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Orpheus in der Spätantike (Studien und Kommentar zu den Argonautika des Orpheus: Ein literarisches,...

Date post: 14-Dec-2016
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2. Strukturen Im Gegensatz zu einzelnen formalen Aspekten der AO (v.a. ihrer metri- schen Struktur sowie Sprachduktus und Vokabular) 1 ist auf Fragen zu ihrem literarischen Genre – mit Ausnahme Hunters 2 – bislang wenig Augenmerk gelegt worden. Auch die Binnenstruktur des Gesamtwerks sowie die Funk- tionen wichtiger Textpassagen sind noch weitgehend ununtersucht. Dabei ermöglicht eine nähere Analyse gerade dieser Punkte entscheidende Er- kenntnisse, was das Verständnis der AO sowie das Selbstverständnis ihres anonymen Verfassers angeht. Mit dem Ziel, einen systematischen und ver- lässlichen Einstieg in die Untersuchung der AO zu gewährleisten, seien des- halb zunächst drei wesentliche strukturelle Aspekte behandelt. Die Komplexität der Erzählform lässt es sinnvoll erscheinen, diese in einem ersten Schritt in den Blick zu nehmen. Insbesondere ein Spiel mit verschiedenen textinternen (d.h. bezogen auf die handelnden Personen) sowie -externen Rollen (d.h. mit Blick auf den Leser / Rezipienten) und der Effekte, die damit verbunden sind, verdient eine eingehende Untersu- chung. In einem zweiten Schritt lässt sich so der epische Charakter des Werks besser ins Auge fassen. Dabei soll es nicht um Fragen wie gramma- tikalische oder vokabularische Besonderheiten der AO gehen. Vielmehr sollen kompositorische und gattungstheoretische Fragen in den Mittel- punkt rücken bzw. fortgeführt werden. So kann das von Hunter analysierte Spiel mit verschiedenen literarischen Traditionen innerhalb des epischen Rahmens insbesondere in Hinblick auf das in den AO angelegte Orpheus- Bild gewinnbringend interpretiert werden. In Fortführung der Analyse des epischen Charakters verdient zum dritten schließlich der hymnische Be- ginn der AO, gesondert behandelt zu werden. Wünsch erwähnt diesen be- reits in seinem RE-Artikel zum ‚Hymnos‘, 3 doch ohne dass diese Beobach- 1 Zu nennen sind hier v.a. die Arbeiten von Hermann (1806) – und darin enthalten die seiner Vorgänger – sowie Rosenboom (1888). Siehe zudem die Ausgaben von Abel (1885), Dottin (1930) und Vian (1987). 2 Siehe Hunter (2005); außerdem Köhnken (2007), S. 273, der die Frage der Genus- zugehörigkeit der AO anspricht, ohne allerdings weiter darauf einzugehen. 3 Wünsch (1914), Sp. 172: „Daß die dem Orpheus zugeschriebenen Argonautica mit einem an die H.Sammlung anklingenden Prooemium eröffnet werden (…) ist be- greiflich.“ Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 93.180.53.211 Download Date | 12/17/13 9:41 AM
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Ansätze und Ziele der vorliegenden Arbeit 11

2. Strukturen

Im Gegensatz zu einzelnen formalen Aspekten der AO (v.a. ihrer metri-schen Struktur sowie Sprachduktus und Vokabular)1 ist auf Fragen zu ihremliterarischen Genre – mit Ausnahme Hunters2 – bislang wenig Augenmerkgelegt worden. Auch die Binnenstruktur des Gesamtwerks sowie die Funk-tionen wichtiger Textpassagen sind noch weitgehend ununtersucht. Dabeiermöglicht eine nähere Analyse gerade dieser Punkte entscheidende Er-kenntnisse, was das Verständnis der AO sowie das Selbstverständnis ihresanonymen Verfassers angeht. Mit dem Ziel, einen systematischen und ver-lässlichen Einstieg in die Untersuchung der AO zu gewährleisten, seien des-halb zunächst drei wesentliche strukturelle Aspekte behandelt.

Die Komplexität der Erzählform lässt es sinnvoll erscheinen, diese ineinem ersten Schritt in den Blick zu nehmen. Insbesondere ein Spiel mitverschiedenen textinternen (d.h. bezogen auf die handelnden Personen)sowie -externen Rollen (d.h. mit Blick auf den Leser / Rezipienten) undder Effekte, die damit verbunden sind, verdient eine eingehende Untersu-chung. In einem zweiten Schritt lässt sich so der epische Charakter desWerks besser ins Auge fassen. Dabei soll es nicht um Fragen wie gramma-tikalische oder vokabularische Besonderheiten der AO gehen. Vielmehrsollen kompositorische und gattungstheoretische Fragen in den Mittel-punkt rücken bzw. fortgeführt werden. So kann das von Hunter analysierteSpiel mit verschiedenen literarischen Traditionen innerhalb des epischenRahmens insbesondere in Hinblick auf das in den AO angelegte Orpheus-Bild gewinnbringend interpretiert werden. In Fortführung der Analyse desepischen Charakters verdient zum dritten schließlich der hymnische Be-ginn der AO, gesondert behandelt zu werden. Wünsch erwähnt diesen be-reits in seinem RE-Artikel zum ‚Hymnos‘,3 doch ohne dass diese Beobach-

1 Zu nennen sind hier v.a. die Arbeiten von Hermann (1806) – und darin enthaltendie seiner Vorgänger – sowie Rosenboom (1888). Siehe zudem die Ausgaben vonAbel (1885), Dottin (1930) und Vian (1987).

2 Siehe Hunter (2005); außerdem Köhnken (2007), S. 273, der die Frage der Genus-zugehörigkeit der AO anspricht, ohne allerdings weiter darauf einzugehen.

3 Wünsch (1914), Sp. 172: „Daß die dem Orpheus zugeschriebenen Argonautica miteinem an die H.Sammlung anklingenden Prooemium eröffnet werden (…) ist be-greiflich.“

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tung in irgendeiner Form Eingang in die Forschungsliteratur zu den AOgefunden hätte.

2.1 Orpheus als Erzähler

Der Verfasser der AO lässt seine Sprechinstanz Orpheus – in der Termino-logie Genettes4 – als homo-intradiegetischen Erzähler auftreten. Dies be-deutet, dass Orpheus als Sprechinstanz (‚Erzähler‘) Teil der Rahmenhand-lung (AO 1–49) ist und seinem fiktiven Gegenüber Musaios (‚Adressat‘), dermehrfach namentlich angeredet wird (AO 308, 858, 1191, 1347), von denEreignissen der Argonautenfahrt berichtet, an der er – Orpheus – selbst teil-genommen habe (‚Erzählung‘). Die Fahrt liegt damit vom Zeitpunkt derRahmenhandlung aus gesehen in der Vergangenheit. Ihr Bericht bildet inseiner Länge von 1327 Versen (AO 50–1376) eine in sich geschlossene undnur durch die Musaios-Epistrophen unterbrochene ‚primäre‘ Erzählung desOrpheus. Deren ‚mündlicher‘ Charakter wird durch die Musaios-Anredenimmer wieder deutlich gemacht. Es ist also zwischen der Instanz des Verfas-sers der AO, der Sprechinstanz Orpheus (in den Versen 1–49) und Orpheus,dem Protagonisten der Argonautenfahrt (AO 50–1376), zu unterscheiden.Mit dieser komplexen narratologischen Konstellation stehen die AO vorallem in der Tradition der hesiodeischen Epen und insbesondere der 5E ����λ π�� ��, mit denen sie einen primären, internen Erzähler (Hesiod bzw.Orpheus) sowie einen primären, internen Adressaten (v.a. Perses bzw. Mu-saios) gemein haben.5

Einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis der AO stellt der Aspektder Anonymität ihres Verfassers dar, der vollkommen hinter seine Erzählin-stanz Orpheus zurücktritt.6 Der konventionelle Begriff Anonymität ist imFall der AO allerdings mit Vorsicht zu verwenden: Er verkennt die Tatsache,dass das Werk explizit nicht-anonym daherkommt, und kann lediglich dasFehlen bzw. unsere Unkenntnis des ‚historischen‘ Autors der AO bezeich-nen. Parallelen für eine Konstruktion wie in den AO, in denen mit Orpheuseine nicht zuletzt religiös konnotierte Instanz der (mythischen) Vorzeit zumUrheber des Werks gemacht wird, bietet vor allem die pseudepigraphische

4 Die in der vorliegenden Arbeit verwendete Terminologie orientiert sich an Genette(1994) sowie Genette (1993). Für einen Überblick siehe Schmitz (2002), S. 95.

5 Für eine intensive und anschauliche Behandlung verschiedener, z.T. komplexerErzählstrategien in der griechischen Literatur siehe den Sammelband von De Jong/Nünlist/Bowie (2004). Auf die AO wird dort leider nicht eingegangen.

6 Vian (1987), S. 45: „La personnalité du poète nous échappe.“

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Literatur.7 Zu dieser gehören neben ‚orphischen‘ etwa hermetische8 oderpseudopythagoreische9 Texte. Der Effekt des ‚Maskensprechens‘ (der histo-rische Verfasser einer Schrift verbirgt sich hinter einer persona, als deren ‚Pro-dukt‘ das eigene Werk inszeniert wird10) ist insgesamt nicht immer leicht zu

7 Zur Unterscheidung von ‚pseudonymer‘ und ‚pseudepigraphischer Literatur‘ sieheSpeyer (1972), S. 333: „Statt von pseudonymen Schriften sollte terminologisch ge-nauer von pseudepigraphischen Schriften gesprochen werden. Denn nach heuti-gem Sprachgebrach versteht man unter einem Pseudonym einen freigewählten lite-rarischen Decknamen, der nicht mit dem Namen eines bekannten Schriftstellersübereinstimmen darf, damit nicht der Schein einer Fälschung entsteht.“ SpeyersAusführungen sind auch für die folgenden Ausführungen zur Pseudepigraphie vongrundlegender Bedeutung.

8 Nock deutet im Vorwort zur von ihm und Festugière besorgten Ausgabe (1945)die Motive an, warum der ‚Hermes Trismegistos‘ als Maske bzw. persona für Schrif-ten des Corpus Hermeticum Verwendung gefunden haben könnte. Er verweist aufden besonderen ägyptischen Hintergrund, in dessen Rahmen die Zuschreibungan einen Gott (zumal Hermes, den Gott des Wissens) durchaus üblich sei, S. III:„… puisque la sagesse divine englobait toute sagesse …“. Eine umfassende Ab-handlung zum Aspekt der Anonymität bzw. Pseudonymität im Bereich des CorpusHermeticum stellt dennoch weiterhin ein Desiderat dar. Siehe aber Sint (1960),S. 54–67, v.a. S. 66f., der das Problem der Pseudonymität hermetischer Schriftenandeutet. Als einer der wenigen geht auch Siegert (1999) auf das Phänomenzumindest ein, indem er den hermetischen „Offenbarungsdialog“ in Kontrastzur namentlich betriebenen griechisch-ionischen Philosophie setzt (a.a.O., S. 11f.mit Anm. 10 sowie S. 12 Anm. 11). Auch auf mögliche Motive geht er ein (a.a.O.,S. 17): „Die Nennung menschlicher Autoren passt nicht in die Offenbarungs-Szenerie.“ Einen informativen Forschungsüberblick zum Corpus Hermeticuminsgesamt bietet jetzt Schmid im Vorwort zu Miller (2009), S. XV–XXXVII, ohneallerdings auf die hier angesprochene Frage näher einzugehen. Siehe zudem Miller(2004).

9 Zur Relevanz von Anonymität im Bereich der neupythagoreischen Literatur sieheDörrie (1963), Sp. 273: „Im Grunde sind die erhaltenen Reste neupythagoreischerSchriften mehr Offenbarungs- als Lehr-Schriften; denn im scharfen Gegensatzzum Platonismus erhielt die Lehre ihre Gültigkeit nicht durch den evidenten Wahr-heitsanspruch, sondern weil sie auf Pythagoras zurückgeführt wurde. Dabei ist dieneupythagoreische Literatur meist entweder anonym oder pseudonym (…), siesucht sich durch ihr altertümelndes Kolorit zu legitimieren.“ Zum Phänomen derPseudepigraphie bei den (Pseudo-) Pythagoreern siehe auch Kahn (2001), v.a.S. 74–85; außerdem Riedweg (2002), v.a. S. 158–161.

10 Für grundlegende Überlegungen zur Funktion einer Maske (d.h. der tatsächlichenForm der Maskierung im Gegensatz zur übertragenen in einem literarischen Sinn)siehe immer noch Kerenyi (1949). Kerenyi bezieht sich zwar, wie gesagt, auf diekonkrete Maske in kultischen (Mysterien), spielerischen (Drama) oder realen Kon-texten (Bestattung), doch seine Erkenntnis, dass die Kernaufgabe einer Maske darinbesteht, eine Verbindung ihres Trägers oder Nutzers zwischen sich selbst und derverkörperten Instanz (und damit einer über sich hinausgehenden Instanz) herzu-

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bestimmen. Zu unterscheiden ist in jedem Fall zwischen ‚profaner‘ und phi-losophisch oder religiös motivierter Pseudepigraphie. Steht bei ersterer einmöglicher materieller oder zumindest persönlicher Gewinn im Vordergrund(es handelt sich dann um Fälschung11), ist die Motivation für Pseudepigra-phie im zweiten Fall in der Regel inhaltlich motiviert: Es kann darum gehen,andere Anschauungen (religiöser oder philosophischer Art) durch Unter-schieben ‚gefälschter‘ Briefe oder Literatur zu diskreditieren. Es kann aberauch darum gehen, die Lehre einer Schule z.B. gegen aktuelle Angriffe zuverteidigen oder zeitgenössische Fragestellungen und Probleme im Sinneder eigenen philosophischen oder religiösen Disposition aufzugreifen. Zudiesem Zweck wird dann die ganze Autorität des jeweiligen (und womöglichschon lange vestorbenen, wenn nicht mythischen) Schul- oder Religions-gründers ins Feld geführt.12 Erst in einem solchen Fall handelt es sich umPseudepigraphie im eigentlichen Sinne.

Der Spielraum, der sich einem Verfasser pseudepigraphischer Literaturbietet, ist folglich groß. Überschneidungen und Abweichungen von denoben genannten Spielarten sind möglich. Einen interessanten Fall stellt etwaIamblichs Abhandlung De Mysteriis dar, in denen der Neuplatoniker die Fik-tion aufrechterhält, es handele sich um einen Antwortbrief des ägyptischenPriesters Abammon auf den Brief des Porphyrios an den TempelschreiberAnebo13: Beide Adressaten sind erfunden, die Auseinandersetzung desIamblich mit Porphyrios ist echt. Es wird hier also nicht etwa die Autoritäteines Platon in Anspruch genommen (was für einen Neuplatoniker zu-nächst nahe gelegen hätte), sehr wohl aber die mit der ägyptischen Herkunftdes Briefeschreibers einhergehende Positionierung im Sinne alter Weisheit.Diese wird gleichsam für das eigene Werk (d.h. dasjenige Iamblichs) in An-spruch genommen.14 David, ein anderer Neuplatoniker (6. Jh.), nennt wei-terhin – und einigermaßen nüchtern anmutend – die Möglichkeit, den Na-men eines „alten und angesehenen Mannes“ zu verwenden15, um eigenen

stellen, scheint mir insbesondere auch für die Verwendung einer literarischen Maskezuzutreffen, vor allem im Kontext der pseudepigraphsichen Literatur. Auf denCharakter des Über-sich-Hinausweisens wird weiter unten im Kontext möglicherallegorischer Lesarten der AO zurückzukommen sein, s.u. S. 89–97.

11 Zur Unterscheidung von Fälschung und Pseudepigraphie siehe Speyer (1971), S. 13:„Die Fälschung kann als eine besondere Erscheinungsform der Pseudepigraphiebestimmt werden.“ Speyers Terminologie wird im folgenden beibehalten.

12 Für die verschiedenen möglichen Intentionen literarischer Fälschungen und pseud-epigraphischer Zuschreibungen siehe Speyer (1971), v.a. S. 35–37 [Pseudepigra-phie] und S. 131–149 [Fälschung].

13 Siehe Speyer (1971), S. 30.14 Allgemeiner siehe Cremer (1969), S. 1f.15 David, In Porph. isag., pr. 1 p. 81, 31–82,4 Busse.

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Werken bessere Aufnahme bei möglichen Rezipienten zu sichern.16 Einesolche Annahme hat, wie gesehen, auch auf die AO bereits Anwendung ge-funden.17 Weiterhin besteht die Möglichkeit religiöser Pseudepigraphie, inder die Autorität eines Gottes oder einer quasi-göttlichen Instanz (etwaeines Orakels) in Anspruch genommen wird: Die orphische Literatur isteine der wichtigsten Manifestationen dieser Spielart.18 Doch die Grenzenzwischen echter (im Wesentlichen unreflektierter) und unechter (Instru-mentalisierung des Pseudonyms) religiöser Pseudepigraphie, aber auch derFälschung (s.o.) können fließend sein. Die orphischen Hymnen – um einenprominenten Vertreter orphischer Literatur zu nennen – werden etwa im-mer wieder mit einem religiösen Impetus in Verbindung gebracht.19

Vor diesem Hintergrund kann die Wahl gerade des Orpheus als des Nar-rators der AO nicht ohne Folgen sein. Durch sie wird in mehrfacher Hin-sicht Autorität konstruiert: Der Verfasser der AO läßt Orpheus als ‚Augen-zeugen‘ der Argonautenfahrt auftreten, der so Anspruch auf Authentizitätund Wahrheit seiner Erzählung erheben kann. Dieser Wahrheitsanspruchist – neben seinen spezifisch pseudepigraphischen Dimensionen – durch-aus genre-, d.h. epentypisch und steht seit den homerischen Epen (Il. 2,484–486 u. ö.)20 im Wesentlichen hinter dem üblichen Musenanruf mit denMusen als den Töchtern der ‚Erinnerung‘.21 In den AO erfolgt kein Musen-

16 Siehe auch Speyer (1971), S. 132. Zur Frage, welche Motive hinter der Zuschreibungeigenen Schaffens an bedeutende Vertreter stehen können, siehe – mit Bezug vorallem auf pseudoaristotelische Werke – bereits Müller (1969).

17 Vor allem bei Luiselli (1993) und Sánchez (1996) wird auf diese Vermutung einigesGewicht gelegt, s.o. S. 7, v.a. die Anmerkungen 25 und 27.

18 Graf (1974), S. 183; West (1983), S. 2f.; den Sachverhalt beschreibt auch Linforth(19732), S. 292–295.

19 Hierzu sowie zur möglichen Funktion der Orpheus-Figur im Sinne einer pseudepi-graphischen Zuschreibung für die orphischen Hymnen siehe Morand (2001), v.a.S. 90–94.

20 Zur Betonung dieser Funktion der Musen als Garanten der Wahrheit bei Hesiodsiehe Podbielski (1994), S. 177–180.

21 Bei einer diachronen Betrachtung der griechischen Literatur lassen sich bei einzel-nen Vertretern der Epik zahllose Varianten feststellen, was den Umgang mit einerMusenerwähnung und der Funktion des Musenanrufs angeht. Insbesondere imhellenistischen Epos lassen sich Tendenzen feststellen, von einem eigentlichenMusenanruf abzusehen und das eigene, rationale dichterische Vermögen in denVordergrund zu stellen. Apollonios Rhodios etwa nennt Apollon als seinen „Aus-gangspunkt“ ( #A ������« �� �����), um erst zu Beginn des dritten Buches seinerArgonautika mit Erato eine Muse anzurufen, die dem Inhalt gerade dieses Buches inbesonderer Weise gerecht wird. In der kaiserzeitlichen und spätantiken (vor allemmythologischen) Epik überwiegt dagegen wieder der traditionelle Musenanruf, dernoch bei Nonnos im 5. Jahrhundert zu Beginn der Dionysiaka erfolgt, vgl. Koster(1972), S. 151–158, v.a. 152.

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anruf. Ihr Verfasser lässt seinen Sprecher Orpheus vielmehr darauf verwei-sen, dass er sich im folgenden an den Maßstäben der Muse (im Vertrauen aufseine Leier[ ! ], vgl. AO 6:  ��� M���« ��!���« ��λ ���!"$� �%��9&) orien-tieren will. Dass dennoch insbesondere der Wahrheitsaspekt in den AO vonbesonderer Relevanz ist, zeigt sich darin, dass ihr Verfasser seine Sprechin-stanz Orpheus den Gott Apollon um die Fähigkeit zu wahrheitsgemäßemGesang bitten lässt (AO 4): Er umgeht also die Museninstanz und wendetsich an den M�%���!�« selbst. Die Parallele inbesondere zu Apollonios unddessen Werkauftakt ( #A ������« �� �����) ist offensichtlich. Gleichzeitigimpliziert ein solches Vorgehen inhaltliche Konsequenzen: Durch die Ab-grenzung zum hesiodischen Musenbegriff wird eine gewisse Absicherungerreicht.22 Denn durch die Umgehung der Museninstanz wird die Möglich-keit ‚falscher Inspiration‘ – wie sie den Musen ja auch gegeben ist23 – ausge-schlossen. Das Epos in seiner Gesamtheit, v.a. aber die Erzählung der Fahrt,ist durch die Instanz Apollon sowie ihre Anlage als Augenzeugenbericht desOrpheus doppelt abgesichert.

Neben diesem Aspekt der Autorität in Hinsicht auf den Wahrheitsan-spruch der AO enthält die Wahl des Orpheus als des Narrators auch eine äs-thetische und poetologische Komponente. Die Muster- bzw. Idealfunktiondes Orpheus als Inbegriff eines Sängers und Dichters, die in ihrer besonde-ren Eignung zur Projektionsfläche dichterischen Anspruchs bereits von Ste-fan Busch für Apollonios Rhodios herausgearbeitet worden ist24, nimmt derVerfasser der AO für diese ebenfalls in Anspruch. Die Aussage, sich an denMaßstäben der Muse im Vertrauen auf seine eigene Leier orientieren zu wol-len, ist auch als ein Zeichen von dichterischem Selbstbewusstsein zu verste-hen. Ermöglicht durch die frühe mythenchronologische Einordnung desOrpheus plaziert der Verfasser der AO diese zudem am Beginn der grie-chischen Literatur: Die Erzählung, die Orpheus seinem Schüler Musaiosvon der Fahrt der Argonauten vorträgt, handelt von einem Ereignis, dasnoch vor den Ereignissen der homerischen Epen angesiedelt ist, währendOrpheus selbst nach antiker Auffassung als Vorfahr oder Lehrer Homersund Hesiods gilt.25 Der Verfasser der AO nimmt die Autorität, die mit derPerson des Orpheus verbunden ist, somit auch als Archeget der griechi-schen Literatur in Anspruch.

22 Für die Bedeutung Hesiods für den Beginn der AO s.u. S. 19f.23 Hes., Th. 26–28.24 Busch (1993).25 Vgl. Diodor 3, 67 (=test. 43 Kern/fr. 1026 T Bernabé: Orpheus als Lehrer Ho-

mers); Charax 103 F 62 Jacoby (=test. 9 Kern/fr. 872 T Bernabé: Orpheus als Ahn-herr Homers); Proklos, In Hes. Op. 633b (203, 1 Pertusi) (=test. 7 Kern/fr. 871 TBernabé: Orpheus als Ahnherr des Hesiod).

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Anspruch auf Autorität ist in der Figur des Orpheus auch durch die Leh-rerrolle angelegt, die dieser Musaios gegenüber einnimmt und die auchmehrfach betont wird.26 Dieser Aspekt der Orpheus-Figur ist vor allem ausanderer unter seinem Namen umlaufender Literatur bekannt. Der Auftaktder orphischen Hymnen bietet hierfür ein prägnantes Beispiel.27 Doch auchin den AO verleiht der Verfasser seinem Werk durch die Lehrerrolle des Or-pheus in Hinblick auf seine Rezipienten Autorität28: Denn parallel zur Schaf-fung dieser Autorität auf der Seite der Sprechinstanz Orpheus wird für denRezipienten eine Rolle geschaffen. Dieser kann sich der direkten Ansprachedes Orpheus an Musaios, dessen Rolle er einnimmt, kaum entziehen. DieRolle des Musaios wird zur Rolle des Rezipienten. Musaios – und damit demRezipienten der AO – ist die Rolle des Schülers zugedacht, der an dem, wasihm Orpheus berichtet bzw. singt, Interesse hat bzw. bei dem (im Falle desRezipienten) dieses Interesse suggeriert und womöglich geschaffen wird.Auf die Möglichkeit, diese Lehrer-Schüler-Konstellation in religiöser oderphilosophischer Hinsicht anzuwenden, wird weiter unten zurückzukommensein. Auf einer literarisch-ästhetischen Ebene ist überdies festzuhalten, dassin der Person des Musaios aufgrund der mit diesem selbst assoziierten lite-rarischen Bedeutung29 ein werkinterner adäquater Adressat für die Erzäh-lung des Orpheus präsent ist und womöglich in der Person des Rezipientenvorausgesetzt wird.

Mit dem eben beschriebenen vollkommenen Zurücktreten des Verfas-sers der AO hinter die persona des Orpheus geht – über die Person des Ver-fassers hinaus – das Phänomen einer gewissen Unbestimmbarkeit auf derEbene der Rahmenhandlung einher. Die Sprechinstanz Orpheus und diekonkrete Situation des Vortrags gegenüber Musaios bleiben ohne festeZuordnung an einen konkreten – räumlichen wie zeitlichen – Rahmen.Lediglich innerhalb des Berichts der Argonautenfahrt lassen sich einigeAnhaltspunkte bestimmen. So suggeriert die Angabe des Orpheus, dass ersich zum Zeitpunkt von Iasons Besuch bei ihm bereits zum Sterben zurück-gezogen hatte,30 ein höheres Alter des Fahrtteilnehmers (und damit auch desErzählers) Orpheus, zumal er von den anderen Argonauten als von „jünge-

26 AO 33 (�$'�«), 40 (�� ��!�(�)’), 46 ($�$'���«), 49 (���9�).27 OH, pr. 1 Quandt: M'�*��� $+, M�%��� …28 Anders Luiselli (1993), S. 300–302.29 Siehe u.a. Proklos, Vita Homeri p. 26, 14 Wil. (=Gorgias fr. 82 B 25 DK: Musaios als

Ahnherr Homers); Demokrit 68 B 16 DK (Musaios als Erfinder des Hexameters);für eine Übersicht siehe frr. 1–4a.24–26.28–30 Bernabé.

30 AO 72–109. Fortgeschrittenes Alter des Orpheus bereits zum Zeitpunkt der Fahrt-teilnahme vermutet in jedem Fall Vian (1987), S. 5: „Le fils d’Oiagros et de la MuseCalliope situe son aventure argonautique au seuil de sa vieillesse (…).“

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ren Königen“ spricht.31 Gleichwohl ist über die Zeitspanne, die zwischendem Rückzug in die Höhle und dem zu erwartenden Tod des Orpheus liegt,strenggenommen nichts ausgesagt. Im Kontext des Gesangsduells mit demKentauren Cheiron32 äußerst Orpheus sogar Bedenken, dass er, der jüngere,gegen den älteren antreten solle, wenngleich die Figur des Cheiron einezugegebenermaßen nur schwer einzuordnende Folie hinsichtlich der Fragedes Alters darstellt. Die in den AO vorgenommenen Altersangaben stellenrelative Bezüge einzelner Protagonisten untereinander her, sie bieten keineabsoluten Bezeichnungen.

In Analogie zu diesen Überlegungen lässt sich für eine lokale Einord-nung der Rahmenhandlung nur feststellen, dass Orpheus nach der Heim-kehr der Argo wieder in seine Höhle, in der Iason ihn anfangs aufgesuchthat, zurückkehrt.33 Über den Ort, an dem der Bericht dieser Fahrt an Mu-saios, also die Rahmenhandlung der AO, erfolgt, ist damit nichts ausgesagt.Die Vermutung, dass man sich als Ambiente auch der Rahmenhandlung dieerwähnte Höhle des Orpheus vorzustellen hat, ist im gleichen Maße plausi-bel wie der Einwand, dass an den erwähnten Stellen, an denen innerhalb derErzählung von der Höhle des Orpheus die Rede ist, jeder Verweis (etwa inForm einer hinweisenden Präposition o.ä.) auf den Kontext der Rahmen-handlung fehlt.34 Der Verfasser der AO hatte offenbar kein Interesse aneiner konkreten – räumlichen wie zeitlichen – Verortung der Rahmenhand-lung seines Werks.

Abgesehen von der Tatsache, dass das Vorhandensein einer rahmendenErzählhandlung im Bereich der (erhaltenen) Argonautenliteratur singulär istund eine Invention des Verfassers der AO darstellen dürfte, sind in bezugauf die Anlage der Erzählung von der Fahrt selbst einige wichtige Spezifikader AO festzuhalten: Die Erzählung des Orpheus, d.h. die Verse AO50–1376, ist ringkompositorisch aufgebaut. Als Ausgangs- und Endpunktder Erzählung wird die Höhle des Orpheus genannt, in der Iason ihn zu-nächst besucht und zur Teilnahme an der Fahrt überredet (AO 50–112). Indiese kehrt Orpheus zurück, nachdem er die Argonauten nach vollzogenerReinigung am Kap Tainaron verlassen hat (AO 1375f.). Damit greift der

31 AO 108f.32 AO 409f.33 AO 1373–1376.34 Auf die Verwendung diesbezüglicher Präpositionen oder Hinweiswörter wird ver-

zichtet, siehe AO 75 (�,« Ν�! �� ��(%+ �!��), AO 79 (A¹���"�%« .��'«), AO 104(�, $���� … 4���), AO 110 (("��� Ν�! �� ��+ �!��). Die Phorminx des Orpheuswird in AO 111 hingegen als �/!9& 0� � ����� bezeichnet, was darauf hindeutendürfte, dass es sich um die selbe wie zur Situation der Rahmenhandlung handelnkönnte: Der Gegensatz zur Nicht-Bezeichnung der Höhle ist umso deutlicher.

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Orpheus als Erzähler 19

Verfasser der AO ein Motiv auf, das bereits bei Apollonios Rhodios angelegtist, wenn der auktoriale Erzähler die Fahrt der Argo dort nicht bis zu derenRückkehr nach Iolkos fortführt, sondern bereits vorher abbricht (AR 4,1775–1781). Im Unterschied zu den Argonautika des Apollonios, in denendie Fahrt der Argonauten natürlich auch einen Endpunkt, nämlich Iolkos,besitzt, der aber eben nicht mehr Teil der Erzählung ist, schließt sich derKreis im Fall der AO durch die explizite Erwähnung der Höhle als des Aus-gangs- und Endpunktes der Erzählung (bzw. der Fahrt aus Sicht des Or-pheus) gegen Ende auch innerhalb der Erzählung und nicht nur in der Ima-gination des Rezipienten. Die Kreisform der Argonautenfahrt ist so stärkerbetont.

Was die Proportionen der Erzählung in ihren Einzelteilen angeht, so istfestzustellen, dass sich diese weitgehend mit denen decken, die schon in derErzählung bei Apollonios angelegt sind35: So nimmt die Schilderung derHinfahrt verhältnismäßig viel Raum ein (52 % in den AO, 45 % bei Apollo-nios), der Aufenthalt in Kolchis selbst (22 % in den AO, 28 % bei Apollo-nios) sowie die Rückfahrt (26 % in den AO, 27 % bei Apollonios) werdenim Vergleich kürzer behandelt. Auffälliger ist, dass sich in der Schilderungdes Aufenthaltes in Kolchis in den AO eine wichtige Akzentverschiebungim Vergleich zu Apollonios findet. Den Abschluss und damit Höhepunktdes Aufenthaltes im Lande des Aietes bildet beim Alexandriner der Raubdes Goldenen Vlieses, im Fall der AO die Ermordung des Apsyrtos, derbei Apollonios (wie bei Valerius Flaccus) erst während der Verfolgungder Argonauten durch die kolchische Flotte getötet wird. Bemerkenswert istaußerdem, dass die Rückfahrt der Argonauten in den AO – im Gegensatzzur Komposition beim Alexandriner – eine deutlich dichotome Strukturhat: Nach dem Mord an Apsyrtos handelt die Erzählung zunächst davon,wie die Argonauten den Okeanos erreichen, diesen befahren und zur Inselder Kirke gelangen (AO 1036–1239), um dann – in einem zweiten Teil – imBereich des Mittelmeeres wieder nach Hause zu gelangen (AO 1240–1376).Der Aufenthalt bei Kirke markiert so innerhalb der Rückfahrt noch einmaleinen deutlichen Wendepunkt und ist gekoppelt an einen Wissensgewinn,den Kirke den Argonauten in bezug auf ihren Zustand des Miasmas undeiner möglichen Rettung gewährt.

Angemerkt sei auch – da dies trotz intensiver Beschäftigung mit dersprachlich-formalen Gestalt der AO bislang noch nicht thematisiert wordenzu sein scheint –, dass ihr Verfasser seinen Erzähler Orpheus auf die Ver-wendung von Gleichnissen und Vergleichen verzichten lässt, ein für ein nar-

35 Auf die Proportionen der Argonautica bei Valerius Flaccus soll wegen ihres Überlie-ferungszustands nicht näher eingegangen werden.

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ratives Epos ungewöhnliches Charakteristikum.36 Die AO unterbietendamit noch die ebenfalls gleichnisarmen hesiodischen Epen. Der „paraine-tische Charakter“ insbesondere der 5E �� ��λ π�� ��, der im Falle Hesiodsfür diesen Umstand als Erklärung herangezogen wird37, könnte auch im Fallder AO im Hintergrund dieser Besonderheit stehen. Durch die beschrie-bene Struktur des Lehrer-Schüler-Verhältnisses in der Erzählsituation istauch ihnen ein parainetisches Moment eigen. Vor dem Hintergrund einermöglichen allegorischen Ebene, die den AO untergelegt ist, ist das Fehlenvon Gleichnissen zudem ein bemerkenswertes Faktum. Doch darauf wirdweiter unten im Kontext einer allegorischen Leseoption zurückzukommensein.38

2.2 Orpheus-Figur und epische Strukturen

Wie gezeigt besteht eine strukturelle Gliederung der AO in eine Rahmen-handlung (AO 1–49) und einen Bericht der Argonautenfahrt aus demMunde des Orpheus (AO 50–1376), der Sprechinstanz der Rahmenhand-lung. Richard Hunter hat für die AO ein mit dieser Gliederung einhergehen-des, souverän durchgeführtes Spiel mit den Traditionen des Lehrepos(didactic epic) und des erzählenden Epos (narrative epic) herausgearbeitet.Ersteres werde innerhalb der Rahmenhandlung in Form einer recusatio abge-tan, während letzteres durch die Erzählung des Orpheus repräsentiertwerde.39 Hunter sieht deshalb einen in den AO nachvollzogenen „shift“ vonder Lehrdichtung zum Erzählepos, der einem gewissen Trend – etwa amBeispiel der ‚Biographien‘ Hesiods oder Vergils erkennbar – vergleichbarsei. Er attestiert dem Verfasser der AO deshalb ein hohes Maß an Gattungs-sensibilität.40

36 Für die Bedeutung von Gleichnissen für das griechische Epos siehe etwa Hainsfort(1991), S. 29: „This extended simile is the special contribution to literature of theGreek epic tradition. It is rare in the epics of other nations and uncommon in Greekoutside the epic genre. But within the epic it is frequent enough to be one of thecharacteristics of its style.“ Zur organischen Verflochtenheit der Gleichnisse mitdem Gang der Erzählung siehe zudem immer noch Fränkel (1921), der die elemen-tare Aufgabe der Gleichnisse für die homerischen Epen herausarbeitet.

37 So Schindler (2000), S. 52–55.38 S.u. S. 96.39 Siehe Hunter (2005). Hunter vermeidet es zwar, die Verse, die er als recusatio ansieht,

genau zu bezeichnen (a.a.O., S. 150f. und 153), bezieht sich aber offensichtlich aufdie gesamte Passage der Verse AO 12–46.

40 Hunter (2005), S. 153: „It is, however, the poetic biography of Virgil which offersthe clearest analogue for the movement from didactic to narrative epic, as also for

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Dieser Ansatz soll im folgenden fortgeführt werden, indem untersuchtwird, ob in den AO neben dem erwähnten gattungstheoretischen Spiel aucheine literarische Auseinandersetzung mit verschiedenen Orpheus-Figurenbzw. mit in der Orpheus-Figur angelegten Aspekten erfolgt. Es geht umdie Frage, ob der Huntersche Ansatz insofern fortgeführt werden kann, alsdas von ihm beobachtete Spiel mit den epischen Subgattungen Lehreposund Heldenepos auch Aussagen darüber zulässt, welches Orpheus-Bild derVerfasser der AO für seine Sprecherinstanz Orpheus anstrebt bzw. seinemWerk zugrundelegt. Hierzu ist es erstens sinnvoll zu fragen, welche Implika-tionen einem vermuteten „shift“ mit Bezug auf die Orpheus-Figur inne-wohnen, und zweitens, ob es sich bei der bezeichneten Passage innerhalbder Rahmenhandlung (s.o.) eigentlich um eine recusatio oder um eine praeteri-tio handelt.

Die Grundlage für einen solchen Ansatz stellt eine genaue Analyse derVerse AO 12–46 dar, auf deren Betrachtung auch Hunters Ausführungen zueinem wesentlichen Teil beruhen. Die Partie ist in ihrer Komplexität undDichte schwer fassbar: Es handelt sich um eine Kombination aus Weltent-stehungs-, Lehr- und ‚biographischem‘ Bericht, die Orpheus hier vorträgt.41

Den eigentlich kosmogonisch-theogonischen Teil stellen nur die VerseAO 12–32 (21 Verse) dar, in den Versen AO 33–46 (14 Verse) findet sicheine Art Werk- und Lebensschau des Orpheus. Wichtig ist hierbei zu erken-nen, wie eng beide Teilpartien miteinander verbunden sind. Einzig das $�in AO 33 signalisiert einen gewissen Einschnitt, stilistisch hingegen lassensich beide Teilpartien nicht voneinander unterscheiden. Der aufzählendeCharakter der Verse AO 12–32 wird auch in den Versen AO 33–46 beibe-halten, die ihrerseits durch ein $� in AO 40 eine Gliederung in einen eherthematisch (7 Verse) und in einen eher ‚biographisch‘ geprägten Abschnitt(7 Verse) erfahren. Dadurch ergibt sich eine – zumindest nach dem Stand

certain other elements of the generic consciousness of the poem. Later antiquityconstructed Hesiod too as moving from pastoral to grand themes through theintervention of the Muses (an easy enough „reading“ of the proem of the Theogony),but – as, for example, in the well known acrostic poem of imperial date in whichHesiod turns his back on pastoral after his „initiation“ – such a tradition is of coursenot interested in „narrative epic“. OA [sc. AO] thus stands as an isolated Greekwitness to a consciousness of distinctive types within epos available to a single poet;the opposition of the types themselves was, of course, exploited as early as theContest of Homer and Hesiod.“

41 Es ist diese Partie der AO, auf die sich Kern (1922), S. 67 und West (siehe bereitsoben S. 3 Anm. 2 und S. 9 Anm. 34) beziehen, wenn sie von einem umfangreichenKrypto-Katalog orphischer Werke (Kern) bzw. einer ‚Gesamtschau‘ der mit demNamen des Orpheus verbundenen und zur Zeit der Abfassung der AO ihrem Ver-fasser verfügbaren Literatur (West) sprechen.

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der Überlieferung – einzigartige Textpartie. Der kosmogonisch-theogoni-sche Teil (AO 12–32) ist nicht von dem thematisch-‚biographischen‘(AO 33–46) zu trennen, die Kosmo- bzw. Theogonie aus dem Munde derSprechinstanz Orpheus nicht von dem referierten Lebensrückblick. Dieatemlose Diktion der Passage versinnbildlicht ihre Zusammengehörigkeit,der thematischen Vielfalt zum Trotz.42

Dies sollte Konsequenzen auch für die Frage nach dem Kern der recusa-tio haben, die Hunter in der gesamten Passage sieht. Es stellt sich die Frage,ob nicht neben der Form des Lehrepos, an das die beschriebene Diktion derPartie in der Tat erinnert und das gleichermaßen abgebildet wie der Vergan-genheit zugeordnet werden soll, auch der vielseitige Inhalt der Passage instärkerem Maße berücksichtigt werden sollte. Insbesondere die Präsenz derPerson des Orpheus in der Anlage der Partie gibt hierzu Anlass, da nicht nurvon dem an Musaios vermittelten Wissen, d.h. dem lehrepischen Inhalt ansich, die Rede ist, sondern sich die Erzählinstanz Orpheus durch mehr-fachen Wortgebrauch in der ersten und zweiten Person selbst immer wiederins Spiel bringt (AO 33, 40, 46). Darauf, dass in den AO nicht nur ein „shift“in bezug auf das Spiel der epischen Subgattungen angelegt ist, sondern einsolcher „shift“ auch für die Person des Orpheus konstatiert werden muss,weist Hunter mit Verweis auf die Verse 103f. selbst hin, ohne allerdings wei-ter darauf einzugehen.43

Augenfällig wird eine solche Gegenüberstellung von einstigem Wirkendes Orpheus und dem, was die Erzählung der Verse 50–1376 ausmachensoll, durch die Verwendung von �1� und � �*�� innerhalb der Rahmen-handlung, wobei mit �1� (AO 7 und 47) der Zeitpunkt der Rahmenhandlungund damit der Erzählung der Argonautenfahrt ab Vers 50, mit � �*��(AO 8) dagegen der Inhalt der Hunterschen recusatio, d.h. der Verse 12–46,

42 Es ist nicht nur vor dem Hintergrund des umstrittenen Überlieferungszustandesdieser Partie – eine alternative Versanordnung bietet Vian (1987), S. 197f. – einUnterfangen von nur begrenztem Wert, einzelne Absätze voneinander trennen zuwollen. Die Komposition der Partie ist äußerst kompakt: Die kosmogonische Partieder Verse 12–20 geht nahtlos über in eine ‚mythologische‘ Aneinanderreihungvon Gottheiten in den Versen 21–32 (Zeus, ‚Magna Mater‘, Persephone, Kasmilos,Herakles, die Korybanten, die Kabiren, Bakchos, Aphrodite, Praxidike, Athele,Osiris), samt Nennung der jeweiligen Kultorte (kybelische Berge, Ida-Gebirge,Lemnos, Samothrake, Ägypten) und -weisen (Mysterien, Orakel). Wiederum ohnestrenge Trennung kommt die Sprache auf die Lehren des Orpheus (Wahrsagekunst,Vogel- und Eingeweideschau, Traumdeutung, Zauberlösungen, Astronomie, Reini-gungsopfer, Versöhnungen mit den Göttern) sowie Orte, an denen er tätig war bzw.an denen er sich aufhielt (Hades, Ägypten, Memphis, der Nil).

43 Hunter (2005), S. 150.

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bezeichnet wird. Dieser Gegensatz ist bereits Luiselli44 aufgefallen, und sozeichnet sich dessen Verständnis der Passage auf den ersten Blick durchweitreichende Übereinstimmung mit den oben ausgeführten Beobachtungenaus. Auch seine Ausführungen gehen über die Vermutung eines gattungs-theoretischen Spiels hinaus: Aus der starken Betonung des Gegensatzes von�1� und � �*�� zieht Luiselli den Schluss, dass sich die AO nach dem Wil-len ihres Verfassers durch die in den ersten Versen gemachten programma-tischen Äußerungen mit größter Deutlichkeit von anderer unter dem Na-men des Orpheus umlaufender Literatur unterscheiden und abheben sollen.Seiner Meinung nach nimmt der Verfasser der AO durch den deutlich for-mulierten Gegensatz von Aktualität (�1�) und Vergangenheit (� �*��) be-wusst und dezidiert Abstand von der Konzeption und von typischen Eigen-schaften orphischer Literatur (etwa ihrer Verwendbarkeit in kultischen oderin Mysterienkontexten), um so einen Bruch mit der Tradition orphischerLiteratur herbeizuführen. Es solle kenntlich gemacht werden, dass in denAO keine irgendwie kultische Funktion angelegt sei45, sondern dass es aus-schließlich um literarische Zwecke und die Gewinnung literarischen Ruh-mes gehe.46 Auf diese Weise gelangt Luiselli zu der bereits erwähnten Vor-stellung von der „orphischen Matrix“, die den AO übergestülpt sei, ebendamit diese – ‚geschützt‘ durch den Namen ihres berühmten Pseudo-Ver-fassers – vor dem Vergessen bewahrt blieben und einen möglichst großenBekanntheitsgrad erreichten.47 Die Verse 12–46 erfüllen so die Funktioneiner Folie, vor der sich die AO insgesamt abheben sollen.

Ein solcher Ansatz ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Er-zählinstanz Orpheus denjenigen Zustand, der für das in den Versen 12–46aufgelistete Wirken charakteristisch war, als unter dem Einfluß des ���! ��(AO 10) bezeichnet, von dem er inzwischen befreit sei (AO 103f.), durchausüberzeugend. Nicht erklären kann er allerdings (ebenso wenig wie der Hun-ters vom „shift from didactic to narrative epic“48), warum dem Katalog des-

44 Luiselli (1993).45 Luiselli (1993), S. 299–301: „(…) l’autore delle AO intende concepire il poema ar-

gonautico come poesia di rottura con la tradizione orfica. Non solo, infatti, ne vienegenericamente enunciata la novità l’impiego dell’ immagine dei �&(� come carat-terizzazione della poesia passata sembra tradire (…) la volontà di affermare la radi-cale diversità de destinazione, di spirito e di funzione che contraddistingue il canto ela poesia delle AO rispetto alla tradizione. (…) Il proemio […] contiene una chiararinuncia a quella che al nostro autore appariva essere la figura tradizionale delcantore tracio: il poeta-vate, il poeta-profeta che trasmette in uno stato estatico dipossessione divina.“

46 Luiselli (1993), S. 305.47 So auch Sánchez (1996), S. 231.48 S.o. S. 20.

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sen, was nach Luiselli gerade nicht dem Charakter der AO entspricht, so vielRaum – ingesamt ja 35 Verse (AO 12–46) – gegeben wird, wenn es doch ge-rade überwunden werden soll und die AO als Bruch mit dieser orphischenTradition verstanden werden wollen. Es sei zugestanden, dass eine Folie, vorder ein Werk sich abheben soll, in ausreichender Weise ausgerollt bzw. prä-sentiert werden muss, um als Bezug überhaupt wirksam werden zu können.Es sei jedoch bezweifelt, ob eine solche Begründung ausreicht, die beson-dere Informationsdichte der Verse 12–46, die West zu seiner erwähnten Ka-talogannahme geführt haben mag49, zu erklären. Mit anderen Worten, Lui-sellis – und Hunters – Ausführungen vermögen nicht zu klären, warum demVerfasser der AO offensichtlich daran gelegen war, in der Rahmenhandlungeine solche Fülle von Aspekten, die aus der Literatur zur Figur des Orpheusvertraut sind, zu präsentieren. Es handelt sich um eine Zusammenschau vonmit Orpheus verbundenen Lehren, Taten, Episoden und Aspekten, die inder antiken Literatur ihresgleichen sucht.50

Die bislang nur unzureichend erfasste Diskrepanz zwischen deutlichformulierter Ablehnung bzw. Zuordnung zur Vergangenheit einerseits undausführlicher Dokumentation andererseits lässt sich plausibel nur dadurcherklären, hinter der Komposition der Partie weniger das Bemühen um Ab-grenzung (wie bei Luiselli) als vielmehr das um Einverleibung all dieserAspekte und Schwerpunkte in einen neuen Rahmen zu vermuten und dieVerspartie 12–46 nicht so sehr als recusatio, sondern vielmehr als praeteritio zulesen. An dem Gegensatz von �1� und � �*�� ändert eine solche Betrach-tungsweise nichts, doch gewinnt das im Verhältnis zum Rest der Rahmen-handlung lange Intermezzo der Verse 12–46 so eine wichtige integrativeFunktion, die es nachvollziehbar erscheinen lässt, detailliert und ausführlichall das auszuführen, was gerade nicht Gegenstand der folgenden Erzählungvon der Fahrt der Argonauten (AO 50–1376) sein soll, eine Funktion, diedurch das Mittel einer praeteritio gut erfüllt werden kann. Für eine solcheDeutung spricht auch, dass nicht alle Aspekte, die in den Versen 12–46 ent-halten sind, für den Gang der weiteren Erzählung, also die Ebene des �1�, ir-relevant sind. Nicht nur wird Orpheus innerhalb der Erzählung in den Ver-sen 421–431 eine weitere Theogonie singen, sondern auch diverse Opferwerden in ausführlicher und präziser Weise beschrieben.51

49 Für den Versuch, einen in den Versen 1–46 verborgenen Katalog orphischer Werkezu rekonstruieren, siehe zudem bereits Kern (1922), S. 67 im Anschluss an t. 224.

50 Im Kapitel zur ‚enzyklopädischen‘ Technik in den AO (s.u. S. 42–51) sowie imKontext der Philosophenbiographie (s.u. S. 99f.) wird auf diese Passage zurückzu-kommen sein.

51 So auch Hunter (2005), S. 151: „A ‚didactic‘ strain persists, of course, in OA, just as‚epic‘, most notably Homer, was a genre of instruction throughout antiquity.“

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Die Passage der Verse 12–46 kann vor diesem Hintergrund folgender-maßen gelesen werden: Das ‚traditionelle‘ Orpheusbild mit Orpheus als Re-präsentanten einer magisch-kultischen Bewegung, als Sänger von Kosmo-gonien und als ‚Unterweltsreisendem‘ wird in seiner Gesamtheit deutlichder Vergangenheit zugeordnet, während die eigentliche Erzählung von derFahrt der Argonauten nach Kolchis als etwas Aktuelles, Neues präsentiertwird, das sich von den in den Versen AO 12–46 genannten Aspekten ab-hebt. Das, was in den Versen AO 12–46 dabei sowohl aufgelistet wie ‚über-gangen‘ wird, wird aus der folgenden Erzählung allerdings nicht vollständigverbannt, sondern findet – zumindest in Teilen – auch dort Eingang. Voll-kommen verändert ist lediglich der Rahmen, die ‚Gesamtsituation‘, in derdie Orpheus-Figur im � �*�� (unter dem Einfluss des ���! ��, von dem inVers 10 die Rede ist) und im �1� (nachdem Orpheus von diesem Einflussberfreit wurde, vgl. Verse AO 103f.) wirkt. Die Gegenüberstellung von �1�und � �*�� und der hierin angelegte Offenbarungsgestus der Sprechin-stanz Orpheus machen deutlich, dass die eigentliche Erzählung der Argo-nautenfahrt auf Aspekte abzielt, die in der Zusammenschau der Orpheus-Merkmale in den Versen 12–46 (allein) nicht enthalten sind, dass also für dasVerständnis des Werks andere als die üblichen ‚orphischen‘ Vorstellungen,für die die Verse 12–46 stehen, relevant sein werden, ohne dass diese voll-kommen negiert würden. Es findet, wenn man einer solchen Deutung folgt,eine Differenzierung einer ‚alten‘ (die in der ‚lehrepischen‘ Passage der Verse12–46 präsentiert wird) von einer ‚neuen‘ Orpheus-Figur (die in der ‚erzähl-epischen‘ Passage der Verse 50–1376 präsentiert wird) statt. Der neue Or-pheus wird vom alten klar abgegrenzt, doch gleichzeitig werden wichtigeMerkmale des alten in die Konzeption des neuen integriert.

2.3 Orpheus als Hymnendichter

Nachdem im vorigen Kapitel vom werkinternen Spiel mit verschiedenenAusprägungen des Epos in Analogie zu verschiedenen Konzeptionen derOrpheus-Figur die Rede war, soll der Fokus im folgenden auf dem – bislangweitestgehend unberücksichtigten – hymnischen Charakter der AO und ins-besondere ihrem Beginn liegen. Es gilt, zunächst Klarheit über die Formendes Hymnischen in den AO zu gewinnen, um an späterer Stelle auf möglicheinhaltliche Konsequenzen zurückkommen zu können.52

Wesentliche Schritte auf dem Weg, den Komplex Hymnos zu erfassen,unternahmen Karl Ausfeld53 und Eduard Norden.54 Ausfeld unterschied auf

52 Siehe unten S. 100ff.53 Ausfeld (1903) passim, v.a. S. 514f.: „Plerumque sunt divisae preces in tres partes,

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struktureller Ebene als erster verschiedene Abschnitte eines Hymnos, die al-lerdings nicht notwendigerweise bei allen literarischen Gebilden, die man alsHymnos zu bezeichnen geneigt ist, vorhanden sein müssen: Anrufung (invo-catio), Prädikation (pars epica oder aretalogia) und Bitte/Dank bzw. Gruß.55

Eine solche hymnische Struktur lässt sich auch zu Beginn der AO aus-machen.56 Den Auftakt bildet eine invocatio des pythischen Apollon, ohnedass der Name ‚Apollon‘ explizit genannt würde. Der Verfasser der AO lässtseine Sprechinstanz Orpheus den Gott auf eine Weise preisen, die in derbesonderen Fülle und Dichte von verwendeten Epitheta vor allem an dieorphischen Hymnen und die des Proklos erinnert (AO 1–2).57 Im direktenAnschluss an die invocatio lässt der Verfasser der AO seinen Orpheus dieArete des Gottes loben (AO 3: κ� $ �!κ� 6��7)58: eine praedicatio bzw. Are-talogie in nuce. Über die Struktur der beiden ersten Verse hinaus betont dieexplizite Verwendung von 6��7 den hymnischen Charakter des Auftakts derAO. Es folgt die Bitte nach Ruhm (AO 3: �(��« �*(µ� .�'��«) und Wahr-heit (AO 4: ����� … �!%���� �� �/$+�), die mit der anstehenden Aufgabedes Orpheus – dem Bericht der Argonautenfahrt – begründet wird (AO 5–6).Vor dem Hintergrund der für einen Hymnos üblicherweise als konstitutivangesehenen Elemente (s.o.) liegt zu Beginn der AO also eine geradezuidealtypische Verwendung dieser Elemente auf engstem Raum vor.

Indem der Verfasser der AO an ihren Beginn einen Hymnos stellt, be-dient er sich so einerseits einer seit Hesiod insbesondere für das Lehrepos

quarum una comprehendit invocationem, altera semper fere media, si modo abceteris partibus accuratius secerni potest, omnia continet, ut generaliter dicam, quaeneque ad invocationem neque ad tertiam partem, preces ipsas, pertinent.“

54 Norden (1913).55 Eine knappe Übersicht über die wichtigsten Bezeichnungsweisen der einzelnen

Hymnenteile, die auch in der wesentlichen Forschungstradition z.T. voneinanderabweichen (Ausfeld, Norden, Zielinski, Danielewicz), findet sich bei Furley/Bre-mer (2001), S. 51.

56 So bereits Wünsch (1914), Sp. 172.57 Zur Funktion einer solchen Häufung von Epitheta ohne Nennung des Gottesna-

mens in den proklischen Hymnen siehe Erler (1987), S. 201 und v.a. S. 215: „Wenndie Menschen Götter mit vielen Namen belegen, dann treffen sie mit diesen unter-schiedlichen Namen die Gottheit bei ihrer Entfaltung in verschiedene Kräfte. (…)In dieser Entfaltung erscheint der Gott wie Proteus in verschiedener Gestalt (…)und bekommt jeweils andere Namen.“ Eine ähnliche Untersuchung der Funktionfür die orphischen Hymnen wurde bislang nicht unternommen.

58 Auch hierin besteht eine Parallele zum Kompositionsprinzip der proklischen Hym-nen, siehe Erler (1987), S. 201 mit Bezug auf den Aphrodite-Hymnos des Proklos:„Zum anderen ist bemerkenswert, dass als direktes Objekt zu 6������� nicht derName der Göttin oder eine Metonymie, sondern die ‚Kette‘ (�� ') und Quelle(���+) treten.“

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üblichen Tradition,59 deren Aufnahme sich im Fall der AO als besondersadäquat erweist. Denn die in der Antike60 immer wieder erwähnte ‚ursprüng-liche‘ Funktion von Hymnen als Proömien zum Auftakt eines Rhapsoden-vortrags vor dem eigentlichen epischen Teil lässt sich mit der Orpheusfigursowohl wegen ihres hohen mythenchronologischen Alters als auch wegenihres Bezugs zur Gattung ‚Hymnos‘ (etwa in Form der orphischen Hymnen)besonders gut in Verbindung bringen.

Zum anderen ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auf einProblem hinzuweisen, dessen Kenntnis für die weiter unten wieder aufzu-nehmende Frage von Bedeutung sein wird, ob ein solcher hymnischer Auf-takt Rückschlüsse auf die Gesamtkonzeption der AO zulässt und ob demHymnischen in den AO auch eine inhaltliche Funktion zukommt. Dabeigeht es um die problematische Identität der Person, die in AO 7, d.h. im di-rekten Anschluss an den in AO 6 endenden Auftakthymnos, als (% �� ��«angeredet wird.61 Das Wort (% �� ��« ist außerhalb der AO nicht belegt.Sowohl Apollon als auch Musaios kommen als Adressaten in Frage: Dererste, weil er in den sechs Versen des Auftakthymnos angeredet worden ist,letzterer, weil er noch mehrfach namentlich angeredet werden wird, zumersten Mal allerdings erst in AO 308.62 Für die Identität des „Lauteners“(Übersetzung Voß) als Musaios spricht zudem die Tatsache, dass bereits vorder namentlichen Nennung in AO 308 innerhalb der Rahmenhandlung inden Versen AO 33, 40, 46 und 49 eine Person angeredet wird, die schwerlichnicht Musaios sein kein. Gegen eine automatische Schlussfolgerung, dass es

59 Zum Aspekt des gattungstheoretischen Spiels s.o. S. 20.60 Vgl. Thukydides 3, 104 mit Bezug auf die homerischen Hymnen; außerdem Pindar,

Nem. 2, 1–3. Interessanterweise dichtet auch der platonische Sokrates im Gefäng-nis neben seiner Versübertragung der äsopischen Fabeln ein � ��"���� auf Apollon,vgl. Platon, Phd. 60d-61b. Zur Frage, ob die Annahme einer ursprünglichen Pro-ömfunktion von Hymnen zutreffend ist, siehe Race (1992), S. 19 Anm. 18 mit wei-terer Literatur. Race unterscheidet zwischen „rhapsodisch“ und „kultisch“ gepräg-ten hymnischen Auftakten und beschreibt verschiedene Charakteristika für diejeweiligen Anfänge. Legt man Races Maßstäbe zugrunde, stellt der Auftakt derAO – wie der der hesiodischen Erga – eine Mischform dar. Siehe Race a.a.O.,S. 28–32.

61 Diese Frage wurde in der Forschung bislang in der Regel nicht berücksichtigt, sieheaber Hunter (2005), S. 150 Anm. 3: „The difficulties of lines 7–8 are ignored orplayed down by too many critics, including Luiselli 1993 in his otherwise very help-ful account of the proem. After what has gone before it seems very hard to inter-stand line 7 as addressing anyone other than Apollo, though line 9 makes this seemshighly unlikely.“

62 Diesen Umstand betont Kern (1922), S. 66: „(% �� ��« non Apollo, sed Musaeusesse videtur, cuius nomen demum v. 310 […] apparet.“ [Kerns Verszählung ist nichtidentisch mit derjenigen in Vians Ausgabe.]

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sich deswegen auch in AO 7 bereits um Musaios handeln müsse, spricht aller-dings die Tatsache, dass der Kontext der späteren, eben genannten Verse inAO 7 noch nicht gegeben ist. Apollon als Adressat des vorigen Verses stehthingegen fest. Zu bedenken ist zudem, dass auch die Identität des Orpheus –und damit die einzig stichhaltige Grundlage, hinter dem (% �� ��« in AO 7bereits eindeutig Musaios ausmachen zu wollen – erst in AO 9 und in denFolgeversen allmählich deutlich wird, wenn dort vom ���! �� des Bakchosund Apollons sowie dem Vortragen von Kosmogonien die Rede ist. Sie darfsomit noch nicht als Beleg für eine Anrede an Musaios, seinen Schüler, heran-gezogen werden, wenngleich sich dieser im weiteren Verlauf bereits der Rah-menhandlung in der Tat immer weiter als Adressat herauskristallisiert.

Vor dem Hintergrund dieser paradoxen Situation erscheint es plausibel,in der Verwendung des Hapax (% �� ��« die Möglichkeit eines spannungs-erzeugenden Elements im Sinne einer Verrätselungsstrategie anzunehmen.Zudem besteht der Effekt einer solchermaßen intendierten Ambivalenz ineiner Lockerung der strengen Abgrenzung des Hymnos der Verse 1–6 vonder sich anschließenden Partie. Wenn zunächst unklar bleibt, ob die Gottheitauch nach ihrem hymnischen Preis weiterhin der Adressat ist, wird derÜbergang vom Hymnos (zumindest) zur Rahmenhandlung der AO flie-ßend. Eine Erwartungshaltung des Rezipienten, die sich aus dem hymni-schen Auftakt ergibt, kann sich damit auch über AO 6 hinaus – und in letzterKonsequenz auf das gesamte Werk – beziehen.

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