Im Rückblick auf die interdisziplinäre Tagung „Public!Debatten über Bibliotheken und urbane Öffentlichkeit“ imFebruar 2018 in der Münchner Stadtbibliothek möchte ichdie von Sonja Beeck gestellte Frage: „Sind Bibliothekeneher Straßen als Wohnzimmer?“ weiterdenken. Das drittePublic!-Symposium im Februar 2019 beschäftigte sich mitden Herausforderungen für Kulturinstitutionen, die durchgesellschaftliche Veränderungen und digitale Transforma-tion in die Organisationen selbst einwirken. Diese Frage-stellung wird im folgenden Text mitgedacht.
Die Grundelemente der Stadtstruktur bilden Gassenund Straßen als Bewegungsräume sowie Plätze als Auf-enthaltsorte und Erlebnisräume. […] Eine Straße signali-siert Bewegung und scheint zu sagen: „Geh, geh, geh“,während der Platz sagt: ‚,Bleib und schau, was passiert!“
Jan Gehl
Der Stadtplaner Jan Gehlbeschäftigt sich seit mehrals 40 Jahren mit demmenschlichen Maß derStädte. Er wendet sich de-zidiert von der modernisti-schen Stadt ab und propa-giert die integrierte Stadt-planung, die Verkehrswegeund Flächen für Fußgän-ger berücksichtigt, um le-bendige, sichere, nachhal-tige und gesunde Städtezu schaffen. Als literari-schen Leitsatz für die Ge-staltung einer lebenswer-
ten Stadt zitiert der populäre Däne die Edda: „Der Mensch istdes Menschen größte Freude“ und nimmt in seiner philantropi-schen Arbeit das „Unter die Menschen gehen“ als buchstäblicheChance für direkte Begegnungen.
Vieles, was Jan Gehl über die Entwicklung der Stadt als Ortder Wechselwirkungen und des Zusammenspiels sagt, ist gutauf Bibliotheken übertragbar - und wirkt mittlerweile fast wieein Allgemeinplatz. Trotzdem: Es lohnt sich, Allgemeinplätze zuwiederholen und Stadtbibliotheken als Orte des Wechselspielsvon Alltag und Muße, von menschlicher Begegnung, als wirtli-che, belebende und prägende öffentliche Räume in einer Stadt,in einem Stadtteil zu beschreiben.
Gegen den Strich lesen
Die Bibliothek als Straße zu betrachten, als Ort der Bewegungund der Elastizität, kann helfen, die bestehenden Sichtweisenauf Nutzerinnen und Nutzer und ihre Bedürfnisse zu überprü-fen und Handlungsmuster, sei es in Bezug auf (Landschafts-)Architektur, sei es in Bezug auf Zielgruppen, Bestand oder Pro-grammgestaltung zu hinterfragen. Welche Geschichten wer-den in der Bibliothek bereits erzählt und welche noch nicht?Wer ist Teil der Erzählung, wer erzählt noch nicht? Ist die Biblio-thek selbstverständlicher Teil eines lokalen Bewegungsmus-ters?
Gerade für öffentliche Bibliotheken empfiehlt sich, die vonErol Yildiz in seinem Aufsatz „Stadt, Migration und Vielheit.Vom hegemonialen Diskurs zur Alltagspraxis“ aufgezeigte, im-mer noch wirkende dualistische Trennung zwischen „Einheimi-schen“ und „Fremden“ in der eigenen Stadt in den Blick zu neh-men und dahingehend die konkrete Verortung und Kooperati-
FORUMBIBLIOTHEKSPOLITIK
Offene Bibliotheken, urbane Öffentlichkeit. Teil 2: Bibliothek als StraßeWelche offenen Kulturräume braucht die Stadt? Welche neuen Akteurinnen
und Akteure der Stadtgesellschaft treten auf den Plan und fordern selbstverständ-
lich Mitgestaltungsmöglichkeiten ein? Ist die Perspektive derer, die die Städte
schon immer formen und charakterisieren – die der Zugezogenen und der Neu-
ankommenden – ausreichend in den Bibliotheken abgebildet? Brauchen Bibliothe-
ken grundsätzlich mehr Unterstützung durch Politik und Kommunen, um ihren
Beitrag angesichts des rasenden Wandels in der Gesellschaft weiter gut zu leisten?
Von Anke Buettner
Geraden und Kurven,
Transparenz und Opazität:
Die Königliche Bibliothek in
Kopenhagen / Dänemark
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BIBLIOTHEKSFORUM BAYERN 13 | 2019
onspraxis der Bibliotheken in den Stadtvierteln zu hinter-fragen. Die als Straße gedachte Bibliothek wird vor demHintergrund der Diskussion um Mobilität und Migrationnoch mehr zu dem elastischen Ort, der aktuelle Identitätund Geschichte aufnimmt, verbindet und Ambivalenzenaushalten kann. Als Straße gedacht, lässt die Bibliothekjungen wie alten Nutzerinnen und Nutzern wesentlichmehr Möglichkeiten, sich Räume aufzuteilen und damitAbstand und Nähe situativ selbst zu bestimmen. Klassifi-zierende Zuordnungen werden im fluiden Gedankenraumder Straße automatisch aufgebrochen und immer neu vonaußen zur Diskussion gestellt.
Bibliothek als weiße Fläche
„Parallel zum Fortschreiten der vernetzten technischenSysteme und der Smart Technologies erlebt ausgerechnetdas Selbermachen eine gesellschaftliche Renaissance“,analysiert die Münchner Soziologin Christa Müller in ih-rem Aufsatz „Anmerkungen zur produktiven Aneignungdes öffentlichen Raums“. Gleichzeitig stellt sie fest, dasssich eine wachsende Zahl junger Akteurinnen und Akteureauf der Suche nach Souveränität und Gestaltungsmachteinem nachhaltigen Lebensstil und recht praxisorientier-ten Alternativen zur Wohlstandsgesellschaft zuwendet.
Sie nutzen, so Müller, den öffentlichen Raum als Bühne,um unerwartete Konstellationen und Kooperationen her-zustellen. Sie befördern das Teilen und Tauschen, die Wie-deraneignung handwerklicher Fähigkeiten, den milieu-und kulturübergreifenden Austausch und fordern denfreien Zugang zu Räumen, Daten und der Stadt als solcher.Die Aktivistinnen und Aktivisten wollen mit ihrer Umge-bung unmittelbar in Kontakt treten, was sich laut ChristaMüller auch im erfolgreichen Verwandeln vernachlässigterOrte in Eigenregie und mit breiter Beteiligung aus dem je-weiligen Stadtviertel manifestiere.
Kollektive Räume
Interessant ist, dass Müller die Hauptakteurinnen und-akteure als der „Generation Y“ zugehörig charakterisiert.Diese Generation ist nach 1980 geboren, technologieaffin
und ökologisch sensibilisiert, hochgradig vernetzt und gutausgebildet. Sie ist als erste Generation in demokratisier-ten Sozialitäten aufgewachsen. Spannend ist Müllers Er-kenntnis, dass diese Generation „das im Internet prakti-zierte Teilen von Kenntnissen und der hieraus resultieren-den Wirksamkeitserfahrung in analoge Räume migriert“.
Die Generation Y geht die Umgestaltung von Gesell-schaft und die Neuinterpretation der Gegenwart relativunideologisch an. Sie arbeitet in und an Projekten, die siefür sich explizit als offene, generationenübergreifendeLern- und Bildungsräume definiert. Christa Müller hebt imweiteren darauf ab, dass die jungen Akteurinnen und Ak-teure ihre kollektive Herangehensweise als Reaktion aufdie radikalen Individualisierungsprozesse unserer Zeit be-trachten und sie als Mittel sehen, um Handlungsspielräu-me räumlich und sozial zu erweitern.
Abgesehen vom Fakt, dass sich nicht nur die Generationder nach 1980 Geborenen in Bibliotheken engagiert undaufhält, möchte ich die öffentliche Bibliothek als einzigeKultur- und Bildungsinstitution positionieren, die diesen„kooperativen Modus Vivendi“ und diese Elastizität ins Di-gitale in sich trägt. Die Öffentliche Bibliothek findet ihreEntsprechung im kollektiven Raum, der Handlungsspek-tren von Einzelnen wie Gruppen sozial bereichert. Sie sindexplizit schwellenarme Wissens- und Kulturräume, in de-nen sich Menschen mit unterschiedlichen Interessen und
Manche in Bewegung,
andere verharrend:
Die Straße als Ort
der Begegnung
Nicht-Ort oder Kathedrale?
Der New Yorker Bahnhof
The Oculus
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FORUMBIBLIOTHEKSPOLITIK
Kenntnissen selbst schulen, sich helfen oder zumindestaufeinandertreffen. Als nichtformale Bildungseinrichtun-gen sind öffentliche Bibliotheken im Vergleich nahezu hie-rarchiefrei. So garantieren sie den freien Zugang zu Infor-mationen und damit auch die Möglichkeit zur eigenen Re-flexion über Vergangenheit und Gegenwart.
Gedehnte Gegenwart
Es ist kein Zufall, dass Bibliotheken im Zuge der Digitali-sierung im eigenen Programmangebot und in Kooperationmit Vereinen, NGOs und nichtkommerziellen Initiativendas Engagement von (ehrenamtlichen) Spezialistinnenund Spezialisten fördern, um fehlende technische und di-gitale Vertrautheit der Bürgerinnen und Bürger gemein-sam abzubauen. Es ist kein Zufall, dass Veranstaltungsfor-mate Konjunktur haben, die den Austausch von vielseitiginteressierten und involvierten Menschen ins Zentrumstellen. Die Bibliothek ist eine Fundgrube an direkten Er-fahrungen. Sie kann gerade in Stadtvierteln und Gemein-den soziale Lebenszusammenhänge über viele Jahre be-gründen und öffentliche Räume jenseits von Definitionen,Wachstums- oder Erfolgsorientierung erhalten.
Öffentliche Bibliotheken ermöglichen außerdem denunerhörten Luxus des Sich-in-der-Zeit-Verlierens; anstelleder permanenten Gedrängtheit steht das Gefühl der ge-dehnten Gegenwart jenseits jeder Effizienzerwartung. Bi-bliotheken sind nicht (nur) geprägt vom Gestus des Be-wahrens, der Commons-orientierte Umgang mit Freiräu-men ermöglicht Bibliotheksbesucherinnen und –besu-chern vor allem qualitative Formen der Begegnung mit an-deren in einem explizit nicht-kommerziellen, durch unddurch öffentlichen und sich ihrer Bedürfnisse anpassen-den Raum.
Kommunales Statement
Selbstverständlich kommt auch Christa Müllers Analysenicht ohne den Hinweis auf die wachsende existenzielleVerunsicherung der Menschen durch die Auflösung derbekannten Erwerbssysteme aus. Weil diese Furcht auch inder fortschreitenden Privatisierung der öffentlichen Da-seinsvorsorge gründet, sind die Kommunen gefordert,Antworten zu finden und die Menschen in ihrem Sein auf-zufangen. Öffentliche Bibliotheken eignen sich besondersals klares kommunales Signal an die Verunsicherten.
Gute Räume, lange Öffnungszeiten, ausreichend Perso-nal, hervorragende technische Voraussetzungen, zeitge-mäßes verleihbares Gerät wie Notebooks, Tablets, WLAN-Router wären wichtige Beiträge zur Chancengleichheitund zur psychischen und finanziellen Entlastung vielerMenschen, die sich durch die Deregulierung von Arbeits-verhältnissen und Beschäftigungsformen selbst organisie-ren und unbesehen ihrer Wohnverhältnisse und Geldbeu-tel eigene Arbeitsplätze einrichten und soziale Beziehun-gen erhalten müssen.
Das Verständnis von öffentlichen Bibliotheken als weißeFläche, als empathischer Raum, der Identifikation stiftetund den „Spirit der Stadt“ immer wieder neu zum Aus-druck bringt, ist unerlässliche Einsicht für mehr Geld undfinanzielle Ausstattung dieser Kultur- und Bildungsein-richtung. Die zukunftsgerichtete, großzügige Förderungder öffentlichen Bibliotheken als öffentlicher Raum wärefür mich letztlich ein Statement der Kommunen für ihreBürgerinnen und Bürger und den Wert von umfassenderTeilhabe, freiem Austausch und barrierefreiem Zugang zuKultur, Wissen und Informationen.
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Rhetorische Rückeroberung
des öffentlichen Raums:
Graffiti in London
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Literatur:
Gehl, Jan: Städte für Menschen, Jovis Verlag, Berlin 2015.
Müller, Christa:Anmerkungen zur produktiven Aneignung des öffentli-chen Raums. In: Jürgen Krusche (Hg.): Die ambivalenteStadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums,S. 88-101, Jovis Verlag, Berlin 2017.
Yildiz, Erol:Stadt, Migration und Vielheit. Vom hegemonialen Dis-kurs zur Alltagspraxis. In: Jürgen Krusche (Hg.): Die am-bivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichenRaums, S. 62-78, Jovis Verlag, 2017.
Link:Public!-Programm 2018www.muenchner-stadtbibliothek.de//public/
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DIE AUTORIN:
Anke Buettner war von 2010 bis 2018 als Leiterin des Direktionsstabs für
die Gesamtleitung der Programm- und Öffentlichkeitsarbeit der Münchner
Stadtbibliothek verantwortlich. Sie hat als Kuratorin formatübergreifende
Festivals wie „Stimmen der Roma“, „Nordic Talking“ oder „Sta Ima!“ initiiert
sowie die interdisziplinäre Symposiumsreihe „Public!“ ins Leben gerufen.
Seit Januar 2019 leitet sie die Monacensia im Hildebrandhaus in München.
Die Bibliothek und der
Leseraum im Tenerife
Espacio de las Artes
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