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Otto Wels Mut und Verpflichtung - SPD-Bundestagsfraktion€¦ · otto wels — mut und...

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Otto Wels Mut und Verpflichtung SPD-BUNDESTAGSFRAKTION JANUAR 2013 23. März 1933 — Nein zur Nazidiktatur WWW.SPDFRAKTION.DE
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Otto Wels —Mut und Verpflichtung

S P D - B U N D E S T A G S F R A K T I O N JANUAR 2013

23. März 1933 — Nein zur Nazidiktatur

WWW.SPDFRAKTION.DE

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Dr. Frank-Walter SteinmeierOtto Wels: Mut und Verpflichtung

Dr. Peter StruckDie mutigste Rede, die je gehalten wurde

Thomas OppermannDas Ermächtigungsgesetz

Gerhard SchröderOtto Wels berührt die Menschen bis heute

Rede Dr. Hans-Jochen Vogel zur Gedenkstunde des Deutschen Bundestages

Rede Willy BrandtDie Partei der Freiheit

Josef Felder im Jahre 1982 über dieUmstände des 23. März 1933

23. März 1933 –Die Demokratie wird abgeschafft

Rede des SPD-Vorsitzenden und Abgeordneten Otto Wels

Sönke RixAktiv für Demokratie –Entschlossen gegen Rechts

AnhangGesetz zur Behebung der Not vonVolk und Reich (Ermächtigungsgesetz)PersonenregisterNamen der 94 SPD-Reichstagsabgeordneten, die gegen das „Ermächtigungsgesetz“gestimmt haben

inhaltsverzeichnis

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Otto Wels: Mut und Verpflichtung

Dr. Frank-Walter SteinmeierVorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion

In der 150-jährigen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie gab es im-mer wieder Ereignisse, die uns Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten noch heute gegenwärtig sind, die uns stolz machen und die unser Selbstver-

ständnis bestimmen. Dazu zählen zum Beispiel die Einführung des Wahlrechts für Frauen im Jahr 1918 unter dem so-zialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert und die Friedens- und Ostpolitik Willy Brandts in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Doch kaum ein Datum ist so prägend wie der 23. März 1933. An diesem Tag wurde das von den Nationalsozialisten unter der Führung Adolf Hitlers entworfene Er-mächtigungsgesetz im Reichstag verab-schiedet. Mit diesem Gesetz wurde das Ende des Parlamentarismus und der frei-heitlichen Demokratie in Deutschland besiegelt. Das Ermächtigungsgesetz war zugleich Vorbote und Ausgangspunkt der zwölfjährigen Nazi-Schreckensherr-schaft. 538 Parlamentarier waren dazu aufgerufen, über das Gesetz abzustim-men: 444 stimmten mit Ja, 94 mit Nein. Diese 94 Abgeordneten, das waren die Mitglieder der SPD-Fraktion – zumindest die, die sich noch in Freiheit befanden.

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Keine andere Fraktion im Reichstag stimmte gegen das Gesetz. Aber diese 94 Par-lamentarierinnen und Parlamentarier riskierten mit ihrem Einsatz für die Republik und die Demokratie ihr Leben. Etliche ihrer Kolleginnen und Kollegen sowie die gesamte Fraktion der Kommunistischen Partei befanden sich bereits in Schutzhaft oder waren ins Ausland geflüchtet. Die SPD-Abgeordneten waren sich der Gefahr für Leib und Leben durchaus bewusst. Und dennoch kamen sie in die Kroll-Oper und wehrten sich – mit parlamentarischen Mitteln, mit ihrem Recht auf Rede und Abstimmung. Sie sagten Nein zu Hitlers Gesetz. Sie hoben die Hand dagegen. Damit trugen sie zu einem der größten Momente in der deutschen Parlaments-geschichte bei.

Stellvertretend für seine Fraktion ergriff damals der Vorsitzende Otto Wels das Wort. Mit seiner mutigen und beeindruckenden Rede bekannte er sich für die Sozialdemokratie zu Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Demokratie – in Zeiten, in denen viele schon zu Opfern der Nationalsozialisten geworden waren. Die Rede von Otto Wels ragt aus der Geschichte des Kampfes um Demokratie heraus. Sie ist Auftrag bis heute, Freiheit und Demokratie gegen diejenigen zu verteidigen, die sie aushöhlen oder bekämpfen wollen. Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten spüren wir diese besondere Verantwortung – gegenüber unserer eigenen Geschichte und gegenüber all jenen Genossinnen und Genossen, die die Nazidiktatur mit Flucht, Gefangenschaft oder gar dem Leben bezahlt haben. Anlässlich des 80. Jahrestags der Rede von Otto Wels gedenken wir den mutigen Männern und Frauen der SPD-Fraktion, die sich gegen das Ermächtigungsgesetz gestellt haben.

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“. Dieser Satz aus der Rede von Otto Wels ziert auch heute den Eingang zum Fraktionssaal der SPD, zusammen mit den Namen all der SPD-Abgeordneten, die damals mit Nein gestimmt haben. Der mutige Einsatz unserer Genossinnen und Genossen bleibt in uns wach, auch jenseits von Jubiläumsfeiern und Jahrestagen. Sie sind und bleiben ein Vorbild für jeden von uns.

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Dr. Peter Struckwurde am 24. Januar 1943 in Göttingen geboren. Er studierte Rechtswissen-

schaften in Göttingen und Hamburg und arbeitete nach seiner Promotion unter anderem in der Finanzbehörde der Hansestadt. Seit 1964 war Struck Mitglied

der SPD und zog 1980 das erste Mal in den Bundestag ein. Struck war insgesamt 29 Jahre Mitglied im Deutschen Bundestag. In dieser Zeit hatte er zahlreiche

Funktionen inne: Von 1990 bis 1998 war er Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Gleich zweimal – von 1998 bis 2002 und erneut von 2005 bis 2009 – war Struck zudem Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag. In der rot-grünen Regierungszeit unter Bundeskanzler Gerhard Schröder war Struck außerdem von

2002 bis 2005 Bundesminister für Verteidigung. Vor den Wahlen zum 17. Deut-schen Bundestag 2009 kündigte Struck seinen Rückzug aus der aktiven Politik an.

Seit 2010 war er Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Peter Struck verstarb am 19. Dezember 2012 in Berlin.

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Die mutigste Rede, die je gehalten wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Vorwort des ehemaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Dr. Peter Struck aus der Erstauflage der Broschüre „Otto Wels - Mut und Verpflichtung“ (2008).

Dr. Peter Struck

Der 23. März 1933 ist der schwärzeste Tag in der Geschichte des deutschen Par-lamentarismus. Willfährig haben die konservativen und bürgerlichen Parteien die Rechte des Parlaments in die Hände Adolf Hitlers gelegt und mit der Zustimmung zum sogenannten Ermächtigungsgesetz die Demokratie in Deutschland zerstört.Kein anderes Gesetz in Deutschland hat so verheerende Grundlagen für Verbre-chen, Genozid und Krieg geschaffen wie das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, mit dem der Reichstag am 23. März 1933 seine ureigenen Rechte als Gesetzgeber abtrat und in die verbrecherischen Hände eines Diktators legte.

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Mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, nicht nur durch die Nazi-Fraktion, sondern auch durch die bürgerlichen und liberalen Parteien wurde der braunen Bar-barei parlamentarisch Tür und Tor geöffnet. Statt Not abzuwenden, war das Gesetz ursächlich verantwortlich für die für uns Nachlebenden kaum nachvollziehbare Not, mit der in zwölf Jahren Naziterror Abermillionen von Menschen überzogen wurden.

Der 23. März 1933 war der Tag, an dem sich die Demokratie endgültig ihren Feinden ergab.

Es war aber auch ein Tag, der uns Sozialdemokraten immer in stolzer Erinnerung bleiben wird. Denn allein die sozialdemokratische Fraktion widersetzte sich der Ermächtigung.

Der sozialdemokratische Partei- und Fraktionsvorsitzende Otto Wels und seine noch verbliebenen 93 Fraktionskollegen haben die letzte parlamentarische Chance genutzt, um die Hitler-Diktatur doch noch abzuwenden. Mehr als zwei Dutzend sozialdemokratischer Parlamentarier waren bereits festgenommen oder von den Nazi-Schergen an der Teilnahme der Reichstagssitzung in der Kroll-Oper gehindert worden. Auch die gesamte kommunistische Fraktion konnte an der Abstimmung nicht mehr teilnehmen.

Der Mut des SPD-Vorsitzenden und seiner Abgeordneten muss daran gemessen werden, dass für viele Gegner des Regimes die Verfolgung, Verunglimpfung und Ermordung durch die Nazi-Horden längst um sich gegriffen hatte. Per Erlass war zwei Tage zuvor das erste Konzentrationslager in Dachau eingerichtet worden. Der Mut der sozialdemokratischen Abgeordneten muss auch daran gemessen werden, dass viele ihre ablehnende Haltung zum Ermächtigungsgesetz und Naziregime später mit dem Leben zahlen mussten.

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Dieser unvergessliche Satz Otto Wels in seiner Rede war keine rhetorische Floskel, sondern stand schon zu Beginn der sich erst abzeichnenden Nazi-Despotie für die Gefahren, die jedes Menschenleben bedrohten, das dem Regime nicht genehm war.

Die Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden war die letzte freie, offene, demokratisch engagierte Rede, die für 12 Jahre in Deutschland gehalten werden durfte. Mit dem Ermächtigungsgesetz machte Hitler seine parlamentarischen Gegner endgültig mundtot.

Wie zuvor schon Teile der Bevölkerung und viele privilegierte Berufsgruppen erga-ben sich mit der Zustimmung zu dem Gesetz auch die konservativen und liberalen Parteien dem Naziterror.

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Otto Wels Rede ist die mutigste, die je in einem deutschen Parlament gehalten worden ist. Er wusste, dass seine Worte für ihn Lebensgefahr bedeuteten.Für mich als überzeugten Parlamentarier ist mit der Erinnerung an die Ermächtigung Hitlers die Verpflichtung des deutschen Parlaments verbunden, demokratische Kol-leginnen und Kollegen, wo immer sie diese Unterstützung brauchen, zu ermutigen, sich von keiner Regierung dieser Welt überwältigen zu lassen.

Der 23. März 1933 lehrt aber auch, dass Weghören und Wegsehen der Weimarer Republik das Ende bescherten. Zu wenig Demokraten stemmten sich gegen die drohende Katastrophe. Für uns heute muss das beuten, dass wir allen Feinden der Demokratie rechtzeitig und energisch entgegentreten. Für neofaschistische Umtriebe darf es in diesem Land Null Toleranz geben.

Was Otto Wels am Vorabend der einzigartigen Tragödie sagte, hat Bestand:„Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“

Und für diese Ideen gilt es auch heute mit „Bekennermut“ und Zivilcourage zu kämpfen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Oppermannwurde am 27. April 1954 im westfälischen Freckenhorst geboren. Nach dem Abitur ging er als Kriegsdienstverweigerer mit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste für zwei Jahre in die USA. Dort arbeitete er als community organizer und kämpfte

für die Rechte der Landarbeiter und der Landarbeitergewerkschaft (United Farm Workers). Nach seiner Rückkehr studierte er Rechtswissenschaften an der

Universität Göttingen. Nach dem 2. Staatsexamen war Thomas Oppermann vier Jahre lang Richter an den Verwaltungsgerichten in Hannover und Braunschweig.

Oppermann, der seit 1980 Mitglied der SPD ist, war von 1990 bis 2005 Mitglied des Niedersächsischen Landtags. Von 1998 bis 2003 war er Minister für

Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen. Seit 2005 ist Oppermann Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2007 ist er

Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion.

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Das Ermächtigungsgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Oppermann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundes-tagsfraktion, über die Entstehung des Ermächtigungsgesetzes vom März 1933.

Thomas Oppermann

Ob Carl Severing, als er sich am frühen Nachmittag des 23. März 1933 auf den Weg zur Kroll-Oper macht, schon die Gewissheit hat, dass Deutschland kein freies Land mehr ist? In der Kroll-Oper, westlich des durch den Brand vom 27. Februar stark beschädigten Reichstages in der Nähe des heutigen Kanzleramtes gelegen, findet an jenem Tage die Sitzung des Parlaments statt.Zahlreiche Sozialdemokraten und noch mehr Kommunisten sitzen zu diesem Zeitpunkt bereits in „Schutzhaft“. Anders als die Untersuchungshaft, die einen dringenden Tatverdacht voraussetzt und der richterlichen Nachprüfung unterliegt, ist die Schutzhaft ein Polizeigewahrsam, für den Hitler kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 mit einer Notverordnung den Weg frei macht.

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Mit Hilfe dieser Verordnung kann auch die Presse- und Versammlungstätigkeit weit-gehend unterbunden werden. Um die Repressionen auch effektiv durchsetzen zu können, bildet Hermann Göring, von Hitler als kommissarischer preußischer Innen-minister eingesetzt, am 22. Februar aus 50.000 SA- und SS-Leuten eine preußische Hilfspolizei. Als fünf Tage später der Reichstag brennt, unterzeichnet Hindenburg eine ihm von Hitler vorgelegte Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat. Sie setzt die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft. In der Folge verhaften SA-Hilfspolizisten Tausende von Kommunisten und internieren sie in Folterkellern und provisorischen Konzentrationslagern. Ob angesichts dieser Umstände die Wahlen vom 5. März 1933 noch den Charakter einer freien Wahl haben, ist zumindest nach heutigen Maßstäben mehr als zweifelhaft. Dass NSDAP und Deutschnationale zusammen 51,9 Prozent der Stimmen bekommen, ist nicht überraschend, wohl aber, dass trotz aller Behinderungen die SPD noch 18,3 und die KPD, die nicht mehr am Wahlkampf teilnehmen kann, 12,3 Prozent der Stimmen erringen können.

Die Demokraten verlieren die MachtAuch Carl Severing wird unter widrigen Umständen in den Reichstag gewählt. Er hat als Minister das Ende zweier wichtiger demokratischer Regierungen in Deutschland erlebt. Als Reichsinnenminister verliert er sein Amt, als im März 1930 die letzte so-zialdemokratische Regierung unter Reichskanzler Herrmann Müller zerbricht. Das bedeutet auch das Ende der Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei, die über lange Jahre die Demokratie der jungen Republik trägt und verteidigt. Danach beginnt die autoritäre, auf Notverordnungen gestützte Regierungspraxis von Reichskanzler Heinrich Brüning, die aber mit ihrer Austeritäts-politik der explodierenden Arbeitslosigkeit und der mit ihr einhergehenden Not in Deutschland nicht Herr werden kann. Nazis und Kommunisten beuten Sorgen und Angst der Menschen aus und sorgen für eine rücksichtslose Radikalisierung der Politik.Carl Severing wird nach dem Scheitern der Regierung Müller wieder preußischer Innenminister unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Mit einer Unterbrechung hatte er dieses Amt schon zwischen 1920 und 1926 inne. Im Juli 1932 werden Braun und Severing im Zuge des Preußenschlages durch den Brüning-Nachfolger von Papen ihrer Ämter enthoben. Mit weitreichenden Folgen, weil das rechtsstaatliche Preußen mit einer loyalen Polizei als Ordnungsfaktor gegen den nationalsozialistischen Straßenterror und kommunistische Gewaltaktionen ausfällt.

Carl Severing holt diese Entwicklung persönlich ein, als Hitler das Ermächtigungs-gesetz in den Reichstag einbringt. Es sieht vor, dass die Reichsregierung anstelle des Reichstages von der Verfassung abweichende Gesetze beschließen kann. Auch wenn das Ermächtigungsgesetz zunächst auf vier Jahre befristet ist, wird mit ihm die Verfassung praktisch außer Kraft gesetzt und der permanente Ausnahmezustand eingerichtet. Es geht also bei der anstehenden Beschlussfassung in der Kroll-Oper um alles: um Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit.

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Reichstag unterm HakenkreuzDas wissen die sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich am 23. März vormittags im vom Brand unbeschädigten ersten Geschoss des Reichstages zu ihrer Fraktionssit-zung treffen. Und sie haben aufgrund ihrer Erfahrungen mit nationalsozialistischen Übergriffen der zurückliegenden Wochen nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Nazis entschlossen sind, ihre Ziele notfalls auch mit direkter Gewalt durchzusetzen. Der Platz vor der Kroll-Oper ist von Braununiformierten dicht bevölkert. Nicht-natio-nalsozialistischen Volksvertretern wird der Weg versperrt, sie werden angepöbelt und bedroht. Carl Severing, der mit dem Wagen vorfährt, wird, noch bevor er die Kroll-Oper betreten kann, von Polizisten abgedrängt und festgenommen. Ebenso wie die gar nicht erst eingeladenen kommunistischen und einige bereits verhaftete oder geflüchtete sozialdemokratische Abgeordnete kann er deshalb nicht dabei sein, als Göring die Sitzung laut Protokoll um 14:05 Uhr eröffnet. Hinter der Regierungsbank hängt die Hakenkreuzfahne, vom Reichspräsidenten erst kurz zuvor neben der Reichsfahne Schwarz-Rot-Gold als offizielles Staatssymbol zugelassen. In den Gängen und an den Seiten ziehen bewaffnete SA- und SS-Männer auf und bedrohen immer wieder die bürgerlichen und sozialdemokratischen Abgeordneten.Wie bei einem Parteitag der NSDAP würdigt Göring vor Eintritt in die Tagesordnung den Geburtstag des verstorbenen Nazi-Dichters Dietrich Eckart und rezitiert dessen Lied „Deutschland erwache!“. Dieser Eindruck bleibt auch am Ende der Sitzung bestehen, als Mitglieder der NS-Reichstagsfraktion mit erhobenem Arm die erste Strophe des Horst-Wessel-Liedes singen.Noch bevor Hitler seine Regierungserklärung zum Ermächtigungsgesetz abgibt, lehnt die Reichstagsmehrheit einen SPD-Antrag ab, der verlangt, die Haft sozialdemokra-tischer Abgeordneter aufzuheben. Der Nazi-Berichterstatter Stöhr führt aus, „es wäre unzweckmäßig, die Herren des Schutzes zu berauben, der ihnen durch die Verhängung dieser Haft zuteil geworden sei“. Während diese Begründung an Zynismus nichts zu wünschen übrig lässt, windet sich der Zentrumsabgeordnete Dr. Bell in kasuistischer Spitzfindigkeit, um die Stimmenthaltung seiner Fraktion zu begründen. Er könne dem Antrag nicht zustimmen, weil nicht zu übersehen sei, welche Abgeordneten lediglich von der Schutzhaft betroffen seien und gegen welche ein Strafverfahren eingeleitet werde.

Wer widerspricht Hitler?In seiner Regierungserklärung fordert Hitler ein Ende der Reparationen, hält sich aber außenpolitisch zurück und bezeichnet den Kampf gegen den Kommunismus in Deutschland als innere Angelegenheit, die freundschaftlichen und nutzbringenden Beziehungen zur Sowjetunion nicht entgegenstehe. Innenpolitisch fordert er die „unbedingte Autorität der politischen Führung“ und stellt Gleichheit vor dem Gesetz für alle in Aussicht, die sich „hinter die nationalen Interessen stellen und der Regierung ihre Unterstützung nicht versagen.“ Den größten Beifall bekommt er für die Forderung, dass „der Unabsetzbarkeit der Richter … eine Elastizität der Urteilsfindung zum Wohl der Gesellschaft entsprechen“ müsse: „Nicht das Individuum kann der Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, sondern das Volk.“

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Wie reagieren die bürgerlichen Parteien? Ohne ihre Zustimmung fehlt dem Ermäch-tigungsgesetz die Zwei-Drittel-Mehrheit der Anwesenden, die nach der Weimarer Reichsverfassung für verfassungsändernde Gesetze notwendig ist. Vermutlich haben die Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit gehabt, mit Notverordnungen die Verfassung weitgehend außer Kraft zu setzen oder gar eine offene Gewaltherrschaft zu begründen. Ihnen liegt aber aus innen- und außenpo-litischen Gründen daran, den Anschein der Legalität zu wahren.

Auf die Stimmen der Bürgerlichen kommt es deshalb an.Die kurzen Reden ihrer Vertreter reflektieren den nationalistischen Zeitgeist und unternehmen den Versuch, Hitler mit verbalen Unterwerfungsgesten milde zu stimmen. „Die Deutsche Zentrumspartei“, führt ihr Vorsitzender Prälat Dr. Kaas aus, „setzt sich in dieser Stunde, wo alle kleinen und engen Erwägungen schweigen müssen, bewusst und aus nationalem Verantwortungsgefühl über alle parteipo-litischen und sonstigen Bedenken hinweg.“ Obwohl in der Fraktionssitzung noch etliche Abgeordnete gegen das Ermächtigungsgesetz stimmen, votiert das Zentrum im Reichstag geschlossen dafür. Ritter von Lex erklärt für die Bayerische Volkspartei, eine Vorläufer-Partei der CSU, dass sie „in der geschichtlichen Wende dieser Tage zur tatkräftigen Mitarbeit am nationalen Aufbauwerk entschieden bereit ist.“ Die Ausführungen Hitlers hätten seine Bedenken gemildert, sodass seine Fraktion in der Lage sei, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen.

Das Nein der SPDSo bleibt es dem SPD-Vorsitzenden Otto Wels überlassen, das einzige Nein einer Fraktion zu begründen. Otto Wels stimmt der Kritik Hitlers an den Reparationen zu und kritisiert den „Gewaltfrieden“. Er schlägt dann den Bogen zur Innenpolitik und stellt fest, dass eine Volksgemeinschaft ebenso wenig auf einen Gewaltfrie-den gestützt werden könne, sondern gleiches Recht als Voraussetzung habe. Eine Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz könne schon wegen der Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in den letzten Wochen erfahren habe, nicht erwartet werden: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Otto Wels besteht auf das Recht und die Pflicht, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren und sieht im Ermächtigungsgesetz eine Entmachtung des Reichstages: „Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll.“Am Ende der Rede folgen jene Sätze, die das Vermächtnis von Otto Wels und der Weimarer Sozialdemokratie darstellen: „Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz

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hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut ihre ungebro-chene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“Die klaren und visionären Sätze von Otto Wels gehören zweifellos zum Wertvollsten, das der geschichtliche Kampf um Freiheit und Demokratie hervorgebracht hat. Die von Bekennermut und ungebrochener Zuversicht getragene Aussicht auf eine „hellere Zukunft“ sind auch heute noch die wichtigsten Antriebskräfte für die Sozialdemokratie in Deutschland.

Carl Severing, der nach Intervention von Paul Löbe bei Reichtagspräsident Göring wieder freigelassen wird, kehrt zwar noch rechtzeitig in die Kroll-Oper zurück, um seine Neinkarte in die Abstimmungsurne zu werfen, die denkwürdige Rede von Otto Wels hat er aber unwiederbringlich versäumt. Es ist ihm aber vergönnt, dabei zu sein, als in Deutschland nach dem von den Nazis entfesselten Weltkrieg mit dem Grundgesetz vom 23. Mai 1949 eine „hellere Zukunft“ beginnt. Das Grundgesetz tritt bekanntlich durch die Zustimmung von zwei Dritteln der schon zuvor gebildeten Landtage in Kraft. Als Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtages wirkt Carl Severing an der Verabschiedung des Grundgesetzes mit.Das Grundgesetz zieht viele Konsequenzen aus der Zerstörung der Weimarer Demo-kratie. Es ist wehrhaft ausgestaltet mit der Möglichkeit, Parteien und Vereinigungen zu verbieten, die die verfassungsmäßige Grundordnung aktiv bekämpfen. Es gibt auch keine verfassungsdurchbrechenden Gesetze mehr. Stattdessen erklärt Art. 79 Abs. 3 GG die in Art. 1 geschützte Menschwürde und die Fundamentalnormen des demokratischen Verfassungsstaates in Art. 20 GG für unveränderbar. Diese Konsequenzen sind wichtig, sie dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht in erster Linie Mängel der Weimarer Reichsverfassung waren, die die natio-nalsozialistische Gewaltherrschaft ermöglichten, sondern es war hauptsächlich ein Mangel an Demokraten. Die mutigen Sozialdemokraten, die am 23. März „in einer schon aussichtslosen Lage öffentlichen Widerstand leisteten“ (Hans-Jochen Vogel), waren eine Minderheit. Wenn sich die Demokratie in künftigen Grenzsituationen behaupten will, müssen Demokraten in der Mehrheit sein.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerhard Schröderwar Bundeskanzler von 1998 bis 2005 und SPD-Vorsitzender von 1999 bis 2004. Er ist Schirmherr des internationalen Projekts „Aladdin“, das von der Fondation

pour la Mémoire de la Shoah unter dem Patronat der UNESCO initiiert wurde. Die Initiative hat das Ziel, die Holocaust-Leugnung und alle Formen von Rassismus und

Intoleranz zu bekämpfen. Zudem ist er Schirmherr des Vereins „Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland“. Der Verein ermutigt Menschen, aktiv zu werden

gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und rechtsextreme Gewalt. Der Verein agiert bundesweit, greift in die aktuelle politische Debatte ein

und bezieht öffentlich Stellung.

Als Bundeskanzler rief Gerhard Schröder im Oktober 2000 nach einem Brand-anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf zu einem „Aufstand der Anständigen“

auf. Das Ziel dieses Aufrufes war es, bei jungen Menschen die demokratische Kultur und das zivile Engagement zu stärken sowie Toleranz und Weltoffenheit

zu fördern. Als Folge wurden mit einem bundesweiten Aktionsprogramm gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus rund 4500 Pro-

jekte, Initiativen und Maßnahmen unterstützt.

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Ansprache von Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder anlässlich der Einweihung der Otto-Wels-Stele am 16. September 2009 in Berlin-Friedrichshagen.

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Als ehemaliger SPD-Parteivorsitzender ist es für mich eine große Ehre, die Otto-Wels-Stele einweihen zu dürfen. Wir sind zusammen gekommen aus Anlass des 70. Todestages dieses großen Sozialdemokraten, der viele Jahre hier in Fried-richshagen gelebt hat.

Die Rede des damaligen SPD-Vorsitzenden Otto Wels am 23. März 1933 vor dem Reichs-tag, in der er im Namen der deutschen Sozialdemokratie Hitlers Ermächtigungsgesetz ablehnte, gehört zu den großen Augenblicken in der Geschichte unseres Landes. Es war ein mutiger Akt des Widerstandes; sein Einstehen für die Werte der Freiheit und Gerechtigkeit berührt die Menschen bis heute.

Otto Wels berührt die Menschen bis heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Erinnerung an diese Rede, an den Mut von Otto Wels und an die zahllosen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sind uns Verpflichtung. Wir müssen in der heutigen Zeit Intoleranz, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit entschieden bekämpfen; mit der harten Hand des Staates, aber ebenso mit der Klugheit von Demokraten.

Wir müssen auch die dahinter stehenden Einstellungen und Haltungen in unserer Gesellschaft anprangern, weil sie die fundamentalen Grundlagen unseres Zusammen-lebens in Frage stellen. Diese Auseinandersetzung betrifft uns alle, fordert den Staat und die ganze Gesellschaft. Nichts anderes habe ich mit dem Begriff vom „Aufstand der Anständigen“ gemeint; Anstand als eine Kategorie politischer Moral, begriffen als Achtung vor uns selbst, vor unserer Geschichte und vor allem als Achtung vor anderen Menschen.

In den vergangenen Jahren haben wir einiges erreichen können, zum Beispiel mit der Änderung des Versammlungsrechts. Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozia-lismus können nun besser vor widerlicher und entwürdigender Verunglimpfung durch Rechtsextreme geschützt werden. Und ich bleibe dabei: Wir brauchen ein Verbot der NPD. Diese Partei verherrlicht den Nationalsozialismus und bedroht unsere Demokratie.

Viele Initiativen wie „Gesicht Zeigen!“ und das „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ hier im Bezirk Treptow-Köpenick zeigen Mut und Rückgrat im Kampf gegen Intole-ranz. Sie müssen weiter gefördert werden. Denn die eigentlich selbstverständlichen Menschen- und Minderheitenrechte, die Meinungs-, Glaubens- und Religionsfreiheit müssen stets aufs Neue verteidigt werden. Durch Bürger, die nicht wegschauen, wenn Unrecht geschieht, die Zivilcourage im Alltag beweisen. Bürger, die ihre Stimme erheben, wenn Geschichte umgedeutet wird. Bürger, die nicht akzeptieren, dass es „No Go Areas“ in unserem Land gibt.

Denn eigentlich ist es genau das, was wir uns für unsere Gesellschaft wünschen: Wir wollen alle friedlich, respektvoll und menschlich zusammenleben können. Ich bin froh, dass sich viele Menschen in Berlin und in Deutschland dafür engagieren. Unterstützen Sie daher, wo Sie es nur können, alle Initiativen, die sich gegen Gewalt, Rassismus und Antisemitismus wehren. Das sind wir Otto Wels und seinem Widerstand gegen die unmenschliche nationalsozialistische Gewaltherrschaft schuldig.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dr. Hans-Jochen Vogelwurde am 3. Februar 1926 in Göttingen geboren. Nach seinem Studium der

Rechtswissenschaften, begann 1952 seine berufliche Laufbahn als Assessor im ba-yerischen Justizministerium. Bereits acht Jahre später wurde er, als jüngster Ober-

bürgermeister einer europäischen Millionenstadt, Stadtoberhaupt in München. 1972 übernahm Vogel in Willy Brandts Kabinett den Posten des Bundesministers

für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Nach dem Kanzlerwechsel wurde er 1974 Bundesjustizminister. 1981 war Vogel bis zur Wahlniederlage im Mai für kurze

Zeit Regierender Bürgermeister West-Berlins und wurde danach Oppositionsfüh-rer im Berliner Abgeordnetenhaus. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1983

trat er als Spitzenkandidat der SPD an. Nach der Wahlniederlage übernahm er als Nachfolger Herbert Wehners den SPD-Fraktionsvorsitz im Deutschen Bundestag.

Ab 1987 wurde er zudem noch Parteivorsitzender der SPD. Ende 1991 legte er beide Parteiämter ab. Er gehörte dem Deutschen Bundestag mit kurzer Unterbrechung

von 1972 bis 1994 an. Von 2001 bis 2005 war er Mitglied des Nationalen Ethikrates.

Hans-Jochen Vogel hat sich immer wieder zum richtigen Umgang mit den Verbre-chen und dem Erbe des Nationalsozialismus geäußert. Er engagiert sich insbeson-

dere im Projekt „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Die Vereinigung setzt sich mit dem zunehmenden Rechtsradikalismus in unserer Gesellschaft auseinander.

2001 erhielt er den Leo-Baeck-Preis, die höchste Auszeichnung des Zentralrates der Juden in Deutschland.

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„Nie wieder!Nicht noch einmal!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Hans-Jochen Vogel in der Gedenkstunde zu „Die Zerstörung der Demokratie in Deutschland vor 75 Jahren“ des Deutschen Bundestages am 10. April 2008.

Dr. Hans-Jochen Vogel

Herr Bundespräsident! Herr Bundestagspräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratsvizepräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Sehr verehrte Ehrengäste! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Wir sind zusammengekommen, um an die Anfänge der NS-Gewaltherrschaft zu erinnern, zu erinnern an das, was in der ersten Hälfte des Jahres 1933, also vor ei-nem Dreivierteljahrhundert, geschah, auch, um uns zu fragen, wie das geschehen konnte und welche Folgerungen wir daraus auch heute noch für uns und unser Gemeinwesen ziehen müssen. Das nämlich ist der Sinn des Erinnerns. Erinnern, so

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hat Gotthold Ephraim Lessing einmal geschrieben, heißt nicht, das Gedächtnis zu belasten, sondern, den Verstand zu erleuchten. Denn wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, der wird blind für die Gegenwart.

In den ersten sechs Monaten des Jahres 1933 wurden Entscheidungen getroffen, ohne die das, was dann folgte und schließlich in der schlimmsten Katastrophe unserer Geschichte endete, kaum möglich geworden wäre. Sie, Herr Bundestags-präsident, haben die wichtigsten Daten und Ereignisse dieses Zeitraums genannt und in beispielhafter Weise gewürdigt. Ich sehe deshalb insoweit von Wiederho-lungen ab.

Wie ebenfalls schon erwähnt, gingen diese Ereignisse bereits mit einer brutalen Verfolgung der politischen Gegner des Nationalsozialismus einher, zuerst vor allem der Kommunisten und der Sozialdemokraten, bald auch von Angehörigen anderer Parteien und Verbände. Auch die Verfolgung der Juden begann bereits damals. Bis zum Sommer 1933 wurden mehr als 100 000 Männer und Frauen für kürzere oder längere Zeit verhaftet. Fast 27 000 befanden sich Ende Juli 1933 in der sogenannten Schutzhaft. Viele dieser Verfolgten wurden bereits damals gequält und gefoltert, mehrere Hundert von ihnen schon bis Ende März 1933 in barbarischer Weise ermor-det. Vor allem die „wilden“, dann aber auch die offiziellen Konzentrationslager, von denen das erste am 21. März 1933 in Dachau – Sie erwähnten es, Herr Bundestags-präsident – eingerichtet wurde, waren von Anfang an rechtsfreie Räume.

Meinerseits will ich mich noch einmal der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 zuwenden, weil an diesem Tag die Demokratie und mit ihr die Republik von Wei-mar endgültig zu Grabe getragen wurden. Diese Sitzung fand 350 Meter von hier entfernt in der im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigten und im Jahre 1951 ab-gerissenen Kroll-Oper statt. In dieser Sitzung, von der die kommunistischen Abge-ordneten bereits ausgeschlossen waren, wurde in drei Lesungen das sogenannte Ermächtigungsgesetz verabschiedet, das die Gesetzgebung vom Parlament auf die Reichsregierung übertrug und ihr die Befugnis zuerkannte, dabei auch von der Verfassung abzuweichen. Die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit wurde erreicht, weil nicht nur die Nationalsozialisten und die mit ihnen verbündeten deutsch-nationalen Abgeordneten, sondern auch die Abgeordneten des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei, des Christlichen Volksdienstes und der Staatspartei dem Gesetz zustimmten. Nur die 94 anwesenden Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion – Julius Leber, der festgenommen wurde, als er die Kroll-Oper betreten wollte, und weitere 25 von den insgesamt 120 sozialdemokratischen Abgeordneten waren bereits in Haft oder hatten untertauchen oder fliehen müssen – votierten in namentlicher Abstimmung dagegen. Sie taten das in einer Atmosphäre, die ein ausländischer Beobachter, der sich an Ort und Stelle befand, so beschrieb:

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»Für eine Sekunde verbreitete sich Todesschweigen im Hause, während von draußen die drohenden Sprechchöre der SA hereindrangen. Weiß bis in die Lippen, den Mund zusammengepresst, mit harten Zügen, in sichtbarem Bewusstsein der Schwere, des Ernstes und der Gefahr des Augenblicks, be-stieg Otto Wels langsam die Rednertribüne. Den Kopf leicht gesenkt, aber die stämmige Gestalt gestrafft, die Schultern hochgezogen, als ob er in ein Gewehrfeuer hineinschritte.«

Die Rede, die Wels dann hielt, ist in die Geschichte eingegangen. In dieser Rede, aus der wir soeben einen zentralen Ausschnitt gehört haben, sagte er direkt an Hitler gewandt:

»Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.«

In der vorausgegangenen Fraktionssitzung waren es übrigens vor allem die Frauen, die dem Vorschlag widersprachen, man solle es in Anbetracht der konkreten Ge-fahren bei einer schriftlichen Erklärung bewenden lassen und an der Plenarsitzung überhaupt nicht teilnehmen. „Ich sage Euch, ich gehe, und wenn sie mich drüben in Stücke reißen“, rief Louise Schröder, die 1947 und 1948 eine Zeit lang anstelle von Ernst Reuter als – so hieß es damals noch – Oberbürgermeisterin von Berlin amtierte, weil die sowjetische Besatzungsmacht ihm die Bestätigung verweigert hatte. 19 von denen, die damals der SPD-Reichstagsfraktion angehörten, haben das NS-Gewaltregime nicht überlebt. Mindestens elf wurden ermordet. Alle anderen waren kürzere oder längere Zeit in Haft oder mussten emigrieren.

Es ist hier nicht der Ort, über die Gründe zu rechten, aus denen nicht nur die Nati-onalsozialisten und die Deutsch-Nationalen dem Gesetz zustimmten. Nach dem heutigen Stand der zeitgeschichtlichen Forschung haben dabei Zusagen Hitlers gegenüber der katholischen Kirche und den Repräsentanten der Zentrumspartei, aber auch die Furcht vor einer Welle blutiger Gewalt und die Sorge um die eigene Sicherheit im Falle der Ablehnung eine Rolle gespielt.

Nicht wenige von denen, die am 23. März 1933 mit Ja stimmten, werden das später so empfunden haben wie Theodor Heuss, der sich damals als Abgeordneter der Staatspartei – es waren die Nachfolger der Deutschen Demokratischen Partei – unter Überwindung schwerer Bedenken dazu entschloss. Heuss schrieb in seinen Erinnerungen:

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»Jeder von uns, der als Publizist oder als Politiker zu Entscheidungen ge-zwungen war, die er später bedauerte, hat Dummheiten gemacht. Und dieser Begriff ist zu schwach für die Zustimmung zu diesem Gesetz. Und auch das Wort „später“ trifft nicht die innere Lage; denn ich wusste schon damals, dass ich dieses „Ja“ nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslö-schen können würde.«

Eines steht aber heute wohl fest – Sie, Herr Bundestagspräsident, haben es bereits ausgeführt –: Otto Wels hat damals – so umschreibt es der Historiker Heinrich August Winkler – nicht nur die Ehre der Sozialdemokratie, „sondern der deutschen Demokratie überhaupt“ gerettet.

Die entscheidenden Sätze seiner Rede gehören deshalb in alle Geschichtsbücher.

Insgesamt war mit dem Ermächtigungsgesetz und der Ausschaltung der Parteien der Übergang zur Diktatur vollendet und dem, was dann folgte, der Boden bereitet. Wie war das in nicht ganz sechs Monaten möglich? Wie konnte das geschehen im Lande Goethes und Schillers, eines Kant und eines Lessing, aber auch eines August Bebel, eines Ludwig Windthorst und eines Friedrich Naumann? In einem Volk, das sich mit Recht seiner großen geistigen, wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen rühmte und das 1933 zu 95 Prozent einer christlichen Konfession angehörte?

Manchen genügt als Antwort der Hinweis auf den Versailler Vertrag, auf die da-malige Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit oder auf die Angst vor dem Kommunismus. Jedes dieser Probleme hat sicherlich für den Aufstieg Hitlers eine Rolle gespielt. Und wir dürfen uns nicht darüber täuschen, dass ihm damals mehr und mehr Deutsche zujubelten, ja ihn sogar für einen Retter hielten. Aber warum schwiegen seinerzeit, als sich die Zerstörung der Demokratie vollzog und alle Organisationen und die meisten Institutionen gleichgeschaltet wurden, so viele, die eigentlich hätten reden müssen? Warum gab es auch in den Kirchen nur einige, die klar widersprachen? Warum unterstützten die konservativen Eliten in Industrie, Reichswehr, Staatsbürokratie und Wissenschaft und – nicht zu vergessen – die ostel-bischen Großgrundbesitzer Hitler so zielstrebig bei der Demontage der Demokratie? Und warum begrüßten und rechtfertigten nicht wenige Staatsrechtslehrer, von denen ich nur Carl Schmitt nenne, das Ermächtigungsgesetz ausdrücklich?

Da genügen die von mir bereits genannten Umstände als Antwort nicht. Da müssen wir – wie das in seiner historischen Rede am 8. Mai 1985 schon Richard von Weizsä-cker getan hat – weiter zurückgreifen, etwa auf den jahrhundertealten christlichen Antijudaismus. Ihm folgte im späten 19. Jahrhundert der radikale Rassenantisemi-tismus, der an die teils latente, teils offene religiös motivierte Judenfeindschaft anknüpfen konnte. Er wurde bereits im Kaiserreich politisch und gesellschaftlich

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wirksam, als Begriffe wie „Reinheit des Blutes“ pseudowissenschaftlich begründet wurden und man die Verben „ausmerzen“ und „ausrotten“ – lange vor 1914 – mit Blick auf die jüdische Minderheit schon ganz selbstverständlich verwendete.

Zurückzugreifen ist auch auf die vor allem im Lager der deutschen Rechten weitver-breitete Ablehnung der Demokratie und der Republik von Weimar, eine Ablehnung, die bald in offene Feindseligkeit überging und sich gegenüber der Republik auch in den bezeichnenden Schmähungen als „Republik der Novemberverbrecher“ und als „Judenrepublik“ äußerte. Nicht zu vergessen ist die sogenannte Dolchstoßlegende, also die von der sogenannten nationalen Rechten und insbesondere auch von Hindenburg und Ludendorff propagierte Unwahrheit, Deutschland sei im Ersten Weltkrieg im Felde unbesiegt geblieben und habe ihn nur verloren, weil aus der Heimat der Front vor allem von den Demokraten und Republikanern der Dolch in den Rücken gestoßen worden sei. Hierher gehört auch die justizielle Willkür, mit der schon in der Weimarer Republik deren rechtsextremistische Feinde geschont und ermutigt und die Verteidiger der Republik, insbesondere Friedrich Ebert, der Reichspräsident, bloßgestellt und gedemütigt wurden.

Weiter sind die Spaltung der Arbeiterbewegung und die intransigente und demokra-tiefeindliche Haltung der Kommunisten zu nennen, die auf Stalins Geheiß Anfang der 30er-Jahre nicht den Nationalsozialismus, sondern die Sozialdemokratie als Hauptfeind bezeichneten und bekämpften – eine Haltung, für die die deutschen Kommunisten danach zwischen 1933 und 1945 im Widerstand, aber auch, soweit sie in die Sowjetunion geflüchtet waren, als Opfer Stalin’scher Säuberungen einen hohen Blutzoll entrichteten.

Außerdem ist die obrigkeitsstaatliche Tradition aus der Zeit des Kaiserreichs zu nennen, der der Gehorsam als eine absolute Tugend und Zivilcourage eher als etwas Undeutsches erschien.

Ernst Reuter hat wesentliche Teile dieser Aspekte 1947 in einem Brief an seinen Bruder so beschrieben:

»Die Entpolitisierung des früher durchaus freiheitlich gesinnten Bürgertums … die Absonderung der Universitäten, die Institution des Reserveoffiziers, die Kastenmethode innerhalb der Beamtenschaft, die Hinwendung des Bürgertums zum reinen Geldverdienen und der Intellektuellen zu unpoli-tischer Loslösung vom wirklichen Leben: Aus tausend Kanälen wurde diese katastrophale Grundhaltung der deutschen Mittelschichten gespeist, die sie unpolitischen, rein emotionellen Erregungen gegenüber so anfällig machte und die den Sieg des Faschismus durch die vollständige Aufsaugung so gut wie aller bürgerlichen Wählermassen ermöglichte.«

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Das sind harte Worte. Ein anderer, nämlich Konrad Adenauer, hat – jedenfalls kurz nach Kriegsende – noch härter geurteilt. Er schrieb im Februar 1946 an einen katholischen Geistlichen in Bonn unter anderem:

»Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationsla-gern. Richtig ist, dass nachher vielleicht nicht viel mehr zu machen war. Die Schuld liegt früher. Das deutsche Volk, auch Bischöfe und Klerus zum großen Teil, sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung ... gleichschalten lassen.«

So weit Ernst Reuter und Konrad Adenauer. Auch wer ihren Feststellungen nicht in allen Punkten zustimmen will, wird sich mit dem, was diese beiden Zeitzeugen gesagt haben, auseinandersetzen müssen. Denn sie waren Zeugen besonderer Art, und ihre Urteilsfähigkeit wird wohl schon deshalb niemand ernsthaft in Zweifel ziehen.

Manche werden einwenden, die späteren Verbrechen habe man 1933 noch nicht voraussehen können. Dennoch: An Warnungen und Mahnungen hat es wahrlich nicht gefehlt. Viele Sozialdemokraten, aber auch manche Liberale und Sprecher des Zentrums haben schon vor 1933 nachdrücklich gewarnt und darauf hingewiesen, dass Hitler Diktatur, Willkürherrschaft und Krieg bedeute. Zu nennen sind da vor allem die Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner und Kurt Schumacher, dann die Zentrumsabgeordneten Bernhard Letterhaus und Joseph Joos, der Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei Johann Leicht und für die Liberalen Theodor Heuss. Sie und andere beschrieben in aller Klarheit die Ziele und Methoden der Nationalsozialisten. Als Beispiel zitiere ich zwei Sätze, die Kurt Schumacher den nationalsozialistischen Abgeordneten, die nach der Wahl im Jahr 1930 schon mit 107 Abgeordneten im Reichstag saßen, entgegenschleuderte:

»Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen.«

Und fast prophetisch fügte er hinzu:

»Das deutsche Volk wird Jahrzehnte brauchen, um wieder moralisch und intellektuell von den Wunden zu gesunden, die diese Art Agitation geschla-gen hat.«

Entscheidend war aber, dass 1933 die Demokratie in der Mehrheit unseres Volkes nicht, jedenfalls nicht mehr ausreichend, verwurzelt war, dass sich diejenigen, die – wie beispielsweise das Reichsbanner und die Eiserne Front – bereit waren, sie zu

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verteidigen, in der Minderheit befanden und dass die Demokratie auch von vielen preisgegeben wurde, die glaubten, für die Verwirklichung der Werte, an denen sie durchaus festhalten wollten, bedürfe es keiner demokratischen Strukturen.

Was lernen wir daraus? Natürlich lehrt uns die Erinnerung an die seinerzeitige Massenarbeitslosigkeit, wie wichtig es ist, dass das Gemeinwesen den Menschen eine hinreichende wirtschaftliche und soziale Sicherheit gewährleistet und dass der Protest gegen Lebensverhältnisse, die als ungerecht, ja als dauerhafte Ausgrenzung wahrgenommen werden, radikalen Positionen Zulauf verschafft. Ebenso ersehen wir, wie wichtig auch der Fortgang der europäischen Verständigung und Einigung ist, deren seinerzeitige erste Ansätze – in einem sozialdemokratischen Programm war von den Vereinigten Staaten von Europa die Rede, und Gustav Stresemann bemühte sich, nicht ohne gewisse Erfolge, um eine deutsch-französische Ver-ständigung – bald von den aufgepeitschten Wellen eines blinden Nationalismus hinweggespült wurden.

Die wichtigste Lehre sehe ich aber in der Erkenntnis, dass eine Demokratie auf Dauer nur Bestand haben kann, wenn sie von den Menschen getragen wird, wenn diese sich als Bürgerinnen und Bürger verstehen, die selber für die Bewahrung der demokratischen Grundregeln mitverantwortlich sind. Diese Notwendigkeit immer aufs Neue ins Bewusststein zu rufen und durch das eigene Beispiel zu bezeugen, ist die gemeinsame Aufgabe aller, die in unserer Gesellschaft besondere Verant-wortung tragen, und das nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft und im Bereich der Medien, um nur einige Bereiche zu nennen. Die sinkenden Wahlbeteiligungen, die nicht nur gelegentlich zu spürende Politikverdrossenheit und die Empörung über das bedrückende Fehlverhalten einzelner Manager sollten uns daran gemahnen – nein: nicht nur gemahnen, sondern aufrütteln; denn hier droht ein nachhaltiger Vertrauensverlust. Ohne ein bestimmtes Maß an Grundvertrauen kann aber eine Demokratie ihre Aufgaben nicht erfüllen.

Eine andere Lehre besteht für mich darin, dass die Demokratie des Einvernehmens über ein klares Menschenbild und über die sich daraus ergebende Wertordnung bedarf. Beides findet sich in unserem Grundgesetz, das eben nicht nur eine An-sammlung von Organisations- und Verfahrensregeln darstellt. Schon die ersten Absätze seines ersten Artikels lauten ja ausdrücklich:

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußer-lichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.«

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Das war die Antwort der Mütter und Väter des Grundgesetzes auf die menschenver-achtende Ideologie des NS-Gewaltregimes, das nicht müde wurde, den Menschen einzutrichtern: „Du bist nichts, Dein Volk ist alles!“, und das uns Junge damals singen ließ:

»Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.«

Wir alle sind aufgerufen, die Wertordnung des Grundgesetzes zu wahren und sie immer wieder mit Leben zu erfüllen. Denn sie lebt nach dem bekannten Ausspruch von Wolfgang Böckenförde von Voraussetzungen, die der Staat allein nicht schaffen kann. Sie wird vor allem von dem Gedankengut gespeist, aus dem der Einzelne für sich die absolute Verbindlichkeit der Menschenwürde und der Menschenrechte herleitet, also insbesondere aus den Prinzipien des Christentums, der Aufklärung und des Humanismus, deren wir uns stets aufs Neue bewusst werden müssen.

Unsere jüngere Geschichte ist durch tiefe gesellschaftliche Umbrüche, durch drama-tische politische Zäsuren und durch sehr unterschiedliche Generationserfahrungen geprägt. Es gibt in diesem Land kein ungebrochenes historisches Selbstverständnis. Aber es gab eine Fülle von weitreichenden Erschütterungen, an die man immer wieder erinnern muss. Am heutigen Tag erinnern wir uns vor allem an die erste Hälfte des Jahres 1933 und damit an den Beginn der schrecklichsten Phase unse-rer Geschichte. Wir tun das nicht, um Schuldkomplexe als eine nationale Last zu konservieren. Schuld ist eine individuelle Kategorie. Wir erinnern uns auch nicht, um an Gedenktagen Betroffenheitsrituale zu pflegen. Nein, die Erinnerung soll Nachgeborenen vor Augen führen, wo es endet, wenn die Menschenwürde mit Füßen getreten, Grundprinzipien mitmenschlichen Zusammenlebens missachtet und einem sogenannten Führer in gotteslästerlicher Weise Allwissenheit und Allmacht zugebilligt werden.

Eine weitere Mahnung aus jener Zeit vor 75 Jahren lautet: „Wehret den Anfängen!“ Dieses Gebot ist durchaus aktuell. Nicht, dass unsere Demokratie heute in ähnlicher Weise in Gefahr wäre wie damals; davon kann keine Rede sein. Wir brauchen uns auch trotz mancher Fehler, manchen Versagens und mancher Versäumnisse der bisherigen Geschichte unserer Bundesrepublik wahrlich nicht zu schämen. Es wäre sogar gut, wenn wir uns gelegentlich über einzelne Glanzpunkte dieser Geschichte auch einmal erkennbar freuen würden, etwa über das unblutige Zustandekommen der deutschen Einheit oder darüber, dass wir heute in Europa, jedenfalls im Gebiet der heutigen Europäischen Union, seit über 60 Jahren in Frieden leben.

Frieden ist für die heutige Generation eine Selbstverständlichkeit, so wie für uns damals Krieg eine Selbstverständlichkeit gewesen ist. Das würde zugleich die Zuver-

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sicht stärken, dass wir auch die neuen Herausforderungen bewältigen können. Aber eine Wiederbelebung nationalsozialistischer Anschauungen und Parolen gibt es durchaus und auf dieser Grundlage antisemitische und ausländerfeindliche Kundgebungen und Gewalttaten. Es gibt sogar Parteien, die in einzelnen Landes-parlamenten in schwer erträglicher Weise auftreten und an die Frühzeit der NSDAP erinnern. Ihnen gilt es zu begegnen. Nicht nur der Staat, sondern wiederum jeder Einzelne ist hier in der Pflicht. Wer wegsieht oder nur die Achseln zuckt, schwächt die Demokratie.

Wer widerspricht und sich einbringt, stärkt sie.

Denn was vor 75 Jahren versäumt wurde, darf sich nicht wiederholen. „Nie wieder! Nicht noch einmal!“ Das sollte die entscheidende Losung auch des heutigen Tages sein. Ich sage das als einer, der selbst noch als Kind und dann als Jugendlicher erlebt hat, was es heißt, unter einem Regime aufzuwachsen, das alles und alle seinem Befehl unterwarf und keine Verantwortung vor Gott und den Menschen kannte. Das sind wir aber auch denen schuldig, die damals im Widerstand ihr Leben einsetzten, und den Millionen, die hingemordet wurden. Lassen Sie uns ihrer gerade in dieser Stunde gedenken und damit das Versprechen verbinden, dass wir ihres Vermächt-nisses stets eingedenk bleiben und uns an ihm orientieren wollen – und das nicht nur bei festlichen Gelegenheiten, sondern bis in unsere tägliche Arbeit hinein.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Willy Brandtwurde am 18. Dezember 1913 als Herbert Frahm in Lübeck geboren. Schon als

junger Mann war er politisch aktiv. Sein besonderes Engagement galt dem Kampf gegen die Nationalsozialisten, die 1933 die Macht übernahmen. Noch im selben Jahr ging Brandt ins norwegische Exil, von wo er seinen Widerstand gegen das

nationalsozialistische Regime fortführte. In dieser Zeit nahm er auch den Namen Willy Brandt als Decknamen an. Er sollte ihn sein Leben lang behalten. Nach dem

Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er zurück nach Deutschland, wo er sich in der SPD für den Wiederaufbau der Demokratie einsetzte. In den ersten Deutschen

Bundestag zog Brandt 1949 für Berlin ein. Insgesamt gehörte er 31 Jahre dem Bundestag an: Von 1949 bis 1957, 1961 und von 1969 bis zu seinem Tode im Jahr

1992. Von 1957 bis 1966 war Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin. Zweimal trat er zunächst erfolglos als Kanzlerkandidat für die SPD bei Bundestagswahlen

an, bevor er 1966 Außenminister und Vizekanzler in der Großen Koalition und 1969 schließlich der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Deutschlands wurde. Insgesamt führte er die Regierungsgeschäfte bis 1974, bevor er im Rahmen der

Guillaume-Affäre zurücktrat.

Auch nach seinem Rücktritt blieb Willy Brandt politisch aktiv, unter anderem als Vorsitzender der SPD und als Mitglied des Bundestags. Brandt engagierte sich

zeitlebens für für die Sicherung des Friedens sowie für eine starke Demokratie, gemäß seinem berühmten Ausspruch „Mehr Demokratie wagen“. Für seine Ostpo-

litik („Wandel durch Annäherung“) und sein Engagement in der Aussöhnung mit Osteuropa erhielt Brandt 1971 den Friedensnobelpreis. Willy Brandt starb 1992 in

der Nähe von Bonn.

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Rede von Willy Brandt anlässlich des 100. Geburtstags von Otto Wels in Bonn-Bad Godesberg am 15. September 1973

Willy Brandt

Heute vor 100 Jahren wurde Otto Wels in Berlin geboren. Seit 1919 war er Vor-sitzender der deutschen Sozialdemokraten. Im Alter von 66 Jahren starb er am 16. September 1939, einen Tag nach seinem Geburtstag, in Paris, im Exil. Am 1. September jenen Jahres, am Tage des Überfalls auf Polen, der den Zweiten Welt-krieg auslöste, veröffentlichten Otto Wels und seine Freunde einen Aufruf, in dem sie erklärten, sie stünden „als verbündete Kraft an der Seite aller Gegner Hitlers, die für die Freiheit und die Kultur Europas kämpften“. So wie er in seiner denkwürdigen letzten Rede im Deutschen Reichstag, am 23. März 1933, sagte: „Wir deutschen Sozialdemo-kraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus“ – so hieß

Die Partei der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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es im Aufruf vom 1. September 1939, Ziel sozialdemokratischer Politik sei ein „Frieden, der die Gewaltakte Hitlers wiedergutmacht, dem totalitären System ein Ende setzt und dem deutschen Volk – wie allen vergewaltigten Völkern – Recht und Freiheit wie-dergibt“. Des Lebens von Otto Wels zu gedenken heißt, die Erfolge und Niederlagen, die Schwä-chen und die Stärken, die Auseinandersetzungen – im Rückblick vielfach kleinka-rierte Auseinandersetzungen – und die Leistungen – stets am Menschen orientierte Leistungen – der SPD in unser Gedächtnis zurückrufen. Das ist gut und nützlich. […]

Ich bin nicht abgeschweift. Wenn der heutige Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aus Anlass des hundertsten Geburtstages eines seiner Vorgänger spricht, kann dies keine historische Vorlesung, sondern nur eine politische Stellung-nahme sein, die auf die Gegenwart bezogen ist. Dennoch: Das Spielen mit historischen Parallelen ist verlockend. Wels gehörte, den Wanderjahren als Handwerker entwachsen, im Anfang seines politischen Lebens zum radikaleren Teil der Partei. Später sah er sich links überholt – ich vermute, er war davon zunächst ist überrascht und betroffen, denn ihm war nicht bewusst, dass er seinen Standort gewechselt hätte. Das ist im übrigen keine einzigartige Erfahrung. Bis zur Stunde wird mancher innerparteilich anders eingestuft, als es seinem eigenen Verständnis entspricht. Es kommt ja immer noch vor, dass mit den Kategorien „rechts“ und „links“ willkürlich umgegangen wird. Damit ist zunächst nichts anderes gesagt, als dass die SPD eine aktive, lebendige Partei ist, in der Debatten um den Standort kein von oben verfügtes Ritual sind. Eine ganz andere Frage ist, wo die Grenze verläuft, hinter der die Standorte alles Mögliche sein können – nur nicht sozialdemokratisch.

Otto Wels hat diese Grenze gesehen und selbst zu ziehen gewusst, auch da, wo es schmerzte, weil es die Trennung von Idealen, von Träumen und manchmal auch von Freunden bedeutete. Auch die heutige SPD darf und wird die festen Punkte nicht aus dem Auge verlieren, die in ihrer Gesamtheit die solide – intellektuell wohl nicht immer faszinierende, aber saubere und ehrliche – Basis der sozialdemokratischen Bewegung ausmachen: Die Richtpunkte, jenseits derer sich die Auseinandersetzung in Spinnereien, in Gefilde verliert, wo nicht mehr der Mensch das Maß der politischen Zielvorstellungen ist, sondern an seine Stelle das Dogma einer übermenschlichen, wenn nicht gar unmenschlichen Heilserwartung tritt. Im übrigen: Die Unterschiede zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus sind unverwischbar. Ich bedauere nicht, dass einige, die sich zu uns verirrt hatten, bereits von sich aus den Irrtum korrigierten. Anhänger der Diktatur – gleich welcher Färbung – haben bei uns keinen Platz. […]

Otto Wels – seit dem Weimarer Parteitag 1919 Vorsitzender neben Hermann Müller, seit dem Nürnberger Einigungsparteitag 1922 gemeinsam mit Arthur Crispin – hat

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in den über 40 Jahren, in denen er dem deutschen Volk durch seine Arbeit in der Sozialdemokratie gedient hat, mitbestimmt und miterlitten, was die SPD auf ihrem Weg durch unsere Geschichte mit sich selber und mit anderen abzumachen und auszufechten hatte – immer mit dem Ziel, dem abhängigen Menschen zu helfen, zuweilen auch im Streit darüber, wie man dies am besten und ehesten erreicht. Wir wissen heute – und auch dieses ist eine Abgrenzung –, dass es für Sozialdemokraten, für demokratische Sozialisten in ihrer politischen Arbeit nicht um ein feststehendes „Endziel“ geht, dem man sich in Etappen nähert, sondern um eine immerwährende Aufgabe. Revisionismus-Streit, Fraktionsbildungen in der Partei, Stellung der SPD zum Parlamentarismus, Stellung der SPD zum Staat, das Verhältnis zu den Gewerk-schaften, Mut auch zur Trennung von Gruppen, die ihren politischen Weg in den schon erwähnten Gefilden der lupenreinen Lehre suchen – dies alles waren Fragen und Probleme, die das Leben von Wels bestimmt haben.

Als im Ersten Weltkrieg die „Unabhängigen“ ihren eigenen Weg gingen, blieb Wels bei Ebert, mit Scheidemann und Hermann Müller. Er hatte schon vorher, im Streit zwischen Orthodoxen und Revisionisten, die Einheit der Partei verteidigt; über Jahre hin hatte er gegen Sonderkonferenzen rivalisierender Gruppen gekämpft. In seiner Berichterstattung über den Jenaer Parteitag 1911 erklärte er, Sonderkonferenzen bestimmter Gruppen in der Partei lasse er nur gelten, wenn es darum gehe, eine Schädigung der Gesamtpartei zu verhindern; wenn also Lebensinteressen der Par-tei auf dem Spiel stünden. Wels wörtlich: „Ich billige es nicht, dass die rechte Seite besonders zusammentritt, um die linke Seite zu überstimmen, und kann es deshalb auch nicht billigen, wenn die linke dasselbe tut…“.

Als es 1918 notwendig wurde, den Staat neu zu ordnen, als aus der Niederlage eine Chance gemacht werden musste, war es Otto Wels, der Friedrich Ebert besonders nachdrücklich dabei unterstützte, dass die SPD den Weg der parlamentarischen De-mokratie beschritt und sich nicht von ihm abbringen ließ – den Weg also, Mehrheiten durch Überzeugung zu gewinnen und Veränderungen über Wahlen zu bewirken. Die Führung der deutschen Sozialdemokraten stand damals vor der Aufgabe, die Einheit des Reiches zu erhalten, trotz Hunger und Arbeitslosigkeit die Republik zu organisieren und in einer weithin resignierenden oder radikalisierten Arbeiterschaft die Basis für eine feste Verbindung zwischen Demokratie und Sozialismus zu gewinnen. Die Weimarer Sozialdemokratie hat diesen Versuch unternommen; und gerade Otto Wels hat an dem von ihm für richtig gehaltenen Weg mit ungewöhnlicher Bestimmtheit festgehalten. Friedrich Stampfer hat geschrieben, in der SPD der Weimarer Zeit erkenne man Zug um Zug die Partei von 1912 wieder: die Partei, die sich als Opposition fühlte und den in der parlamentarischen Demokratie erforderlichen Machtwillen nicht entwickelte. So etwas kann manchmal bei einigen, wie wir gesehen haben, mehr als einen großen Krieg überdauern. Im übrigen aber ist es gewiss nicht schwer, vermeintliche oder tatsächliche Fehlentscheidungen von 1918/19 zu kritisieren. Demgegenüber bleibt doch dies: Wäre man den Sozialdemokraten gefolgt, unser Volk und die Welt hätten es leichter gehabt.

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Die Haltung, die Wels und seine Freunde immer – gerade auch in einer Zeit, als Mut nicht erkennbar zur ersten Bürgertugend zählte – bewiesen haben, sollte es eigentlich unter anständigen, erwachsenen Menschen verbieten, nach der sozialdemokratischen Bindung an die Verfassung und das parlamentarische System zweifelnd zu fragen. Der Sozialdemokrat Otto Wels war es – wir sagen es stolz –, der im März 1933 für seine Fraktion dem Ermächtigungsgesetz Hitlers im Reichstag widersprach – als einziger. Dies gehörte zum Ende der ersten Republik. Was ist daraus geworden? Es wurde daraus das Mandat zur Führung der deutschen Demokratie. Dieses Auftrags sind wir uns bewusst. Und ich füge hinzu: Wir werden lange regieren.

Die Sozialdemokratie ist in ihrer über hundertjährigen Geschichte immer die Partei der Freiheit gewesen. In die vorderste Reihe der Männer, die sich verpflichtet fühlten, den Freiheitsraum des Bürgers gegen Obrigkeiten und Abhängigkeiten zu vergrößern, gehört der Mann, zu dessen ehrendem Gedenken wir uns versammelt haben. Er musste dieser sozialdemokratischen Pflicht zur Freiheit nachkommen in einer Zeit, in der das parlamentarische System vom brutalen Nationalismus und von spießbürgerlicher Reaktion ebenso wie von Linksradikalen erst verhöhnt und schließlich zerstört wurde. Die Namen unserer Opfer im Widerstand zeugen für das, was wir ohne Selbstgefällig-keit guten Gewissens über die SPD als freiheitliche, demokratische Partei feststellen können.

Als die anderen Parteien schon längst den Kampf gegen die Bedrohung der Freiheit und Demokratie durch die Nationalsozialisten aufgegeben hatten – die Kommunisten waren bereits verboten –, standen Sozialdemokraten gerade für ihre Überzeugung, für die parlamentarische Demokratie, für Meinungsfreiheit. Die SPD braucht keine Belehrung in Sachen Demokratie und Freiheit. Wer heute diese Belehrungen in einer unterschwelligen Agitation loszuwerden versucht, beleidigt die Sozialdemokratie von gestern und heute.Ich wiederhole, was ich hier zum zwanzigsten Todestag Kurt Schumachers sagte: Diese deutsche Sozialdemokratie hat den entscheidenden Anteil daran, dass für Millionen Untertanen die staatsbürgerlichen Freiheitsrechte erkämpft wurden. Diese deutsche Sozialdemokratie hat wesentlich daran mitgewirkt, dass sich die Lebensbedingungen der breiten Schichten unseres Volkes entscheidend verbessert haben. Und diese deutsche Sozialdemokratie hat nie Krieg und Knechtschaft über unser Volk gebracht. Der demokratische Sozialismus bleibt nach dem Wortlaut des Godesberger Programms „eine dauernde Aufgabe“, Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren. Dies ist in zäher Arbeit und trotz bitterer Verfolgung nun schon manche Generation hindurch bewiesen worden. Sozialdemokratische Politik ist Kärrnerarbeit, ist die Bereitschaft, unverdrossen immer wieder anzufangen und weiterzumachen. […]

Otto Wels verteidigte den demokratischen Staat von Weimar mit Hingabe und Un-beugsamkeit. Als die Republik 1920 durch den Kapp-Putsch gefährdet war, hat er nicht

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gezögert, zum Generalstreik aufzurufen. Die Republik, die Errungenschaften von 1918, wurden gerettet – aber gerade nach diesem Erfolg bewies Wels eine auf ehrenwerten Motiven beruhende Haltung, die im Grunde staatspolitische Begrenztheit war; diese Haltung war zahlreichen Sozialdemokraten damals eigen und ist manchen unserer Genossen wohl auch heute noch eigentümlich. Nach der Entlassung Noskes, auf die er gegen den Widerstand Eberts hingearbeitet hatte, wurde Wels von seiner Fraktion einstimmig zum Reichswehrminister vorgeschlagen. Doch er war nicht zu bewegen, dieses Amt zu übernehmen. Da die SPD keinen anderen geeigneten Kandidaten nennen konnte oder wollte, ging diese Position verloren, die die notwendige Einflußmöglich-keit hätte bieten können, um Arbeiterbewegung und Reichswehr einander näher zu bringen. Die Reichswehr konnte relativ ungestört in die verhängnisvolle Rolle als Staat im Staat hineinschlittern.

Es mag sein, dass bei Wels persönliche Gründe den Ausschlag gegeben haben. Fried-rich Stampfer – auf den ich mich noch einmal berufen darf – glaubte, den Grund seiner Weigerung zu kennen: „Er fühlte sich nur stark, wo er sich zu Hause fühlte, in der Partei, im Kreise der Arbeiter, von denen er einer war.“ – Das mag sein; es zeigt dann aber auch etwas, worüber wir nicht einfach hinweggehen sollten. Es zeigt wohl eine Grenze mancher Sozialdemokraten von damals, vielleicht auch nicht nur damals. Aber wir haben nach 1945 gezeigt, dass unsere Partei fähig ist, solche Fehler zu vermeiden. Bei dieser Gelegenheit rate ich denjenigen, die mit unsachlicher Kritik an Verteidigungsministern billigen Effekt machen wollen, jenen Abschnitt der Ge-schichte unserer Partei und unseres Landes sorgfältig zu studieren.Ganz allgemein: Wir werden uns aus dem Staat, den wir entscheidend mit aufgebaut haben, nicht herausdrängen lassen. Für uns bleibt bestimmend, was ich auf unserem Parteitag in Dortmund 1966 so formulierte: „Wir wollen nicht wie nach 1918 nur recht behalten. Wir müssen alles tun, um das als richtig Erkannte auch durchzusetzen. Das ist unsere Lehre aus Weimar.“ Deshalb werden wir Angriffen auf den demokratischen Staat, aber auch Angriffen auf die demokratische Qualität unserer Partei selbstbewusst und – ich hoffe es – offensiv begegnen. […]

Einige in diesem Land halten es derzeit für nützlich, das Wort „Freiheit“ lamentierend im Munde zu führen. Von ihrer „Bedrohung“ wird gesprochen und von ihrem „Schutz“. Ich will hier deutlich machen: Wenn wer weiß, was Freiheit heißt, und was es bedeutet, sie durchzusetzen und zu erhalten, dann sind es Sozialdemokraten.Freiheit für Arbeitnehmer heißt: mehr Mitbestimmung und menschlichere Arbeits-bedingungen.Freiheit für Abhängige heißt: neue Wege der Vermögensbildung.Freiheit der Bürger in den Großstädten und Ballungsgebieten heißt: Ein neues Bo-denrecht.Freiheit für die Jugend heißt: verstärkte Chancen in der Bildung und Ausbildung.Ich spreche hier nicht vom Jahre 2000. Die Freiheiten, von denen ich hier geredet habe, sind das konkrete Arbeitsprogramm der Bundesregierung aus SPD und FDP.

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Noch in diesem Jahr wird es so konkretisiert sein, dass jeder weiß: In diesem Land wird mehr Freiheit sein. […]

Es ist dies, wie ich gesagt habe, kein historischer Vortrag geworden. Ich gab Hinweise auf den Standort der Sozialdemokratie in dieser Zeit. Der Anlass meiner Rede hat es mir so vorgeschrieben: der 100. Geburtstag des Sozialdemokraten Otto Wels, der zäh, tapfer und mit seinem scharfen Sinn für Solidarität mitgeholfen hat, das Leben der abhängigen Menschen erträglicher zu machen, die sie bedrückenden Abhängigkeiten zu vermindern. Ich zitiere mit Respekt aus seiner tapferen Rede vom 23. März 1933: „Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. Unsere Leistungen werden vor der Geschichte bestehen.“ Kein Ermächtigungsgesetz, so sagte Otto Wels, gebe die Macht, Ideen zu vernichten, die unzerstörbar sind. Und ich sage hier in seinem Sinne: Wir wollen uns in einer weniger Opfer fordernden Zeit um so mehr bemühen, den Grundwerten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität gerecht zu werden.

Quelle: Willy Brandt: Die Partei der Freiheit. Reden über August Bebel, Karl Marx, Friedrich Engels und Otto Wels, Verlag Neue Gesellschaft, 1974, S. 55ff.Auszüge der Rede finden sich zudem in: Willy Brandt – Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972 – 1992; bearbeitet von Karsten Rudolph. In: Berliner Ausgabe, Band 5, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn Erscheinungsjahr 2002, S.103ff.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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23. März 1933 — Der Reichstag (in der Kroll-

Oper) beschließt das Ermächtigungsgesetz. Auch optisch befindet

sich das am 5. März 1933 noch einmal de-mokratisch gewählte

Parlament in der Hand der Diktatur — der

Reichstag debattiert unter dem Hakenkreuz

der Nationalsozia-listen.

Uniformierte Natio-nalsozialisten rücken in die Kroll-Oper, die dem Reichstag als Ausweichquartier dient, ein.

Das Ende der parlamen-tarischen Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verhaftete Sozial-demokraten bei der Einlieferung in das Konzentrationslager Kislau am 16. Mai 1933. In Zivilkleidung v.l.n.r.: Hermann Stenz; Adam Remmele, SPD-MdR bis März 1933; Erwin Sammet, Vorsitzender des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in Karlsruhe; Ludwig Marum, SPD-MdR; Gustav Heller, SPD-Mitglied im Karlsruher Stadtparlament; Sally Grünebaum, Journa-list; August Furrer, Kriminalbeamter. Ludwig Marum wurde am 29. März 1934 im KZ Kislau ermordet.

Schon vor Verabschiedung des

Ermächtigungs-gesetzes beginnt die

Verfolgung der politischen Gegner

durch die National-sozialisten. Der SPD-Reichstagsabgeord-

nete Bernhard Kuhnt wird am 9. März 1933

durch die SA verhaftet, im offenen Karren

durch Chemnitz ge-zogen und öffentlich

verhöhnt.

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Josef Felderwurde am 24. August 1900 in Augsburg geboren und starb am 28. Oktober 2000

in München. Er war gelernter Graphiker und arbeitete von 1924 bis 1933 als Redakteur für die Schwäbische Volkszeitung. Ab 1932 war Felder sozialdemokra-tischer Reichstagsabgeordneter. Er gehörte zu den 94 Sozialdemokratinnen und

Sozialdemokraten, die 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozia-listen stimmten. Im selben Jahr musste er fliehen, kehrte aber 1934 illegal nach Deutschland zurück. Er wurde inhaftiert und bis 1936 im KZ Dachau gefangen

gehalten. Nach dem Krieg engagierte er sich weiterhin in der Politik; von 1957 bis 1969 als Mitglied des Deutschen Bundestages. Sein Einsatz für die Demokratie

zeigte sich auch in seinem Bestreben, vor allem die jüngeren Generationen über den Nationalsozialismus aufzuklären. Hierzu leistete er unermüdliche Bildungs-

arbeit in Form von Diskussionsveranstaltungen und Vortragsreihen.

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Josef Felder

Die SPD-Fraktion hatte am 22. und am Vormittag des 23. März noch eingehend über ihre Haltung zum Ermächtigungsgesetz beraten. Es handelte sich um die Ent-scheidung darüber, ob die Fraktion überhaupt an der Sitzung teilnehmen solle. Es gab einige Kollegen, darunter vor allem den Reichsbanner-Vorsitzenden Höltermann, die hartnäckig die Meinung vertraten, dem Präsidenten Göring eine scharfe Entschlie-ßung zu übermitteln und dann abzureisen. Diese Meinung fand keine Mehrheit. Otto Wels wehrte sich ebenso wie der um viele Jahre jüngere Dr. Schumacher energisch gegen ein Fernbleiben von der Sitzung. Die Abgeordnete aus Schleswig-Holstein, Luise Schröder, geriet in Erregung. Sie sprang auf und forderte leidenschaftlich: „Keiner darf fernbleiben! Ich gehe hinüber und wenn sie mich in Stücke reißen. Man muss vor aller Welt den Nazis widersprechen und mit Nein stimmen.“ Auch Clara Bohm-Schuch wandte sich zornig gegen Höltermann. Jeder Satz der Rede, die Otto Wels halten wollte, wurde nun in reger Diskussion abgewogen [...].

Josef Felder imJahre 1982 über dieUmstände des 23.3.1933. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Zentrumsabgeordnete Joos, ein sehr achtbarer christlicher Arbeiterführer aus Köln, nahm während unserer Fraktionssit-zung mehrmals Verbindung mit uns auf, um uns über den Verlauf der Beratungen beim Zentrum zu unterrichten. [...]

Die Ankündigung der Kanzlerrede hatte eine riesige Menschenmenge in Bewe-gung gesetzt. Agitatoren der NSDAP peitschten sie unaufhörlich mit Zurufen an. Sprechchöre brandeten zu den Frak-tionszimmern, die teilweise im Reichstag noch benutzbar waren, hinauf, um den Abgeordneten der bürgerlichen Mitte und der SPD begreiflich zu machen, dass der Reichstag bewusst unter äußersten Druck gesetzt werde. „Wir wollen das Ermächtigungsgesetz, sonst gibt‘s Zun-der! Nieder mit den roten Schuften und Landesverrätern!“ Kein Wunder, dass die unheimliche Situation in der SPD-Frak-tion psychische Belastungen und so bei manchem die Meinung auslöste, in die Krolloper hinüberzugehen, bedeute viel-leicht Selbstmord.

So wurde der Weg vom Wallotbau zur Krolloper zum Dornenpfad. Die Schutz-polizei hielt nur eine schmale Gasse in der Menschenbrandung für die Abgeordne-ten frei. Unmittelbar vor dem Portal der Krolloper erlebten wir die Verhaftung des ehemaligen Ministers Carl Severing. Auf Intervention von Göring kam er wieder frei und konnte nachträglich noch sei-ne Neinstimme abgeben. Der ebenfalls verhaftete Abgeordnete Dr. Julius Leber kam nicht frei.Hitler ließ wie ein Star auf sich warten. Die Abgeordneten zeichneten sich in die Anwesenheitsliste ein, bewitzelt

von schlaksigen SA- und SS-Führern, die aus dem ganzen Reich eingeladen waren, um dem großen Schauspiel bei-zuwohnen. Die Minister und Abgeord-neten der DNVP wurden - für uns eine besonders interessante Wahrnehmung - von ihren NSDAP-Kollegen förmlich gemieden. [...]

Hitler und sein Gefolge kamen in Par-teiuniform im Sturmschritt und mit erhobener Hand. Die Botschafter und Gesandten der fremden Mächte und die sonstige Prominenz erwarteten ihn in den vollgepfropften Logen stehend, wäh-rend die gestiefelten Nazis die Hacken zusammenschlugen wie eine preußische Gardekompagnie. Die bürgerliche Mitte und die SPD nahmen sichtlich betroffen und schweigend Platz. [...]

In diesem Augenblick geschah etwas Un-gewöhnliches: SA- und SS-Leute betraten in völlig unzulässiger Weise den Raum der Abgeordneten und bildeten einen dichten Kordon um die Sitze der SPD. Ihre gezischten Drohungen und billigen Witze verstummten erst, als Hitler mit seiner programmatischen Rede begann. Bei jedem seiner sarkastischen Hiebe ge-gen die SPD fieberten die braunen Gäste um uns und es sah mehr als einmal so aus, als könnten sie den Zeitpunkt einer „persönlichen Abrechnung“ mit uns nicht erwarten. [...]

Die Sitzung wurde nun für die Dauer von etwa drei Stunden unterbrochen, um den Fraktionen - im alten Reichstag - Zeit für ihre Schlussberatungen zu lassen. Warnend, ja beschwörend kam der Abgeordnete Joos nochmals zu uns:

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„Reist ab oder sagt ja, ihr seid in Lebensge-fahr!“ Auch der Zentrumsabgeordnete Dr. Dessauer warnte einige Kollegen.

Die Fraktion billigte einige Abwesenheits-meldungen für jüdische Kollegen aus menschlich sehr erklärbaren Gründen. Über 20 Abgeordnete befanden sich in „Schutzhaft“, so dass die verbleibenden 94 nun die endgültige Entscheidung zu treffen hatten. Es kam zu einem dringen-den Appell jüngerer Abgeordneter, Otto Wels solle die Antwort der SPD an Hitler an sie abgeben. Auch Dr. Schumacher war dazu bereit. Mit klarer, zornbeben-der Stimme antwortete der Parteiführer: „Kein anderer als ich hat in dieser schwe-ren Stunde die Verpflichtung, das Nein der Sozialdemokratie auszusprechen. Auf jede Gefahr hin werde ich es tun.“

Noch einmal wurde unsere Erklärung überprüft und nach kurzer Debatte ein Satz gestrichen, der die verfassungswidri-ge Behandlung der Kommunisten enthielt. Mit Nachdruck betonten einige Redner die schwere Mitschuld der Kommunisten an dem Zusammenbruch der Weimarer De-mokratie. In der gegebenen Situation wür-de eine aus Rechtsbewusstsein bedingte Verwahrung für sie äußerst provokativ auf die Nazis wirken und zu einem Kesseltrei-ben gegen die SPD-Funktionäre im ganzen Reiche benützt werden. Wahrscheinlich würde dann die Rede von Wels in einem ungeheueren Tumult untergehen.

Am Spätnachmittag des 23. März erhielt sofort nach Sitzungsbeginn Otto Wels unter gespanntester Aufmerksamkeit des Hauses das Wort.

Würdevoll, äußerst beherrscht und ohne jedes Zeichen von Furcht stand er am Rednerpult. Unser Beifall zu besonders markanten Sätzen löste Zischen und Zwischenrufe um uns herum aus, wäh-rend die Nazi-Abgeordneten sich überra-schend ruhig verhielten. Göring winkte der SA wiederholt unwillig ab und sagte dann mit schneidender Stimme: „Die Ab-rechnung ist Sache des Führers!“ Hitler machte einen nervösen Eindruck, notier-te eifrig auf kleine Zettel und schüttelte mehrmals den Kopf.

Höhnisches Gelächter der Rechten über-tönte unseren Beifall und dann stürzte Hitler förmlich ans Rednerpult: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!“ Und nun folgte eine Flut von böswilligen Behaup-tungen und Anklagen gegen die Sozial-demokratie, unter völliger Missdeutung politischer und geschichtlicher Fakten. Zwischenrufe aus den Reihen der SPD mischten sich mit Heil- und Bravo-Ru-fen der Rechten. Göring zu uns gewandt: „Ruhe! Jetzt rechnet der Führer ab!“ Die bürgerliche Mitte verhielt sich schwei-gend.

Quelle: Felder, Josef (1982) - Die Entscheidung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, in: Abgeordnete desDeutschen Bundestages. Boldt, S. 37ff; zit. nach: Morsey, R., Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933.Düsseldorf 1992, S. 172ff

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Antonie (Toni) Pfülfwurde am 14. Dezember 1877 in Metz geboren und nahm sich am 8. Juni 1933 in

München das Leben. Sie war zunächst Lehrerin sowie Armen- und Waisenpflege-rin bis sie sich als Sozialdemokratin politisch engagierte und 1919 in die Weima-

rer Nationalversammlung gewählt wurde. Von 1920 bis 1933 war sie Mitglied des Reichstages. Sie kämpfte leidenschaftlich gegen den Nationalsozialismus, bis sie

sich vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung 1933 das Leben nahm.

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Toni Pfülf um 1920

In ihrer Biografie der sozialdemokra-tischen Reichstagsabgeordneten Anto-nie Pfülf1 schildert Antja Dertinger2 die Ereignisse des 23. März von der Sitzung der SPD-Reichstagsfraktion im Reichstag bis zur Abstimmung über das „Ermächti-gungsgesetz“ in der Kroll-Oper.

Mit freundlicher Genehmigung des Dietz-Verlages nachstehend ein Auszug:

[…] Ach, wäre dies alles doch nur ein bö-ser Traum! Die brüllenden Menschen, die den Platz vor der noch rußgeschwärzten

Ruine des Reichstagsgebäudes füllten – ein böser Traum; die NSDAP-Agitatoren, die die Massen anheizten – ein böser Traum; die Polizei, die eine schmale Gasse für den Weg der Abgeordneten vom Reichstagsgebäude zur Kroll-Oper freihielt – ein böser Traum. Waren das die Menschen, für die sie ein Leben lang gearbeitet hatte? Toni spürte, wie Zorn und Verzweiflung sie zu überwältigen drohten. Als dann ein Sprechchor rief: „Nieder mit den roten Schuften! Her mit dem Ermächtigungsgesetz!“, war es um ihre Fassung geschehen. Tränen liefen über ihr Gesicht.

Schon während der Fraktionssitzung im unbeschädigten Teil des Reichstags war ihr die Spannung schier unerträglich er-schienen. Viele Freunde befanden sich in sogenannter Schutzhaft, andere hatten ins Ausland flüchten müssen: Von den 120 Mandaten, die die Sozialdemokraten trotz übelsten Terrors und stärkster Be-hinderungen bei der Wahl zu Anfang dieses Monats errungen hatten, waren nur 94 durch Abgeordnete vertreten. Lief man nicht sehenden Auges ins Verder-ben, wenn man nun zu dem provisorisch für die Reichstagssitzung hergerichteten Varieté-Theater hinüberging, um Nein zu sagen zum Ermächtigungsgesetz, zum

23. März 1933 — Die Demokratie wird abgeschafft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 Personenregister siehe Seite 35

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Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich? Was gab es noch zu beheben, wen noch zu ermächtigen, nachdem – nur einen Tag nach dem Reichstagsbrand – dem Volk fast alle Grundrechte genommen worden waren? Toni erinnerte sich genau der Denkschrift Oberfohrens3 , des Vorsitzenden der deutschnationalen Reichstagsfrak-tion, der die Rolle der Nationalsozialisten beim Reichstagsbrand, diesen neuerlichen Anschlag auf die Republik, präzise geschildert hatte. Öffentlich brandmarken wollte er dieses Verbrechen und damit auch der Zusammenarbeit seiner eigenen Partei mit Kriminellen ein Ende bereiten. Doch das bekam ihm schlecht. Hugenberg4 und seine Kumpane unterdrückten, verheimlichten das Papier, um die nationale Ehre, wie es hieß, der Regierung Hitler zu retten. Oberfohren wurde später in seiner Kieler Wohnung erschossen aufgefunden. Mord oder Selbstmord – das war noch unklar. Welche Not also gab es noch zu beheben, nachdem bis zum Frühlingsanfang 33 fast alle Länderregierungen abgesetzt waren, nachdem es keine Pressefreiheit, kein freies Versammlungsrecht, kein Postgeheimnis mehr gab, nachdem die Regierung – ein ungeheuerliches Vorgehen! – die 81 Mandate, welche die Kommunisten bei der Wahl am 5. März errungen hatten, annulliert hatte, nachdem mit einer weiteren Notverordnung, diesmal zur Abwehr heimtückischer Angriffe auf die Regierung, jede antifaschistische Tätigkeit unterbunden und außerdem Straffreiheit für sol-che Delikte zugesichert wurde, die, wie die dehnbare Formel lautete, im Kampf für die deutsche Scholle – was immer das sein mochte – begangen wurden? Nein, diese Verbrecher brauchten kein Ermächtigungsgesetz mehr. Das deutsche Volk war längst all seiner Bürgerfreiheiten beraubt. Das Regime wollte nur noch den schönen Schein der Legalität.Toni dachte an Sollmann5, den guten Freund. Wie mochte es Wilhelm gehen? Könnte sie ihn doch nur besuchen! Die Nazis hatten das Wahlergebnis am Monats-beginn kaum zur Kenntnis genommen, da war der Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“, ein gewählter Abgeordneter des deutschen Reichstages, ein früherer Reichsinnenminister, fürchterlich misshandelt und dann, wie so viele Freunde, in Schutzhaft genommen worden unter dem zynischen Vorwand, man wolle damit der Gefahr weiterer tätlicher Angriffe vorbeugen. Wie gern und wie oft hatte sie mit Sollmann in der weitläufigen Wohnung des früheren Reichstagspräsidenten diskutiert, ja, zuweilen auch gestritten. Seine traditionsreiche Zeitung war nun auch längst verboten.

„Nieder die Verräter! Nieder die Verräter!“ skandierte jetzt ein Sprechchor. Wurde am heutigen Tag die Republik zu Grabe getragen? War die Kroll-Oper, der sie alle zustrebten, eine Mausefalle? Hatte Höltermann vielleicht doch recht gehabt, als er sich während der Fraktionssitzung gestern und heute morgen so hartnäckig dafür einsetzte, an der Reichstagssitzung nicht teilzunehmen, stattdessen dem neuen Reichstagspräsidenten eine Entschließung zu übergeben und dann eiligst abzureisen?

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Toni war während der heftigen Debatten in der Fraktion uneins mit sich selbst gewesen: Das Gefühl sagte ihr, keinesfalls könne man unter diesen unwürdigen Umständen die Farce einer Reichstagssitzung mitmachen und dem Diktator samt seiner Bande zum Schein der Legalität verhelfen. Zum anderen musste sie Otto Wels und dem jungen Schumacher zustimmen, als diese sich energisch für ein öffentliches Nein zum Ermächtigungsgesetz aussprachen. Sie hatte ihre Bedenken geäußert, auch ihren Zwiespalt: Das Ausland werde weniger deutlich das Nein und seine Begründung als den trügerischen Schein demokratischer Verhältnisse registrieren; daran dürften sie, die Sozialdemokraten, die mutmaßlich einzigen Nein-Sager, nicht mitwirken. In diesem Augenblick war Louise Schroeder, die selten außer Fassung geriet, aufgesprungen und hatte in heftigster Erregung widerspro-chen, hatte ihnen allen zugerufen:„Keiner darf fernbleiben! Ich gehe hinüber in die Kroll-Oper – und wenn sie mich in Stücke reißen. Wir müssen vor aller Welt den Nazis widersprechen und mit Nein stimmen!“So war denn die Rede des Partei- und Fraktionsvorsitzenden nochmals überdacht worden. Nach kurzer Debatte entschieden sich die sozialdemokratischen Abge-ordneten, jenen Satz zu streichen, der die verfassungswidrige Behandlung der 81 kommunistischen Abgeordneten anprangerte: Eine solche Solidaritätserklärung hätte in dieser Situation als Provokation wirken und dazu führen können, dass die Rede von Wels in einem Tumult untergegangen wäre; dies sollte auf keinen Fall geschehen.

Der Zug der Parlamentarier hatte die Kroll-Oper erreicht; es war vom Reichstag aus ja nur ein kurzer Weg quer durch den nördlichen Tiergarten. Plötzlich, kurz vor dem Portal nahm Toni Unruhe wahr, Wortfetzen, lebhafte Gesten der Empörung. Schmidt-Köpenick, der mit seiner hünenhaften Gestalt alle überragte, drehte sich um zu den hinter ihm gehenden Freunden und rief ihnen zu, man habe Severing verhaftet, Carl Severing6, auf dem Weg hierher. Toni packte Entsetzen. Sie glaubte schreien zu müssen. War der Terror noch zu überbieten? Sie hatten ja bereits Julius Leber auf dem Weg nach Berlin festgenommen! Toni schaute Marie an, die immer noch neben ihr herging. „Hast du gehört? Ist es wahr?“Marie antwortete nicht. Sie hakte Toni mit festem Griff unter. So gingen sie ne-beneinander in die Kroll-Oper.

Zuschauerraum und Bühne waren hergerichtet wie zu einer Massenversammlung der Nationalsozialisten. Fahnen ringsum und vor ihnen, die gesamte hintere Wandfläche der Bühne einnehmend, eine riesige aufgespannte Hakenkreuz-Fahne. Nichts deutete darauf hin, dass es sich hier um eine Sitzung des Parlaments handelte. Der „Führer“ ließ auf sich warten. Die Abgeordneten suchten sich Plätze im Operetten-Parkett und gruppierten sich entsprechend der Sitzverteilung im Reichstagsplenum. Mitglieder des diplomatischen Corps füllten, dicht gedrängt, die engen Logen.

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Endlich betrat der Reichskanzler den Saal – mit großem Gefolge, in Parteiuniform und Sturmschritt. Heil-Rufe grüßten ihn aus der 288 Abgeordnete starken NS-Fraktion. Die Herren Diplomaten erhoben sich aus ihren Logensesseln – eine beein-druckende Inszenierung zur ersten Reichstagsrede des Kanzlers! Toni schauderte. Der „Führer“ nahm vor dem Bühnenhintergrund Platz, neben sich zur linken Seite Papen, zur anderen Hugenberg; hinter ihnen thronte, ein wenig erhöht, Göring in der Gala. Doch das Vorspiel war noch nicht zu Ende. Nachdem Einheiten der SS an diesem Tage zur Absperrung des Platzes an der Kroll-Oper erstmals in Massen öffentlich in Erscheinung getreten waren, betraten nun mit grüßend erhobenem rechten Arm SA-Leute geräuschvoll den Saal. Einige Trupps postierten sich an den Ausgängen, andere marschierten geradewegs auf die Gruppe sozialdemokratischer Abgeordneter zu, bauten sich um sie auf, bildeten, mit Pistolen bewaffnet, eine undurchdringliche Kette um die Parlamentarier der SPD: „Die Mausefalle!“ dachte Toni wieder. Sie werden keine Hemmungen haben, uns hier im Saal, vor den Augen aller Welt, umzubringen. Aber, wie hatte doch Wels gesagt: Lieber republikanisch sterben, als faschistisch verderben.

Die Eröffnung der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 durch Hermann Göring, den Nachfolger ihres Freundes Löbe im Präsidentenamt, vermochte Toni nur mit Mühe zu folgen. Entsetzen über die Schmach, in der sie hier versammelt waren, lähmte ihre Aufmerksamkeit. Sie hörte hinter sich die derben Witze, die unverhoh-len ausgestoßenen Drohungen der Uniformierten, die erst nach einem herrischen Wink Görings schwiegen. […]Endlich kam man zur Entgegennahme einer Erklärung der Reichsregierung in Ver-bindung mit der Behandlung des Entwurfs eines Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Staat, wie der Präsident in umständlicher Korrektheit ankündigte. Toni war unfähig, dem „Führer“ aufmerksam zuzuhören. Er malte nach bewährtem Muster, doch in ungewöhnlich moderatem Tonfall das düstere Gemälde der Zeit nach 1918 und beklagte wieder einmal den durch die marxistische Irrlehre syste-matisch herbeigeführten Zerfall der Nation, fand dann unschwer in großem Bogen den Zusammenhang zum Reichstagsbrand und erklärte, die Brandstiftung – als missglückter Versuch einer groß angelegten Aktion – sei nur ein Zeichen dessen, was Europa vom Sieg dieser teuflischen Lehre zu gewärtigen hätte, von diesen Vernichtungstendenzen, von dieser Idee des Wahnsinns. Vom Volkskörper sprach er dann, der durch durchgreifende moralische Sanierung zur politischen Entgiftung des öffentlichen Lebens beitragen müsse; dafür würde die Regierung der nationalen Erhebung schon sorgen. […]

„Es würde dem Sinn der nationalen Erhebung widersprechen und dem beabsichti-gten Zweck nicht genügen“, hörte Toni den Reichskanzler Adolf Hitler, „wollte die Regierung sich für ihre Maßnahmen von Fall zu Fall die Genehmigung des Reichstags erhandeln oder erbitten.“ Nun war es heraus! Der Reichstag wurde abgeschafft.

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Man gab sich nicht einmal die Mühe, diesen Tatbestand zu beschönigen. Der Kanzler hatte wohl nicht begriffen, dass es vom Parlament ohnehin nichts zu erhandeln, nichts zu erbitten gab. Toni stieß Marie an. Aber die schaute vor Entsetzen gebannt, nach vorn. Der „Führer“ wurde noch deutlicher: Zwar solle der Reichstag keineswegs aufgehoben werden; allerdings habe die Regierung die Absicht, ihn nur von Zeit zu Zeit über ihre Maßnahmen zu unterrichten oder aus bestimmten Gründen, wenn zweckmäßig, auch seine Zustimmung einzuholen. – Der Reichstag als Kulisse für theatralische Veranstaltungen, die Parlamentarier als Claqueure! Klarer konnte die Abschaffung der Demokratie nicht formuliert werden.

Toni wusste später nicht, wie sie aus dem fahnengeschmückten, dem uniform-besetzten Saal des Operettenhauses hinausgelangt war, als nach dieser Rede die Sitzung für drei Stunden unterbrochen wurde.

Aber was gab es in der Sitzungspause noch zu beraten, noch zu besprechen? Die Rede von Otto Wels schriftlich übermitteln, dann noch heimlich und eilig abreisen, noch ehe die Reichstagssitzung fortgesetzt werden würde? Plötzlich stand Josef Joos7 im Fraktionsraum der Sozialdemokraten, Josef Joos vom Zentrum. Schon am Vormittag hatte er Kontakt mit den SPD-Abgeordneten aufgenommen, hatte sie über den Gang der Beratungen in seiner Fraktion unterrichtet. Nun aber wartete er erst gar nicht ab, bis man ihn zu sprechen bat, sondern rief in die zäh sich da-hinschleppende, ratlos wirkende Diskussion der SPD-Fraktion hinein:„Sagen Sie Ja zu diesem Gesetz, oder reisen Sie sofort ab! Sie sehen doch: Sie sind in Lebensgefahr!“Joos blieb während der Beratungspause nicht der einzige Zentrums-Mann, der seinen sozialdemokratischen Reichstagskollegen diesen dringlichen Rat gab. Auch Friedrich Dessauer8 kam und bestürmte sie alle, nicht mehr an der Nachmittags-sitzung teilzunehmen, mindestens aber auf eine Erklärung gegen das Ermächti-gungsgesetz zu verzichten. Herr Wels, warnte Dessauer, werde seine Rede sonst wohl nicht lange überleben.

Toni dachte gar nicht daran, jetzt abzureisen, nun nicht mehr. So unsicher sie vor Beginn dieser Reichstagssitzung über die Frage der Teilnahme oder des Fernblei-bens gewesen war, so deutlich empfand sie jetzt: Dies musste durchgestanden werden. Und als sich neben anderen auch der junge Schumacher zur Abgabe der vorgesehenen Rede bereiterklärten, widersprach sie heftig. Sie dachte an die mehr als sieben Millionen Wähler, die von ihnen, den Sozialdemokraten, das öffentlich bekundete Nein erwarten konnten, ja, sich darauf verließen. Sie dachte auch an die über vier Millionen Wähler der Kommunisten, deren Mandatsträger gewiss eben-falls gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt, wenn sie nur gekonnt hätten. Toni erhielt schweigende Zustimmung. Nun ging es nur noch um die Frage, ob Otto Wels selbst – er hatte schwerkrank vorzeitig einen Sanatoriumsaufenthalt abgebrochen

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und befand sich in äußerst bedenklicher gesundheitlicher Verfassung – oder ob ein anderer, Jüngerer dem Reichskanzler auf seine Forderungen antworten sollte. Aber da sprang Wels auf von seinem Platz und erklärte entschieden, kein anderer als er habe in dieser schweren Stunde die Verpflichtung, das Nein der deutschen Sozialdemokratie auszusprechen. In nüchterner Sachlichkeit, die keinen Widerspruch zu dulden schien, erklärte Wels anschließend:„Den Beschluss der Fraktion auszuführen, ist Sache des Vorsitzenden!“

Toni machte sich frühzeitig auf den Weg zur Nachmittagssitzung in der Kroll-Oper. Sie ging allein und nahm einen kleinen Umweg entlang der Spree, dort, wo das Reichstagsufer übergeht ins Kronprinzen- und dann ins Schlieffenufer. Hier skan-dierte kein Sprechchor; hier musste kein Volksvertreter vor dem Volk geschützt werden. Toni war sich sicher, diesen Weg zum letztenmal zu gehen, sich womöglich überhaupt zum letztenmal in Berlin aufzuhalten. Vor sich bemerkte sie einige Kol-legen des Zentrums, die wie sie den Weg entlang dem südlichen Spreeufer gewählt hatten. Sie würden mit Ja stimmen; davon war sie überzeugt. Um zu retten, was zu retten ist, würde es unter ihnen heißen. Dabei sprach nichts dafür, dass dieses Terrorregime irgendeine Partei, die eigene ausgenommen, weiterhin bestehen ließe. Auch der Opfergang der Gewerkschaften und ihre erst zwei Tage zuvor abgege-bene Loyalitätsadresse an die neuen Herren, würde vergebens gewesen sein. Sie würden sich alles einverleiben: die Parteien, die Gewerkschaften, die Verbände, die Vereine. Und wo sich Widerstand regte, würde er zerschlagen werden. Ausmerzen, ausrotten – das waren die Lieblingsvokabeln der Nazis gegenüber ihren Gegnern. Ein Dummkopf, wer sich noch Illusionen machte. Die Sozialdemokraten würden nach den Kommunisten die ersten sein, deren Organisation man zerschlagen würde, vielleicht nicht sofort nach dem heutigen Nein, aber doch längstens in einem Vierteljahr. Man brauchte gar keine hellseherischen Fähigkeiten, dachte Toni; man durfte nur die Augen nicht verschließen. Sie würde gleich mit Nein stimmen und dann, sofern sie Berlin lebend und frei verlassen konnte, nie wieder in die Reichshauptstadt zurückkehren; nie wieder, solange andere täglich ihren Wohn-ort wechseln mussten oder stets auf dem Sprung zur Flucht ins Ausland waren; nie wieder, solange politisch Andersdenkende in Straflagern hinter Stacheldraht gesperrt werden, in Straflagern wie soeben eines in Dachau, ganz in der Nähe ihrer Münchener Heimat, eingerichtet worden war.

Plötzlich hörte Toni eilige, kurze Frauenschritte hinter sich. Sie drehte sich um und sah die kleine Anna Zammert9 auf sich zulaufen, eine Fraktionskollegin aus Braun-schweig. Toni mochte die junge Abgeordnete, die den Jahren nach ihre Tochter hätte sein können. Dienstmädchen war sie gewesen, Tabakarbeiterin, Fabrikarbeiterin; während des Ersten Weltkriegs hatte sie sogar auf dem Bau und in Kohlengruben gearbeitet. Nun war sie Frauensekretärin bei der Gewerkschaft und erst wenige Jahre im Reichstag.

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„Bei uns ist Fürchterliches passiert!“ rief Anna Zammert atemlos, noch bevor sie Toni erreicht hatte.„Fürchterliches!“ wiederholte sie. „Sie haben einen Genossen zu Tode gequält, den Genossen Theissen!“

Und dann erzählte Anna von Matthias Theissen, der die Zahlstelle des Baugewerks-bundes in Braunschweig leitete und sozialdemokratischer Stadtverordneter war: Wie nachts SA-Männer ihn und seine Frau in der Wohnung überfallen, wie sie Theissen halb bewusstlos geschlagen und dann in das Volksfreund-Haus geschleppt haben; wie sie dort mit Knüppeln, Stahlruten, Peitschen seinen ganzen Körper, insbesondere aber sein Gesicht traktiert und ihn schließlich gefragt haben, ob er nun auf seine Parteimitgliedschaft und sein Stadtverordnetenmandat verzichte. Nein, habe er zweimal geantwortet.

Aber dann konnte Anna Zammert nicht weitererzählen. Ein Schluchzen brach aus ihr hervor und schüttelte die ganze zierliche Gestalt. Toni legte den Arm um sie, sagte nichts, schaute Karl Raloff10 an, der Anna begleitet und sie nun eingeholt hatte. Raloff nickte wortlos. Als Anna sich ein wenig beruhigt hatte, berichtete er weiter.„Ich selbst habe Matthias im Krankenhaus besucht; ich habe ihn gesehen. Tiere“, sagte Raloff, „lassen von ihren Opfern ab, wenn sie sie überwältigt haben. Diese Schweine nicht! Salzwasser haben sie in seine zerschundenen, blutigen Wunden gegossen! Dann hat Matthias eine Pistole erbeten, damit er sich erschießen kann. Er hat sie bekommen. Mit seinem letzten bisschen Kraft hat der die Pistole an die Schläfe gehalten und abgedrückt. Aber sie war nicht geladen. Das wussten die Schweine natürlich. Sie haben sich auf die Schenkel geschlagen vor Lachen. Und dann ist er weiter ausgepeitscht worden. Seinen Körper, einen klebrigen, zer-schundenen, aufgequollenen, blutigen Haufen Fleisch, haben sie ins katholische Krankenhaus zu Braunschweig geschafft. Matthias konnte uns noch erzählen, welche spurlos verschwundenen Genossen er im Volksfreund-Haus gesehen hat, genauso zugerichtet wie er selbst.“„Es ist nun amtlich“, unterbrach Anna Zammert ihren Braunschweiger Wahlkreis-Kollegen, „dass Matthias durch die Misshandlungen gestorben ist. Seine Frau und der Zentralvorstand des Baugewerksbundes haben nämlich Strafanzeige erstattet. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft die Leiche beschlagnahmt und zugeben müssen, wie unser Genosse zu Tode gekommen ist.“„Nachdem die Sache mit Matthias in Braunschweig bekannt wurde“, erzählte nun Raloff weiter, „sind alle unsere Kommunalpolitiker aus der Stadt geflüchtet. Seine Witwe haben sie verhaftet.“ […]

Nachdem die Abgeordneten sich im provisorischen Plenarsaal gesetzt hatten, erhielt Otto Wels sofort das Wort. Totenstill war es im Innern des Theaters, während er ans Rednerpult ging, so still, dass die Abgeordneten von draußen die drohenden

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Sprechchöre der SA hereinschallen hörten. Toni war sicher: Wer ihn nicht näher kannte, entdeckte an Wels keinen Deut der Furcht, die sie alle bewegte. Es war die Rede von Gift gewesen, das er bei sich trug – für alle Fälle. Mit leicht gesenktem Kopf, die Lippen zusammengepresst, das Gesicht wie blutleer, schritt er zum Rednerplatz, gewärtig, dieses Haus möglicherweise nicht lebend zu verlassen.Abweichend von der beschlossenen Erklärung, wies Otto Wels zunächst die halt-losen Lügen des Reichskanzlers zurück und gab dann, ebenso häufig unterbrochen von den Bravo-Rufen seiner Freunde wie durch das höhnische Gelächter der Nazi-Parlamentarier, die vereinbarte Erklärung der sozialdemokratischen Reichstags-fraktion gegen das Ermächtigungsgesetz ab.„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, dass sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. Noch niemals, seit es einen deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz geschehen soll. Die Herren von der nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten . . . Wollten die Herren von der NSDAP sozialistische Taten verrichten, brauchten sie kein Ermächtigungs-gesetz. Wir Sozialdemokraten . . . haben gleiches Recht für alle und ein sozialeres Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht. Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben.“

Toni hörte so gebannt zu, als sei ihr jedes Wort dieser Erklärung bis dahin unbekannt gewesen; den Freunden ringsum schien es ebenso zu gehen. Einiges von dieser Rede, insbesondere die Situation, in der sie gehalten wurde, mochte manches wettmachen an Versäumnissen, vielleicht sogar an Fehlern, die die Sozialdemokratie sich zuzuschreiben hatte. Aber was änderte sie noch, diese Erklärung? Hitler hatte seine Mehrheit beisammen – auch ohne das Nein der Sozial-demokraten. Das Zentrum, dachte Toni, würde wohl zustimmen, wenngleich sich die Fraktion – das hatten Joos und Dessauer angedeutet – die Entscheidung nicht leicht gemacht zu haben schien. Was also änderte das sozialdemokratische Nein noch? Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Toni hatte ketzerische Gedanken: Wem nütze die Ehrenhaftigkeit der Sozialdemokraten, wenn sie Freiheit und Leben nicht mehr würden einsetzen können für eine menschenwürdige, für eine soziale Gesellschafft? Sie schaute hinauf zum leicht erhöhten Rednerpult, blickte unverwandt die gedrungene Gestalt von Otto Wels an, sah eigentlich durch ihn hindurch, lauschte seinen an der Stelle fast ungeheuerlichen Worten nach, dachte

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an die Schulkinder, nicht an ihre Schulkinder, sondern jene kommender Generati-onen: Vielleicht würden diese Worte einmal in den Geschichtsbüchern stehen . . .

Zwar sei die Verfassung von Weimar keine sozialistische gewesen,erklärte der Vorsitzende der sozialdemokratischen Reichstagfraktion weiter; den-noch habe die Sozialdemokratie selbstverständlich stets zu den rechtsstaatlichen Prinzipien gestanden, die in dieser Verfassung niedergelegt waren.„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten!“Am Ende seiner Rede schaute Otto Wels nicht mehr in den Saal, blickte über die Adressaten seiner Erklärung hinweg, richtete seine Worte nach draußen:„Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten, wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und ihre Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft.“

In den Beifallstrum der SPD-Abgeordneten mischten sich Pfui-Rufe und Hohnge-lächter der Nazis. Toni blickte zur Seite, in die Mitte. Dort rührte sich keine Hand für die mutige Rede von Otto Wels.

Dann stürzte der Reichskanzler ans Rednerpult, nicht mehr moderat, nicht mehr werbend um die rechte Mitte. Gift und Galle sprudelte er hervor, griff die Worte von früherer und gegenwärtiger Verfolgung der Demokraten auf und höhnte, dass jedem, dessen Menschlichkeit noch nicht ganz verkommen war, das Blut in den Adern zu gefrieren schien:„Sie sind wehleidig, meine Herren, und nicht für die heutige Zeit bestimmt, wenn Sie jetzt schon von Verfolgung sprechen. Was ist Ihnen geschehen? Sie sitzen hier, und geduldig hört man Ihren Redner an. Sie reden von Verfolgung. Wer hat Sie denn bisher verfolgt?“ Gelächter und tobender Beifall bei den Nationalsozialisten. Toni vernahm ein „Sehr richtig!“ des Präsidenten, später dann dessen scharfe Bemerkung: „Ruhe, jetzt rechnet der Kanzler ab!“

Hitler aber appellierte dann nur noch an den Reichstag, der Regierung zu genehmi-gen, was sie sich ohnedies hätte nehmen können, und versicherte gegenüber der sozialdemokratischen Fraktion: „Sie, meine Herren, sind nicht mehr benötigt. Ich will auch gar nicht, dass sie dafür stimmen! Deutschland!“, brülle er mit sich am Ende überschlagender Stimme, „ Deutschland soll frei werden, aber nicht durch Sie!“

Toni meinte sicher zu sein, dass nun die vielfach angekündigte Stunde der Ab-rechnung gekommen sei. Niemand würde in dem tumultartigen Beifall der Nazi-Abgeordneten, in dem Sturm der Heil-Rufe, in der Brandung des Applauses, unter

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dem die Kroll-Oper erzitterte, bemerken, wenn die Schergen, die noch immer mit umgeschnallten Waffen im Saal standen, nun von ihren Pistolen Gebrauch machten. Es wäre ungeheuerlich, wenn das geschähe – aber es war schon so vieles unge-heuerlich, unausdenkbar, was geschehen ist. Wer wollte einschätzen, wofür dieses Regime die Grenze ist, ob es überhaupt eine Grenze kannte? Das Parlament wurde soeben abgeschafft; weshalb also sollten die neuen Herren hier vor Verbrechen zurückschrecken, die sie auf der Straße täglich begingen?

Göring verschaffte den Rednern der übrigen Parteien, die alle dem Ermächtigungs-gesetz zustimmten, mit barschen Worten Gehör. Anschließend ließ er sich am Präsidentenplatz ablösen, um sich als Debattenredner über die schamlosen, hem-mungslosen Greuelnachrichten der sozialdemokratischen Presse im Ausland zu verbreiten, durch die, wie er behauptete, die Männer, die heute das deutsche Volk führten, in den Schmutz gezerrt würden. Der Abgeordnete Göring bagatellisierte, wie nicht anders zu erwarten war, die Juden-Verfolgung, verspottete in übelster Weise alle, die in Gefängnissen schmachteten, und verstieg sich abschließend zu der Aufforderung:„Wenn verschiedene Abgeordnete von Ihnen in Schutzhaft genommen wurden, so seien Sie mir dankbar!“Toni vernahm noch seine Worte: „Friedlicher ist Deutschland nie gewesen!“ , dann weigerte sich alles in ihr, noch irgendetwas aufzunehmen.

Anna stieß sie an: „Abstimmung!“

Toni hatte wie gelähmt dagesessen. es wurde namentlich abgestimmt. Ein jeder schrieb sein Ja oder Nein auf eine Stimmkarte. Überraschungen gab es nicht. Es blieb dabei: Nur die 94 anwesenden der eigentlich 120 Abgeordnete zählenden sozialdemokratischen Reichstagsfraktion stimmten mit Nein; der Rest des Hohen Hauses, 444 Parlamentarier, mit Ja. Keine ungültige Stimme, keine Enthaltung. Die Nazis hatten ihr Ermächtigungsgesetz. Friedlicher ist Deutschland nie gewesen, hatte der Reichstagspräsident Göring gesagt. Er schloß die Sitzung um 19.52 Uhr. Die nationalsozialistischen Abgeordneten sprangen von ihren Sitzen auf. Mit erhobenem rechten Arm sangen sie das Horst-Wessel-Lied. Von draußen brandete ein Sturm von Heil-Rufen ins Innere der Kroll-Oper. Über Berlin dämmerte es.

Später, nachdem sie alle ihre Berliner Quartiere aufgesucht hatten, um anderntags – nicht selten auf spurenverwischenden Umwegen – mit der Bahn in ihre Heimatorte oder ihre Verstecke zu reisen, erfuhr Toni durch ihren Münchner Fraktionskollegen Hoegner von einem Wortwechsel, den es zwischen Abgabe und Auszählung der Stimmzettel zum Ermächtigungsgesetzt gegeben hatte: Der neue Reichstags-präsident Göring habe sich da an den alten Reichstagspräsidenten Löbe gewandt und diesem großzügig einen Ratschlag gebeten: Empfehlen Sie Ihren Leuten, nach

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Beendigung der Sitzung noch im Hause zu bleiben, denn draußen ist eine große Menschenansammlung, die den Führer sehen will. Es könnte Schwierigkeiten geben. – Im Flüsterton habe Löbe diese Empfehlung weitergegeben. Doch Hoeger, gleich-falls flüsternd, habe mißtrauisch geantwortet: nach der Räumung der Tribünen, nach der Abfahrt der ausländischen Diplomaten, nach dem Weggang der anderen Parlamentarier hätten die Nazis die beste Gelegenheit, mit den Nein-Sagern nach Belieben zu verfahren, keinesfalls also sollte man den merkwürdigen Ratschlag Görings befolgen. – Der wurde dann auch niemandem sonst bekanntgemacht; und so gingen die SPD-Abgeordneten in kleinen Gruppen hinaus aus dem großen Saal der Kroll-Oper, hinaus auf den Vorplatz, wo tosende Heil-Rufe die Sieger dieser Abstimmung begrüßten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Otto Welswurde am 15. September 1873 in Berlin geboren und starb am 16. September 1939

in Paris. Er arbeitete zunächst einige Jahre als Tapezierer. Nach dem Besuch der SPD-Parteischule engagierte sich Wels ab 1906 hauptamtlich als Politiker. 1912

wurde er sozialdemokratischer Abgeordneter des Reichstages und 1919 SPD-Par-teivorsitzender. Im selben Jahr wurde Wels in die Nationalversammlung sowie in

den neuen Reichstag gewählt. Wels beteiligt sich massgeblich an den Bündnis-sen „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ und „Eiserne Front“ für den Erhalt der Re-publik und gegen den Nationalsozialismus. 1933 hielt er seine letzte Reichstags-rede, in der er für die Sozialdemokratie die Ablehnung des Nationalsozialismus

begründete. Aus dem Exil (zunächst im Saarland und Prag, später in Paris) setzt er sich nach 1933 für den Aufbau der Exilorganisation der SPD ein.

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Otto Wels

„Meine Damen und Herren! Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichbe-rechtigung, die der Herr Reichskanzler erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten um so nachdrücklicher zu, als wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Ich darf mir wohl in diesem Zusammenhang die persönliche Bemerkung gestatten, daß ich als erster Deutscher vor einem internationalen Forum, auf der Bremer Kon-ferenz am 3. Februar des Jahres 1919, der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten bin.

Rede des SPD-Vorsitzen-den und -Abgeordneten Otto Wels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zur Begründung der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die Sozialde-mokratische Fraktion in der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 in der Berliner Kroll-Oper:

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(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Nie hat uns irgendein Grundsatz unserer Partei daran hindern können oder gehin-dert, die gerechten Forderungen der deutschen Nation gegenüber den anderen Völkern der Welt zu vertreten.

(Bravo! bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Reichskanzler hat auch vorgestern in Potsdam einen Satz gesprochen, den wir unterschreiben. Er lautet: »Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten kam der Wahnwitz der Reparationen und in der Folge die Katastrophe der Weltwirtschaft.« Dieser Satz gilt für die Außenpolitik; für die Innenpolitik gilt er nicht minder.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Auch hier ist die Theorie von ewigen Siegern und Besiegten, wie der Herr Reichs-kanzler sagte, ein Aberwitz. Das Wort des Herrn Reichskanzlers erinnert uns aber auch an ein anderes, das am 23. Juli 1919 in der Nationalversammlung gesprochen wurde. Da wurde gesagt: »Wir sind wehrlos, wehrlos ist aber nicht ehrlos.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Gewiß, die Gegner wollen uns an die Ehre, daran ist kein Zweifel. Aber daß dieser Versuch der Ehrabschneidung einmal auf die Urheber selbst zurückfallen wird, da es nicht unsere Ehre ist die bei dieser Welttragödie zugrunde geht, das ist unser Glaube bis zum letzten Atemzug.“

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten. - Zuruf von den Nationaldemokraten: Wer hat das gesagt?)

Das steht in einer Erklärung, die eine sozialdemokratisch geführte Regierung damals im Namen des deutschen Volkes vor der ganzen Welt abgegeben hat, vier Stunden bevor der Waffenstillstand abgelaufen war, um den Weitervormarsch der Feinde zu verhindern. - Zu dem Ausspruch des Herrn Reichskanzlers bildet jene Erklärung eine wertvolle Ergänzung.

Aus einem Gewaltfrieden kommt kein Segen;

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

im Innern erst recht nicht.

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(Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Eine wirkliche Volksgemeinschaft läßt sich auf ihn nicht gründen. Ihre erste Vor-aussetzung ist gleiches Recht. Mag sich die Regierung gegen rohe Ausschreitungen der Polemik schützen, mag Sie Aufforderungen zu Gewalttaten und Gewalttaten selbst mit Strenge verhindern. Das mag geschehen, wenn es nach allen Seiten gleichmäßig und unparteiisch geschieht, und wenn man es unterläßt, besiegte Gegner zu behandeln, als seien sie vogelfrei.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

Nach den Verfolgungen, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten kön-nen, daß sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt. Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Kritik ist heilsam und notwendig. Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Ver-treter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht,

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muß sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.

Meine Damen und Herren! Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen fehlt es auch nicht an Übertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier: wir haben weder in Paris um Intervention gebeten, noch Millionen nach Prag verscho-ben, noch übertreibende Nachrichten ins Ausland gebracht.

(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

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Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im Inlande eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres vom Falschen scheidet.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Noch besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, daß die volle Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei.

(Erneute lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Das, meine Herren, liegt bei Ihnen.

Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozi-aldemokratische Bewegung zu vernichten, die seit mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankengutes gewesen ist

(Lachen bei den Nationalsozialisten.)

und auch bleiben wird. Wollten die Herren von der Nationalsozialistischen Partei sozialistische Taten verrichten, sie brauchten kein Ermächtigungsgesetz.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Eine erdrückende Mehrheit wäre Ihnen in diesem Hause gewiß. Jeder von Ihnen im Interesse der Arbeiter, der Bauern, der Angestellten, der Beamten oder des Mittel-standes gestellte Antrag könnte auf Annahme rechnen, wenn nicht einstimmig, so doch mit gewaltiger Majorität.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

(Lachen bei den Nationalsozialisten.)

Aber dennoch wollen Sie vorerst den Reichstag ausschalten, um Ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von Bestehendem ist aber noch keine Revolution. Das Volk erwartet positive Leistungen. Es wartet auf durchgreifende Maßnahmen gegen das furchtbare Wirtschaftselend, das nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt herrscht.

Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden.

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(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

(Lachen bei den Nationalsozialisten.)

Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen.

(Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht.

(Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eigenen Führer preiszugeben.

(Beifall und Händeklatschen bei den Sozialdemokraten.)

Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wir Sozialdemokraten wissen, daß man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache Ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewußtsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewußtsein zu appellieren.

Die Verfassung von Weimar ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes, die in ihr festgelegt sind. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialis-tengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen. Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung.

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Ihr Bekennermut ihre ungebrochene Zuversicht –

(Lachen bei den Nationalsozialisten.)

(Bravo! Bei den Sozialdemokraten.)

verbürgen eine hellere Zukunft.“

(Wiederholter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

(Lachen bei den Nationalsozialisten.)

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Quelle: Auszug aus dem Protokoll des Reichstags vom 23. März 1933, S. 32 ff.

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Sönke RixSprecher der ArbeitsgruppeRechtsextremismus

Mit der Aufdeckung der NSU-Mord-serie, den Wahlerfolgen rechter Par-teien und den Nazi-Aufmärschen und –Demonstrationen zeigt sich, dass ein entschiedenes Handeln gegen Rechtsex-tremismus durch alle gesellschaftlichen Gruppen und durch jeden Einzelnen nö-tig ist.

Dass sich im Durchschnitt immer noch zwei rechtsextrem motivierte Gewalt-taten pro Tag ereignen und dass seit der Wiedervereinigung nach offiziellen Angaben mehr als 60 Menschen durch rechtsextreme Gewalttaten zu Tode gekommen sind – zivilgesellschaftliche Opferberatungsstellen sprechen sogar von mehr als 180 Todesopfern rechter Gewalt – ist ein klares Zeichen dafür, wie nötig ein solches Engagement ist. Mit der rassistischen Mordserie des NSU erreichte rechte Gewalt einen neuen, traurigen Höhepunkt.Allein in Ostdeutschland verfügen die rechtsextremen Parteien über mehr als 400 Mandate in den Kommunalparla-menten, und in Sachsen und Mecklen-burg-Vorpommern sitzt die NPD im Landtag. Der Wiedereinzug der NPD in das Parlament von Sachsen zeigt, dass sie dort bereits eine Stammwählerschaft aufgebaut hat.

Arbeit und Ziele der AG

Auch aufgrund unserer sozialdemo-kratischen Geschichte und unseren

Aktiv für Demokratie —Entschlossen gegen Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erfahrungen mit Verfolgung im Natio-nalsozialismus ist daher das entschie-dene Handeln und der Schutz unserer Staatsform mit allen demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln ein wich-tiges Anliegen der SPD. Welche hohe Be-deutung dieses Anliegen für uns Sozial-demokraten hat, zeigt die Arbeitsgruppe Strategien gegen Rechtsextremismus der SPD-Bundestagsfraktion, mit der eine klare Position gegen Rechts bezogen wird. Die Arbeitsgruppe ist Ansprech-partner, Diskussions- und Informations-forum und nimmt gemeinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion Einfluss auf die politische Gestaltung und Finanzierung von Programmen gegen Rechts.

Ziel der Arbeitsgemeinschaft ist es, eine stärkere Vernetzung zwischen denjeni-gen, die gegen Rechtsextremismus, In-toleranz, Rassismus vorgehen und sich für Demokratie einsetzen, herzustellen. Dadurch soll die Möglichkeit entstehen, Informationen schnell austauschen und Aktionen zielgerichteter planen zu kön-nen. Vernetzt werden sollen vor allem die bei uns in der SPD und den Jusos vorhandenen Kompetenzen. Darüber hinaus sollen Initiativen, Verbände und Fachexperten eingeladen werden, um mit ihnen an einer guten und wirkungs-vollen Strategie gegen Rechts und für Demokratie zu arbeiten.

Starke Demokratie

Als wehrhafte Demokratie hatte und hat die Bundesrepublik Deutschland darüber hinaus die Möglichkeit, sich mit rechts-staatlichen Mitteln mit ihren Gegnern auseinanderzusetzen. Eingesetzt wur-den einige dieser Mittel bereits durch

die rot-grüne Bundesregierung, die u. a. erreicht hat, dass das Versammlungs-recht verschärft und der Aufmarsch von Neonazis an historisch bedeutsamen Ge-denkstätten verboten wurde.

Eine weitere Möglichkeit des Vorgehens gegen Rechts liegt jedoch auch in der Stärkung der Demokratie. Deswegen ist die größere finanzielle Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen für die Finanzierung von Programmen der Demokratieentwick-lung ein wichtiges Mittel im Kampf gegen Rechts. Infolgedessen wäre auch das Verbot der NPD eine bedeutende Maßnahme, da die Partei den National-sozialismus offen verherrlicht und eine aggressiv-kämpferische Grundhaltung gegenüber unserer freiheitlich-demokra-tischen Grundordnung aufweist.

Unterstützung von Programmen gegen Rechts

Die heutige Situation macht es deshalb notwendig, dass eine dauerhafte Ausei-nandersetzung mit dem Rechtsextremis-mus erfolgt und dass die demokratische Kultur in unserem Land gestärkt wird. Wir sind überzeugt: Die Stärkung der Demokratie und der engagierten De-mokratinnen und Demokraten sind der beste Verfassungsschutz.Um die rechtsextremen Einstellungsmu-ster in der Gesellschaft zu bekämpfen, wollen wir insbesondere die 2001 von der SPD begründeten Programme ge-gen Rechtsextremismus dauerhaft und verlässlich unterstützen. Die Programme haben zum Aufbau lokaler Strukturen beigetragen und zeigen Wirkung. Damit dies weiterhin so bleibt, müssen die Mit-

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tel für die Programme gegen Rechtsextremismus aufgestockt werden. Ebenso muss die Finanzierung der Programme gegen Rechtsextremismus dauerhaft gesichert werden. Wir brauchen eine Finanzierung, die eine kontinuierliche Unterstützung bewährter und erprobter Arbeit gegen Rechtsextremismus sicherstellt.

Darum:

Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Neonazismus sind men-schenverachtend und haben in unserem Land nichts zu suchen. Sie widersprechen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen mit der AG Strategien gegen Rechtsextremismus konsequent für eine gesellschaftliche Demokratieoffensive. In den vergangenen zehn Jahren haben wir mit der Arbeit der SPD und der AG auf diesem Weg wichtige Meilensteine gesetzt. Unsere Demokratie kann sich gerade in diesem Themenfeld keine Rückschritte leisten!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang

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24. März 1933 Reichsgesetzblatt I S. 141*

Der Reichstag hat das folgende Gesetz beschlossen, das mit Zustimmung des Reichsrats hiermit verkündet wird, nachdem festgestellt ist, daß die Erfordernisse verfassungsändernder Gesetzgebung erfüllt sind:

Artikel 1Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. Dies gilt auch für die in den Artikeln 85 Abs. 2 und 87 der Reichsverfassung bezeichneten Gesetze.

Artikel 2Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichs-verfassung abweichen, soweit sie nicht die Einrichtung des Reichtstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben. Die Rechte des Reichspräsidenten bleiben unberührt.

Artikel 3Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichs-kanzler ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft. Die Artikel 68 bis 77 der Reichsverfassung finden auf die von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze keine Anwendung.

Artikel 4Verträge des Reichs mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsge-setzgebung beziehen, bedürfen nicht der Zustimmung der an der Gesetzgebung beteiligten Körperschaften. Die Reichsregierung erläßt die zur Durchführung dieser Verträge erforderlichen Vorschriften.

Artikel 5Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündung in Kraft. Es tritt mit dem 1. April 1937 außer Kraft*; es tritt ferner außer Kraft, wenn die gegenwärtige Reichs-regierung durch eine andere abgelöst wird.

Gesetz zur Behebung der Not vonVolk und Reich (Ermächtigungsgesetz)

*) Das unter der Kurzbezeichnung „Ermächtigungsgesetz„ bekannte Gesetz wurde mehrfach verlängert (RGBl. 1937 I S. 105, 1939 I S. 95), letztmalig am 10.05.1943 (RGBl. I S. 295).

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1) Toni Pfülf* 14. Dezember 1877 in Metz; † 8. Juni 1933 in München; sozialdemokratische Politi-kerin, Vorkämpferin der Frauenrechte; Mitglied der Nationalversammlung 1919/20 sowie Mitglied des Reichstags 1920-1933. Tonie Pfülf, die mit größter Leidenschaft gegen den Nationalsozialismus gekämpft hat, nahm sich aus Verzweiflung über die politische Entwicklung am 8. Juni 1933 das Leben.

2) Antje DertingerDazwischen liegt nur der Tod – Leben und Sterben der Sozialistin Antonie Pfülf; Verlag J:H:W: Dietz Nachf., 1984.

3) Ernst Oberfohren1881-1933, Naturwissenschaftler, Lehrer, Wirtschaftspolitiker, Mitglied der Deutsch-nationalen Volkspartei, 1919-1933 Mitglied der Nationalversammlung bzw. des Reichstages, seit 1929 Fraktionsvorsitzender, Ausschluss aus der DNVP wegen seiner oppositionellen Haltung gegenüber der Politik Hugenbergs.

4) Alfred Hugenberg1865-1951, Wirtschaftsführer, lange Zeit Vorstandsdirektor der Firma Krupp, Führer des rechten Flügels der DNVP, Abgeordneter in Nationalversammlung und Reichstag, entschiedener Gegner des Parlamentarismus, den er vor allem mit seinem Presseim-perium (Hugenberg-Konzern: Zeitungen, Zeitschriften, Funk, Film) bekämpfte, nach 1933 Wirtschafts- und Ernährungsminister.

5) Wilhelm Sollmann1881-1951, gelernter Kaufmann, seit 1931 Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“, Köln, 1919/20 Mitglied der Nationalversammlung, dort im Verfassungsausschuss, 1920-33 Reichstagsmitglied der SPD für Köln-Aachen, unter Stresemann 1923 Reichs- innenminister, 1933 nach SA-Überfall und Krankenhausaufenthalt über das Saarland in die USA emigriert, ab 1935 Professor in Philadelphia.

6) Carl Severing1875-1952, gelernter Schlosser, zunächst Gewerkschaftssekretär, dann Redakteur der Bielefelder SPD-„Volkswacht“, 1907-33 Mitglied des Reichstags, 1921-33 auch Landtagsabgeordneter in Preußen, zeitweise Reichs- und preußischer Staatskom-missar für Westfalen, 1928-30 Reichsinnenminister in der Regierung der Großen Koalition unter SPD-Kanzler Hermann Müller, 1930 bis zum „Preußenputsch“ preu-ßischer Innenminister, 1946-48 Chefredakteur der „Freien Presse“, Bielefeld, seit 1947 Landtagsabgeordneter in Nordrhein-Westfalen.

Personenregister

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7) Josef Joos1878-1965, Redakteur, Zentrums-Politiker, Vorsitzender der katholischen Arbeiter-Internationale, 1919-33 Mitglied in Nationalversammlung und Reichstag aus Düssel-dorf bzw. Köln-Aachen, 1938 Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft, 1941-45 KZ-Häftling in Dachau, nach 1945 wieder aktiv in der katholischen Männer-Bewegung.

8) Friedrich Dessauer1881-1963, Dr. phil. nat. Ordinarius an der Universität Frankfurt/Main, 1924-33 Zentrums-Mitglied im Reichstag, 1933 Entzug des Ordinariats und Haft, 1934 Emi-gration nach Istanbul, dann in die Schweiz, Lehrtätigkeit, 1941 Ausbürgerung aus Deutschland, 1950 wieder an der Frankfurter Universität.

9) Anna Zammert 1898-1982, geb. Rabe, Gewerkschaftssekretärin, 1930-33 SPD-Abgeordnete aus Südhannover-Braunschweig im Reichstag, 1933 mehrfach verhaftet, 1935 Emigration nach Schweden, kehrte nicht nach Deutschland zurück.

10) Karl Raloff1899-1976, Anwaltsangestellter, Redakteur, 1932/33 SPD-Abgeordneter im Reichs-tag für Südhannover-Braunschweig, August 1933 Emigration nach Kopenhagen, Widerstandstätigkeit, 1940 Flucht nach Schweden, 1945 zurück nach Kopenhagen, dort Redakteur der „Deutschen Nachrichten“, ab 1948 Skandinavien-Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur, 1952 Presse-Attaché der deutschen Botschaft in Dänemark.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lore AgnesSiegfried AufhäuserFritz BaadeHeinrich BeckerNikolaus BernhardAdolf BiedermannLouis BiesterHans BöcklerClara Bohm-SchuchAlwin BrandesOtto BuchwitzGustav DahrendorfGeorg DietrichHans DillAlfred DobbertFriedrich EbertOtto EggerstedtAlfred FaustJosef FelderAugust FrölichPaul GerlachGeorg Engelbert GrafPeter GraßmannGeorg GraupeOtto GrotewohlErwin HartschErnst HeilmannKurt HeinigFritz HenßlerPaul HertzWilhelm Hoegner

Karl HöltermannOskar HünlichFriedrich Ernst HusemannAlfred JanschekMarie JuchaczAugust KarstenEmil KirschmannHermann KrätzigFranz KünstlerFriedrich LarssenRichard LipinskiCarl LitkePaul LöbeErich LübbeArthur MertinsFranz MetzCarl MoltmannAnna NemitzFriedrich NowackRichard PartzschOtto Friedrich PassehlFriedrich PeineFranz PetersFranz PetrichToni PfülfKurt PohleKarl RaloffAnton ReißnerErnst ReuterHeinrich RichterMax Richter

Namen der 94 Reichstagsabgeordneten der SPD, die am 23. März 1933 gegen das „Ermächtigungsgesetz“ gestimmt haben:

23. März 1933 —Nein zur Nazidiktatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Heinrich RitzelErich RoßmannHugo SaupeFranz ScheffelJohannes SchirmerHubert SchlebuschGeorg SchmidtMichael SchnabrichErnst SchneppenhorstCarl SchreckLouise SchroederBerta SchulzKurt SchumacherGustav SchumannCarl SeveringFriedrich Stampfer

Hans StaudingerJohannes StellingFritz TarnowHermann TempelAdolf Kurt UhligFritz UlrichHans UnterleitnerJohann VogelWilhelm WeberJakob WeimerOtto WelsCarl WendemuthRudolf WisselOtto WitteMathilde WurmAnna Zammert

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fotos:dpa (josef felder), adsd/fes (willy brandt, antonie pfülf, otto wels), deutscher bundestag/licht-blick/achim melde (dr. hans-jochen vogel)

Namen der sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder, die an der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz nicht teilnehmen konnten.

26 Sozialdemokratische Mitglieder des Reichstages konnten nicht an der Schlussab-stimmung über das Ermächtigungsgesetz teilnehmen. Mehr als 20 von Ihnen befanden sich in sog. „Schutzhaft“ der Nationalsozialisten, andere waren bereits auf der Flucht.

Marie Ansorge (auch Maria)Arthur ArztDr. Rudolf BreitscheidArthur CrispienWilhelm DittmannJulius FinkeHermann FleißnerDr. Rudolf HilferdingBernhard KuhntMarie KunertOtto LandsbergDr. Julius LeberDr. Kurt Löwenstein

Werner LufftLudwig MarumStefan MeierDr. Carlo MierendorffFriedrich PuchtaErnst RothPhillip ScheidemannGerhart SegerToni SenderFritz SoldmannWilhelm SollmannMargarethe StarrmannFriedrich Wilhelm Wagner

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