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Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

Date post: 20-Feb-2018
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  • 7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

    1/9

    Demokratie

    415

    Demokratie

    [1914]

    Die Aufgabe

    Was ist Demokratie?

    Nun,

    zunchst einmd ein Wort, das ursprnglich der Verkehrssprache angehrte und dann ein

    Begriff der Soziologie geworden ist. Und das bedeutet, da bei seiner Erklrung, Bestimmung und

    Behandlung dem Schriftsteller, der darber schreiben will, die drei Schwierigkeiten in den Weg

    treten, die berhaupt existieren: die sachlichen, die sprachlichen und die persnlichen.

    Die

    sachlichen

    Schwierigkeiten sind

    grundstdich

    immer die gleichen, welches auch das Thema

    der wissenschaftlichen Betrachtung sein mag. Sie knnen grer oder geringer sein, je nachdem der

    Gegenstand von groem oder kleinem Umfang, von groer oder geringer

    Komplikation,

    leicht

    oder schwer zugnglich ist - aber immer ist die Aufgabe,die Daten zusammenzutragen, zu ordnen,

    zu verbinden, zu erklren.

    Eine Reihe von Gegenstnden bietet weiter keine ds solche sachlichen Schwierigkeiten dar, vor

    allem die naturwissenschaftlichen. Wenn jemand ber die Kohlenminen von Spitzbergen oder ber

    die Retina der Froschlarven oder ber das unterschweflig-saure Natron Untersuchungen anstellen

    will, so wei er selbst, und wissen seine Leser ganz genau, was gemeint ist. Aber es gibt viele The

    mata, wo die Leser nicht ohne weiteres wissen, was der Autor behandelt, auch wenn er es klar sagt,

    ja,

    wo der Autor selbst nicht genau wei, was er behandelt, obgleich er sein Thema klar bezeichnet.

    Das ist immer der Fall, wo es sich um Worte handelt, die entweder niemds einen klaren, eindeuti

    gen Sinn gehabt haben - solche Worte gibt es unzhlige -, oder die zwar einmd einen eindeutigen

    Sinn gehabt haben, aber im Laufe der Sprachentwicklung sich kapillarisch ber einen immer weite

    ren Bezirk ausgebreitet haben, etwa wie ein Tintentropfen auf einem Lschblatt und nun keine

    scharfen Grenzen mehr besiizen. Sollen solche Wortebehanddtwerden, so mu die wissenschaftli

    che Kunstsprache die dlgemeine Verkehrssprache korrigieren, mu ganz genau erklren, in wel

    chem Sinne sie das vieldeutige oder unbestimmte Wort gebrauchen will; und dann besteht immer

    die Gefahr, da nicht nur die Leser die Definition nicht festzuhdten imstande sind, sondern auch,

    da der Autor selbst wider Willen den sprachlichen Assoziationen zum Opfer fllt. Das sind die

    sprachlichen

    Schwierigkeiten wissenschaftlicher Arbeit.

    Manche glauben, aus diesen Schwierigkeiten herauskommen zu knnen, wenn sie auf die etymo

    logische Urbedeutung des Wortes zurckgreifen. Das hilft aber nur selten und bringt im Gegenteil

    oft nur neue Verwirrung. Es kann mir z. B. gar nicht helfen, zu wissen, da .Person" ursprnglich

    die schallverstrkende Vorrichtung in der Maske der anlikenSchauspieler bedeutete; es kann mich

    nur verwirren, da Nation" von nasci, geboren werden, herstammt, denn, was wir heute unter

    Nation verstehen, hat mit der Blutsverwandtschaft nichts mehr zu

    tun.

    Solche sprachlichen Schwie-

    1 [Dieser Aufsatz erschien erstmals

    in:

    Der Staatsbrger, 5.

    Jg.,

    Heft 1, 2 (1914).Originalquclledes vorliegen

    denTextes: Oppenheimer, GesammelteRedenund Aufstze,

    Bd.

    2,Mnchen 1927,S.159-187;

    A.d.R.]

    rigkeiten treten namentlich dem Philosophen in den Weg, weil hier die Termini der Kunstsprache

    im Laufe der Jahnausende immer wieder neuen Inhdt erhdten haben, ohne ihren dten ganz zu

    verlieren. Darauf zielt jene bekannte boshafte Definition: .Philosophie ist der konsequente Mi

    brauch einer eigens zu diesem Zwecke geschaffenen Terminologie."

    Noch vid schlimmer steht es nun aber in soziologischen Dingen. Hier treten regelmig auch

    noch die persnlichen Schwierigkeiten hinzu. Denn hier sind so gut wie alle wichtigen Worte

    wunschbetont", und zwar verschieden wunschbetont, je nach der Klassenlage dessen, der sie

    braucht, bdd sympathisch, bdd antipathisch. Ist doch das oberste Gesetz der Sozialpsychologie, da

    das Individuum unwiderstehlich gezwungen ist, so zu denken, zu werten, zu urteilen, zu handeln,

    wie es das.inhrenteInteresse" seiner besonderen sozialen Gruppe verlangt. Dieses Gesetz, auf dem

    im internationden Leben dler Chauvinismus und Rassenha, im n ationden Leben aller Klassenha

    und Parteienha beruht, schliet eine Verstndigung mit den Gegnern auf dem Wege logischer

    Argumentation so gut wie vllig aus - aber es schliet auch sogar fast immer die Verstndigung

    schon ber die Begriffe aus. Ein Wort mag noch so exakt definiert worden sein, es bleibt fr den

    Autor und fr den Leser dennoch immer das wunschbetonte, geliebte oder verhate Wort und das

    um so mehr, wenn es sich um ein Schlagwort, um einen Bannerspruch, um ein Schibboleth des

    gesellschaftlichen Klassenkampfes handelt.

    Solch ein Bannerspruch ist das Wort .Demokratie", und ist es seit fast zweieinhalb Jahrtausen

    den,

    seit der Zeit Solons von Athen. Etymologisch bedeutet es Volksherrschaft" - aber diese

    Kenntnis ntzt uns so wenig w ie unsere Kenntnis von dem Ursprung des Wortes .Persnlichkeit";

    denn noch heute dreht sich dler Streit darum und hat sich wohl schon zu Solons Zeit darum ge

    dreht, was unter Volk" und was unter

    .Herrschaft"

    zu verstehen sei. Heute braucht man es bdd,

    um eine Verfassung der Geschichte oder der Gegenwart zu bezeichnen; man nennt w ohl auch einen

    Staat, der diese oder eine hnliche Verfassung hatte oder hat, eine Demokratie. Fr andere ist es eine

    Weltanschauung", eine politische Theorie, ein politisches Ided. Und so fort.

    In so trbem Wasser lt sich gut fischen. Und so wird denn das so glcklich vieldeutige Wort

    von den Gassenhelden des politischen Kampfes durch alle Gossen geschleppt.

    Wenn wir jetzt unsererseits versuchen wollen, festzustellen, welche Urbedeutung den verschie

    denen heutigen Anwendungen des Wortes .Demokratie" zugrunde liegt, so wollen wir uns des

    dten Kunstgriffes bedienen, der darin besteht, nach dem Gegensatz zu fragen, der ber oder unter

    der Bewutseinsschwelle regelmig mitgedacht oder w enigstens mitgefhlt w ird, wenn man solche

    komplexen Begriffe gebraucht. Hier handelt es sich wohl immer um Begriffspaare, diezusammen

    einen ganzen Bezirk von Tatsachen umspannen; und man findet die Grenzen des einen, wenn man

    die seines Korrelativbegriffes feststellt.

    N u n ,

    der Gegenbegriff gegen Demokratie ist Oligokratie, Herrschaft weniger ber eine Ge

    samtheit. Unter ihren Begriff fllt die Herrschaft jeder Minderheit (es kann auch ein einzelner sein,

    dann ist es Monokratie) und zwar ist die rechtliche Verfassung berdl von wenig Bedeutung. Ob

    die Monokratie patriarchalisches Frstentum, absoluter Csarismus, Militrdespotie oder konstitu

    tionell beschrnkte Monarchie; ob die Oligokratie im engeren Sinne, ds Herrschaft einer mehrkp-

    figen Minderheit, eine Blutsaristokratie oder

    eine Plutokratic

    oder eine Brokratie ist, ist ebenso

    gleichgltig fr den Begriff wie die Tatsache, ob sie drckend oder milde, im Einklang oder im

    Gegensatz zu den Gesetzen und der Verfassung ausgebt wird.

    In dieser weitesten Bedeutung des Wortes hat die Oligokratie in ihren verschiedenen Formen

    und mit ihrer verschiedenen faktischen und rechtlichen Begrndungdie bisherige Menschheit und

    Menschheitsgeschichte beherrscht. Sie ist keine Weltanschauung", keine Theorie", kein Ided",

    sondern eine ungeheure

    Tatsacke.

    Und die Demokratie" ist ursprnglich ebensowenig eine Weltanschauung, eine Theorie, ein

    Ided, sondern sie ist nichts anderes, als die auf jene ungeheure Tatsache notwendig eintretende

    i .

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    416

    ZweiterTed: Staat,Nation*.Mus undDemokratie

    Demokratie

    417

    Reaktion, die sich je nach den Umstnden verschieden uert: kritisch d s W eltanschauung, logisch

    ds Theorie, stimativ, vordemWerturteil, ds Ziel, praktisch ds Politik der Reform oder der Revo

    lution.

    Sobdd aber die demokratische" Reaktion anfngt, sich in dieser Weise zu uern, reflektiert

    sich der Proze wieder auf die Oligokratie zurck. War sie bis dahin eine einfache

    Tatsache,

    n dv

    auferlegt, nd v an genommen, so wird auch sie jetzt Gegenstand des Bewutseins und wird in dessen

    verschiedenen Form en ausgestattet: reaktiv tritt die aristokratische Kritik der demokratischen als

    aristokratische Weltanschauung gegenber, die Logik rechtfertigt sie ds Theorie, der Wille erhebt

    sie zum Ided, die Handlung orientiert sich ds aristokratische Politik an der Taktik und Strategie

    der Gegner, die sie zubekmpfenhat.

    Da dem so ist, beweist die Entstehung des Wortes selbst. In Athen herrscht, wie berall,ur

    sprnglich die Oligokratie der Grundherren und fhrt, wie berall, ein hartes Regim ent. Man darf

    nie vergessen, da die

    .drakonischen

    Gesetze" nur eine Kodifikation des geltenden Gewohnheits

    rechtes waren. Die

    Reaktion

    setzt ein. Was verlangt sie? An Stelle der Herrschaft der wenigen die

    der Gesamtheit des Volkes: Demokratie.

    Was aber ist der Demos, das Volk? Es ist wichtig, sich das

    klarzumachen.

    Er umfat nicht etwa

    die ganze Bevlkerung Anikas, nicht einmd die gesamte erwachsene Bevlkerung, ja, nicht einmd

    die gesamten mnnlichen Erwachsenen, sondern nur die erwachsenen mnnlichen Freien. Die zahl

    reiche Sklavenschaft gehrt nicht zum Demos, kommt politisch berhaupt nicht in Betracht. Es

    bedurfte vieler Jahrhunderte, des Untergangs zahlloser Gemeinwesen, der Ausbildung des groen

    helleno-rmischen Kulturkreises, ehe der der Antike ganz fremde Gedanke aufkommen konnte,

    dader Anteil an der Staatsregierung nichtBrgerrecht,sondern schlechthinMenschenrechtsei.

    Die Tatsache aber, da in Hellas berall, in Rom und den Pflanzstdten, der Begriff der Demo

    kratie so eng begrenzt war, zeigt klarer ds irgend etwas anderes, da sie keine

    .Weltanschauung",

    kein Ided" war, sondern lediglich eine Reaktion. Die Oligokratie bestand und lastete auf den

    Beherrschten, wie jede Herrschaft ihrem Begriff nach mehr oder weniger lasten mu - und ab

    Reaktion dagegen entsteht in gewissen Schichten der Beherrschten der einfache Wunsch, mitzuherr-

    schen, aus der politisch minderberechtigten und konomisch benachteiligten Schicht aufzusteigen

    in die politisch vollberechtigte und k onomisch privilegierte Schicht.

    Noch deutlicher wird

    das,

    wenn man sich alle die uns genauer bekannten Verfassungskmpfe der

    Weltgeschichte nher anschaut. berall, in Athen und Korinth, in Rom und Tarent, in Florenz und

    Venedig, in Frankfurt und Lbeck, in England und Frankreich, Deutschland und

    Ruland,

    steht an

    der Spitze der Kmpfe um die Demokratie" gegen die Oligokratie der reiche

    Bourgeois,

    der Ver

    treter des moneyed interest - undberallzeigt derVerlauf da es ihm nicht auf Volksherrschaft",

    sondern nur auf die eigene Mitherrschaft angekommen ist. Unmittelbar nach dem Siege der ver

    bndeten Klassen schlieen diese Financiers und Bankokraten, diese Groindustriellen und Gro

    hndler ihren Sonderfrieden mil den dten Nutznieern des Staates, den Vertretern des landed inte

    rest, formieren mit ihnen die neue Oligokratie der

    .Nobilitt"

    oder nuova gerne" und weigern

    ihren Mitstreitern aus der armen Unterschicht die Mitherrschaft. Und da sie oft

    fortfahren,

    sich

    dabei der

    .demokratischen"

    Redewendungen zu bed ienen, bekommt das Wort eine recht sonderba

    re Prgung. Es wird jetzt von oben und von unten her gebraucht, um genau

    entgegengesetzte

    Theo

    rien und Handlungen z u rechtfertigen und genau entgegengesetzten Zielen zu dienen.

    Die antiken Stadtstaaten sind ber einen gewissen Punkt der Entwicklung nicht

    hinausgelangt.

    Sie muten un erbittlich daran zugrunde gehen, und zwar im ernstesten Sinne des W ortes:

    physisch,

    an Entvlkerung, an Vlkerschwindsucht zugrunde gehen, weil sie eben noch

    .Kratien"

    waren,

    weil auf der Grundlage unfreier Arbeit ein gesundes Gesellschaftsleben unm glich ist. Die Sklaverei

    wirkt in der

    entfdtetcn

    Wirtschaft des kapitalistischen Marktverkehrs auf die Gesellschaft wie eine

    Infektion mit massenhaften hochvirulenten

    Infektionstrgern.

    Aber die modernen Vlker hatten diesen Krankheitsstoff bereits frh ausgeschieden und konn

    ten

    ber

    jene Stufe hinaus gedeihen, die die antiken Vlker noch erklimmen konnten. Ihre Wirt

    schaftsordnung baut auf freier Arbeit, und darum ist ihr Los nicht Vlkerschwund, sondern Vl

    kerwachstum,

    nicht Tod, sondern Leben. Und darum erstieg auch ihr Verfassungskampf hhere

    Stufen. Schicht nach Schicht erzwang in den vorgeschrittenen Staaten der westlichen Zivilisation

    die Gleichberechtigung zunchst in der Verfassung und vor dem Recht. Am weitesten voran stehen

    die englischen

    Kolonien,

    namentlich Australien, und hier wieder

    N euseeland;

    dann folgen die Uni

    ted States, England, Frankreich und in einem weiteren

    Abstnde

    die mitteleuropischen Staaten auf

    immer tieferen Stufen des berall gleich ablaufenden Streites, whrend in Osteuropa und Asien

    eben erst vor unseren Au gen seine ersten Schlachten geschlagen werden.

    Und dabei zeigt sich nun allerdings deutlicher und deutlicher, da die

    .Demokratie*

    sich auch

    ds Begriff in einer krftigen Entwicklung zu einem bestimmten Zide bin befindet. War sie anfangs

    nur instinktive, dann bewute Reaktion, so will sie jetzt allerdings Weltanschauung, Theorie und

    Ided werden. Der frher enge Begriff des Demos" erweitert sich immer mehr. Umfate er einst

    nur bestimmte Teile der Gesamtbevlkerung, so zeigt er jetzt die Tendenz, sie ganz zu umfassen.

    Seit der vierte Stand der Vermgenslosen, der

    .Nichts-ds-Arbeiter",

    sich der Vormundschaft des

    dritten Standes, der ihn verraten hatte, entzogen und sein eigenes Banner ds politische Partei des

    Sozidismus

    entidtet

    hatte, dieser vierte Stand, der grundstzlich den letzten

    Stand,

    die Basis der

    Pyramide darstellt - seitdem bedeutet das Wort

    .Demokratie"

    in ihrem Munde in der Tat die Herr

    schaft der Gesamtheit aller Brger.

    Wenigstens grundstdich und in ihrem eigenen Bewutsein. Nur ist ihre Anschauung oft noch

    beengt: sie sehen nur sich selbst und ihre Bedrfnisse, sind blind dagegen, da neben ihnen noch

    andere Schichten existieren, die die gleichen Ansprche geltend machen drfen. Die deutsche Sozi

    aldemokratie z. B. ist stark g eneigt, sich zur einseitigen Vertretung der Industriearbeiter zu

    entwic

    keln, whrend doch der Landarbeiter auch existiert, leidet und aufwrts will. Und es gibt Soziali

    sten genug, die der politisch-rechtlichen Emanzipation der einen

    Hlfte,

    vielleicht des greren

    Teiles der Menschheit, noch Widerstand leisten, der Frauen.

    immerhin:

    der Gedanke marschiert, gewinnt reiend an Boden und ist augenscheinlich dabei,

    sein Gebiet vllig zu erfllen; die .Mitherrschaft" dler Erwachsenen beider Geschlechter wird zur

    Weltanschauung, zum

    Inhdt

    der Theorie und ds Id ed zum Zid der praktischen Politik.

    Dieser unwiderstehliche Zug der Zeit ist des OligokratenScham und

    Schmerz,

    des demokratisch

    Gesinnten Stolz und Freude; aber beide scheinen selten zu bemerken, da der Begriff der Demokra

    tie bei diesem Ausweitungsproze seinen dten Inhdt allmhlich verliert und sich mit neuem Inhdt

    fllt;

    um mit Hegd und Marx zu sprechen:

    .Die

    Quantitt schlgt in die Qualitt um". Je weiter

    sich der eine Teil der Begriffsverbindung, der .Demos", ausdehnt, um so mehr schrumpft der zwei

    te Teil, die Kratie", ein. Und wenn einmd die erste Komponente ihren vollen Umfang erreicht

    haben wird, dann wird die zweite bis auf das leergelaufene, dien Inhdtcs beraubte Wort ver

    schwunden sein, vergleichbar jenen unglcklichen Ften, die durch das Wachstum ihrer strkeren

    Zwillinge im Mutterleibe an die Wand gedrckt und immer mehr komprimiert werden, bis sie

    schlielich, wenn jene, reif geworden, entbunden werden, als foeti

    papyraeei",

    d s

    .Papierften",

    ds jmmerliche Membranen, mit ihnen auf diesem Planeten erscheinen.

    Solch ein foetus papyraceus wird am Tage, wo der Demos in dem weitesten Begriff des Wortes

    zum Lichte geboren sein wird, d ie

    .Kratie*

    sein, ein papierenes Wort, ein ausgeronnener

    Begriff.

    Denn, wenn alle Erwachsenen beider Geschlechter zur vollen

    .Mitherrschaft*

    berufen sind:

    ber wen oder was sollen sie

    .herrschen ?

    ber sich selbst? ber die Unerwachsenen? ber die

    Natur?

    Wer eine dieser Antwo rten geben wollte, wrde damit nur beweisen, da er nicht wei , was hi

    storisch .Herrschaft", .Kratie" bedeutet. Und dann mu man es ihm sagen. Trotz aller Philoso-

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    Zweiter

    Ted: Staat, Natiot,. Jhrwj

    un d

    Demokratie

    L

    phen, die mit untauglichen Mitteln die Herrschaft zu idealisieren versuchen: Herrschaft

    war nie

    etwas anderes

    als die

    rechtliche Form einer wirtschaftlichen

    A

    usbeulung.

    Da man nun die

    .Herrschaft

    ber sich selbst* nicht dazu gebrauchen kann, sich sdber auszubeu

    ten;

    da die Ausbeutung der Kinder durch ihre natrlichen Vormnder wohl hier und da trauriger

    weise vorkommen mag, namentlich durch solche Eltern, die selbst ihrerseits hart .beherrscht" und

    ausgebeutet werden; da aber diese

    Ausbeutung

    niemds kraft Rechtens, sondern zu Unrecht erfolgt

    - denn alle Gesetze und Sitten der Wdt verleihen den Eltern und Vormndern ihr Verfgungsrecht

    nur unter der Bedingung, da sie es im Interesse und zum Vorteil des Mndels brauchen -, und da

    schlielich die Natur nicht .ausgebeutet" werden kann, weil das nur gegenber moralischen Wesen

    mglich ist, so ist damit bewiesen, da bei voller Verwirklichung der Demokratie die Demokratie

    aufhrt, Kratie zu sein, und - Akratie wird.

    Und

    das

    ist nun in der Tat ein Ided der Menschheit, und zwar das hchste ihrer Idede, getrumt

    und begrndet von ihren erlauchtesten Denkern. Von Piatons Politeia" an bis auf die .Utopia" des

    Monis

    und die G eschichte der Sevarambier, bis auf Quesnays

    .Ordre

    naturd", Lessings Weltstaat"

    und Kants

    .Vereinigung

    frei wollender Menschen", bis auf Saint-Simons .Industridismus" und

    Marx' .Zukunftssiaai" haben alle Utopien die Akratie ds Ided

    ber

    der

    Menschheil

    aufgepflanzt.

    Hdt " sagen die Kenner der Literaturgeschichte. Auf Lessings und Kants

    Vorsteungen

    trifft

    das zu, aber nicht auf die anderen Utopisten. Sie

    die

    statuieren die Herrschaft ds notwendig. Pia

    ton,

    Monis, Campandia die Herrschaft der Philosophen oder Priester, Saint-Simon die der groen

    Unternehmer, Quesnay, der Trumer und Theoretiker des aufgeklrten Despotismus, die Herr

    schaft des unbeschrnkten Monarchen, der gleichzeitig Arzt und Erzieher seines Volkes ist, und gar

    Marx die einer ungefgen Brokratie, die alles wirtschaftliche Leben,

    di e

    Produktion und Vertei

    lung der Gter reguliert, die Brger

    an

    die Arbeit stellt, und mit Gtern versorgt.

    Richtig, und doch waren sie

    die

    Glubige der

    .Akratie".

    Ich habe absichich dieses wenig ge

    bruchliche Wort angewendet, weil ich ein gebruchlicheres und bekannteres fr einen anderen

    Begriff brauche, der hufig mit dem ersten verwirrt und verwechselt wird. Akratie ist nicht

    .Anarchie".

    Akratie ist das Ided einer von jeder wirtschaftlichen Ausbeutung erlsten Gesellschaft, Anarchie

    das Ided einer von jeder Autoritt, jeder zwingenden, gesetzlich berechtigten Gewdt freien Gesell

    schaft. Das sind zunchst einmd begrifflich zwei recht verschiedene Dinge.

    Die Anarchisten werden erwidern:

    .Was

    bekmmern uns begriffliche Haarspdtereien? Praktisch

    - und nur darauf komm t es an - ist Akratie ohne Anarchie undenkbar. Wo imm er Autoritt be

    stand, bestand Ausbeutung. Und wo immer Autoritt bestehen wird, wird Ausbeutung bestehen.

    Und darum gibt es nur ein Mittd zur Herbeifhrung der Akratic, nmlich die Anarchie."

    Die Meinung ist sehr weit verbreitet, unter Freunden und Gegnern. Ludwig Gumplowicz, der

    Mitschpfer der deutschen Sodologie, der Todfeind des Anarchismus, hat gerade aus dieser Grund

    voraussetzung heraus, die er mit dem Anarchismus teilte, seinen tieftraurigen soziologischen Pessi

    mismus abgeleitet, in etwa folgendem Schlu: .Ohne Autoritt ist kein gesellschaftliches Zusam

    menleben mglich; das Chaos wrde hereinbrechen. Autoritt aber ohne Ausbeutung ist undenk

    bar. Folglich ist gesellschaftliches Leben ohne Ausbeutun g undenkbar."

    Das Problem, das hier vor uns aufsteht, ist hochernst. Es ist das ernsteste Problem der Mensch

    heit. Haben wir wirklich nur die Wahl zwischen der Verewigung der Ausbeutung auf der einen

    Seite und der Vernichtung aller Kultur und dienReichtums im Chaos des Kampfes dler gegen alle

    auf der anderen Seite? Mu das Schifflein der Menschheit, um die Skylla zu vermeiden, wirklich an

    der Charybdis scheitern?

    Die Anarchisten geben vor, zu glauben, und einige Phantasten glauben es vielleicht wirklich, da

    die Menschheit sich auch ohne Autoritt werde vllig verwdten knnen. Das ist pures Phantasma.

    Wenn wir die Gesellschaft der Akratie durchdenken, so finden wir freilich, da sie, namentlich ds

    Demokratie 4

    Wellstaat" lessingisch gedacht, mit sehr wenig .Autoritt" auskommen w ird. Das Heer, die Poli

    zei, die Gefngnisbeamten, das Richterpersond werden zum Teil ganz verschwinden, zum T eil auf

    einen Minimdbestand herabsinken, den wenige heute fr mglich

    bdten.

    Aber niemds wird ein

    Gemeinwesen, das grer ist d s ein

    Dorf

    auskommen ohne ein Recht und ohne die B eamten, die es

    sprechen und im No tfdl die Macht haben, es zu erzwingen; ohne ein Strafrecht namenich und ein

    Expropriationsrecht. Ohne ein Strafrecht

    fdlen

    wir mit

    fatder

    Notwendigkeit in die wilden Zeiten

    der Blutfehden, der Vendetta und des Richters Lynch zurck, und das sind ehrwrdige Institutio

    nen,

    die von einer gewissen Hhe der Wirtschafts- und Kulturstufe an nicht mehr geduldet werden

    knnen; und ohne ein Expropriationsrecht im Interesse der Gesamtheit ist der Narr, der Querkopf

    und der Bswillige ihr Herr und ihr Ausbeuter. Und

    femer

    kann keine grere Gemeinschaft aus

    kommen ohne ein gewisses Gemeineigentum, mindestens an Wegen, an Bildungsanstdten, an Schu

    len,

    vielleicht Kirchen - wer will im anarchistischen Reich Kirchen verbieten? -; solche Dinge

    mssen verwdtet und geschtzt werden, und dazu gehren Beamte, die man besolden mu, und

    dazu Steuern. Die kann man aus Grnden der Gerechtigkeit dort, wo es sich

    um

    allgemeine Interes

    sen handelt, auch nur ds Zwangsumlage von

    dien

    Berechtigten einziehen. Und selbst wenn wir uns

    allen Staat aufgelst denken in lauter freie, auf Freiwilligkeit beruhende Genossenschaften: einige

    von ihnen werden doch rtliche G enossenschaften sein mssen, und das sind dann eben Gemeinden

    mit Gemeindebedrfnissen, die autorisierte Beamte und ffentliche Mittel erfordern. Und sind

    trotz alledem Gemeinden, die sich zu gewissen greren, sonst nicht erreichbaren Zw ecken - man

    denke nur an Kand-, an Deich-, an Wasserbauten usw. - einigen mssen, um die gemeinsamen

    Zwecke zu verwirklichen. Die zuEnde gedadite Anarchie ist die Zersplitterung der Menschheit in

    lauter kleine Horden, die sich gegenseitig bekmpfen, ist die Vernichtung dler gesellschaftlichen

    Kooperation, d. h. fast dler gtererzeugenden Kraft, und daher die Vernichtung des grten Teiles

    der heute lebenden Menschheit, da in so schwacher Arbeitsteilung der Quadratkilometer kaum

    mehr ds einen Kopf ernhren kann.

    Dieser Weg der Abschaffung dler Autoritt und zwingenden Gewdt ist dso keineswegs gang

    bar; er wrde, anstatt zur Verminderung, zur unmebaren Vermehrung des menschlichen Elends

    und der menschlichen Unfreiheit fhren: denn wer ist elender und unfreier als der Primitive, ob

    gleichgeradeer nach Ernst Groes treffendem Won.einpraktischer Anarchist" ist?

    Ist denn nun die anarchistische Behauptung wahr, da Autoritt und Ausbeutung in aller Ver

    gangenheit untrennbar verknpft waren und in aller Zukunft untrennbar verknpft sein werden?

    Was die Vergangenheit anlangt, so wollen wir den Satz im allgemeinen zugeben, mssen aber be

    tonen, da hier und da seltene Ausnahmen von der Regel aufzufinden sind, die bei genauerer Ana

    lyse die Regel zwar nicht aufheben, wohl aber auf das von ihr wirklich beherrschte Gebiet be

    schrnken. Wir finden hier und da in vllig freien Gemeinschaften Beamte, die whrend ihrer

    Amtsdauer eine sehr weitgesteckte Gewdt genieen, ohne da es ihnen oder ihren Untergebenen

    jemdsin den Sinn kme, da auch nur der Versuch eines Mibrauchs dieserAmtsgewdtzu persn

    licher Bereicherung oder Machterweiterung gemacht werden knnte. Ich denke hier an die gewhl

    ten Hetmans der freien Kosaken am Dnjester, die whrend des Kriegszustandes Herren ber Leben

    und Tod ihrer Whler waren, ferner an die Schultheien und Kriegshauptleute freier Bauernschaf

    ten,

    w ie z. B. der Dithmarschen, in einigen Perioden auch der Schweizer; und glaubt jemand, da

    die Marius, Sulla und Csar, die in Rom zur Zeit der Samniterkriege lebten - und sie haben damals,

    wie zu allen Zeiten, gelebt -, auch nur auf den Gedanken htten kommen knnen, die Staatsord

    nung in ihrem persnlichen Interesse umzuwlzen, ihr konsularisches oder tribunisches Amt zu

    mibrauchen?

    SolcheAusndimenbeweisen an sich noch nicht, da die Behauptung der Anarchisten und des

    soziologischen Pessimismusfdscb ist. Denn sie sind sehr selten und beziehen sich auerdem noch

    auf verhltnismig kurze Zeitrume. Die Vermutung wre immerhin gestaltet, da jene Krfte, die

  • 7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

    4/9

    420

    Zweiter

    TeiL-Staat,

    Nation*

    JIMS

    und Demokratie

    u

    von der Autoritt zur Ausbeutung leiten, hier und da fr kurze Zeit durch Gegenkrfte persnli

    cher oder sozialer An pardysien oder doch gehemmt werden knnen.

    Aber jene Ausnahmen zeigen doch klar genug, da die behauptete Verbindung von Autoritt

    und Ausbeutung doch nicht eine unmittelbare sein kann, sondern da sie durch Mittelglieder herge

    stellt wird, die irgendwie mit der soziden und konomischen Lage des Staatswesens zusammenhn

    gen mssen. Und so entsteht das wissenschaftliche Problem, diese Mindglieder aufzufinden und

    mit soziologischen Mitteln aus ihren Ursachen abzuleiten. Erst daraus kann sich ergeben, ob jener

    hufige, fast regelmige Zusammenhang eine immanente Kategorie* des Gesellschaftslebens, dso

    auch eine unvermeidliche Notwendigkeit dler Zukunft ist, oder eine

    .historische

    Kategorie", Folge

    vermeidlicher, nicht notwendiger Ursachen. Erst diese Untersuchung kann uns Klarheit bringen;

    solange sie nicht durchgefhrt ist, ist die Behauptung des Anarchismus nichts Besseres ds ein Ana

    logieschlu aus der Vergangenheit auf die Zukunft. Und Andogieschlssebeweisen nichts Selbst

    einen Aristoteles hat die Geschichte ad absurdum gefhrt: auch er hielt per analogiam die Sklaverei

    fr eine immanente Kategoriediesknftigen, weildiesvergangenen Gesellschaftslebens.

    Diese Untersuchung anzustellen, wird jetzt unsere Aufgabe sein, um herauszufinden, ob in der

    Tat die Demokratie im Sinne der Akratie ein ewig unerreichbares Ided der Menschheit ist.

    Alle Soziologie hat auszugehen von den menschlichen Bedrfnissen. Denn die Gesellschaft ist

    nichts anderes ds das kleinste Mittel zur mglichst vollkommenen Befriedigung der Bedrfnisse

    ihrer Mitglieder. Unter diesen Bedrfnissen nehmen diejenigen den hchsten Rang ein, die fr den

    einzelnen die Bedrfnisse hchster Dignitt, d. h. Dringlichkeit sind, diejenigen, die er zum Teil mit

    dem Tiere gemeinsam hat, die Bedrfnisse nach Sachgtern, zunchst der Nahrung und des Ob

    dachs, spter der Kleidung, der W erkzeuge, des Luxus.

    Nun hat der Mensch zwei grundstzlich entgegengesetzte Mittd, um sich die Gter zu beschaf-

    fen,deren erbedarf.Das eine Mittel ist die eigene Arbeitander Natur und auf hherer Stufe der ds

    quivdent betrachtete Austausch seiner Arbeitserzeugnisse gegen fremde. Weil es sich hier um die

    beiden Ttigkeiten handelt, die die Wirtschaftsgesellschaft

    begrnden,

    habe ich dieses Mittel das

    konomische Mittel" genannt.

    1

    Das zweite Mittel, dessen sich der Mensch bedient, um sich die Gter zu beschaffen, ist die un-

    entgoltene Aneignung durch Gewdt, und zwar durch krperliche Gewdt oder den Mibrauch

    geistlicher Gewdt durch Patriarchen und Priesterschaften. Dieses Mittel habe ich ds das .politische

    Mittel" bezeichnet.

    Warum .politisches Mittel"? Weil es im internationden und im intranaonden Leben alle Poli

    tik beherrscht. Der Urtypus dler internationden Beziehungen ist der Krieg, und der hatte oft genug

    zwar einen anderen Vorwand, aber wohl kaum jemds einen anderen Grund ds die Bereicherung

    einer Nation auf Kosten der anderen, oder die Abwehr eines solchen Bestrebens. Wird doch sdbst

    heute noch sogar der internationde Handel nach der Weise des Merkantilismus von viden ds ein

    Mittel betrachtet, um nicht-quivdente Tausche zu vollziehen, d. h. den Hndlern des eigenen

    Landes auf Kosten der fremden Hndler einen Mehrwert an Gtern zuzufhren. Vor allem aber

    beherrscht das politische M ittel auch das wichtigere intrana tionde L eben durchaus. Es hat den Staat

    geschaffen. Der Staat ist nichts anderes ds daspolitische Mittd in seiner Entfaltung.

    Der Gedanke ist nur der Form nach neu; dem Inhdt nach ist er dt genug. Er verdankt nament

    lich dem franzsischen Genius seine allmhlicheAusgestdtung. Die Genedogie geht von Rousseau

    ber J.B. Say und Saint-Simon zu Proudhon. Man hat fanatisch um ihn und gegen ihn gekmpft;

    und das ist wohl verstndlich, denn es ist vielleicht der revolutionrste Gedanke, den man ausspre

    chen kann. Er ist der Hebel, um die festesten Zwingburgen und Baslilien zu erschttern.

    1 Vgl. Oppenheimer,DerStaat, Frankfurta.M..1907.(Im vorliegendenBand,siehe

    S.

    309-385; A.d.R]

    Demokratie

    421

    Diese Auffassung des Staates widerstreitet der gdtenden Staatsphilosophie auf das heftigste.

    Nach einigen Philosophen ist der Staat die Verwirklichung des gttlichen Gedankens auf Erden

    oder irgendwelcher anderen wertvollen knftigen Dinge. Darauf ist zu erwidern, da wir nicht

    theologisch oder ideologisch fragen, wozu der Staat bestimmt ist, wozu er sich entwickeln soll,

    sondern soziologisch-kausd, was der Staat ist, aus welchen Ursachen, aus welchen menschlichen

    (nicht berirdischen) Zw ecken er entstanden ist. - Andere Philosophen behaupten seit Epikur, der

    Staat sei die Organisation des Grenzschutzes nach auen und des Rechtsschutzes nach innen. Dar

    auf ist zu erwidern erstens, da das ganz richtig ist, aber den Staatsinhdl bei weitem nicht erschpft

    und zweiten s, da es sehr darauf ankommt, zu untersuchen, wdcher Art das Recht ist, das der Staat

    schtzt.

    Die einzige Erklrung vom Wesen und von der Entstehung des Staates, die der wissenschaftli

    chen Prfung standhlt, ist die folgende, die im wesentlichen von Ludwig Gumplowicz-Graz

    stammt: der Staat ist eine Rechtsinstitution, einer beherrschten Schicht einseitig, durchkrperlidie

    oder geistliche Gewd t aufgezwungen von einer herrschenden Schicht, mit dem einzigen ursprng

    lich vorhandenen Zwecke, die Unterschicht zugunsten der Oberschicht zu bewirtschaften, und

    d. h.: nach dem Prinzip des kleinsten Mittels

    .mit

    dem geringsten

    Aufwnde

    zum grten dauern

    den Erfolge" auszubeuten.

    Dieser fr den ersten Blick paradoxe Satz wird erstens bewiesen durch die Induktion. Die Ge

    schichte kennt keinen einzigen gut beobachteten Fall von originrer Staatsentstehung, der nicht

    nach diesem Typus verlaufen wre. (Bei den Kolonien tritt die Gew dt oft unerkennbar zurck: ihre

    Begrnder bringen die

    Verfassung

    des Mutterlandes mit in die neue Heimat und das ist eben die

    inzwischen zu Recht gewordene ursprngliche Gew dt.)

    Vor allem lt sich unsere Behauptung auch durch die Deduktion beweisen. Und zwar folgen

    dermaen: Notorisch, unbestritten und unbestreitbar waren alle Staaten der Vergangenheit und

    sind alle Staaten der Gegenwart Klassenstaaten', das heit Hierarchien von bereinander liegen

    den Schichten verschiedener pol itischer Berechtigung und verschiedener konomisch er Ausstat

    tung.

    Diese K lassenscheidung beruhte bis zum Anbruch der neuen Zeit und fr viele Staaten bis tief in

    die Neuzeit hinein auf einem Rechte, das unbestreitbar nichts anderes war als rechtlich fixierte,

    durch das Recht und die Verfassung geschtzte und gewhrleistete frhere Gewdt, Gewdt des

    Schwertes oder des Mebuches und Beichtstuhles. Die Sklaverei der Antike und die Hrigkeit des

    Mitteldters sind unzweifelhaft rechtlich fixiertes, einseitig auferlegtes politisches Mittd gewesen.

    Und da der Staat der Antike gar nichts anderes war ds das rechtliche Gehuse" der Sklaverei, der

    des Mitteldters gar nichts anderes ds das rechtliche Gehuse der Leibeigenschaft, so ist fr diese

    beiden groen Geschichtsepochen unsere Behauptung erwiesen.

    Wie steht es aber mit den Staaten der Gegenwart, in denen die Sklaverei und Hrigkeit rechtlich

    nicht mehr existieren? Mit den Staaten vor dlem, die bereits demokratisch" reif sind, das allgemei

    ne Stimmrecht, die allgemeine Wehrpflicht und die volle Gleichheit vor dem Gesetz haben? Sind

    auch sie entfdtetes politischesMinel ?

    Unzweifelhaft sind sie es, und das lt sich stringent beweisen. Da sie immer noch

    Klassenstaaten" sind, mindestens konomisch, wirdniemand zu leugnen versuchen; und fast alle

    werden zugeben, da sie auch politisch noch immer mehr oder weniger Klassenstaaten sind, d. h.

    da der Einflu der Wohlhabenden auf Gesetzgebung, Verwdtung und Politik nach innen und

    auen, in Krieg und Handel weit strker ist, ds ihrer Verhltniszahl entsprche, und da dieser

    Einflu nicht immer ausschlielich im Interesse der Unterschicht ausgebt wird.

    Nun wohl, wir behaupten: auch ein moderner, rechtlich freier Klassenstaat kann nichts anderes

    sein ds entfdtetes politisches Mittel;

    die

    Klassenscheidung kann nur bestehen aufgrund einer Ver

    fassung und eines Rechtes, das ehemdige Gewd t sanktioniert und gewhrleistet;

    d ie

    Klassenschei-

  • 7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

    5/9

    TT

    422

    Zweiter

    Ted: Staat,

    Nation*

    us und Demokratie

    Demokratie

    dung

    mu sofort aufhren, sobald dieses Recht verschwindet. Dieses Recht ist das der Bodensper-

    rung.

    Der groe Turgot scheint es gewesen zu sein, der zuerst den Satz aufgestellt hat, da nicht eher

    eine Arbeiterklasse entstehen kann, ds bisjedesStck Land seinen Herrn gefunden hat", - und da

    daher auch nicht eher arbeitsloses Einkommen und Grovermgen an Grund und Boden oder

    Kapitd" entstehen kann - denn all das setzt die Existenz einer Klasse besitzloser, in der

    Manischen

    Sprache freier" Arbeiter voraus.

    Da alles Land bereits zur Zeit Turgots .seinenHerren gefunden hatte", war klar, denn es exi

    stierte ja seit langer Zeit schon eine Arbeiterklasse, existierte Grovermgen und arbeitsloses Ein

    kommen. Aber wie hatte es seinen Herrn gefunden? Durch das konomische Mittel, d.h. durch die

    Besitznahme von Bauern, die die Scholle selbst pflgten, oder durch das politische Mittel, d. h.

    durch die Besitznahme von Leuten, die es nur sperrten, um andere dazu zu zwingen, ihnen einen

    Teil ihres Arbeitsertrages abzutreten?

    Weder Turgot noch einer seiner Nachfolger (auer vielleicht der irische Sozidist Thompson)

    haben diese Frage gestellt. Sie haben gar nicht entdeckt, da hier eine zweifache Erklrung mglich

    ist. Sondern sie haben folgendermaen geschlossen:

    .Gbe

    es genug Land fr das Bedrfnis der

    Gesellschaft, so knnte keine Klassenscheidung und kein Groeigentum vorhanden sein. Nun ist

    dasalles aber vorhanden, folglich gibt es nicht genug Land."

    Der Schlu ist fdsch. Er vernachlssigt die Mglichkeit, da zwar an sich, von Natur aus ge

    nug Land vorhanden sein, aber durch das Recht des Eigentums gegen die Besitznahme durch die

    Landbedrftigengesperrtsein knnte. Ist das etwa der Fall, so sind die Folgen fr die gesellschaft

    liche Klassenschichtung offenbar ganz die gleichen, ds wre das gesperrte Land gar nicht vorhan

    den.

    Wie nun diese Frage entscheiden? Nun, sehr einfach durch Rechnung und

    Statistik.

    Wir mssen

    fragen, wieviel Land zu selbstndiger buerlicher Wirtschaft ntig ist und dann feststellen, wie gro

    die heute vorhandene landbedrftige Bevlkerung und wie gro der Vorrat an Ackerland ist. Zeigt

    sich dann, da der Vorrat nicht ausreicht, so ist die Klassenscheidung mit ihren Folgen natrlich

    bedingt, notwendig, immanente Kategorie der menschlichen Gesellschaft: und der Klassenstaat von

    heute ist grundstzlich unabnderlich. Zeigt sich aber, da der Vorrat den Bedarf bersteigt, so ist

    die Klassenscheidung mit ihren Folgen rechtlich bedingt, ist Konsequenz einer Sperrung des Bodens

    und dann ist der Klassenstaat von heute historische Kategorie, Schpfung und rechtliches Gehuse

    des politischen M ittels.

    Nun, die Rechnung ergibt zweifellos, da der zweite Fall der Wahrheit entspricht.

    Damit ist bewiesen, da diedteAuffassung Turgots und seiner Nachfolger fdsch, da die Klas

    senscheidung Werk des politischen Mittels, und da mithin der Klassenstaat das entfdtete politische

    Mittel ist. Ohne die Bodensperre gbe es noch heute und auf unabsehbare Zeit hinaus keine Klas

    senscheidung, keine Arbeiterklasse, keinGroeigentuman Grund und Boden und an Kapitd.

    Was haben wir damit fr unser Problem gewonnen? Nun, der Anarchismus behauptet, da, weil

    der Staat immer mit Ausbeutung verbunden gewesen ist, er es auch in Zukunft immer sein wird.

    Da dieser Schlu ds einfacher Analogieschlu nicht zieht, haben wir bereits festgestellt; jetzt aber

    drfen wir behaupten, da er mit Sicherheit fdsch ist, weil er das Wort Staat" auf zwei verschiede

    ne Phnomene anwendet, auf den Klassenstaat der Vergangenheit und Gegenwart und auf den

    klassenscheidungsfreien Staat der Zukunft, zwei Phnomene, die einander gerade so kontradikto

    risch gegenberstehen wie ihre Grundwurzeln,daspolitische und das konomische Mittel.

    Da im Klassenstaat der bisherigen W eltgeschichtedie Beamtenautoritt, jedes Amt ds Richter,

    ds Feldherr, ds Brgermeister oder Gauknig, ds Volksvertreter usw. seinen Trger leicht zum

    Mibrauch verfhren konnte, verstehen wir ohne Schwierigkeit. Denn berdl sttzt sich der Beam

    te auf die eine Klasse, um durch sie die andere zu beherrschen und zu plndern. Marius sttzt sich

    423

    auf den Pbel gegen die Besitzenden, Sulla auf die Besitzenden gegen den Pbel; immer steht Zahl

    gegen

    Zahl,

    Macht gegen Macht, eine Kollektivkraft, ein Kollektivinteresse gegen das andere.

    Auf wen sollte sich aber in der bis zur Akratie vollendet gedachten Demokratie, in der klassen

    losen politischen Gemeinschaft ein Beamter sttzen wollen, um seine Autoritt zur Ausbeutung zu

    mibrauchen? Es gibt keine klassenmigen Interessengegenstze, wo es keine Klassen gibt. Ein

    Beamter kann zum Verbrecher werden, gewi: aber es gibt hier keine Macht, die ihn gegen den

    Zorn der ffentlichen Meinung schtzen knnte; denn es gibt hier nur eine ffentliche Meinung,

    und nicht, wie im Klassenstaat, so vielMeinungen wie Klassen. Ein Beamter kann ferner vielleicht

    die Gesamtheit auf einen Weg fuhren, der zu ihrem Schaden ist; aber er kann sie nicht dazu zwin

    gen,

    diesen Weg zu betreten, und ebensowenig, darauf zu verharren. Er steht allein gegen die Ge

    samtheit, mchtig nur, wenn er ihren Willen tut, ihr Interesse frdert, ohnmchtig, wenn er es

    versuchen wollte, gegen ihren Willen, gegen ihr Interesse zu handeln.

    Das ist das Ergebnis unserer berlegung, und das ist auch die Erklrung jener seltenen Ausnah

    men, von denen wir vorhin sprachen. Autorittfhrtzur Ausbeutung berall dort, w o die Autori

    tt sich auf ganze Klassen sttzen kann, die von der Ausbeutung nicht nur nicht mitbetroffen wer

    den, sondern ihren Vorteil mitgenieen. Daran scheiterte z. B. die sogenannte Demokratie der

    antiken Staaten: hier war der Klassenstaat doppelt fundiert, auf der Bodensperre und auerdem

    noch auf der Sklaverei; daher bestand eine schroffe Klassenscheidung, und das allein ermglichte

    Demagogen und Prtendenten ihr wstes Treiben: sie sttzten sich immer auf die eine Klasse gegen

    die andere. Und im modernen Europa ist es grundstzlich nicht anders.

    Wo aber dieses Zwischenglied, die Klassenscheidung, nicht gegeben ist, da kann Autoritt nie

    mds straflos, und sicher nicht auf die Dauer, zur Ausbeutung mibraucht werden.

    Wenn das wahr ist, und wir sehen nicht, wie es bestritten werden knnte, dann fllt das einzige

    Argument in sich zusammen, das die Oligokratie gegen die demokratischen Forderungen erheben

    kann, seitdem der gttliche Wille" nicht mehr ds Rechtfertigung der Herrschaft vorgeschtzt

    wird: jenes einzige Argument, da die Demokratie zur Anarchie, zur Unordnung, ja, zum Chaos

    fhren msse. D. h.: Akratie und Anarchie verwechseln. Der klassenlose Staat der Zukunft, die v on

    allen Resten despolitischen Mittels gereinigte Freibrgerschaft" meiner Terminologie, wird die

    strkste richterliche und administrative Autoritt besitzen, Beamte mit dien Machtvollkommenhei

    ten, derer sie bedrfen, Steuern und Leistungen, Strafrecht und Strafrichter - sie wird nich t im

    mindesten A narchie und dennoch durchaus Akratie sein.

    Die Lsung

    Nun gut", knnte man sagen, die volle Demokratie ist nach deiner Anschauung mglich durch

    Beseitigung des letzten Restes des politischen Mittels, nmlich der Bodensperre; die Klassenschei

    dung und der Klassenstaat knnen verschwinden und dieseGemeinschaft soll ewige Dauer verspre

    chen, weil sie beamtete Autoritten einsetzen kann, ohne Mibruchebefrchten z u m ssen. Alles

    sehr schn: aber beweist das im entferntesten, da dieser Zustand wnschenswert ist? Steht hier

    nicht Weltanschauung gegen Weltanschauung, Ided gegen Ided, politische Theorie gegen politische

    Theorie? Was beweist uns, da die oligarchische Auffassung schlecht und die demokratisch-

    akratische gutist?"

    Ein wichtiges Problem und ein neues Problem Das Problem desWertmastabes der Sodologie,

    die sich in demselben Augenblicke zur Sozidphilosophie erhebt, wo sie dieses Problem aufwirft.

    Denn die Soziologie ist die Wissenschaft von Ursachen aus Wirkungen, vom

    Sein und Werden

    der menschl ichen Gesellschaft, und die Sozialphilosophie ist die Wissenschaft von den Zw ecken

  • 7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

    6/9

    424

    Zweiter

    Ted: Staat,

    Natu Mismusund D emokratie

    und Zielen, von den Wertmastben und Wertergebnissen, vom Sollen der menschlichen Gesell

    schaft.

    Zwei Mastbe haben wir, um die Oligokratie mit der Demokratie auf ihren Wert hin zu ver

    gleichen, einen inneren und einen ueren, einen praktischen und einen ethischen. Der praktische

    uere ist ihre Leistung fr die menschliche Gesellschaft, der innere ethische ist das uns immanente

    Sittengesetz.

    Sprechen wir zuerst von dem ueren Mastabeder Bewertung, von der Leistung der beiden po

    litischen Systeme. Dabei trin uns eine bedeutende Schwierigkeit entgegen; wir haben wohl Pseudo-

    demokratien in Menge, historische und gegenwrtige, aber keine reine Demokratie im Sinne der

    Akratie. Wir knnen daher nicht unmittelbar und nicht mit voller Beweiskraft unsere Vergleiche

    anstellen, sondern knnen nur mindbar vergleichen und nur Wahrscheinlichkeiten feststellen.

    Aber freilich Wahrscheinlichkeiten, die nicht mehr viel von der vollen Gewiheit entfernt sind

    Was immer wir vergleichen mgen, dasselbe Volk, das eine Md unter der Herrschaft einer Oligo

    kratie und das andere Md unter der einer Demokratie in dem

    gewhnlichen

    Sinne des Wortes, d. h.

    einer Herrschaft, die nicht einer sehr kleinen Klasse allein vorbehdten ist, - oder ob wir verschie

    dene Lnder vergleichen, deren eines oligokratisch, deren zweites demokratisch regiert wird, immer

    ist das Ergebnis das gleiche: eine unendlich viel hhere Gesamtleistung der Gesellschaft gegenber

    dien

    erdenklichen Kriterien. Vergleichen wir

    z

    B. das Frankreich des Feudalismus oder der Louis

    mit der heutigen Republik, oder das Preuen der

    Junkerherrschaft

    zu Beginn der Neuzeit mit dem

    heutigen konstitutionellen Staat: welcher ungeheure Unterschied in der Lebensdauer, der geistigen

    Bildung und Freiheit, dem Geschmack, dem Wohlstand, der politischen Kraft, dem Brgersinn, bis

    herab zum Ertrag der cker, der sich verdreifacht und vervierfacht hat, und zum Ertrag der Ge

    werbe, der sich verhundertfacht hat

    Und vergleichen wir z. B. die heutigen Vereinigten Staaten mit dem heutigen Ruland. Wir ha

    ben zwei ungeheure Gebiete von fast gleicher Volkszahl und Ausdehnung, beide vom Polargebiet

    bis in die Subtropen erstreckt, beide mit den gleichen Naturschtzen: Eisen, Petroleum, Kohlen,

    Holz, Gold usw. verschwenderisch ausgestattet, beide mit natrlichen Binnensdiiffahrtsstraen,

    vermittelt durch ungeheure, meerhnliche Swasserseen, wie sie sonst kaum auf diesem Planeten

    zu finden sind: zwei Objekte, die ein spttisch-wohlttiger Genius uns geradezu nebeneinander

    gestellt zu haben scheint, um sie zu vergleichen und aus dem Vergleich zu lernen, was Oligokratie

    und Demokratie leisten knnen. Denn unendlich hoch, von jedem Gesichtspunkte der Bewertung

    aus,

    in geistiger und materieller Kultur, in Reichtum und Macht, im Glck seiner Bevlkerung,

    steht die Demokratie der NeuenWelt berder Oligokratie der Alten, noch vid hher ds das neue

    Frankreich berdem dten. Nichts spricht mehr dafr ds die Grundstimmung der Bevlkerung: in

    Ruland dumpfe Verzweiflung, Lebensflucht, Mystik und religiser Fanatismus, in Amerika ein

    berquellender Optim ismus, helle Lebensbejahung, Feuer und Kraft.

    Gewi, es gibt, um von dem stark oligokratisch beherrschten Preuen-Deutschland zu schwei

    gen,noch Schden und Schwren genug, auch in diesen beiden demokratisch am weitesten vorge

    schrittenen Grostaaten Frankreich und Amerika. Namentlich in den Vereinigten Staaten beklagen

    wir eine ausschweifende Plutokratie, Bestechlichkeit der Beamten, Mibrauch des Parlaments fr

    die schamlose Ausbeutung der Konsumenten, grausamsten Raubbau an den Arbeitern, die zu My

    riaden dem Dollar hingeopfert werden.

    Gewi,

    und es gibt gtige und kluge Mnner genug, die gerade durch diese traurigen Tatsachen

    an dem Ided der Demokratie irre geworden sind, die jetzt der Meinung zuneigen, da so schwere

    Ausschreitungen dort unmglich sind, wo eine straffe

    oligokratische

    Autoritt die individuelle

    Raubgier im Zaume

    bjdt.

    Wenn wir diesen Mnnern erwidern wollten, da diese Ausschreitungen nur dadurch zu erkl

    ren sind, da jene Demokratien eben noch keine vollenAkratien sind, da sie namentlich dieBo -

    Demokratie

    425

    densperre ds Erbschaft der Vergangenheit bernommen und in ihrer Verfassung und ihrem brger

    lichen Rechte sanktioniert haben, so sind sie berechtigt, diese Beweisgrnde abzulehnen. Sie knnen

    sagen, da z. B. in Amerika die Demokratie wenigstens politisch durchgefhrt ist, und da man,

    wredasPrinzip richtig, davon bessere Ergebnisse fordern drfte.

    Man kann versuchen, diesen Einwand durch das Mittd einer sehr ausgebreiteten historischen

    und statistischen Vergleichung zu widerlegen. Man kann zeigen, dadieNationen der Geschichte

    und Gegenwart dem Ided der Leistungsfhigkeit und des allgemeinen Kulturglckes um so ferner

    standen und stehen, je weniger, um so nher, je mehr demokratische Elemente ihre Verfassung und

    Eigentumsverteilung enthidt und enthlt. Man kann zeigen, da in oligokratischen Staaten eine

    noch vid greulichere Korruption und Miwirtschaft, ein noch viel grausamerer Raubbau an der

    Volkskraft die Regel war und ist, ds sie in Amerika angeblich bestehen. Man denke an die sprich

    wrtliche Kuflichkeit des englischen Unterhauses in einer lang vergangenen Zeit, in der eine sehr

    kleine Schicht allein wahlberechtigt war, an die grauenhafte Korruption, die immer noch ganz

    Ruland verwstet, an die Korruption des Kirchenstaates, an die Wahlmanver und Massenbeste

    chungen im feudalen Gdizien und Ungarn. Und man denke an den nie wieder, wenigstens im

    Westen, erreichten Raubbau an der englischen Volkskraft whrend der ersten Dezennien der kapi

    talistischen Entwicklung, an die furchtbare Sterblichkeit namentlich der Suglinge, an die Herab

    pressung der gesamten niederen Bevlkerungsschicht auf den Kulturzustand von weien Hottentot

    ten:

    alles das sind Erscheinungen, die erst gemildert wurden durch die vorschreitende Demokratisie

    rung der Verfassung; man denke an die Kindersklaverei im oligokratisch beherrschten, monarchisch

    regierten Unterhalten und Sizilien, an die Hlle der Schwefelbergwerke und das Inferno der Reis

    felder und, wenn von Korruption gesprochen wird, an Camorra und Mafia. Und man hdte dage

    gen,

    da in den dem demokratischen Ided am meisten angenherten Staaten der Welt, namentlich

    im freien Kanada und in dem australischen Comm onwed th, vor dlem in Neuseeland, aber auch in

    den meisten Kantonen der dtdemokratischen Schweiz und durchaus im sehr demokratischen Nor

    wegen, trotz seiner natrlichen Armut, dlgemeiner Wohlstand, hohe Kultur, reges politisches

    Verstndnis, opferfreudiger Brgersinn und die erfreuliche Gesundheit und Langlebigkeit einer

    kraftvollen Rasse besteht.

    Aber, das mgen alles starke Beweisgrnde sein: durchaus berzeugend sind sie nicht, nament

    lich nicht fr den, der nicht berzeugt werden will. Ein hartnckiger Gegner knnte erklren,die

    Extreme seien gleich schdlich, eine unkontrollierte Klassenherrschaft nicht minder ds eine unkon

    trollierbare Pbelherrschaft; die Wahrheit hege auch hier in der Mitte; das Ided sei eine durch eine

    starke Autoritt gezgelte und gemilderte Mitherrschaft nur der gebildeten und besitzenden Mas

    sen. Und jene Erfahrungen aus den Kolonien bewiesen nur, da dort gnstige Verhltnisse beste

    hen,wo noch eine groe terra libera den Nachwuchs der Bevlkerung aufnehmen knne.

    Hier ist nichts Entscheidendes zu erreichen, Meinung steht gegen Meinung. Und darum ist es

    gut, da man ein strkeres und nach meiner Meinung schlagendes Argument beibringen kann, das

    den Streitfall erledigt. Es lt sich beweisen,

    daan denSchdend erheutigen demokratischen Staaten

    nichts anderes die Schuld trgt als dieoligokratischenStaaten.

    Herbert Spencer sagt ein md in seiner Ethik, man knne in einer unvollkommenen Gesellschaft

    keinen vollkommenen Menschen erwarten. Dasselbe gilt im greren Kreise: man kann in einer

    unvollkommenen Staatengesellschaft keinen vollkommenen Staat erwarten.

    Die internationden Einflsse auf die Entwicklung der Demokratie sind bisher nie ausreichend

    beachtet worden. Ich mchte das an den beiden groen" Beispielen zeigen, die regelmig ds

    unwiderlegliche Beweise fr die Verderblichkeit der Freiheit angefhrt werden: an der Entartung

    der franzsischen Revolution von 1789, und der heutigen plutokratischen Entartung der Vereinig

    ten Staaten.

    Was die erste anlangt, so scheint es mir nach sorgfltiger Erwgung dler Geschehnisse und Cha-

  • 7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

    7/9

    426

    Zweiter

    Teil: Staat,

    Natu.

    Hismus

    und Demokratie

    Demokratie

    427

    raktere ds nahezu sicher, da die Revolution von 1789 niemds zu den Schreckenstagen gefhrt

    htte, wenn die oligokratischen Nachbarstaaten sich nicht eingemischt htten. Die Verschwrung

    des Adds und Hofes mit den auswrtigen blutsverwandten Dynastien, die Angst und Em prung,

    die die Drohung der Invasion fremder Heerehervorrief tragen vor allem die Schuld daran, da die

    Marat und Robespierre ihre Gedanken und fixen Ideen dem Volke suggerieren konnten. Es ist sehr

    wahrscheinlich, da ohne dies die gemigten Elemente die Massen in der Hand behalten htten,

    zumd dann auch viele der schweren Schdigungen fortgefallen wren, die der Kriegszustand und

    schon die Kriegspanik mit sich fhrte: die Depression der Volkswirtschaft, die Gdd- und Kreditkri-

    sis mit ihrem Gefolge von Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend, und vor allem die Anhufung dieser

    Armen mit ihren Hungerdelirien in den groen Stdten, denen sie massenhaft zustrmten, und in

    denen sie das eigent lich gefhrliche, das feuergefhrliche Element darstellten,

    Wenn solche Zusammenhnge schon in der groen pragmatischen Geschichtsschreibung berse

    hen oder doch vid zu wenig beachtet werden: was soll man da erst dort erwarten, wo es sich um

    jene groen Unterstrmungen der Geschichte handelt, die sich langsam und unauffllig, ohne gro

    en Lrm und ohne die Mitwirkung .hervorragender* Persnlichkeiten vollzieh en Und doch lt

    sich, das meine ich beweisen zu knnen, zeigen, da auch der zweite Pfeil, den die oligokratische

    Weltanschauung auf die demokratische abzuschieen liebt, auf den Schtzen zurckprallt, sobdd

    man ihm den Schild der Erkenntnis der internationden Beziehungen entgegenhlt. Ich spreche von

    der amerikanischen Korruption und dem wsten amerikanischen Mammonismus.

    Md e man ihn so schwarz, wie man will - und unsere oligokratischen Theoretiker haben fr ihn

    zentnerweise schwarze Deckfarbe zur Verfgung, whrend sie die ungleich rgere russische Mi

    wirtschaft rosa zu rasieren versuchen -, die Oligokratie ist allein

    schuld

    daran, die Demokratie ist

    unschuldig.

    Die Vereinigten Staaten sind nur politisch, aber nicht konomisch ds Demokratie in die Ge

    schichte eingetreten. Die politische Freiheit derWashington-Verfassungging sehr wdt - aber das

    Recht derBodensperre hatte der Freistaat aus dem Mutterlande importiert, und mit ihm die Mg

    lichkeit der Klassenscheidung, des Grundrentnertums und des Kapitalismus und Mammonismus.

    Ja,

    sie hatten nicht nur das Recht, sondern auch die Praxis der Bodensperre mit

    bers

    Meer gebracht

    .Die

    Zeitgenossen Washingtons trieben*, so sagt Max Sering,

    .einen

    krmerhaften Handel mit dem

    Lande der Nation ." Die Verkaufsbedingungen bei der ffen ichen Versteigerung der Staatslnderei-

    en waren so gestellt, da nur die reichste Oberschicht kaufen konnte, quadratmeilenweise: klar

    gewollte Bodensperre, Absperrung aller rmeren, allen Nachwuchses, aller neuen Einwanderer von

    dem unerschpflichen Naturschatz des Landes, nur um sie zur Rentenzahlung an die Besitzer zu

    zwingen. Politisches Mittel in Reinkultur

    Und trotzdem: die gute Absicht wre dennoch milungen, es htte sich trotz alledem gezeigt,

    da im demokratischen Staate keine Ausbeutung mglich ist, wenn das Wachstum der Bevlkerung

    nur durch ihren eigenen Geburtenberschu erfolgt wre. Das Land ist von so ungeheurer Ausdeh

    nung, da es unter solchen Umstnden Jahrhunderte gedauert htte, bis das gesperrte Land wirklich

    dringlich gebraucht worden wre, und darum wre die Spekulation auf Grundrente klglich zu

    sammengebrochen. Denn ein Dollar auf Zins und Zinseszins macht schon in einem Jahrhundert

    eine so ungeheure Summe

    aus,

    da sie beim Verkauf niemals htte herauskommen knnen, und so

    htte die Konkurrenz der vielen Besitzer der groen Flchen um die wenigen Pchter und Ansiedler

    den Bodenpreis auf unabsehbare Zeit hinaus dicht an Null hdten mssen. Wo eine Bevlkerung gar

    nicht oder nicht im Verhltnis zur neu erschlossenen Hache wchst, kann der Bodenwert auch

    nicht durch Sperrung emporgetrieben werden; das sehen wir am heutigen Frankreich, dessen

    Pachtrenten so ziemlich feststehen, trotzdem die Ertrge des Ackers und Stalles fortwhrend wach

    sen; und das sehen wir z. B. auf dem Wohnungsmarkte von Gro-Berlin, wo die Mieten sdt zwan

    zig

    Jahren

    eher sinken, wenigstens im Verhltnis zu den gebotenen Bequemlichkeiten, weil die

    Konkurrenz der vielen selbstndigen Gemeinden viel mehr Bauland erschliet, ds selbst die stark

    wachsende Bevlkerung braucht.

    Trotz alledem ist in A merika die Spekulation der Bodensperrung glorreich gelungen. Wie war

    das mglich? Weil die Bevlkerung nicht langsam, sondern ungeheuer schnell wuchs, nicht nur

    durch ihren eigenen Bevlkerungszuwachs, sondern durch eine unendlich vid strkere Einwande

    rung und deren Geburtenberschu. Diese Einwanderung war die Ursache des Grundrentnertums

    und des Kapitalismus; die Bodensperre war nur ihre Bedingung. Und woher kam diese Massenein-

    wanderung? Aus dm Oligokratien

    Europas

    Aus den Lndern des Feudalismus und der extremen

    Bodensperre, aus dem da mds noch nichteinmdpseudodemokratischen Grobritannien zuerst, und

    hier vor allem aus dem unglcklichen, von einer kleinen Oligokratie auf das furchtbarste ausgeso

    genen Irland; dann aus Deutschland, und hier wieder vor allem aus dem von einer kleinen Feudal-

    oligokraticausgeplnderten Ostdeutschland; dann aus Itdien , aus Ruland und Ungarn, Galizien

    und Rumnien usw., kurz ausdienOligokratien der Alten Welt

    Etwa fnfundzwanzig Millionen Einwanderer, fast smtlich den

    unleren

    Volksschichten ange

    hrig, vorwiegend im krftigsten und vor allem im zeugungskrftigsten A lter, haben sich in einem

    einzigen, kontinuierlichen, imm er mehr anschwdlenden Strome seit dem Anfang des neunzehnten

    Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten ergossen, die gewdtigste Vlkerwanderung aller bisherigen

    Geschichte. Und sie selbst und ihre unzhligen Nachkom men haben jene Spekulation der frommen

    demokratischen" Pilgervter zu Ehren gebracht, haben die ungeheuren Landwerte geschaffen, die

    sie sdbst jhrlich zu verzinsen gezwungen sind.

    D ie

    Klassenstaaten

    der Alten

    Welt haben

    den Klassen

    staat der

    Neuen Welt

    geschaffen

    Die O ligokratie der Heimat hatte ihnen die Heim at verleidet, denn

    es war die Unterschicht berdl, es war der Arbeiter und der landarme kleine Bauer, die ber den

    Ozean zogen , und nicht der Edelmann, der Grokaufmann und der hohe Beamte.

    Htte nicht das oligokratische Bodenrecht bestanden, die Demokratie htte sdbst diese ungeheu

    re Menschenflut glatt aufgenommen und akklimatisiert. So aber gab es und gibt es schwere Stok-

    kungen, namentlich seit das Werk der Bodensperrung von Ozean zu Ozean ganz durchgefhrt ist.

    Jetzt dauert es eine, zwei Generationen, bis die Einwanderer und ihre Nachkommen gengend

    amerikanisiert und zivilisiert sind, um sich aus der Umklammerung durch den Kapitalismus heraus

    zuarbeiten: aber an den neuen Ankmmlingen, diesen

    .Tieren

    ohne Sede", namentlich in neuester

    Zeit an den armseligen Flchdingen aus Mexiko und Ruland, diesen zu Sklaven erzogenen Kulis,

    die der Sprache und der Sitten der neuen Heimat nicht mchtig sind, mstet sich der Mammonis

    mus in Orgien, die Hekatom ben ber Hekatomben verschlingen, in einem Raubbau von frchterli

    cher Brutalitt.

    Was aber ist die Ursache dieses Kapitalismus, dieses unerhrten Mammonisimus und der mit

    ihm verbundenen kolossden ffenichenKorruption?

    Nichts anderes

    als die

    gleiche Masseneinwanderung aus

    de n

    gleichen europischen

    Oligokratien/

    Der

    Kapitalismus ist unmglich ohne die Verfgung ber massenhafte freie", d. h. vermgenslose Ar

    beiter. Ohne die frhere Einwanderung solcher Arbeiter in Massen htte in Amerika niemals ein

    Kapitdismus entstehen knnen;ohne

    d ie

    Fortdatier dieser Einwanderung wrde

    er auf das

    schnellste

    zusammenbrechen Stellt euch vor, da nur ein Jahrzehnt, vielleicht nur ein einziges Jahrfnft hin

    durch der Strom der Einwanderung versiegt, der heute jhrlich rundeine Millionvon Kulis an den

    .ulantischen Strand wirft, und fragt, was nach Ablauf dieser Zeit aus dem amerikanischen Kapita

    lismus und der amerikanischen Korruption geworden ist Die Lhne der Arbeiter sind bei dem

    sinkenden Angebot enorm gestiegen und steigen weiter, weil der steigende Lohn eine stark steigen

    de Nachfrage nach Gewerbeerzeugnissen und d. h. schlielich nach Arbeitern hervorruft. Die Ge

    werkschaften, schon heute sehr mchtig, sind bermchtig geworden und setzen den niedergewor

    fenen Trusts das Knie auf die Brust und den Daumen aufs Auge. D ie Profite fdlen , w eil die Lhne

    steigen, und fallen noch mehr, weil die Gewerkschaften die Herren der Lage sind. Die Reservear-

    l

  • 7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

    8/9

    428

    Zweiter

    Teil: Staat,

    Nation*. Jmus und Demokratie.Jnnu

    Demokratie

    Taxeder Arbeitslosen ist aufgesaugt, die sweating shops und slums sind entleert: wo finden die Bosse

    vo n

    Tammany-Hall

    jetzt noch die Massen hungernder und verzweifelter Kulis, die fr einen Dollar

    ihre Stimme verkaufen? Und wie sollten die Trustmagnaten noch Millionen von Dollar aufbringen

    knnen, um Stimmen zu kaufen, wenn die Profite so tief sinken?

    Was ist also die amerikanische Korruption und der amerikanische Mammonismus? Einfach die

    Folge davon, da die amerikanische Demokratie" noch keine vollkommene Akratie ist, und da

    sie infolgedessen nicht imstande war und ist, die ungeheure Zuwanderung europischer Kulis

    schnell genug politisch und konomisch zu verdauen. Stellt man sich die Schpfung Washingtons

    und Franklins als aus ihren internationden Beziehungen isoliert vor, so funktioniert sie ohne Tadel,

    trotz dem schweren Fehler ihrer Verfassung, dem antidemokratischen Bodenrecht.

    Ist es, unter diesem Gesichtspunkt, nicht genau die Fabel vom Wolf und dem Lamm, wenn heute

    der Oligokrat dem Demokraten die Trbung des ffentlichen Wassers in den Staaten vorwirft? Er

    steht oben am Strome der verhngnisvollen Wanderbewegung der Massen, er allein hat de ver

    schuldet - und beschuldigt das Lamm unten Welche unverschmte Zumutung an die Demokratie

    ist es, da sie in

    einem

    Jahrhundert den in Jahrtausenden der Gewdt und der skrupellosen Anwen

    dung des politischen Mittels verseuchten Boden der ganzen Kulturwelt sanieren soll Da sie unge

    zhlte Millio nen von Sklaven und Hintersassen im Handumdrehen in Brger verzaubern soll Was

    die unvollstndige amerikanische Demokratie unter diesen Umstnden dennoch geleistet hat, ist ein

    Werk von unerhrter Groartigkeit.

    Begreift man jetzt, warum die Mnner der groen Revolution von 1789 den Krieg ber die

    Grenzen tragen

    muten)

    Sie hatten verstanden, da eine Demokratie nicht gesund bleiben kann,

    solange aus dem Pestherde der benachbarten Oligokratien die Ansteckungskeime

    ber

    die Grenzen

    stieben. Wenn es in einer unvollkom menen Staatengesellschaft keinen vollko mmen en Staat geben

    kann, so ist die Aufgabe der Demokratie klar vorgeschrieben: sie mu eine

    demoeratia

    militans

    werden, um dieWeltund damit sich selbst auf die Dauer zu sanieren und zu sichern.Internationale

    politischeHygiene,das ist

    das

    Programm der nchsten Zukunft.

    So viel von der Bewertung der Demokratie am ersten unserer Mastbe, dem der praktischen

    Leistung.

    Wie steht es nun uro ihre Sache vor dem zweiten Richterstuhl, dem Oberappellationsgericht der

    Menschheit,

    dem Sittengesetz?

    In der Regd wird der Streit zwischen Oligokratie und Demokratie so aufgefat, ds handle es

    sich um ethisch gleichwertige Anschauungen, etwa wie bei dem Meinungskampf zwischen den

    Anhngern Darwins und denen Lamarcks oder zwischen den Realisten und Idedisten in der Philo

    sophie. Dieser Indifferentismus wird nur noch gesttzt, wenn man den Streit im Lichte der Sozio

    logie betrachtet, diese Wissenschaft in ihrer engeren Bedeutung gefat, ds reine, kausal verbindende

    Seinswissenschaft. Sie zeigt uns, da von Anbeginn des

    Staatdebens

    an sich die gleichen beiden

    Gruppen- bzw. Klassentheorien gegenberstehen: der oligokratische .Ugitimismus" oben und das

    demokratische

    N arurrechl"

    unten, die gleichen beiden Theorien, die in den Staaten aller Zeitdter,

    Klimate und Rassen immer dieselben charakteristischen Zge aufweisen. Der Legitimismus recht

    fertigt berall die Herrschaft und Ausbeutung damit, da die Herrengruppe von besserer Art oder

    Rasse sei ds die Gruppe der Untertanen. Jene bese allein die Begabung, die von ihnen gegrnde

    ten Staaten sicher durch alle Klippen zu steuern; ja, ihre Herrschaft sei das einzige Mittel, um die

    Untergruppe vor dem schwersten Schaden zu bewahren; denn diese bestehe aus so schlechten,

    trichten und charakterschwachen Elementen, da der Krieg aller gegen alle losbrechen mte,

    liee die Herrenklasse die Zgel aus der Hand.

    Dagegen erklrt die naturrechtliche Auffassung der Unterklasse berall den Adds- und Rassen

    stolz der Oligokratie fr lcherliche Anmaung und behauptet, die Unterklasse sei mindestens

    ebenso fhig, den Staat zu lenken; erst die volle Durchfhrung der Demokratie verbrge das hch-

    429

    ste Glck der Gesamtheit, das unter der Oligokratie schwer verkrzt werde. Wenn m an diese bei

    den Auffassungen gegeneinanderstellt, so scheint es auf den ersten Blick unmglich, sich fr eine

    von beiden zu entscheiden. Sie erscheinen ethisch gleichwertig, erscheinen beide ds Ausdruck des

    grundstzlich gleichen Klassenegoismus. Und so hrt man denn auch oft genug, da das Naturrecht

    verchtlich mit dem Ausdruck Sklavenphilosophie" abgetan wird.

    Dennoch enthllt sich bei nherer Betrachtung die Erkenntnis, da die beiden Bekenntnisse sich

    doch in einem Punkte wesendich unterscheiden: der Legitimismus ist eine ausschlieende, das Na

    turrecht eine einschlieende politische Theorie. Jener verweigert der Mehrheit der Brger das poli

    tische Mitbestimmungs- und Selbstbestimmungsrecht - dieses mag vielleicht den Adel verwerfen,

    aber es ist seinen Anhngern niem ds in den Sinn gekomm en, den Spie umzukehren und den Adli

    gen die Brgerrechte zu verweigern.

    Dieser Unterschied wchst aus der tiefen Wesensverschiedenheit der beiden Anschauungen. Der

    Legitimismus der Oberklasse widerspricht dem Sittengesetz, das Naturrecht ist seine Verwirkli

    chung.

    Hier, w o es sich nicht mehr um Verknpfungen von Ursachen und Wirkungen handelt, sondern

    um Wertmastbe und Wertungen, hat nicht mehr die Seinswissenschaft der Soziologie das Wort,

    sondern die Sollwissenschaft der Sozidphilosophie. Vor ihr Forum allein gehrt der groe histori

    sche Streit, der uns beschftigt. Und er liegt so klar, da wir voller Vertrauen dem Gegner selbst

    seine Entscheidung berlassen drfen.

    Denn in jedem Menschen, er sei denn geistes- oder gemtskrank, auch in dem Oligokraten,

    spricht laut und unzweideutig das

    Sittcngesetz

    ds kategorischer Imperativ:

    .Handle

    so, da dein

    Handeln die Maxime

    dien

    Handelns sein knnte" - oder Du sollst niemanden tun, was du nicht

    wollen kannst, da andere dir tun." Dieses Sittengesetz wird tglich und stndlich unzhlige Md e

    verletzt, wir wissen es gut genug; unzhligeMdewerden tglich und stndlich Menschen von ande

    ren Menschen beraubt und ausgebeutet, geschdigt und beschmt: aber niemds geschieht das ohne

    Verbeugung vor dem Imperativ D. h.: Niemand, er sei denn ein Kranker, wird jemd s zu behaupten

    wagen, Raub und Ausbeutung, Schdigung und Unterdrckung seien an sich gut, seien an sich

    Recht, sondern er wird immer eine Entschuldigung vorbringen, wenn er dem Imperativ nicht

    ge

    horcht. Er wird bestreiten, da die bemngelte Handlung dem Sittengesetz widerspreche, od er er

    wird, wie unsere Nietzscheaner und Soziddarwinisten, behaupten, die Ausbeutung der Gegenwart

    sei eine bittere Notwendigkeit, ein notwendiges Opfer fr das hhere Glck der Zukunft, etwa fr

    die Erziehung des bermenschen oder die Vervollkommnung der Rasse; - oder er wird schlielich

    behaupten, es handle sich um die schmeizlicheWahl zwischen zwei beln, der Anarchie auf der

    einen und der Herrschaft mit dl ihrer zugestandenen Ausbeutung und Unterdrckung auf der

    anderen Seite: aber niemand wird, wir wiederholen es,jemdszu behaupten wagen, die Ausbeutung

    sei an sich kein bel, sondern ein Gut.

    Nieman d wird es wagen, auch nicht der verbissenste Oligokrat und Legitimist. U nd mehr brau

    chen wir nicht, um denStreitfdl zu entscheiden, ds diese sehr wider Willen erfolgende Zustim

    mung aller unserer mglichen Gegner zu unserem Prinzip. Sie knnen nicht bestreiten, da die

    Oligokratie vor dem Sittengesetz unter

    dien

    Umstnden ein bel ist, und werden sich damit be

    gngen mssen, zu erklren, es sei leider ein notwendiges bel. Und sie knnen ebensowenig be

    streiten, da die Dem okratie oder besser: die Akratie vor dem Sittengesetz unterdien Umstnden

    ein Ided ist; nur da sie sagen werden, es sei leider ein unerreichbares Ided.

    Und darum sind wir berechtigt, mit

    dien

    Krften zu protestieren, wenn man uns zu sagen ver

    sucht, bei dem Kampfe zwischen Oligokratie und Demokratie .stehe Ided gegen Ided". Nichts

    kann fdscher und gefhrlicher sein. Die Oligokratie ist ohne Z weifel eine Verletzung des Sittenge

    setzes, die Demokratie in ihrer Vollendung ist ohne Z weifel seine Erfllung. Jene ist die ds Recht"

    und Verfassung kodifizierte Ungerechtigkeit, diese die vollendete Gerechtigkeit; jene das Recht des

    Jl

  • 7/24/2019 Oppenheimer, Franz - Demokratie (1914)

    9/9

    43

    lonafisn

    weiterTeil: Staat Nationalismus

    un

    emokratie

    politischen Mittels, diese das Recht des konomischen Mittels; jene die Gewdt und gewdtsame

    unentgolteneAneignung, diese die friedliche Arbeit und der gerechte Verkehr.

    Viele der Besten unserer Zeit fhlen den Glauben an die Demokratie, den beglckenden Glau-

    ben an eine Zukunft des Glcks und der Gerechtigkeit, in sich erschttert und leiden bitterlich

    darunter. Es ist meine tiefste berzeugung, da diese Zweifel und diese Verzweiflung

    keinen

    Grund haben. Was uns heute krnkt und beleidigt, die Ausschreitungen und bertreibungen, der

    laute Lrm des M arktes und der Rednertribnen, diePhelhaftigkcitdes Kampfes und die Niedrig-

    keit der nchsten Z iele, der Phrasenschwulst der Demagogen und der Schacher hinter den Kulissen

    der Politik - dasdiessind Zeichen einer Krisis, die der Menschheit nach langer schwerer Krankheit

    die Heilung bringt. Lassen wir uns nicht irre machen Am nchichenSturmhimmel unserer Zeit

    strahlt unverrckbar durch die Wolken hindurch ein heller Stern erster Gre, der Polarstem,

    nach dem wir fehllos das Schiff der Gesellschaft neuem knnen, den wir niemds aus den Augen

    verlieren sollen, - das hchste und heiligste Ided der Menschheit, die Verwirklichung aller Gerech-

    tigkeit, die Erfllung des Sittengesetzes, die Befreierin, die Sttigerin, die Beglckerin, die Erhebe-

    rin: die Demokratie.


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