt die traditionelle Musikgeschichte hinter sich, bei der es oftmals nur um ein Aufzählen von Daten geht. Natürlich können wir die musikalische Gegenwart erst dann wirklich begreifen, wenn wir die musikalische Vergangenheit ernst, ja, sehr ernst nehmen. Allerdings bleibt auch hier Wissen solange bloße Information, wie es nicht zu einem Verstehen von und Denken in Musik führt. Für die Belange der Aufführungspraxis geht es dabei immer um die Frage, was Musik bewirken soll. Hier setzt die Qualität der Interpretation an: Was waren in früheren Generationen die Wirkungen von Musik, welchen Einfluss hat sie auf die Menschen genommen? Dann geht es um die Erkenntnis, wie sich diese Aspekte von Generation zu Generation verändert und verschoben haben. Wenn wir schließlich feststellen, dass sich viele neuzeitliche Probleme im Umgang mit Musik über die Verschiebung dieser Sinnfragen erklären lassen, dann öffnet sich die Tür zu einem neuen Musikverständnis. Nun fallen der Musikwissenschaft neue Aufgaben zu, geht es doch vor allem darum aufzuspüren, mit welchen Kriterien wir hinter den Sinn von Musik kommen können. Dadurch verändert sich die tägliche Probenarbeit. Das simple Monieren falscher Töne oder das einfache Arbeiten an dynamischen Belangen tritt in den Hintergrund und subtile Aspekte der Artikulation und Phrasierung rücken in den Vordergrund. Hier kann uns die historisch orientierte Aufführungspraxis einiges anbieten. Wer deren Fundamente des Interpretierens versteht, der spürt in den Partituren die Parameter auf, die den Schlüssel zum Verständnis eines Werkes liefern können.

Selbstverständlich sind Gedanken über die Interpretation von Musik höchst subjektiv, eine verbindliche Wahrheit kann es nicht geben. Um dies zu verstehen, brauchen wir nicht allzu tief in die Grundaussagen des modernen Konstruktivismus einzutauchen. Es kann uns beim Interpretationsthema nie um ein eindeutiges Richtig oder Falsch gehen, sondern lediglich um gangbare und taugliche Lösungen, wie wir mit Musik in der Gegenwart umgehen sollten. Dass wir dabei auf eine recht große Pluralität von Interpretationsvorstellungen treffen, ist mehr als nur logisch. Genau diese Pluralität muss uns zu Fragen anregen. Sie kann in uns Diskrepanzen erzeugen, sie sollte uns buchstäblich auch stören. Diese Irritationen sind wichtige Formen in der Umdeutung des Gewohnten. Wer sich auf diese Lernwege begibt, der wird zwar nicht behaupten können, er hätte den richtigen Interpretationsansatz gefunden. Er kann aber mit Sicherheit einige Interpretationen als falsch entlarven. Dafür aber bedarf es eines fundierten Hintergrundwissens. In den gegenwärtigen Diskussionen über Musik und deren Interpretation stört nichts mehr, als eine mangelnde Bildung zur Musik. Für jeden Dirigenten ist die Macht der Gewohnheit ein gefährliches Pflaster. Ein Zurücklehnen kann sich kein verantwortungsvoller Orchesterleiter leisten. Er muss sich quasi ständig in den Sog hineinziehen lassen, was andere über Musik zu sagen haben. Einen eigenen Standpunkt wird man aber nur dann gewinnen können, wenn man in die subjektiven Verstehensprozesse in Sachen Musik und deren Sinnverständnis, Zeit und Mühen (also Arbeit) investiert. So lassen sich Schritt für Schritt Scharlatane und Schaumschläger entlarven, die sich zu tausenden an den Dirigentenpulten tummeln. Das Lernfeld Interpretation ist ein wichtiges Thema auf dem Weg, wirklich etwas über Musik zu sagen haben.

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Wie und warum hat sich die akustische Landschaft so stark verändert?Warum müssen wir auf diese Veränderungen reagieren?Was hat das Interpretationsthema mit der Motivation zur Musik zu tun?Warum genügt Intuition allein nicht, um angemessen Interpretieren zu können?Wie können Wissensaspekte und Emotionen zur Musik eine Einheit bilden?Warum ist die berühmte Buchstabentreue noch längst keine Werktreue?Warum hat die sklavische Ausführung dessen, was dasteht, nichts mit Musik zu tun?Warum führt die einseitige Technisierung in Sachen Sinnfindung nicht weiter?Wie kann durch die Interpretation die Qualität des Zuhörens verändert werden?Warum müssen wir von der traditionellen Epocheneinteilung Abstand nehmen?Wann haben sich wirkliche Revolutionen in der Aufführung von Musik ereignet?Was hat sich dadurch am Umgang mit Musik verändert?Welche Kriterien liegen einem neuen Musikverständnis zugrunde?Was kann die historisch orientierte Aufführungspraxis tatsächlich leisten?Warum sollten wir Nikolaus Harnoncourt zu seinem 80. Geburtstag gratulieren?

Pädagogik der Ensemble- und Orchesterleitung

Thema 8

Die Qualität der Intonationoder:Ich höre was, was du nicht hörst

Bei Intonationsfragen wird besonders deutlich, wie „Wissen“ und „Können“ eine Einheit bilden. Die Qualität des Zuhörens ist in Intonationsfragen sicherlich von größter Bedeutung. Aber ohne ein fundiertes Hintergrundwissen gerät auch das Hören recht schnell an seine Grenzen. Mit anderen Worten: Die Hörfähigkeiten können mit dem richtigen Verständnis beträchtlich verbessert werden. Doch gerade das Thema „Intonation“ ist auch in Fachkreisen ein „Bluffthema“. Dass die Intonation im musikalischen Vortrag nicht sauber gewesen sein soll, daran mäkeln viele herum. Aber warum sie nicht angemessen war oder wie Abhilfe möglich wäre, da verblassen die Diskussionen sehr schnell. Tiefgreifende Gespräche sind nur selten möglich, weil man doch feststellen muss, dass die Gesprächspartner die Theorie der Intonation nicht verstehen. Besonders deutlich wird die Unkenntnis am Beispiel der Einstimmrituale in Orchesterproben. Etliche Musiker erleben jede Woche, wie der Orchesterleiter seine Instrumentalisten mit Hilfe des Stimmgerätes auf einen Basiston einstimmt. Dieser Vorgang nimmt oft bis zu zehn Minuten wertvoller Probenzeit in Anspruch. Letztlich dient er aber nur der Gewissensberuhigung. Eine angemessene Intonation im weiteren Probenverlauf ist durch dieses monotone und schablonenhafte Verhalten nicht garantiert. Das Einstimmen auf einen Basiston legt die Grundstimmung fest. Dabei muss uns bewusst werden, dass es sich um einen Prozess vor dem Musizieren handelt. Die Aspekte einer angemessenen Intonation sind aber immer an das Musizieren selbst gebunden, es handelt sich also um Prozesse während dem Musizieren. Bereits an dieser einfachen Begriffsklärung wird deutlich, dass es bei vielen Stimmritualen an einem fundierten Basiswissen über die Aspekte der Intonation und deren Schulung mangelt. Wer sich gründliche Kenntnisse erworben hat, der wird der-artige Stimmzeremonien aus seinen Proben verbannen. Halten wir fest: Bei Intonationsfragen ist ein durchdachtes und profundes Wissen die Voraussetzung dafür, dass geeignete Methoden auf dem Weg zu einer angemessenen Intonation gefunden werden können. Die Qualität der Methodik ist eng an die Qualität des Wissens gebunden.

In vielen Ausbildungsgängen zum Dirigenten wird deutlich, dass man sich beim Proben nicht so richtig an die Intonation herantraut. Man arbeitet lieber an vertrauten Inhalten, moniert die Dynamik und die Rhythmik oder man beschränkt sich auf die spieltechnischen Aspekte. Nur selten wagt sich jemand an das Ausstimmen von Akkorden oder an das Intonieren einer Melodie. Intonationsbegriffe wie Gerüstton oder variabler Ton, Ruheklang, Spannungsklang oder Fortschreitungsklang tauchen beim Proben nur sehr selten auf. Dieses Terrain erscheint vielen Orchesterleitern als zu wackelig. Hirnphysiologisch bedarf es beim Intonieren der vollen Bewusstheit. Die Aufmerksamkeitsprozesse werden auf einzelne Teiltätigkeiten fokussiert. Das bedeutet immer, dass die Bewusstheit nicht mehr breit gestreut und zeitgleich allen Intonationsparametern zur Verfügung steht, sondern eben stark gebündelt auf wenige Aspekte eingeschränkt wird. Mit anderen Worten: Niemand kann all das, was beim Intonieren stattfindet, parallel oder gleichzeitig wahrnehmen. Die Wahrnehmungsprozesse folgen einer Sukzession, sind also nacheinander abzuhandeln. Dirigenten, die „breit gefächert“ Wahrnehmen und quasi „über der Sache ste-hen“, beherrschen den Umgang mit der rotierenden Aufmerksamkeit. Sie wissen einerseits um all die Parameter,

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auf die es überhaupt zu achten gilt, während sie andererseits ihre bewussten Wahrnehmungen blitzschnell durch das breite Arsenal der Intonationswahrnehmungen führen. Hier wird besonders deutlich, wie die Wissensaspekte die Hörbewusstheit beeinflussen. Wer die Qualität seiner Intonationsmethodik verbessern möchte, der sollte viel Zeit in den Umgang mit der rotierenden Aufmerksamkeit investieren.

Das Thema „Intonation“ ist als ein zweiseitiger Bildungsprozess aufzufassen, denn sowohl die Dirigenten als auch die Musiker tragen eine gemeinsame Verantwortung für eine angemessene Intonation. Die Orchesterleiter sind für die Methoden verantwortlich, mit denen sie die Hörwahrnehmungen der Musiker beständig aktivie-ren, fördern und fordern. Die Musiker tragen ihre Verantwortung dahingehend, dass sie sich diesem geistigen Prozess des aktiven Zuhörens nicht verschließen dürfen. Für beide Seiten gilt der pädagogische Grundsatz, dass nichts, was wirklich bleiben soll, schnell kommt; es bedarf einer jahrelangen Übung. Dirigenten und Musiker müssen sich auf einen langfristigen Bildungsweg einstellen. Das Wichtigste ist, dass man ihn ununterbrochen begeht: Keine Probe ohne Arbeit an der Intonation. Auch auf diesem Feld zeigt sich die pädagogische Größe darin, ein ausgewogenes Maß zu finden. Wer Intonationsarbeit übertreibt, wird genauso scheitern, wie derjenige, der permanent vor ihr flüchtet.

Auf folgende Fragen werden in diesem Themenblock Antworten gegeben:

Was versteht man unter intonatorischer Reinheit?Was zeichnet eine angemessene Intonation aus, wie wird sie erreicht?Warum haben unsere Intervalle unterschiedliche Stimmwerte?Welche Intervalle brauchen beim Intonieren besondere Aufmerksamkeit?Wie stark weichen die natürlichen Intervalle von den temperierten Intervallen ab?Was sind wohltemperierte Stimmungen?Warum ist die harmonische und melodische Intonation getrennt zu schulen?Wie lauten die Grundgesetze einer angemessenen melodischen Intonation?Was ist beim Intonieren von Akkorden zu beachten?Welche Methoden bilden eine angemessene melodische Intonation aus?Welche Methoden stärken das harmonische Hörbewusstsein?Was sind Schwebungen und warum sind sie als Intonationshilfe so wertvoll?Was sind Differenztöne und warum helfen sie beim Intonieren in hoher Lage?Wie kann man lernen, aus einem Gesamtklang einen Einzelton herauszuhören?Welches große technische Defizit muss beim Stimmgerät beachtet werden?Man intoniert nicht mit den Augen, sondern mit den Ohren: Was hat dies für Folgen?Warum ist es einfacher, tiefe Instrumente einzustimmen als hohe Instrumente?Was hat entscheidenden Einfluss auf die Wirksamkeit des Hörens?Welche Bedeutung hat die rotierende Aufmerksamkeit bei Intonationsaspekten?Was sind subjektive Intonationstendenzen und wie gehen wir mit ihnen um?


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