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Objektive Erkennung kritischer Fahrsituationen von Motorrädern · Objektive Erkennung kritischer...

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Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen Fahrzeugtechnik Heft F 73 Objektive Erkennung kritischer Fahrsituationen von Motorrädern
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Page 1: Objektive Erkennung kritischer Fahrsituationen von Motorrädern · Objektive Erkennung kritischer Fahrsituationen von Motorrädern Fahrdynamikregelungen für Zweispurfahrzeuge haben

Berichte derBundesanstalt für Straßenwesen

Fahrzeugtechnik Heft F 73

ISSN 0943-9307ISBN 978-3-86509-944-0

Objektive Erkennungkritischer Fahrsituationen

von Motorrädern

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Berichte derBundesanstalt für Straßenwesen

Objektive Erkennungkritischer Fahrsituationen

von Motorrädern

Fahrzeugtechnik Heft F 73

von

Patrick SeinigerHermann Winner

Fachgebiet FahrzeugtechnikTechnische Universität Darmstadt

Umschlag F 73 07.12.1905, 20:11 Uhr2

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Die Bundesanstalt für Straßenwesenveröffentlicht ihre Arbeits- und Forschungs-ergebnisse in der Schriftenreihe Berichte derBundesanstalt für Straßenwesen. Die Reihebesteht aus folgenden Unterreihen:

A -AllgemeinesB -Brücken- und IngenieurbauF -FahrzeugtechnikM-Mensch und SicherheitS -StraßenbauV -Verkehrstechnik

Es wird darauf hingewiesen, dass die unterdem Namen der Verfasser veröffentlichtenBerichte nicht in jedem Fall die Ansicht desHerausgebers wiedergeben.

Nachdruck und photomechanische Wieder-gabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmi-gung der Bundesanstalt für Straßenwesen,Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit.

Die Hefte der Schriftenreihe Berichte derBundesanstalt für Straßenwesen könnendirekt beim Wirtschaftsverlag NW,Verlag für neue Wissenschaft GmbH,Bgm.-Smidt-Str. 74-76,D-27568 Bremerhaven,Telefon: (04 71) 9 45 44 - 0, bezogen werden.

Über die Forschungsergebnisse und ihreVeröffentlichungen wird in Kurzform imInformationsdienst BASt-Info berichtet.Dieser Dienst wird kostenlos abgegeben;Interessenten wenden sich bitte an dieBundesanstalt für Straßenwesen,Stabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit.

Impressum

Bericht zum Forschungsprojekt FE 89.253/2003Objektive Erkennung kritischer Fahrsituationen von Motorrädernim Hinblick auf eine Fahrdynamikregelung für Motorräder

ProjektbetreuungJost Gail

HerausgeberBundesanstalt für StraßenwesenBrüderstraße 53, D-51427 Bergisch GladbachTelefon: (0 22 04) 43 - 0Telefax: (0 22 04) 43 - 674

RedaktionStabsstelle Presse und Öffentlichkeitsarbeit

Druck und VerlagWirtschaftsverlag NWVerlag für neue Wissenschaft GmbHPostfach 10 11 10, D-27511 BremerhavenTelefon: (04 71) 9 45 44 - 0Telefax: (04 71) 9 45 44 77Email: [email protected]: www.nw-verlag.de

ISSN 0943-9307ISBN 978-3-86509-944-0

Bergisch Gladbach, August 2009

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Kurzfassung – Abstract

Objektive Erkennung kritischer Fahrsituationenvon Motorrädern

Fahrdynamikregelungen für Zweispurfahrzeugehaben in der letzten Dekade stark dazu beigetra-gen, die Getötetenzahlen im Straßenverkehr aufeinen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekanntenTiefststand zu senken. Die Getötetenzahlen beiEinspurfahrzeugen, speziell Motorrädern, sind imselben Zeitraum bei weitem nicht im selben Maßegesunken. Zwar existieren für Motorräder ABS-Bremssysteme und Antriebsschlupfregelungen,aber darüber hinausgehende technische Lösungenzur Stabilisierung des Motorrads sind nicht be-kannt.

Ziel dieser Arbeit ist es abzuschätzen, ob Fahr-dynamikregelungen für Motorräder einerseits tech-nisch möglich sind und andererseits zur deutlichenSenkung der Unfallzahlen von Motorrädern beitra-gen können.

Aus einer Analyse des Unfallgeschehens wurdenfür zukünftige Fahrdynamikregelungen unge-bremste Kurvenunfälle durch Überschreiten dermaximalen Querbeschleunigung und durch Reib-wertsprünge (wie beispielsweise glatte Fahrbahn-abschnitte, Sand, Öl, Bitumen und dergleichen) alsrelevante Unfalltypen identifiziert und als Haupt-szenarien für potenzielle Fahrdynamikregelsyste-me herangezogen. Ihr Anteil am Unfallgeschehenvon Motorrädern wurde mit etwa 4 bis 8 % abge-schätzt. Dazu wurden Motorradexperten nach ihrenbisher erlebten Unfällen befragt und die Unfälleeiner großen Unfalldatenbank im Detail untersucht.

Die beiden Grundszenarien wurden mittels Simula-tionen und Fahrversuchen hinsichtlich besondererErkennungsmerkmale untersucht. Dabei erwiessich die Schwimmwinkelgeschwindigkeit des Fahr-zeugs als robustes Kriterium zur Erkennung begin-nender ungebremster Kurvenunfälle. Ähnlich großeSchwimmwinkelgeschwindigkeiten wurden beieiner Vielzahl von unkritischen Fahrten nicht gefun-den.

Die Beeinflussbarkeit der untersuchten kritischenFahrsituationen wurde mit Hilfe eines Modells fürdie Fahrzeugbewegung während der kritischenFahrsituationen abgeschätzt. Eine Beeinflussungdes Rollmoments zum Aufrichten des Fahrzeugs istnicht möglich, da weder die Seitenkraft am Reifen

in diesen Szenarien, wie es erforderlich wäre, er-höht werden kann, noch realistisch dimensionierteKreisel diese Stabilisierung erbringen können. EineBeeinflussung der Schwimmbewegung ist hinge-gen technisch sinnvoll durch Veränderung der Sei-tenkräfte über Bremsschlupf an den Rädern dar-stellbar. Auf diese Weise kann eine Destabilisierungdes gleitenden Fahrzeugs beim Übergang vonNiedrig- zurück auf Hochreibwert vermieden wer-den. Damit lässt sich jedoch nur eine kleine Unter-menge der genannten Unfallszenarien günstig beeinflussen, sodass als Ergebnis dieser Untersu-chung das Potenzial von Fahrdynamikregelungenals recht gering einzuschätzen ist.

Detection of critical driving situations of motorcycles

Dynamic stability control systems for four-wheelershelped to decrease the traffic deaths to an all-timelow over the last ten years. However, the number ofpersons killed in powered two-wheeler accidentshas been almost constant over the same period oftime. Dynamic control systems for powered two-wheelers (especially motorcycles) so far includeonly anti-lock brakes and traction control systems.Further dynamic control systems are not known upto now.

The objective of this project was to assess thetechnical possibilities for future dynamic controlsystems and the amount of accidents that could beprevented by those systems.

From an accident analysis, accidents whilecornering without braking have been determined aspotenzially avoidable by future technical systems.The accidents can be caused by low friction (e.g.slippery road surface, sand, oil) or by raising thelateral acceleration over the possible maximum.About 4 to 8% of all motorcycle accidents are of thistype. For the accident analysis, motorcycle expertshave been questioned about their own accidentsand accidents from a major accident database havebeen examined.

Both accident types have been analysed withdriving experiments and computer simulation. Thevehicle sideslip angle speed proved to be a robust

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criterion for recognising whether a driving situationis critical.

With a model for the vehicle behaviour, thepossibilities for technical systems to influence thecritical driving situations can be estimated. The rollmovement of the vehicle can not be influenced,because neither the tire side force can beincremented nor stabilising gyroscops can be builtsmall enough. The vehicle sideslip angle speed canbe influenced by braking the front or the rear wheel,thus generating a yaw moment to avoid thedangerous high-side type accidents at friction stepsfrom low to high. The motorcycle accidentsinfluenced by this system are only a subgroup ofthe mentioned 4 to 8% of all accidents, so as aresult of this study, the potential for future dynamiccontrol systems is estimated quite low.

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Inhalt

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.1 Unfallgeschehen von Motorrädern . . . . 7

1.2 Besonderheiten der Fahrdynamik von Einspurfahrzeugen . . . . . . . . . . . . . 7

1.3 Stand der Technik sicherheits-relevanter Systeme für Motorräder . . . . 8

1.4 Motivation und Zielsetzung . . . . . . . . . . 9

1.5 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Unfallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2.1 Strukturierte Beschreibung von Motorradunfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2.2 Klassifizierung von Motorrad-unfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2.3 Abschätzung der Häufigkeit der Unfallklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2.3.1 Einflussfaktor Fahrer . . . . . . . . . . . . . . 12

2.3.2 Einflussfaktor Fahrzeug . . . . . . . . . . . . 12

2.3.3 Einflussfaktor Umwelt . . . . . . . . . . . . . . 14

2.3.4 Referenzdatenbasis . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.4 Abschätzung der Unfallschwere der Unfallklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2.5 Bewertung der Wirksamkeit einer Fahrdynamikregelung auf die Unfall-klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2.6 Expertenbefragungsmethodik . . . . . . . . 16

2.7 Auswertung von Detailunfallher-gängen der GDV-Datenbank . . . . . . . . 16

2.8 Auswertung der GDV-Datenbank für ein konkretes System . . . . . . . . . . . 17

2.9 Ergebnisse der Auswertung der MUD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

2.9.1 Vermeidbare Unfallklassen . . . . . . . . . . 17

2.9.2 Zusammensetzung der MUD . . . . . . . . 18

2.10 Vermeidbarkeit von Unfällen durch ein konkretes System . . . . . . . . . . . . . . 19

2.11 Fazit der Unfallanalyse . . . . . . . . . . . . . 20

3 Methodik und Werkzeuge . . . . . . . . . 20

3.1 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3.2 Versuchsmethodik . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3.3 Versuchsfahrzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3.4 Erforderliche Messgrößen . . . . . . . . . . 22

3.5 Numerische Simulation der Unfall-klasse „Reibwertsprung“ . . . . . . . . . . . . 22

3.5.1 Validierung des Simulationsmodells . . . 22

4 Motorradbewegung während kritischer Fahrsituationen . . . . . . . . . 24

4.1 Unfallklasse „Reibwertsprung“ . . . . . . . 25

4.2 Überschreiten der maximalen Querbeschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . 26

4.3 Beobachtete fahrdynamische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

4.4 Ergänzende Simulations-untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

5 Modellvorstellung der Bewegung eines gleitenden Motorrades . . . . . . . 29

5.1 Modellbildung und Koordinaten-systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

5.2 Bewegung des Fahrzeugs im Relativsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

5.3 Lagerung des Fahrzeugs . . . . . . . . . . . 32

5.4 Stabilität der Bewegungsgleichung für Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

5.5 Stabilität der Bewegungsgleichung für Schwimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

5.6 Vergleich der Modellvorstellungen mit Messdaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

5.6.1 Schwimmbewegung . . . . . . . . . . . . . . . 37

5.7 Rollbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

5.8 Übertragbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

5.8.1 Modellvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

5.8.2 Gleiches Massenträgheitsmoment in y- und z-Richtung . . . . . . . . . . . . . . . 38

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5.9 Einfluss des Reifenverhaltens auf die Fahrzeugbewegung in der kritischen Fahrsituation . . . . . . . . . . . . . 39

5.9.1 Einfluss auf den Übergang von Hochreibwert zu Niedrigreibwert . . . . . 39

5.9.2 Einfluss auf den Übergang von Niedrigreibwert zu Hochreibwert . . . . . 40

6 Erkennung kritischer Fahrsitua-tionen von Motorrädern . . . . . . . . . . . 41

6.1 Definition von Bewertungsgrößen für den Fahrzustand des Motor-rades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

6.1.1 Bestimmung der Schwimmgeschwin-digkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

6.1.2 Fehler der Schwimmgeschwin-digkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

6.2 Validierung der Erkennung . . . . . . . . . . 44

6.2.1 Schwimmgeschwindigkeit bei kritischen Fahrsituationen . . . . . . . . . . . 44

6.2.2 Schwimmgeschwindigkeit in der Simulation bei Parametervariation . . . . 46

6.2.3 Schwimmgeschwindigkeit bei unkritischen Fahrsituationen . . . . . . . . . 47

6.3 Fazit und Übertragbarkeit . . . . . . . . . . . 48

7 Beeinflussung kritischer Fahr-situationen von Motorrädern . . . . . . . 48

7.1 Regelziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

7.1.1 Regelziel für die Rollbewegung . . . . . . 49

7.1.2 Regelziel für die Schwimm-bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

7.2 Fahrdynamisch sinnvolle Eingriffs-möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

7.2.1 Potenzial zur Beeinflussung der Fahrdynamik in Phase 1 (Reib-wertsprung) durch Seitenkraft-änderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

7.2.2 Potenzial zur Beeinflussung der Fahrdynamik in Phase 2 (Reib-wertsprung) und bei Überschreiten des maximalen Reibwertes durch Seitenkraftänderung . . . . . . . . . . . . . . . 51

7.2.3 Potenzial zur Beeinflussung der Fahrdynamik durch Kreiselwirkung . . . 53

7.2.4 Beeinflussbarkeit der Fahrdynamik durch die Laufräder . . . . . . . . . . . . . . . 55

7.2.5 Beeinflussbarkeit der Fahrdynamik durch zusätzliche Stabilisierungs-kreisel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

7.2.6 Sonstige Möglichkeiten zur Be-einflussung der Fahrdynamik von Motorrädern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

7.2.7 Sinnvolle Möglichkeiten zur Be-einflussung der Fahrdynamik . . . . . . . . 57

7.3 Technische Realisierbarkeit sinn-voller Eingriffsmöglichkeiten . . . . . . . . . 57

7.3.1 Beeinflussung der Radseitenkräfte . . . . 57

7.3.2 Kreiselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

7.4 Technisch realisierbare Fahrdynamik-regelungen für Motorräder . . . . . . . . . . 58

8 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . 59

9 Klassenschema der Unfallklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

10 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

11 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

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1 Einleitung

Das Motorrad ist immer noch trotz aller Verbesse-rungen der letzten Jahre das gefährlichste aller Ver-kehrsmittel. Obwohl die Anzahl der Verkehrstotenfür 2006 den niedrigsten Stand seit Einführung derStatistik im Jahr 1953 markiert, sank die Zahl dergetöteten Motorradfahrer in der letzten Dekadenicht deutlich.

Die Unfallforschung für Zweispurfahrzeuge be-schäftigt sich seit einiger Zeit intensiv mit der Wir-kung von Fahrdynamikregelungen auf das Unfall-geschehen und kommt dabei zu dem Schluss, dassFahrdynamikregelungen eine deutliche Wirkungauf das Sinken der Unfallzahlen haben. Beispielhaftseien hier zwei Studien gezeigt: Eine Analyse1 derACEA-Unfalldatenbanken unter Berücksichtigungvon 1.674 Unfällen aus fünf europäischen Unfallda-tenbanken, Zeitraum 1995-1999, ergab bei 42 %der Unfälle mit Verletzten und 67 % der Unfälle mitGetöteten eine hohe Wahrscheinlichkeit der Beein-flussbarkeit durch ESP.

Obwohl Bremssysteme mit Anti-Blockier-Einrich-tung (Anti-Blockier-Systeme, ABS) für Motorräderseit 1988 auf dem Markt sind2, sind bisher lediglich5 % der Motorräder in Deutschland mit diesen Systemen ausgerüstet3. Über ABS und über An-triebsschlupfregelung hinausgehende Sicherheits-systeme sind nicht in Sicht, Forschungsarbeitendazu sind nicht bekannt. Dies wirft die Frage auf,welche Reduktion der hohen Unfallzahlen für Ein-spurfahrzeuge mit Fahrdynamikregelungen mach-bar wäre.

Ziel dieser Arbeit ist es daher, Potenzial und Mach-barkeit von Fahrdynamikregelungen zur Erhöhungder aktiven Sicherheit von Motorrädern zu ermittelnsowie die Auswirkung dieser Systeme auf die Un-fallzahlen von Einspurfahrzeugen abzuschätzen.

1.1 Unfallgeschehen von Motorrädern

Das Unfallgeschehen von Motorrädern stellt sichanders dar als das von Pkw. So kommen lediglichin 10 % der Pkw-Unfälle Personen zu Schaden,während dies bei Motorradunfällen zu etwa 95 %passiert4.

Bei etwa 66 % der Motorrad-Pkw-Kollisionen ist derMotorradfahrer nicht der Hauptverursacher, hatdennoch in ebenfalls etwa 65 % aller Motorradun-fälle noch die Bremse betätigt. Er hatte somit offen-

sichtlich noch die Möglichkeit zu einer Reaktion,konnte den Unfall aber nicht vermeiden.

Eine Betrachtung des Unfallgeschehens von Mo-torrädern auch im Rückblick auf das Jahrzehnt1991 – 1999 gibt ASSING5. Bei insgesamt gestie-genen Unfallzahlen ist in diesem Zeitraum die mitt-lere Unfallschwere, ausgedrückt durch die volks-wirtschaftlichen Folgekosten der Motorradunfälle,zwar gesunken. Sie bleibt aber immer noch etwa 20 % höher als bei Pkw-Unfällen. Bei jährlich etwa40.000 Unfällen mit Motorradbeteiligung und Per-sonenschaden werden etwa 900 Motorradfahrergetötet.

Besonders in Relation zu den insgesamt etwa5.000 Getöteten im Straßenverkehr und unterBerücksichtigung der vergleichsweise geringenZahl an Motorrädern (3,9 Millionen Motorräder6 voninsgesamt etwa 60 Millionen Kraftfahrzeugen inDeutschland am 1. Januar 2006) zeigt sich diehohe Gefährdung der Motorradfahrer. Sowohl dasbestandsbezogene als auch das fahrleistungsbezo-gene Risiko für Motorradfahrer, Opfer eines Ver-kehrsunfalls zu werden, liegen deutlich über demRisiko anderer Verkehrsteilnehmer.

1.2 Besonderheiten der Fahrdynamikvon Einspurfahrzeugen

Die Fahrdynamik unterscheidet Motorräder von denZweispurfahrzeugen. Für das Verständnis der Be-sonderheiten von Motorradunfällen wird hier kurz aufdie Eigenschaften von Einspurfahrzeugen eingegan-gen. Eine ausführliche Darstellung der Fahrdynamikvon Motorrädern findet sich bei WEIDELE7.

Im Gegensatz zum Zweispurfahrzeug ist das Mo-torrad systembedingt statisch instabil. Wie einFahrrad kippt es ohne Unterstützung im Stand aufdie Seite.

7

1 LANGWIEDER, International Field Experiences, 20042 WEIDELE, Motorräder, 2005, S. 63 SPORNER, Bremsen mit Motorrädern, 2002, S. 1714 HAUPT, Motorradunfallzahlen, 20045 ASSING, Schwerpunkte des Unfallgeschehens von Mo-

torrädern, 20026 Kraftfahrt-Bundesamt, Zulassungszahlen für 2003, www.

kba.de7 WEIDELE, Kurvenbremsung, 1994, WEIDELE, Motorräder,

2005 und Cossalter, Motorcycle Dynamics, 2003

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Bei Geschwindigkeiten bis zwischen 20 und 40km/h8 wird das Motorrad durch die Lenkbewegun-gen des Fahrers stabilisiert. Der Fahrer hält mit sei-nen Lenkbewegungen und Gewichtsverlagerungenden Schwerpunkt des Systems Fahrer – Fahrzeugüber der Verbindungslinie der Reifenaufstands-punkte, sodass kein Moment um diese Achse (dieRollachse) entsteht. Bei höheren Geschwindigkei-ten wird die Stabilisierung durch die nun als Kreiselwirkenden Räder des Motorrades ergänzt.

Bei Kurvenfahrt „legt“ sich das Motorrad in dieKurve, sodass die Resultierende aus Gewichtskraftdes Motorrads (inkl. der Aufsassen) und Fliehkraftinfolge Kurvenfahrt auf die Verbindungslinie derReifenaufstandspunkte zeigt. Der so genannteRollwinkel �, der die Kurvenlage des Motorrads be-schreibt, ist bei stationärer Kreisfahrt im Wesentli-chen eine Funktion der Querbeschleunigung. Mitsteigender Schräglage wandert der Reifenauf-standspunkt aus der Symmetrieebene aus (s. Bild1). Wird in dieser Fahrsituation gebremst, so resul-tiert aus der Bremskraft in Verbindung mit dem He-

belarm ein Moment im Lenksystem – das so ge-nannte Bremslenkmoment10. Nicht in jeder Fahrsi-tuation kann der Fahrer dieses Lenkmoment kom-pensieren, besonders im Fall pulsierender Brems-kraft bei ABS-Regelung11. Wird eine Kompensationnicht erreicht, weicht das Fahrzeug vom gewünsch-ten Kurs ab.

1.3 Stand der Technik sicherheitsrele-vanter Systeme für Motorräder

Die Technik der Motorräder kann das Unfallgesche-hen sehr stark beeinflussen. Vor allem das Brems-system ist ein wichtiger Faktor für die Entstehungund den Ablauf von Unfällen12. Sieht man von eini-gen wenigen Rennmotorrädern ohne Vorderrad-bremse ab, sind Motorräder mit je mindestens einerBremse am Vorderrad und am Hinterrad ausgerüs-tet.

Nach der Art der Bedienung werden Bremssystemeeingeteilt13 in

• Standardbremse, Bedienung von vorderer undhinterer Bremse getrennt,

• Vollintegralbremse, Bedienung beider Bremsenüber eine einzige Bedieneinrichtung,

• Teilintegralbremse, zwei Bedieneinrichtungen,Bedienung beider Bremsen und alleinige Bedie-nung einer einzelnen Bremse, üblicherweise derHinterradbremse möglich,

• Sonderformen der Integralbremse, wie bei-spielsweise Honda Dual-CBS, bei denen derFahrer die Bremskraftverteilung in engen Gren-zen beeinflussen kann.

Alle diese Bauformen gibt es sowohl mit als auchohne ABS-Unterstützung (Anti-Blockier-System).

Die erste Generation von Motorrad-ABS kam 1988auf den Markt, aktuell ist als neuestes System dasBMW Integral ABS erhältlich (vierte Generation).Die Verbesserungen der Nachfolgegenerationenzielten vor allem auf eine feinfühligere Regelungund Reduktion von Masse und Volumen des Aggre-gats. Grundlegende Änderungen der Regelstrate-gien (z. B. kurvenabhängige Regelungen) sindnicht bekannt.

Aktuelle Bremssysteme werden durch die imple-mentierte Bremskraftverteilung und die damit ver-bundene hohe Regelgüte als immerhin einge-schränkt kurventauglich angesehen14. Das system-

8

8 WEIDELE, Motorräder, 2005, S. 289 nach WEIDELE, Kurvenbremsung, 1994, S. 4110 s. WEIDELE, Kurvenbremsung, 1994, S. 6111 s. SEINIGER, Rollwinkelsensorik, 2006, S. 37812 SPORNER, Aktive und passive Sicherheit von Motorrädern,

2000, S. 6613 HOFFMANN, Das Motorrad Integral Bremssystem, 200614 BRAUNSPERGER, Das Integral-ABS von BMW Motorrad,

2001

Bild 1: Winkel und Kräfte bei Kurvenfahrt eines Motorrades9

(Größen im fahrzeugfesten Koordinatensystem sinddurch einen Strich gekennzeichnet)

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bedingte Problem des Bremslenkmoments bleibtjedoch bestehen. Vor allem ein durch ABS-Rege-lung pulsierendes Bremslenkmoment ist für denFahrer schwierig zu korrigieren15.

Nach Schätzungen16 waren im Jahre 2002 lediglich5 % des Motorradbestands mit ABS-Systemen aus-gerüstet. Die Industrie bietet jedoch in letzter Zeitverstärkt ABS-Systeme in nahezu allen Fahrzeug-klassen an17, sodass der Anteil zwischenzeitlichgestiegen sein dürfte. Anforderung an zukünftigeBremssysteme für Motorräder ist die Minimierungder Fahrerbelastung18 bei hohen Verzögerungenund gleichzeitiger Fahrstabilität. In Zukunft sindauch bei hohen Querbeschleunigungen und Roll-winkeln sicher funktionierende Bremssystemen zuerwarten. Ideen hierzu existieren seit den neunzi-ger Jahren19. Die erforderliche Sensorik ist mittler-weile mit Komponenten aus dem Automobilbereich– und damit kostengünstig – darstellbar20.

Bereits 1993 wurde eine erste Antriebsschlupfrege-lung für Motorräder vorgestellt21, nach kurzer Zeitmangels Kundeninteresses aber vom Markt ge-nommen. Für 2007 ist erneut eine Antriebs-schlupfregelung angekündigt22.

Ein Airbag für Motorräder ist seit 2006 bei einemModell in Serie23 und ergänzt die seit einiger Zeitbekannten Airbag-Westen24.

1.4 Motivation und Zielsetzung

Im Zweispurbereich haben Fahrdynamikregelun-gen das Unfallgeschehen nachweislich25 beein-flusst. Für Einspurfahrzeuge sind keine vergleich-

baren Systeme erhältlich und auch keine For-schungsaktivitäten hierzu bekannt.

Im vorliegenden Bericht wird daher der Frage nachdem Potenzial weiterer, zukünftiger Fahrdynamikre-gelsysteme für Einspurfahrzeuge und deren Ausge-staltung sowie möglichem Einfluss auf das Unfall-geschehen von Motorrädern nachgegangen. Zielesind

• die Identifizierung von durch zukünftige Fahrdy-namikregelungen beeinflussbaren Unfallsitua-tionen,

• die Abschätzung des Anteils der mit Fahrdyna-mikregelsystemen vermeidbaren Unfälle amGesamtunfallgeschehen,

• die Ermittlung von Kriterien zur Erkennung vonrelevanten Unfallklassen während der Fahrt,

• die Überprüfung von Möglichkeiten zur Beein-flussung der kritischen Fahrsituationen.

1.5 Methodik

In einer Analyse des Unfallgeschehens werden fürzukünftige Fahrdynamikregelungen relevante Un-fallklassen identifiziert. Relevant sind solche Motor-radunfälle, die ein hohes Risiko haben (Produkt ausHäufigkeit und Schaden) und sich durch ein in derAusgestaltung zunächst offengelassenes Fahrdy-namikregelsystem vermeiden oder zumindest scha-denreduzierend beeinflussen lassen. Diese Unfällewerden nach verschiedenen Gesichtspunkten inKlassen nach fahrdynamischen Kriterien eingeteilt.

Die analysierten Unfälle stammen aus zwei ver-schiedenen Quellen. Motorradexperten26 wurdennach ihren bisher selbst erlebten Motorradunfällenbefragt. Aus diesen Unfallbeschreibungen sindfahrdynamisch ähnliche Unfälle zu Klassen zusam-mengesetzt. Die Abschätzung der Häufigkeit dieserKlassen im allgemeinen Unfallgeschehen erfolgtanhand von Abgleichen mit repräsentativen Da-tenmengen.

Weiterhin wird die entwickelte Systematik der Un-fallklassen auf alle Einzelunfälle der Datenbank desGesamtverbandes der deutschen Versicherungs-wirtschaft (GDV) angewendet. Die Zahl der Unfall-beschreibungen in dieser Datenbank liegt eineGrößenordnung über jener der Expertenbefragung.

Die Ableitung von Kriterien zur Erkennung der rele-vanten Unfallsituationen bereits bei deren Entste-

9

15 SEINIGER, Entwicklung einer Rollwinkelsensorik, 200616 SPORNER, Bremsen mit Motorrädern, 2002, S. 17117 Motorrad, ABS-Vergleichstest, 200618 FUNKE, Anforderungen an zukünftige Kraftradbremssyste-

me, 2004, S. 3419 WEIDELE, Kurvenbremsung von Motorrädern, 1994, und

HOFFMANN, Motorrad-Integral-Bremssystem, 200620 SEINIGER, Rollwinkelsensorik, S. 38721 TANI, Motorcycle Traction Control System, 199322 WAGNER, Entwicklungstendenzen, 200623 Honda, Presseinformationen zum Motorrad-Airbag, 200524 BELLATI, Airbag-Westen-System, 200625 Einen Überblick über zu diesem Thema durchgeführte Stu-

dien gibt WINNER, Kraftfahrzeuge, 2006, Kap. 9, S. 17.26 Experten sind solche Personen, die sich seit etwa 10 Jah-

ren beruflich mit einem Thema befassen, MIEG, Exper-teninterviews, S. 7.

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hung erfordert detaillierte fahrdynamische Daten ty-pischer Unfälle. Gefahrlos lassen sich diese Datenin einem weiten Parameterbereich lediglich mit Si-mulationsmodellen und durch analytische Überle-gungen gewinnen. Zur Validierung des Simulations-modells werden die Unfallsituationen – soweit ge-fahrlos möglich – im Fahrversuch nachgestellt.

Ziel der Erkennung von kritischen Fahrsituationenist es, eine Fahrsituation abhängig von fahrdynami-schen Daten zweifelsfrei den Gruppen „unkritisch“und „kritisch“ zuzuordnen. Die Zuordnung erfolgtmit aus Fahrversuchen (nachgestellte Stürze) ge-wonnenen Kriterien, die mit unkritischen (keinSturz) Fahrsituationen auf ihre Robustheit hin ge-testet sind.

Die Beeinflussung kritischer Fahrsituationen mittechnischen Mitteln wird anhand physikalischerÜberlegungen und der Fähigkeiten aktuell verfüg-barer Aktoren abgeschätzt.

2 Unfallanalyse

Ziel der Unfallanalyse ist es, durch Fahrdynamikre-gelsysteme beeinflussbare Unfallklassen zu identi-fizieren und nach ihrem Risiko zu priorisieren. Fürdie im Sinne dieser Priorisierung wichtigsten Unfall-klassen werden dann Ansätze zur Fahrdynamikre-gelung abgeleitet.

Die Bewertung der Unfälle nach ihrer Vermeidbar-keit kann für jeden Unfall einzeln geschehen oderdadurch, dass ähnliche Unfälle zu Klassen zusam-mengefasst und diese Klassen als Ganzes bewer-tet werden.

Die Zusammenfassung der Unfälle zu Klassen er-höht die Übersicht der Auswertung. Ein Nebenef-fekt hierbei ist die Entwicklung einer Systematik fürdie Einteilung von Unfällen – zusätzliche Unfällekönnen einfach in das bestehende Klassensystemeingegliedert werden.

Die Forderung nach Bewertung der Vermeidbarkeitbestimmt die Anforderungen an die Definition derUnfallklassen. Da das Regelsystem die Fahrdyna-mik beeinflussen soll, muss die Klassifikation an-hand fahrdynamischer Kriterien erfolgen. Für die

Kenntnis des Risikos einer Unfallklasse werden mitoben Gesagtem eine Aussage über die Häufigkeitder Unfallklasse und eine Aussage über den Scha-den der Unfallklasse benötigt.

Daten von Motorradunfällen werden in Deutschlandin einigen großen Datenbanken gesammelt, diewichtigsten Datenbanken mit detaillierten Beschrei-bungen von Motorradunfällen sind:

• Datenbank des Gesamtverbandes der Versiche-rungswirtschaft (GDV),

• Datenbank der BMW AG,

• Datenbank der German In-Depth Accident Study(GIDAS).

Eine zusätzliche Datenquelle sind Motorradexper-ten, die selbst schon Unfälle oder kritische Fahrsi-tuationen erlebt haben und im Rahmen einer Befra-gung darüber technisch qualifiziert berichten.

Die amtliche Statistik und, mit Einschränkungen,auch die GDV- und GIDAS-Datenbank bieten einehohe Repräsentativität, die Expertenbefragungenkönnen eine hohe Datentiefe bieten. Zur Kombina-tion beider Eigenschaften wird ein Hybridansatz ge-wählt: Unfallbeschreibungen aus den Experten-befragungen werden zu Klassen zusammenge-fasst. Zur Abschätzung der Häufigkeit dieser Unfall-klassen werden diese mit den Unfalldatenbankenabgeglichen.

Zur Definition der Unfallklassen dient eine anhandvon Expertenbefragungen und eigener Auswertungvon wenigen Unfallakten der GDV-Datenbank (ca.60 Fälle) angelegte Datenbasis mit 134 für eineKlassifizierung hinreichend detailliert beschriebe-nen Unfall- und Beinaheunfalldatensätzen. Diehieraus gebildeten Unfallklassen werden alsGanzes nach ihrer Vermeidbarkeit untersucht. Umbesser zwischen allgemeinen „Datenbasen“ undder hier gebildeten Datenbasis unterscheiden zukönnen, wird für Letztere die Abkürzung „MUD“(Motorrad-Unfalldatenbasis) eingeführt. Es wird ge-prüft, ob alle wichtigen Einflussgrößen auf das Ent-stehen von Motorradunfällen in der MUD enthaltensind.

Die Grundgesamtheit der Motorradunfälle istzunächst die Menge aller Motorradunfälle weltweit.Durch die starken regionalen Unterschiede des Un-fallgeschehens27 ergibt sich bei Betrachtung dieserMenge kein einheitliches Bild. Aus Gründen der Zu-gänglichkeit der Daten wird im Folgenden aus-schließlich das Unfallgeschehen der Bundesrepu-

10

27 OULLET, Motorcycle Accidents in Bangkok, 2002, be-schreibt beispielsweise den Motorradverkehr in Schwellen-ländern als sehr transportorientiert.

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blik Deutschland betrachtet – es ist im europäi-schen Vergleich anhand der Kriterien Alleinunfälleund Unfälle pro gefahrene Kilometer kein Extrem-fall28. Es wird angenommen, dass damit die Über-tragbarkeit der Ergebnisse auf andere Länder Eu-ropas nicht ausgeschlossen ist.

Die Fahrzeuge, deren Unfälle in dieser Unfallanaly-se betrachtet werden, sind Motorzweiräder miteinem Hubraum von mehr als 50 cm3 oder einerbauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von mehrals 50 km/h, die in Unfälle mit Personenschadenverwickelt waren.

2.1 Strukturierte Beschreibung vonMotorradunfällen

Zur Klassifizierung ähnlicher Unfallbeschreibungenist eine einheitliche Struktur der Unfallbeschreibun-gen erforderlich.

Nach APPEL29 lässt sich der Ablauf eines Unfalls indie drei Phasen Einleitungsphase (Pre-Crash), Kol-lisionsphase und Auslaufphase (Post-Crash) eintei-len. Im Kontext mit Fahrdynamikregelungen ist si-cherlich die Einleitungsphase eines Unfallablaufsbesonders bedeutend. Der Primäranprall ist bei vie-len Motorradunfällen ein Sturz des Fahrzeugs aufdie Fahrbahn. Dieser Sturz wird im Folgendengleichbedeutend mit einer Kollision mit dem Unfall-gegner als Ende der Einleitungsphase betrachtet.Die kritische Fahrsituation spielt sich damit zwi-schen den beiden Zeitpunkten t0 (Beginn der kriti-schen Fahrsituation) und tk (Beginn der Kollisions-phase) ab.

Ein Modell des Ablaufs einer kritischen Fahrsituati-on für Motorräder zeigt Bild 2. Zum Zeitpunkt t0steigt das Risiko dort steil an (a), zum Zeitpunkt tkübersteigt das Risiko die 100%-Marke. Das Risikoist hier – anders als oben – als eine Kenngröße de-finiert, die ab einem bestimmten Bezugswert zumUnfall führt. Der Verlauf dieser Kenngröße wird be-einflusst von Fahrer, Fahrzeug und Umwelt.

Für eine einheitliche Beschreibung der Unfälle sindausgezeichnete Zeitpunkte notwendig, zu denender Zustand des Systems Fahrer – Fahrzeug –

Umwelt betrachtet wird. Diese Zeitpunkte lassensich entweder äquidistant zwischen den Zeitpunk-ten t0 und tk anordnen oder an bestimmten Ereig-nissen festmachen.

Mit dem Modell nach Bild 2 bieten sich Reaktionenvon Fahrzeug oder Fahrer und damit Wendepunkteder Risikolinie als ausgezeichnete Zeitpunkte an.Nach der Modellvorstellung zur Fahrzeugführung30

ist das Fahrzeug das Bindeglied zwischen Fahrerund Umwelt. Störungen können in allen drei Kom-ponenten (Fahrer, Fahrzeug, Umwelt) entstehen.Kommen diese Störungen aus der Fahrbahn, sowerden sie zu Reaktionen des Fahrzeugs führen,bevor der Fahrer sie wahrnimmt. Als Reaktion aufeine Störung wird der Fahrer bei Erkennen dersel-ben eine Handlung vornehmen, die wiederum zueiner Reaktion des Fahrzeugs führt.

Eine kritische Fahrsituation kann theoretisch einebeliebig lange Kette dieser Abarbeitungen vonStörungen beinhalten. Bei den ausgewerteten Un-fallsituationen traten jedoch nicht mehr als zweiStörungen auf.

Als weitere ausgezeichnete Zeitpunkte für die Be-schreibung eines Unfalls werden definiert:

• t0: Entstehen der kritischen Fahrsituation,

• t1: Aktion des Fahrers,

• t2: Reaktion des Fahrzeugs (auf die Aktion desFahrers),

• t3: zweite Störung (einschließlich direkter Reak-tion des Fahrzeugs darauf),

11

28 STEFAN, Motorradunfallgeschehen in OECD-Staaten,2003, HAUPT, Motorradunfallzahlen, 2004

29 z. B. APPEL, Unfallmechanik, 200230 BREUER, J., Fahrerverhalten, 1996

Bild 2: Ablauf einer kritischen Fahrsituation für Motorrädernach ALBUS, Aktive Sicherheit von Motorrädern, 1993

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• t4: Aktion des Fahrers,

• t5: Reaktion des Fahrzeugs (auf die Aktion desFahrers).

2.2 Klassifizierung von Motorradun-fällen

Klassen von Unfällen dienen zur Beurteilung derVermeidbarkeit der Unfälle durch eine Fahrdyna-mikregelung. Die Wirksamkeit von Fahrdynamik-regelungen endet mit dem Sturz oder einer Kolli-sion des Motorrades, liegt also vollständig in derEinleitungsphase des Unfalls. Für die Klassifizie-rung ist daher lediglich die Einleitungsphase inter-essant. Die einzelnen Unfälle liegen bereits struktu-riert beschrieben vor. Eine Unfallklasse bilden danndie Unfälle mit gleichen Ausprägungen der Merk-male in gleichen zeitlichen Phasen des Unfalls (s.Kapitel 9).

2.3 Abschätzung der Häufigkeit derUnfallklassen

Zur Abschätzung der Häufigkeit der definierten Un-fallklassen wird der Begriff „Unfalltyp“, wie er in deramtlichen Statistik der Verkehrsunfälle verwendetwird (die räumliche Position der Unfallgegner unddie Umgebung beschreibend) erweitert um die Aus-sage, ob der Hauptschuldige der Fahrer des moto-risierten Zweirades war oder nicht.

Diese Beschreibung wird im Folgenden als „Aus-gangssituation“ bezeichnet. Jedem Unfall ist ein-deutig eine solche Ausgangssituation zugeordnet.Umgekehrt ist auch jeder Ausgangssituation ein de-finierter Anteil am Gesamtunfallgeschehen inDeutschland zugeordnet. Mit Hilfe repräsentativerUnfalldatensammlungen (GIDAS) kann dieser An-teil bestimmt werden. Auch jedem einzelnen Unfallder detaillierten Unfallbeschreibungen sind eindeu-tig eine Unfallsituation und damit auch eindeutig einAnteil am Gesamtunfallgeschehen zugeordnet.

12

Bild 3: Ermittlung der Häufigkeit der Unfallklassen (schematische Darstellung). Für jede Unfallklasse wird eine Häufigkeit bestimmt,indem die Anteile von Ausgangssituationen aus einer repräsentativen Datenbasis (GIDAS) den Unfallklassen der MUD zu-geordnet und aufsummiert werden

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Weiterhin ist jeder Unfall aus MUD eindeutig in eineUnfallklasse (s. Kapitel 2.2) einsortiert. Eine Unfall-klasse enthält mehrere Unfälle – entsteht also nachverschiedenen Ausgangssituationen. Genausokönnen im Allgemeinen aus jeder Ausgangssitua-tion verschiedene fahrdynamische Unfallklassenentstehen. Das Schema zur Ermittlung der Häufig-keit von Unfallklassen zeigt Bild 3.

Aus dieser Zuordnung einer Ausgangssituation zumehreren Unfallklassen wird die Abschätzung derHäufigkeit der Unfallklassen vorgenommen. Man-gels weiterer Angaben zur Häufigkeit von Unfallsi-tuationen wird angenommen, dass im realen Un-fallgeschehen aus einer Ausgangssituation allezulässigen Unfallklassen gleich oft entstehen. DerAnteil einer Ausgangssituation am Gesamtunfallge-schehen wird also auf die entstehenden Unfallklas-sen (MUD) zu gleichen Teilen aufgeteilt. Der Anteileiner Unfallklasse am Gesamtunfallgeschehen er-gibt sich aus der Summe dieser Teile für jede betei-ligte Ausgangssituation.

Maximal könnte eine Unfallklasse für annähernddie gesamte Häufigkeit einer Unfallsituation verant-wortlich sein, minimal für eine Häufigkeit vonannähernd 0. Der Fehler kann also beträchtlichsein. Die Gültigkeit der Annahme kann mit dem vor-handenen Datenmaterial nicht überprüft werden,dafür wäre eine größere und repräsentative Stich-probe erforderlich. Die Häufigkeitsabschätzung fürdie Unfallklassen kann daher nur ein Anhaltswertsein. Die Größenordnung des Ergebnisses wirdaber durch die Detailauswertung der GDV-Daten-bank bestätigt.

Um sicherzustellen, dass in den detaillierten Un-fallbeschreibungen (MUD) alle wichtigen fahrdyna-mischen Unfalltypen versammelt sind, werden diewichtigsten Einflussgrößen auf das Entstehen vonUnfällen verglichen, siehe Tabelle 2 in Kapitel2.9.2.

2.3.1 Einflussfaktor Fahrer

Als Kriterien für die Beschreibung und Charakteri-sierung des Fahrers werden

• Alter,

• Fahrerfahrung,

• Risikobereitschaft,

• Geschlecht

des Fahrers herangezogen31.

Diese Informationen über die jeweiligen Unfallfah-rer werden im Rahmen der Expertenbefragung er-hoben. SCHULZ32 untersuchte die Risikobereit-schaft von Motorradfahrern. Hierzu präsentierte erkritische Fahrsituationen von Motorradfahrern mitVideoprojektionen aus der Fahrerperspektive. Zuden 14 Situationen fragte er die Versuchspersoneneinerseits nach ihrer in der jeweiligen Situation ge-wählten Handlungsalternative, aber auch nachGründen für ihre Wahl, die genaue Einschätzungder Situation und dergleichen mehr. Im Anhang derVeröffentlichung gibt er jeweils eine Kurzbeschrei-bung der Situationen an.

Während der Expertenbefragung der vorliegendenStudie wurden diese Kurzbeschreibungen lediglichmündlich vorgetragen, die Befragten konnten dieangegebene Handlungsalternative lediglich mit „ja“annehmen oder mit „nein“ ablehnen. Trotz dergeänderten Versuchsdurchführung wird wegen derguten technischen Vorbildung33 der Expertendavon ausgegangen, dass methodisch vergleich-bare Resultate erreicht werden. Der Vergleich die-ser Ergebnisse mit denen von SCHULZ zeigt keineauffälligen Unterschiede bzgl. der Risikobereit-schaft der befragten Experten gegenüber den übri-gen Motorradfahrern.

Vergleichsinformationen über die Altersverteilungund das Geschlecht von an Unfällen beteiligten Mo-torradfahrern liefert die amtliche Statistik der Ver-kehrsunfälle. Die Fahrerfahrung wird hier nichtnäher betrachtet, da über die Fahrerfahrung vonverunfallten Motorradfahrern in der gesichteten Li-teratur keine gesicherten Angaben existieren.

2.3.2 Einflussfaktor Fahrzeug

In der Literatur werden Motorräder hauptsächlichunterschieden nach Fahrzeugtyp34 (Sportmotorrad,Chopper, Enduro, Tourer, Sporttourer, sonstiges),nach dem Hubraum des Motors, nach der Leistung

13

31 SCHULZ, Risikoverhalten, 1988, S. 7232 ebenda33 Die sehr aufwändige originale Versuchsdurchführung war

offensichtlich notwendig, um den Befragten die Situationmöglichst gut nahezubringen und weitergehende Fragen zuermöglichen. Ein Motorradexperte, der bereits seit langerZeit aktiv Motorrad fährt, wird sich aber allein aus der Be-schreibung der Situation ein ausreichendes Bild machenkönnen.

34 z. B. SPORNER, Gefährliche Begegnungen, 1997, KRAM-LICH, Immer noch gefährliche Begegnungen, 2002

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des Motors und nach der Marke. Für die Stabilitätdes Fahrzeugs beim Bremsen entscheidend ist dieKlasse des Bremssystems35 (Standard, Integral,mit oder ohne ABS).

Anhand der verfügbaren Daten können alle dieseKriterien der MUD mit dem Gesamtunfallgesche-hen (Hubraum, Leistung) oder zumindest mit denanderen Datenquellen verglichen werden (Marke,Fahrzeugtyp). Des Weiteren geht eine Auswahl desFahrzeugtyps mit einem bestimmten Fahrertyp36

einher.

2.3.3 Einflussfaktor Umwelt

BRENDICKE37 definiert Problemstrecken für Mo-torradfahrer unter anderem als Straßen mit hoherKurvigkeit, fahrerisch anspruchsvoll, auf denen dieUnfallursache „andere Ursache“ häufiger als unfall-auslösend genannt wird. Diese „andere Ursache“beschreibt zumeist Verunreinigungen der Fahr-bahn38.

Die Anzahl der Motorradunfälle hängt stark von denWitterungsbedingungen ab39. Der zur Verfügungstehende Reibwert zwischen Reifen und Fahrbahnist eine Funktion des Straßenzustandes. MöglicheKriterien für das Vorhandensein des EinflussfaktorsUmwelt auf das Unfallgeschehen sind also

• Kurvigkeit der Strecke,

• Verunreinigungen der Fahrbahn,

• Straßenzustand,

• Wohnort der verunfallten Person und damit be-vorzugte Umgebung für Ausfahrten.

Die Frage nach der Krümmung einer Strecke bzw.dem Kurvenradius stellt die befragten Experten vorProbleme, oftmals ist nach langer Zeit die genaueUnfallstelle nicht mehr bekannt, aus der sich derKurvenradius ermitteln ließe. Die Charakteristik der

Unfallstelle „Kurve“ ist jedoch in der Definition desUnfalltyps (GDV) vorhanden, siehe unten, und in-sofern kann über den Unfalltyp die Kurvigkeit beur-teilt werden.

Der Straßenzustand wird eingeteilt40 in nass,feucht, trocken und glatt und kann mit den Unfall-datenbanken verglichen werden.

Für das Kriterium Wohnort wird die Annahme ge-troffen, dass die landschaftlichen Randbedingun-gen das Entstehen von Unfällen beeinflussen. DieLandschaft wird eingeteilt in Flachland, Mittelgebir-ge und Hochgebirge (in maximal 100 km Entfer-nung vom Wohnort, denn eine weitere Entfernungist für eine Tagestour nicht praktikabel).

2.3.4 Referenzdatenbasis

Für Abgleiche mit dem realen Unfallgeschehen be-darf es einer repräsentativen Datenbasis. In Fragekommen

• die amtliche Statistik,

• der GIDAS-Datenbestand,

• der GDV-Datenbestand und

• eine Kombination aus GIDAS und GDV,

wobei bei den drei letzten Möglichkeiten Repräsen-tativität nicht vorausgesetzt werden kann und daherüberprüft werden muss.

Der Vorteil dieser Datenbanken bzw. der Kombina-tion aus ihnen liegt in der größeren Datentiefe. Beispielsweise ist eine Aussage über die in diesemKapitel definierte „Ausgangssituation“ nur mitGIDAS- oder GDV-Daten möglich. Aus Gründender größeren Repräsentativität (Erhebungsmetho-dik) wird die GIDAS-Datenbank für den Abgleichausgewählt.

2.4 Abschätzung der Unfallschwereder Unfallklassen

Bei einer Definition der Unfallschwere der Unfall-klassen anhand der Anzahl der Leicht-, Schwerver-letzten und Getöteten bietet das System der Kos-tensätze je Verletztem41 den Vorteil, dass über diedort angegebenen Kostensätze ein einziger Kenn-wert errechnet werden kann. Somit kann das beiBetrachtung der einzelnen Verletztenkategoriensich ergebende Problem der Gewichtung vermie-den werden.

14

35 SPORNER, Aktive und passive Sicherheit, 200036 SCHULZ, Risikoverhalten, 198837 BRENDICKE, Risikostrecken, 199338 ASSING, Unfallgeschehen von Motorradfahrern, 2002,

S. 2239 ASSING, Unfallgeschehen von Motorradfahrern, 2002,

S. 20 f40 z. B. statistisches Bundesamt, Statistik der Straßenver-

kehrsunfälle41 z. B. ASSING, Unfallschwerpunkte von Motorradfahrern,

S. 8

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Für jeden Unfalltyp wird die mittlere Unfallschweregesetzt zu

Unfallschwere = kGT · GT + kSV · SV + kLV · LV

MU(P)

mit GT – Anzahl der Getöteten, SV – Anzahl derSchwerverletzten, LV – Anzahl der Leichtverletzten,MU(P) – Anzahl der Motorradunfälle.

Als Kriterium für die Reihung der Unfälle unterei-nander wird das Produkt der jeweiligen Häufigkeitmit dem mittleren Schaden einer Unfallklasse ein-geführt. Als Schaden einer einzelnen Unfallklassewird der Mittelwert der Unfallschweren der beteilig-ten Unfalltypen festgesetzt.

2.5 Bewertung der Wirksamkeit einerFahrdynamikregelung auf die Un-fallklassen

Wesentliche Unfallklassen von Motorrädern unddas Risiko dieser Unfallklassen sind nun bekannt.Die Abschätzung der Wirksamkeit einer Fahrdyna-mikregelung erfordert weiterhin eine Beurteilungder Beeinflussbarkeit dieser Unfallklassen durchtechnische Systeme.

Die Fahrdynamikregelung stellt ein mechatroni-sches System dar. Ein mechatronisches System ist„typischerweise in der Lage, mit Hilfe von SensorenSignale aus [seiner] Umgebung aufzunehmen, zuverarbeiten, zu interpretieren und darauf aufgaben-und situationsgerecht mit Hilfe von Aktuatoren zureagieren“42 .

Für mechatronische Systeme müssen die Kriteriender Beobachtbarkeit und Steuerbarkeit erfüllt sein.Sinngemäß muss eine Fahrsituation also durch ein

mechatronisches System beobachtbar und beein-flussbar sein.

Die Beobachtbarkeit ist eine Funktion der verfügba-ren Messgrößen und damit der verwendeten Sen-soren. Die möglichen Sensoren lassen sich in dieKlassen

• fahrdynamische Sensoren,

• Umgebungssensoren,

• infrastrukturabhängige Sensoren und

• Innenraumsensoren

einteilen. Fahrdynamische Sensoren können ledig-lich Bewegungsgrößen am Fahrzeug messen. DieSystemgrenzen sind somit die Grenzen des Fahr-zeugs. Umgebungssensoren dehnen das Systemauf die Reichweite der Sensoren aus, infrastruk-turabhängige Sensoren erweitern die Systemgren-zen auf die Grenzen der notwendigen Infrastruktur.Innenraumsensoren sind für Motorräder durch denfehlenden Innenraum nicht relevant.

Der Fokus für zukünftige Fahrdynamikregelungenliegt auf fahrdynamischen Sensoren. Im Sinne desDrei-Ebenen-Modells der Fahrzeugführung43 sollein solches System in der Stabilisierungsebene an-gesiedelt sein. Damit muss für eine Aktivierungeines Systems eine Änderung der Bewegungs-größen stattgefunden haben, die dieses System als„kritisch“ klassifiziert.

Eine Fahrsituation ist beobachtbar, wenn aus denSteuereingaben des Fahrers oder aus den Bewe-gungen des Fahrzeugs eindeutig auf die Situationgeschlossen werden kann. Die Beobachtbarkeitwird für jeden ausgezeichneten Zeitpunkt (t0 bis tk)des Unfalls einzeln angegeben.

Die Steuerbarkeit eines Systems ist zunächst nurgegeben, solange noch Einfluss auf das Systemausgeübt werden kann. Bei einem Motorrad als me-chatronischem System müssen somit die fahrdyna-mischen Größen noch beeinflusst werden können.Dies ist im Allgemeinen bei einem Sturz oder nacheiner Kollision nicht mehr der Fall. Befinden sich al-lerdings die Reifen des Fahrzeugs noch in Kontaktmit der Fahrbahn, ist die Übertragung von Kräftenmöglich. Als notwendige Bedingung für die Steuer-barkeit wird also im Folgenden ein stabiler Fahrzu-stand (vor Sturz oder Kollision) angesehen.

Wie die Beobachtbarkeit so wird auch die Steuer-barkeit für jeden Zeitpunkt des Unfalls angegeben.Ein Unfall ist dann durch ein technisches System

15

42 NORDMANN, Mechatronische Systeme, 2001, S. 243 WINNER, Fahrerassistenzsysteme – Stand der Technik und

Ausblick, 2002

Tab. 1: Mittlere volkswirtschaftliche Folgekosten nach Verlet-zungsschwere umgerechnet in EUR

Faktor Betrag (€)

KGT 1.193.350 €

KSV 81.733 €

KLV 3.650 €

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beeinflussbar, wenn zu mindestens einem Zeit-punkt beide Kriterien erfüllt sind.

Fahrsituationen, die als beobachtbar und steuerbarangesehen werden, werden als beeinflussbardurch Fahrdynamikregelsysteme eingestuft. DieseFahrdynamikregelsysteme wiederum werden hiereingeteilt in Systeme, die dem Stand der Technik (z. B. ABS oder Antriebsschlupfregelungen, sieheKapitel 1.3) entsprechen, und zukünftige Systeme.Für jede Unfallklasse wird angeben, durch welcheSysteme sie vermeidbar wäre.

Die Unfallklassen (MUD) werden in drei Gruppeneingeteilt:

• nicht beobachtbar oder nicht steuerbar unddamit nicht beeinflussbar,

• beeinflussbar durch aktuelle Systeme,

• nicht beeinflussbar durch aktuelle Systeme (unddamit mit Potenzial für zukünftige Fahrdynamik-regelsysteme).

Als Kriterium für eine Unterscheidung zwischen ak-tuellen und zukünftigen Systemen wird hier dieBremsbetätigung als Bedingung für ein aktuellesSystem gesetzt.

Damit wird hier eine höhere Leistungsfähigkeit an-genommen, als diese auch von modernen ABS-Systemen erbracht werden kann, da diese Systemein Kurven nur eingeschränkt44 wirken. Kriterien füreine Eingrenzung des Wirkungsbereichs beispiels-weise anhand der Querbeschleunigung sind jedochwegen der permanenten Weiterentwicklung desABS nur schwer zu definieren.

2.6 Expertenbefragungsmethodik

Experten sind jene, die sich etwa zehn Jahre45 mitdem Thema Motorrad sowohl theoretisch als auchpraktisch auseinandergesetzt haben. Für die theo-retische Auseinandersetzung wird im Folgendenein wissenschaftlich-technischer Hintergrund vo-rausgesetzt. Es wird aus eigener Erfahrung die An-nahme getroffen, dass Motorradfahrer mit diesemHintergrund ihr erlerntes Wissen beispielsweiseüber Grundlagen der Mechanik auf ihr Hobby Mo-torrad anwenden.

Als Anforderungen für eine Teilnahme an der Befra-gung werden damit festgelegt:

• wissenschaftlich-technischer Hintergrund46,

• mindestens zehnjährige Erfahrung als Motorrad-fahrer.

Das Interesse an mehr Verkehrssicherheit für Mo-torradfahrer teilen viele Organisationen47, sodasses mit Unterstützung dieser Organisationen gelang,deren Mitarbeiter (und teilweise auch ehemaligeMitarbeiter) als Experten zu befragen.

Die Befragung selbst richtet sich nach den aner-kannten Richtlinien für Experteninterviews48. ImRahmen dieser Expertenbefragung wurde zusätz-lich der oben angesprochene Risikotest nachSCHULZ49 durchgeführt.

Ziel der Befragung ist die Beschreibung des Her-gangs selbser erlebter Unfälle. Für einen Vergleichder Zusammensetzung der Unfälle mit der amtli-chen Statistik und damit dem realen Unfallgesche-hen wurden Angaben abgefragt:

• eine Beschreibung des Unfallhergangs aufBasis des in Kapitel 2.1 beschriebenen Modells,

• Fahrgeschwindigkeiten,

• Merkmale der Person,

• Merkmale des Unfalls.

2.7 Auswertung von Detailunfall-hergängen der GDV-Datenbank

Die Unfalldatenbank des GDV enthält neben einerKurzauswertung des Unfalls die Rohdaten der Ver-sicherungsakte. Diese Akte enthält den gesammel-ten Schriftverkehr zum Vorgang sowohl von derVersicherung als auch der Polizei sowie sämtlicheGutachten.

Zusätzlich zu den aus den Expertenbefragungengewonnenen Daten wurden einzelne Akten nachder gegebenen Fragestellung – Was geschah inder Einleitungsphase? – ausgewertet.

16

44 siehe z. B. SEINIGER, Rollwinkelsensorik, 2006, S. 37845 MIEG, Experteninterviews, 2001, S. 746 Ein technisch-wissenschaftlicher Hintergrund ist bei Inge-

nieuren und Naturwissenschaftlern gegeben.47 Hier sind neben den einschlägigen Industrieunternehmen

auch der Gesamtverband der Versicherer oder die Bundes-anstalt für Straßenwesen sowie Universitäten zu nennen.

48 MIEG, Experteninterviews, 200149 SCHULZ, Risikoverhalten, 1988

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Die Auswertung der Akten erfolgt hier unter Beach-tung des oben definierten Modells des Unfallher-gangs und auch unter Berücksichtigung des Ver-gleichs mit der Statistik. Informationen über denFahrer können den Unfallakten natürlich nurlückenhaft entnommen werden, daher wird hiervonabgesehen. Soweit möglich werden aber Informa-tionen über das Fahrzeug erhoben.

2.8 Auswertung der GDV-Datenbankfür ein konkretes System50

Die bisher beschriebene Methodik zielt auf die De-finition möglicher, vermeidbarer Unfallklassen undeine Abschätzung der Auswirkung einer Vermei-dung der Unfallklassen auf das gesamte Unfallge-schehen ab. Aufbauend auf den hiermit identifizier-ten Unfallklassen wird die Funktion eines konkretentechnischen Systems definiert und die gesamteSammlung der Unfallbeschreibungen in der GDV-Datenbank auf Vermeidbarkeit durch dieses techni-sche System untersucht.

Die Unfallbeschreibungen werden nur noch denKlassen „vermeidbar durch das konkrete System“und „vermeidbar durch Systeme des Standes derTechnik“ zugeordnet.

2.9 Ergebnisse der Auswertung derMUD

Ergebnisse der Unfallanalyse sind die Unfallklas-sen inklusive einer Abschätzung ihres Anteils amGesamtunfallgeschehen, ihrer Vermeidbarkeit und

ihres Risikos. Zur Einordnung der Ergebnisse wirddie Zusammensetzung der MUD anhand der in Ta-belle 2 angegebenen Kriterien überprüft.

2.9.1 Vermeidbare Unfallklassen

Eine Übersicht über die Unfallklassen mit Vermeid-barkeit durch zukünftige Fahrdynamikregelungenzeigt Tabelle 3.

Aus den insgesamt betrachteten 116 Unfällen er-gibt sich ein Klassenschema mit 45 Klassen, dieteilweise lediglich mit einem einzelnen Unfall be-setzt sind. Ein Klassenschema der Unfallklassenbefindet sich in Kapitel 9.

Führt eine Radblockade zum Sturz oder erfolgteeine Bremsbetätigung, so wird die Klasse als „ver-meidbar durch dem Stand der Technik entspre-chende Systeme“ gewertet. Damit werden dieFähigkeiten der heutigen ABS-Systeme vermutlichals zu hoch angenommen. Für zukünftige, detail-liertere Auswertungen ist für die Einteilung in bishe-rige Systeme/zukünftige Systeme eine Berücksich-tigung weiterer Kriterien wie z. B. der Querbe-schleunigung und/oder der Längsbeschleunigungdenkbar. Diese Kriterien zur Beschreibung derFähigkeiten von heutigen ABS sind aber nicht defi-niert. Auch enthält die MUD keine Angaben über dieQuerbeschleunigung.

17

Tab. 2: Abgleich der Zusammensetzung der Datenbasis

MerkmalDaten-basis

(MUD)GIDAS GDV BMW

amtl. Unfallstatis-

tik

Risiko-test nachSCHULZ

Risikotest x x

Alter x x

Fahrzeugtyp x x x

Marke x x x x

Leistung x x x

Hubraum x x x x

Bremssystem x x x x

Straßenzu-stand

x x x

Charakteristikder Unfallstelle

x x

Unfalltyp grob x x x

Unfalltyp GDV x x x

Tab. 3: Vermeidbarkeit durch zukünftige Systeme

Klasse BeschreibungRisiko (Häufig-keit Schwere)

in € · %

Anteil in % desGesamtunfall-geschehens51

43Gleiten Hinterrad nach Reib-wertsprung hoch-niedrig

33.634 2,98 %

31Gleiten Hinterrad durch zuhohes Motormoment

14.343 1,76 %

44Gleiten Vorderrad nachReibwertsprung hoch-niedrig

7.264 0,64 %

37Destabilisierung nach Glei-ten beider Räder

6.217 0,64 %

42Gleiten beider Räder nachReibwertsprung hoch-niedrig

6.022 0,64 %

40Hinterrad gleitet weg durchMotorschleppmoment

3.674 0,38 %

35

Gleiten des Hinterradesnach Überschreiten der ma-ximalen Querbeschleuni-gung

2.973 0,64 %

45Destabilisierung nach Glei-ten des Vorderrades

518 0,64 %

Summe 74.648 8,33 %

50 basierend auf GILSDORF, Motorradunfälle, 200651 abgeschätzt nach der beschriebenen Methodik

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Ist eine Klasse vermeidbar, ohne dass es zu einerRadblockade kam oder die Bremse betätigt wurde,wird die Klasse als „vermeidbar durch zukünftigeFahrdynamikregelsysteme“ gezählt.

Besonders häufig vertreten sind Unfallklassen inZusammenhang mit einem Reibwertsprung hoch-niedrig (beginnendes Gleiten des Hinterrades, desVorderrades, beider Räder, Destabilisierung nachdem Gleiten). Weiterhin vertreten sind ein Gleitendes Fahrzeugs durch zu großen Rollwinkel unddamit verbunden ein Überschreiten der maximalenQuerbeschleunigung.

Ob eventuelle Fahrbahnunebenheiten zum Verlustder Haftung beigetragen haben, lässt sich mit denvorhandenen Daten nicht klären. Es wird daher vonebener Fahrbahn ausgegangen.

2.9.2 Zusammensetzung der MUD

Wesentliche Einflüsse auf das Unfallgeschehenvon Motorrädern sind in Kapitel 2.3 hergeleitet. Zielist, möglichst alle Einflüsse auf das Unfallgesche-hen in der Datenbasis zu berücksichtigen, um dasRisiko einer systematischen Nichtberücksichtigungwichtiger Unfallklassen zu verringern. Dafür werdenfür die Unfälle charakteristische Merkmale über ver-schiedene Referenzdatenbanken hinweg vergli-chen.

Die einzelnen verglichenen Merkmale zeigt Tabelle2. Als Beispiel für den Vergleich der Zusammenset-zung mit Referenzdatenbasen herausgegriffen seihier die Risikobefragung nach SCHULZ (Bild 4).Dabei nicht übereinstimmende Unfallumständewerden diskutiert.

Der Risikotest zeigt die Besonderheiten der Motor-radexperten, die offensichtlich Risikosituationenbesser einschätzen und darauf bewusster reagie-ren, so etwa die Situation „Sozia“ und die Situation„Kreuzung“. Die Situation „Autobahn“ weist als ein-zige Situation eine deutliche Erhöhung der Risiko-akzeptanz der befragten Experten auf, die Situatio-nen „Landstraße“ und „Stau“ eine geringe Er-höhung.

Als Tendenz aus dem durchgeführten Risikotestwird hier lediglich abgeleitet, dass die ausgewähl-ten Motorradexperten einen zwar bewussten, aberdennoch auch forschen Fahrstil pflegen. Unfallklas-sen, die bei schneller und forscher Fahrweise ge-schehen, werden daher nicht unterschlagen.

Die Betrachtung der Verteilung der Hubräume undauch der Leistungsklassen in der MUD zeigt eineTendenz zu stark motorisierten Fahrzeugen, dieHubraumklasse von 250 bis 350 cm3 ist in der Da-tenbasis nicht vertreten. Der Vergleich mit den an-deren Unfalldatenbanken zeigt aber auch, dassdiese Hubraumklasse heute zahlenmäßig nur nochgeringe Bedeutung hat. Bis auf die unteren beidenLeistungsklassen bis 25 kW sind alle weiteren Leis-tungsklassen mit nennenswerten Anteilen über 10 % in der MUD vertreten, dies gilt auch für dieFahrzeugtypen und die Marken.

Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Unfallge-schehen und Motorleistung wurde in der Literaturdie These aufgestellt52, dass Motorräder der oberenLeistungsklassen stärker am Unfallgeschehen be-teiligt sind. Die Verfälschung des Ergebnisses durcheine Nichtberücksichtigung der kleinsten Leistungs-klassen bis 25 kW ist daher vermutlich klein.

Die Motorräder der Experten waren, im Vergleichzur Gesamtheit in Deutschland, zu einem größerenAnteil mit ABS ausgerüstet. ABS kann durchausdas Entstehen von Unfällen bestimmter Unfallklas-sen verhindern. Die überwiegende Zahl der Mo-torräder war allerdings mit Standardbremsen aus-gerüstet, sodass die für diese Bauart spezifischenUnfallklassen in der Datenbasis dementsprechendauch auftauchen.

Es konnte somit aus einem Vergleich der Unfallum-stände keine systematische Nichtberücksichtigungvon wichtigen Unfallklassen festgestellt werden.

18

52 KRAMLICH, Immer noch gefährliche Begegnungen, 2002,S. 68

Bild 4: Ergebnisse des Risikotests, dargestellt für befragte Ex-perten und Vergleichsgruppe. Positive Antworten stellenein höheres, vom Befragten eingegangenes Risiko dar

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2.10 Vermeidbarkeit von Unfällen durch einkonkretes System

Aus den als vermeidbar klassifizierten Unfällen(Kurvenunfälle) (Tabelle 3) wird als ideales Systemeine Rollwinkelstabilisierung des Fahrzeugs herge-leitet. Für eine Abschätzung des Einflusses einerRollwinkelstabilisierung auf das Unfallgeschehenist eine Detailuntersuchung der Datenbank der Ver-sicherungen durchgeführt worden53.

Die einzelnen Unfallbeschreibungen sind den in Ta-belle 5 beschriebenen Unfallkategorien zugeord-net.

Ein Unfall fällt unter die Kategorie 1, wenn er durchdie Sensorik der Rollwinkelstabilisierung nicht be-obachtbar und somit nicht beeinflussbar ist. Diestrifft auf Unfälle ohne vorausgehenden Sturz zu,beispielsweise unmittelbare Kollisionen mit Unfall-gegnern oder das Verlassen der Fahrbahn. Unfälleder Kategorie 2 sind möglicherweise durch eineRollwinkelstabilisierung beeinflussbar. Allerdingsgibt es für diese Art Unfälle bereits Systeme aufdem Markt (ABS, Anti-Hopping Kupplung54 etc.),die solche Unfallhergänge beeinflussen könnenund besser geeignet sind als eine Rollwinkelstabili-sierung. Beispiel wäre hier ein Sturz durch Über-bremsen in Geradeausfahrt. Ein bereits erhältlichesABS-System ist in der Lage, den Unfall zu vermei-den. Unfallkategorie 7 beschreibt solche Unfälle,deren Hergang durch das vorliegende Aktenmateri-al nicht eindeutig geklärt werden kann und für die

keine Aussage zu Beeinflussbarkeit und Vermeid-barkeit möglich ist.

Relevant für Rollwinkelstabilisierung sind die Un-fallkategorien 3 bis 6. Hierbei handelt es sich umUnfälle, die in Schräglage geschehen.

Als Maßnahmen gegen Unfälle wie

• Gleiten/Sturz bei Geradeausfahrt durch Durch-drehen des Hinterrads bei Reibwertverkleine-rung,

• Gleiten des Hinterrads bei Beschleunigung inSchräglage (und Reibwertsprung)

wurden von einigen Herstellern Antriebsschlupfre-gelungen angekündigt, die seit 2007 in Serie sind(z. B. BMW ASC). Damit fallen solche Unfälle in dieUnfallkategorie 2.

Insgesamt wurden 866 Unfälle analysiert. Dabeihandelt es sich um Unfälle, in denen mindestensein Unfallbeteiligter ein motorisiertes Zweirad mitamtlichem Kennzeichen fuhr und bei denen es zuPersonenschaden kam. Unfälle, die (ausschließ-lich) Krafträder mit Beiwagen betrafen, wurdennicht berücksichtigt, da hier völlig andere Fahrei-genschaften und technische Voraussetzungen vor-

19

Tab. 4: Einordnung der Unfälle in das System der Unfallkatego-rien

UnfallkategorieAnzahl der beteiligten

motorisierten Zweiräder

Kategorie 1 (nicht detektierbar) 703 (81 %)

Kategorie 2 (durch alternative Systeme beeinflussbar)

101 (12 %)

Kategorien 3-6 (durch Rollwinkel-stabilisierung beeinflussbar)

43 (5 %)

Kategorie 7 (unklarer Hergang) 20 (2 %)

Tab. 5: Unfallkategorien der erweiterten Auswertung der GDV-Datenbank

Kat. Symptomatik Zustand Motorrad Position in Kamm’schem Kreis

1 nicht detektierbar/beeinflussbar % %

2 durch vorhandene Systeme beeinflussbar % %

3 Radblockade/SturzBremsvorgang

SchräglageVerkleinerung des Kamm’schen Kreisesdurch Reibwertsprung hoch-niedrig

4 Wegrutschen/Sturz SchräglageVerkleinerung des Kamm’schen Kreisesdurch Reibwertsprung hoch-niedrig

5 Radblockade/SturzBremsvorgang

SchräglageKraftschlussgrenze 1. Quadrant

6 Wegrutschen/Sturz Schräglage Erreichen max. Querkraft

7 unklarer Hergang % %

53 GILSDORF, Unfallanalyse, 200654 Eine Anti-Hopping-Kupplung verhindert das Blockieren des

Hinterrades durch zu große Motorschleppmomente beiLastwechseln, s. z. B. www.wikipedia.de.

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liegen. Somit beschränkt sich die Auswertung aufLeichtkrafträder, Roller und Motorräder.

Beteiligt an den 866 Unfällen waren 913 Fahrzeugeder oben genannten Kategorien. Die Differenz er-klärt sich durch Unfälle, an denen mehrere Krafträ-der beteiligt waren. Der Erfassungszeitraum er-streckt sich von 1993 bis 2002, wobei sich aller-dings die Mehrzahl in den Jahren 1998 bis 2001 er-eignete. Tabelle 4 zeigt die Häufigkeit der verschie-denen Klassen in der Datenbank der Unfallfor-schung der Deutschen Versicherer.

Bei Zugrundelegung der Datenbank der Unfallfor-schung der Deutschen Versicherer als Basis erhältman einen Anteil von 1,6 % bis 3,5 % der Zweirad-unfälle55, die als vermeidbar angesehen werdenkönnen. 1,6 % stellt hierbei einen unteren, konser-vativen Schätzwert dar, bei dem Unfälle mit sehrhoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden kön-nen. Die 3,5 % stellen einen Schätzwert des Anteilsfür wahrscheinlich vermeidbare Unfälle. Bei geson-derter Betrachtung von Krafträdern56 alleine liegendie Anteile für unteren und oberen Schätzwert bei2,2 % und 4,3 %.

Trotz des geringen Anteils der Alleinunfälle von nur4 % an der Gesamtzahl der Unfälle der GDV-Da-tenbank bilden Alleinunfälle etwa ein Drittel der ver-meidbaren Unfälle. Im realen Unfallgeschehen tre-ten Alleinunfälle deutlich häufiger auf (24 %). Ausden Quoten für Alleinunfälle kann eine Übertragungder Ergebnisse aus der Datenbank der Unfallfor-schung der Deutschen Versicherer auf das gesam-te Unfallgeschehen vorgenommen werden.

13 % bis 26 % der in der Datenbank der Unfallfor-schung der Deutschen Versicherer erfassten Allei-nunfälle sind vermeidbar (p1), während es bei denUnfällen mit Beteiligung anderer Verkehrsteilneh-mer nur 1,1 % bis 2,4 % sind (p2). Basierend aufder Hypothese, dass sich die Verteilungen von ver-meidbaren und nicht vermeidbaren Unfällen für dieerfassten und nicht erfassten Alleinunfälle nicht sig-nifikant unterscheiden, ergibt sich für das reale Un-fallgeschehen ein wesentlicher höherer Anteil anvermeidbaren Unfällen. Bei einem Anteil von 24 %Alleinunfällen wie in der Bundesstatistik läge derAnteil der vermeidbaren Unfälle dann gemäß For-mel zwischen 4 % und 8 %.

Berücksichtigt man die von Experten angenomme-ne hohe Dunkelziffer von Alleinunfällen57, wonach

Alleinunfälle bei Motorrädern über die Hälfte derUnfälle insgesamt ausmachen, müssten die Zahlensogar nochmals verdoppelt werden. Wie bereitsfestgestellt bezieht sich diese Studie58 nicht nur aufDeutschland, daher wird von solchen Hochrech-nungen abgesehen.

2.11 Fazit der Unfallanalyse

Die Analyse des Unfallgeschehens wurde auf zwei-erlei Arten durchgeführt. Einerseits wurden fürFahrdynamikregelungen mit Hilfe von Expertenbe-fragungen und Detailanalysen relevante Unfallklas-sen gebildet und ihr Anteil am Unfallgeschehen ab-geschätzt. Andererseits wurde ein konkretes Sys-tem (Rollwinkelstabilisierung) ausgewählt und derEinfluss dieses Systems mit Hilfe der GDV-Daten-bank abgeschätzt.

Aufgrund der Datenmenge ist die Analyse des Un-fallgeschehens nach ersterer Methode sicherlichstark fehlerbehaftet. Ohne eine Vielzahl von Annah-men wäre eine Abschätzung der Häufigkeit der Un-fallklassen nicht möglich gewesen. Als Ergebnisliegt eine Beeinflussbarkeit von 8 % der Motorrad-unfälle vor.

Die aufgrund der großen Datenmenge statistischdeutlich besser abgesicherte Auswertung der GDV-Datenbank nach der Wirksamkeit eines konkretenSystems geht von einer Beeinflussbarkeit von 4 bis8 % des Unfallgeschehens aus.

Trotz der begrenzten Aussagekraft der beiden ein-zelnen Untersuchungen lässt das Gesamtbild alsoeine Beeinflussbarkeit in der Größenordnung um 4 bis 8 % der Unfälle vermuten.

3 Methodik und Werkzeuge

3.1 Methodik

Aus der Unfallanalyse sind für zukünftige Fahrdy-namikregelungen relevante Unfallklassen bekannt.Zur Definition möglicher Fahrdynamikregelsystemeist eine Modellvorstellung der Fahrdynamikwährend der kritischen Fahrsituation erforderlich.

20

55 Motorzweiräder mit amtlichem Kennzeichen und Kraftroller56 nur Motorräder mit einem Hubraum > 125 cm2 , ohne Kraf-

troller57 ELLINGHAUS, Fahrvergnügen, 1998, S. 23358 ELLINGHAUS, Fahrvergnügen, 1998, S. 233

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Diese Modellvorstellung wird gebildet anhand theo-retischer Überlegungen zum Fahrzeugverhalten.Eine Überprüfung der Modellvorstellung erfolgtdurch Vergleich mit Messdaten, die in Fahrversu-chen gewonnen wurden. Gelingt es mit den Mess-daten nicht, die Modellvorstellung zu falsifizieren,wird sie als bewährt und damit für den betrachtetenFall als gültig angesehen.

Eine Methode zur Erkennung der kritischen Fahrsi-tuationen wird aus den Modellvorstellungen abge-leitet und anhand kritischer und unkritischer Fahrsi-tuationen auf Funktion und Robustheit überprüft.

Ebenfalls aus der Modellvorstellung werden sinn-volle Beeinflussungsmöglichkeiten der Fahrdyna-mik, Regelstrategien hierzu und Anforderungen andie Aktorik ermittelt. Die Realisierbarkeit zukünftigerFahrdynamikregelsysteme wird durch einen Ver-gleich der Anforderungen an Aktorik und Fähigkei-ten aktueller und zukünftiger Aktorik abgeschätzt.

Aus den Methoden zur Erkennung kritischer Fahr-situationen und den Möglichkeiten zur Beeinflus-sung der Fahrdynamik des Fahrzeugs in diesen Si-tuationen ergeben sich konkrete Konzepte fürzukünftige Fahrdynamikregelungen.

3.2 Versuchsmethodik

Ziel der Fahrversuche ist die Gewinnung von fahr-dynamischen Daten der Unfallklassen, die in Kapi-tel 2 als relevant definiert wurden. Unter Einhaltungder Sicherheit der Versuchsfahrer wurden dieseUnfallklassen möglichst realistisch nachgestellt. DieVerletzungsgefahr des Fahrers sinkt mit der gefah-renen Geschwindigkeit. Je geringer der Reibwert,desto geringer ist die übertragbare Seitenkraft undumso größer ist der stabil fahrbare Kurvenradius.

Ziel war es, ein Gleiten des Fahrzeugs (und damitdas Unterschreiten des stabil fahrbaren Kurvenra-dius) bei möglichst geringen Geschwindigkeiten zuerzielen.

Bei Unterschreiten des minimalen Kurvenradiusstürzt das Motorrad auf die Schutzvorrichtung. Esbaut die noch vorhandene Geschwindigkeit übereine annähernd geradlinige translatorische Bewe-gung ab. Der Bewegung überlagert ist eine Gier-drehung. Erreicht das unkontrolliert rutschendeFahrzeug wieder eine Zone mit Hochreibwert, kannes zu einer schnellen Rollbewegung des Fahrzeugskommen, die vom Fahrer nicht vorauszusehen ist.Ziel zum Schutz des Fahrers ist, das Auslaufen desMotorrades mit großer Wahrscheinlichkeit aufFlächen mit Niedrigreibwert durchzuführen.

Im Fahrsicherheitszentrum Hockenheimring desADAC existiert eine bewässerbare Kreisbahn miteinem Reibwert von etwa µ = 0,2 (Epoxydharz). Esist die nach Kenntnis der Projektbearbeiter größteEpoxydharzkurvenbahn in Deutschland und demnahen Ausland.

Tabelle 6 zeigt einen Überblick über die relevantenUnfallklassen und korrespondierenden Fahrversu-che, falls für den Fahrer sicher möglich.

Die Versuche wurden in vier Varianten durchge-führt. Variante 1 und 2 stellen einen Reibwert-sprung nach. Das Versuchsfahrzeug befährt mitannähernd konstantem Kurvenradius von ca. 20 mund annähernd konstanter Fahrgeschwindigkeit

21

59 Eine Beschleunigung auf der Gleitfläche erhöht das Risikoeines Reibwertsprungs niedrig-hoch für das gleitende Mo-torrad. Das Verhalten in diesem Fall ist nicht vorhersehbar.

60 Ein Bremsen des Hinterrades wurde aus Sicherheitsgrün-den nicht durchgeführt.

Tab. 6: Darstellbarkeit von kritischen Fahrsituationen (s. Tabelle 3) im Fahrversuch

Beschreibung Darstellbar im Fahrversuch

Gleiten Hinterrad nach Reibwertsprung hoch-niedrig Variante 1 und 2: Reibwertsprung

Gleiten Hinterrad durch zu hohes Motormoment Aus Sicherheitsgründen nicht darstellbar59

Gleiten Vorderrad nach Reibwertsprung hoch-niedrig Variante 1 und 2: Reibwertsprung

Destabilisierung nach Gleiten beider Räder Variante 1 und 2: Reibwertsprung

Gleiten beide Räder nach Reibwertsprung hoch-niedrig Variante 1 und 2: Reibwertsprung

Hinterrad gleitet durch Motorschleppmoment Aus Sicherheitsgründen nicht darstellbar60

Gleiten des Hinterrades nach Überschreiten der maximalenQuerbeschleunigung

Variante 3 und 4: Überschreiten der maximalen Querbeschleu-nigung

Destabilisierung nach Gleiten des Vorderrades Variante 1 und 2: Reibwertsprung

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von ca. 30 km/h (Geschwindigkeitsvorgabe an dieFahrer) die Gleitfläche (Reibwertsprung von etwa µ = 0,8). Die Querbeschleunigung ist etwa 3,5 m/s2.Variante 1 und 2 unterscheiden sich durch dieTrennung der Kupplung vor Befahren der Gleit-fläche (Variante 1 mit getrennter Kupplung).

Variante 3 und 4 stellen ein Wegrutschen des Fahr-zeugs durch Überschreiten der maximalen Querbe-schleunigung nach. Das Fahrzeug befährt die Gleit-fläche mit einer Querbeschleunigung deutlich unter2 m/s2 und damit deutlich innerhalb des Kamm’-schen Kreises. Nach Erreichen der Gleitfläche er-höht der Fahrer den Rollwinkel, bis das Fahrzeugschließlich gleitet. Auch hier besteht der Unter-schied zwischen den Varianten 3 und 4 in der Kupp-lungsbetätigung (Variante 3 mit getrennter Kupp-lung).

Das Erreichen der Gleitfläche wird über eine Licht-schranke erkannt. Der Aufschlag des Fahrzeugsauf der Schutzvorrichtung zeigt sich deutlich alsMaximum der Rollbeschleunigung.

Einen Überblick über den Versuchsaufbau zeigtBild 5, einen Eindruck vom Ablauf der Fahrversu-che zeigt Bild 6.

3.3 Versuchsfahrzeug

Als Versuchsfahrzeug kommt eine BMWR1150RT61 zum Einsatz. Das Fahrzeug verfügtüber Einrichtungen zum Messen von

• Beschleunigungen in allen drei Raumrichtun-gen62,

• Drehraten in allen drei Raumrichtungen63,

• Raddrehzahlen64,

• Lenkerdrehwinkel, Stellung der Brems- undKupplungsbetätigung65,

• Lage im Raum über einen Faserkreisel66.

Die Verarbeitung der Messdaten erfolgt über einenMess-CAN-Bus. Die Sensorsignale wurden mit 100Hz abgetastet.

Zur Vermeidung von Verletzungen des Fahrers undSchäden am Fahrzeug im Falle eines Sturzes istdas Motorrad mit einem demontierbaren Sturz-schutz ausgestattet. Er begrenzt den Rollwinkel aufWerte von maximal ca. 25°. Der Aufschlag desFahrzeugs auf die Schutzvorrichtung ist durch Elas-tomerdämpfer gedämpft. Das Versuchsfahrzeugund die Schutzvorrichtung zeigt Bild 7.

22

Bild 5: Versuchsaufbau im ADAC FahrsicherheitszentrumHockenheim

61 siehe Produktbeschreibung von BMW Motorrad62 Verbaut sind aus dem Automotive-Bereich bekannte Be-

schleunigungssensoren der Typen VTI SCA1020 undSCA610.

63 Bosch DRS-MM1.0, BEI Gyrochip AQRS64 Zur Messung der Raddrehzahlen werden die serienmäßig

verbauten ABS-Drehzahlsensoren verwendet65 Hall-Elemente66 GeneSys Systems ADMA, www.genesys-offenburg.de

Bild 6: Versuchsdurchführung, Motorrad schlägt auf dieSchutzvorrichtung auf

Bild 7: Versuchsfahrzeug (Pfeil: Schutzvorrichtung)

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3.4 Erforderliche Messgrößen

Ziel ist die Ableitung von Kriterien zur Erkennungkritischer Fahrsituationen von Motorrädern als ers-ten Schritt in Richtung Fahrdynamikregelungen fürMotorräder. Aus diesem Ziel leiten sich die aufzu-nehmenden Messgrößen ab.

Aufgabe einer Fahrdynamikregelung ist es, denFahrzustand eines Fahrzeugs zu stabilisieren, alsounerwünschte Bewegungen zu unterbinden. Aufzu-nehmende Messgrößen sind die Bewegungen derrotatorischen und translatorischen Freiheitsgrade.

Die Integration der (translatorischen und rotatori-schen) Beschleunigungen führt zu (translatorischenund rotatorischen) Geschwindigkeiten, deren Inte-gration wiederum zu Wegstrecken und Winkeln.

Prinzipiell enthalten die genannten Signalkategori-en dieselbe Information. Durch die Filterwirkungeiner Integration wirken sich am Motorrad auftre-tende Vibrationen67 auf Beschleunigungen jedochverhältnismäßig stärker aus als auf Lagegrößen.

Als Kompromiss werden zur Analyse der Bewe-gung des Fahrzeugs die Winkelgeschwindigkeitenin den drei Raumrichtungen betrachtet (fahrbahn-festes Koordinatensystem), die sich messtechnischwesentlich einfacher erfassen lassen als translato-rische Geschwindigkeiten und absolute Winkel undStrecken. Bei Einsatz der Kreiselplattform stehenauch Informationen über absolute Winkel in hoherGenauigkeit zur Verfügung.

Der Lenkerdreh- und Rollwinkel des Fahrzeugssind weitere wichtige Größen für die Beurteilungder Fahrsituation eines Motorrades. Der Lenker-drehwinkel wird sowohl vom Fahrer als auch vonden zwischen Vorderrad und Fahrbahn wirkendenMomenten beeinflusst. Der Rollwinkel gibt dieSchräglage im Raum an und dient damit zum Bei-spiel der Umrechnung der Drehraten vom fahr-zeugfesten in das erdfeste Koordinatensystem.

Zur Analyse stehen die Daten von insgesamt 49Fahrten zur Verfügung (s. Tabelle 7).

3.5 Numerische Simulation der Unfall-klasse „Reibwertsprung“

Aus Sicherheitsgründen können Fahrversuche zumNachstellen von kritischen Fahrsituationen nur beigeringen Geschwindigkeiten durchgeführt werden.Der Einfluss beispielsweise der Kreiselwirkung derRäder ist bei solchen Geschwindigkeiten noch ge-ring. Auch der Variation der Querbeschleunigungund des Reibwertes sind durch das zur Verfügungstehende Versuchsgelände Grenzen gesetzt.

Für Aussagen über diese Bereiche wird ein Simula-tionsmodell genutzt. Es basiert auf dem kommerzi-ellen Motorradmodell VI/Motorcycle68 (Mehrkörper-simulation) und ist an die Parameter des Versuchs-motorrades angepasst. Als Reifendaten kommenvom Reifenhersteller69 zur Verfügung gestellte Pa-rameterdateien zum Einsatz.

3.5.1 Validierung des Simulationsmodells

Das Motorradmodell VI/Motorcycle wird in der Mo-torradindustrie vor allem in Vorentwicklungsberei-chen angewendet und bildet Motorräder für solcheZwecke hinreichend detailliert ab. Für den vorlie-genden Fall der Simulation von Motorradunfällenwird die Software bisher nicht eingesetzt. Eine Ge-genüberstellung von Simulationsergebnissen undMessdaten erlaubt Rückschlüsse auf die Simulati-onsgüte. Simulationen werden nur für die Unfall-klasse Reibwertsprung durchgeführt – eine Simula-tion der Unfallklasse „Überschreiten der maximalen

23

Tab. 7: Anzahl der Versuchsfahrten und eingesetzte Messtechnik

Versuchsreihe Variante 1 Variante 2 Variante 3 Variante 4 Messtechnik

1, 9.8.2005 4 10 12 10 seriennahe Sensorik70

2, 20.6.2006 9 - 4 - Versuchsmesstechnik71

67 Motorräder haben oft starr mit dem Rahmen verbundeneMotoren. Die freien Massenschwingungen dieser Motoren(hier: 2-Zylinder-Boxermotor, freie Momente erster Ord-nung) führen zu Vibrationen des Fahrzeugs, die je nachÜbertragungsverhalten des Rahmens und gewählter Motor-drehzahl die Messwerte der am Fahrzeugrahmen ange-brachten Inertialsensorik stören.

68 http://www.vi-grade.com/6motor.html, Abruf am 28.2.200769 zur Verfügung gestellt von Pirelli Pneumatici SpA, Italien70 Hier wurde Sensorik eingesetzt, die Teil von Fahrdynami-

kregelungen für Zweispurfahrzeuge ist (mikromechanischeDrehratensensoren, übliche Beschleunigungssensoren).

71 Hier wurde eine Messtechnik mit deutlich erhöhter Genau-igkeit gegenüber der Seriensensorik eingesetzt.

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Querbeschleunigung“ erfordert eine umfangreicheModifizierung72 des Simulationsmodells.

Wesentlicher Parameter bei der Simulation derReibwertsprünge ist der Reibwert der Gleitfläche.Die Gleitfläche besteht aus Epoxydharz. FürEpoxydharz ist das Reifenverhalten nicht bekannt,eine Vorhersage des Querreibwertes daher nichthinreichend genau möglich. Dieser Reibwert ist zu-sätzlich stark abhängig von der Wasserfilmtiefe undder lokalen Fahrbahnbeschaffenheit. Beide Para-meter sind auf der Gleitfläche unter Versuchsbedin-gungen nicht hinreichend konstant zu halten. DerReibwert zwischen Reifen und Fahrbahn ist dahereinziger Freiheitsgrad des Simulationsmodells. Erist für beide Reifen gleich und wird zwischen denGrenzen 13,5 % bis 23,5 % der maximal möglichenHaftung (µmax ≈ 1,3) variiert. Als während der Sturz-fahrt herrschender Reibwert wird der Wert angese-hen, der die beste Übereinstimmung der Simula-tionsergebnisse mit der Realität zeigt.

Das Modell wird dann als bewährt angesehen,wenn die Gier- und Rollbewegungen mit den realgemessenen charakteristischen Merkmalen inner-halb ihrer Streuung übereinstimmen. Als Maß fürdie Gier- und Rollbewegungen werden die Drehra-ten im Zeitbereich betrachtet. Kriterium für denGrad der Übereinstimmung zwischen Messung undSimulation ist die mittlere Abweichung zwischen

Mess- und Simulationswerten, bezogen auf dieMessgröße der Versuchsfahrt im Bereich von 0 bis0,2 Sekunden nach Befahren der Gleitfläche.

Die Simulationsgüte ist die vektorielle Addition derAbweichung von Gierrate und Rollrate. Für einenGroßteil der Fahrten liegt die Simulationsgüte inBereichen von 10 % relativer Abweichung, sieheBild 9.

Unabhängig von der Abweichung der simulierten zuden gemessenen Werten zeigt das Simulationsmo-dell die wesentlichen fahrdynamischen Effekte derUnfallklasse Reibwertsprung. Es kann also für Un-tersuchungen weiterer Geschwindigkeits- undReibwertbereiche eingesetzt werden.

Einen Vergleich zwischen Messwerten und Simula-tionsergebnissen (hier beispielhaft für Fahrt 6) zeigtBild 8. Andere untersuchte Messfahrten unterschei-den sich nicht wesentlich von dieser Fahrt.

4 Motorradbewegung währendkritischer Fahrsituationen

Als Basis der Modellbildung dienen die Zeitschrie-be der Messgrößen während der kritischen Fahrsi-tuationen. Ziel ist es, diese Beobachtungen anhandeiner Modellvorstellung zu erklären. Auffällige Än-derungen im zeitlichen Verlauf weisen die Aufzeich-nungen der Drehraten (Gierrate, Rollrate), derQuerbeschleunigung und des Lenkwinkels auf,während die Messgrößen Geschwindigkeit undNickbewegung nur geringe Änderungen zeigen und

24

Bild 8: Vergleich der Messwerte und Simulationen für Fahrt 6,Versuchsreihe 2. Die Rollrate wurde zum Bezugszeit-punkt t = 0 auf 0 gesetzt

Bild 9: Relative Abweichungen zwischen Simulation und Mess-ergebnissen. Die Fahrten 2, 7, 11 können als Ausreißerangesehen werden und sind daher nicht dargestellt.Hier ist die Rollrate zum Zeitpunkt des Befahrens derGleitfläche deutlich von null verschieden

72 Insbesondere der Fahrerregler reagiert deutlich schnellerauf Störungen der Fahrdynamik als menschliche Fahrer(0,01 Sekunden gegenüber 0,7 bis 1,5 Sekunden).

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nicht weiter für eine Überprüfung von Modellvor-stellungen eingesetzt werden können.

4.1 Unfallklasse „Reibwertsprung“

In Bild 10 dargestellt ist die Gierrate bei allen Fahr-versuchen des Typs „Reibwertsprung“. Zum Zeit-punkt t = 0 s erreicht das Vorderrad die Gleitfläche,etwa 0,2 Sekunden später das Hinterrad. Es fälltauf, dass der Betrag der Gierrate bei Befahren derGleitfläche durch das Vorderrad abfällt und an-schließend bei Befahren der Gleitfläche durch dasHinterrad (t = 0,2 s) wieder ansteigt. Der Verlauf derkritischen Fahrsituation ist offensichtlich in zweiPhasen geteilt. Dies zeigt sich auch im Mittelwertder Gierrate (Bild 11).

Die Rollrate steigt in Phase 2 deutlich stärker als inPhase 1, dies ist sowohl bei einzelnen Graphen

(Bild 12) als auch bei einer Mittelwertbetrachtung(Bild 13) erkennbar.

Der Lenkwinkel verändert sich in Phase 1 der kriti-schen Fahrsituation nicht deutlich. Die Verläufe desLenkwinkels in Phase 2 der kritischen Fahrsituationweisen starke Streuungen auf (Bild 14). Der Mittel-

25

Bild 10: Gierrate der Unfallklasse „Reibwertsprung“

Bild 11: Gierrate (hier als Differenz zur Gierrate zum Zeitpunktt = 0), Mittelwerte jeweils für Variante 1 (Versuchsreihe1, 2) und Variante 2 (Versuchsreihe 1)

Bild 12: Rollrate

Bild 13: Rollrate, Mittelwert

Bild 14: Lenkwinkel

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wert des Lenkwinkels (Bild 15) ändert sich in Phase2 nicht deutlich.

Die Querbeschleunigung (Bild 16) ist in Phase 2deutlich kleiner als in Phase 1 und vor Beginn derkritischen Fahrsituation. Es zeigt sich auch, dassdie Querbeschleunigungswerte stark schwanken.Das Messrauschen ist durch den Fehler der nume-rischen Differentiation erklärbar. Die Querbeschleu-nigung ist bezogen auf die Radaufstandslinie. Ver-einfacht gilt:

Der maximale Messfehler für die Querbeschleuni-gung in der Radaufstandsebene ist

Als Fazit lässt sich festhalten:

• Es existiert kein wesentlicher Unterschied zwi-schen Variante 1 und 2 (ausgerückte bzw. ein-gerückte Kupplung),

• Roll- und Gierrate scheinen als Kriterien zurReibwertsprungdetektion bei diesen Standard-fahrten geeignet zu sein.

4.2 Überschreiten der maximalenQuerbeschleunigung

Für die Fahrsituation „Überschreiten der maximalenQuerbeschleunigung“ existiert offensichtlich keineindeutiger Zeitpunkt des Beginns der kritischenFahrsituation. Als Zeitpunkt t0 = 0 wird der Zeitpunkt

26

Bild 15: Lenkwinkel, Mittelwert

Bild 16: Querbeschleunigung

Bild 17: Gierrate der Unfallklasse „Überschreiten der maxima-len Querbeschleunigung“. Zum Zeitpunkt t = 0s schlägtdas Fahrzeug bei einem Rollwinkel von etwa 25° aufdie Schutzvorrichtung auf. Ab diesem Zeitpunkt ist dasFahrzeug kein Einspurfahrzeug mehr, die Messdatenkönnen nicht mehr verwendet werden

Bild 18: Rollrate

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des Aufschlags auf die Schutzvorrichtung ausge-wählt.

Der Betrag der Gierrate (Bild 17) steigt in den letzten 0,2 Sekunden der Aufzeichnungen deutlichan. Auch die Rollrate (Bild 18) steigt etwa ab die-sem Zeitpunkt deutlich an. Eine Teilung der kriti-schen Fahrsituation in zwei Phasen ist nicht er-kennbar. Der Lenkwinkel (Bild 19) streut – ähnlichwie bereits bei der Unfallklasse „Reibwertsprung“ –deutlich.

Die Querbeschleunigung (Bild 20) zeigt keine Auf-fälligkeiten.

Als Zwischenfazit lässt sich wiederum feststellen:

• Roll- und Gierrate sind entscheidende Größen,Effekte sind aber nicht so markant wie bei Reib-wertsprung,

• es existieren wiederum keine deutlichen Unter-schiede zwischen Variante 3 und 4.

4.3 Beobachtete fahrdynamische Effekte

Durch eine Modellvorstellung zu erklärende Effektesind bei Reibwertsprüngen

• Sinken des Betrags der Gierrate in Phase 1,

• Steigen des Betrags der Gierrate in Phase 2,

• zweistufiges Steigen der Rollrate in Phase 1 und2,

• kein Steigen der Querbeschleunigung,

• kein Einfluss des Lenkwinkels auf die Gierratebei gleitendem Fahrzeug (Phase 2)

und bei der Unfallklasse „Überschreiten der maxi-malen Querbeschleunigung“

• Steigen des Betrags der Gierrate,

• einstufiges Steigen der Rollrate,

• kein Steigen der Querbeschleunigung,

• kein Einfluss des Lenkwinkels auf die Gierrate.

Ein Steigen des Betrags der Gierrate ohne Anstiegder Querbeschleunigung deutet auf eine Verände-rung des Schwimmwinkels des Fahrzeugs hin.

4.4 Ergänzende Simulationsunter-suchungen

Aus Sicherheitsgründen können Fahrversuche nurin einem kleinen Parameterbereich durchgeführtwerden. Simulationen erweitern den für eine Analy-se zur Verfügung stehenden Parameterbereich be-trächtlich.

Parameter des Simulationsmodells für die KlasseReibwertsprung sind

• die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt t = 0,

• der gefahrene Kurvenradius zum Zeitpunkt t = 0,

• der Reibwert der Gleitfläche.

Im Folgenden ist das Fahrzeugverhalten währendder kritischen Fahrsituation „Reibwertsprung“ be-schrieben unter Variation der Parameter Anfangs-querbeschleunigung, Kraftschlussausnutzung undFahrgeschwindigkeit. Ausgehend von den Parame-tern einer Messfahrt (Indizes 0) werden die anderenbeiden Parameter nach den folgenden Vorschriftenvariiert:

27

Bild 19: Lenkwinkel

Bild 20: Querbeschleunigung

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• Anfangsquerbeschleunigung:

• Differenz der Kraftschlussausnutzung:

• Fahrgeschwindigkeit (Variation der Fahrge-schwindigkeit und des Kurvenradius bei kon-stanter Querbeschleunigung):

Mit der Anfangsquerbeschleunigung steigt der Roll-winkel zu Beginn der kritischen Fahrsituation. DasRollmoment bei Verringerung der Seitenführungs-kraft steigt und beeinflusst damit den Verlauf derRollrate und die Dauer der kritischen Fahrsituation.Der Gierratenverlauf wird dagegen nur unwesent-lich beeinflusst (s. Bild 21, Bild 22).

Mit steigender Kraftschlussausnutzung fällt der Ein-bruch der Seitenkräfte an den jeweiligen Rädernbei Befahren der Gleitfläche drastischer aus. Eszeigt sich eine Verstärkung der beobachteten Ef-fekte (s. Bild 23, Bild 24).

28

Bild 21: Gierrate unter Variation der Anfangsquerbeschleuni-gung (Pfeil: steigender Betrag der Querbeschleuni-gung)

Bild 22: Rollrate unter Variation der Anfangsquerbeschleuni-gung (Pfeil: steigender Betrag der Querbeschleuni-gung)

Bild 23: Gierrate unter Variation der Kraftschlussausnutzung(Pfeil: steigende Kraftschlussausnutzung in Phase 1)

Bild 24: Rollrate unter Variation der Kraftschlussausnutzung(Pfeil: steigende Kraftschlussausnutzung

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Mit steigender Fahrgeschwindigkeit sinkt die Zeit-lücke zwischen beiden Rädern. Weiterhin steigendie Kreiselmomente der Räder und damit die Kopp-lung zwischen Gier- und Rollbewegung. Die Roll-bewegung wird eher gering beeinflusst, die Gier-drehung hingegen nimmt zu (s. Bild 25, Bild 26).

5 Modellvorstellung der Bewe-gung eines gleitenden Motor-rades

Bei Fahrversuchen wurden stetig steigende, kur-veneindrehende Beträge der Gierrate des an bei-den Rädern gleitenden Motorrades ohne korre-spondierenden Anstieg der Querbeschleunigungsowie stetig steigende Rollraten beobachtet. Zieldieses Kapitels ist die Erklärung dieser kurvenein-drehenden Bewegung des Fahrzeugs und die Ge-winnung einer Modellvorstellung der Bewegungeines an einem oder beiden Rädern gleitenden Mo-torrades.

Die steigenden Gierraten deuten auf eine Änderungder Schwimmbewegung des Fahrzeugs hin. EineSchwimmbewegung ist eine Verdrehung derLängsachse des Fahrzeugs zu seinem Kurs. Er-klärbar sind diese Schwimmbewegungen durch Effekte der Rollbewegung nach kurveninnen. Fürdie weiteren Betrachtungen wird das Fahrzeug alsStarrkörper modelliert. Das zugrunde liegende Mo-dell mit allen wirkenden Kräften, Winkeln undStrecken ist in Bild 28 dargestellt. Ausgehend voneiner freien Bewegung des Schwerpunktes imRaum (3 rotatorische und 3 translatorische Frei-heitsgrade) und Lagerungsbedingungen (Auf-standspunkte der Räder sollen auf der Fahrbahnverbleiben) werden die Bewegungsgleichungen fürQuerbewegung, Schwimmbewegung und Roll-bewegung aufgestellt. Die Gleichungen derSchwimmbewegung und der Rollbewegung werdenauf Stabilität untersucht.

5.1 Modellbildung und Koordinaten-systeme

Das Fahrzeug wird als Starrkörper betrachtet, gela-gert an den Radaufstandspunkten vorne und hin-ten. Die Radaufstandspunkte sollen auf der Fahr-bahn verbleiben. Die Fahrzeugreifen werden alsideal schmal angenommen. Die verwendeten Koor-dinatensysteme zeigt Bild 27, eine Skizze der ver-wendeten Längen und Winkel zeigt Bild 28.

Zur Beschreibung der Bewegungen verwendet wer-den drei Koordinatensysteme:

• ein raumfestes Koordinatensystem (Inertial-system) ϕinertial,

• ein Koordinatensystem, dessen x-Achse die Be-wegungsrichtung des Fahrzeugs beschreibt,zum Intertialsystem verdreht um den Winkel

• ein mit dem Fahrzeug mitbewegtes Koordina-tensystem, dessen x-Achse durch die Radauf-standspunkte des Fahrzeugs verläuft, zumFahrtrichtungssystem verdreht um den Winkel

• ein an den Hauptachsen des Fahrzeugs orien-tiertes Koordinatensystem, zum Aufstandslinien-system verdreht um den Winkel [ λ 0 0 ]’.

29

Bild 25: Gierrate unter Variation der Geschwindigkeit (Pfeil:steigende Fahrgeschwindigkeit)

Bild 26: Rollrate unter Variation der Geschwindigkeit (Pfeil:steigende Fahrgeschwindigkeit)

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Alle Koordinatensysteme sind Rechtssysteme. Diez-Achse steht (außer im Fahrzeugkoordinaten-system) senkrecht auf der Fahrbahn. Aus der Dre-hung des Fahrtrichtungssystems zum Inertial-system resultiert eine Scheinkraft

am Fahrzeugschwerpunkt. Die Giergeschwindigkeitdes Fahrzeugs im Inertialsystem ist

Eine Koordinatenumrechung zwischen Aufstandsli-niensystem und Fahrzeugsystem (gestrichen dar-gestellt) erfolgt mit der Transformationsmatrix T:

Die Umrechnung zwischen Fahrtrichtungssystem(zweigestrichen dargestellt) und Aufstandslinien-system erfolgt mit der Transformationsmatrix TBeta:

5.2 Bewegung des Fahrzeugs im Relativsystem

Für die Betrachtung der Fahrzeugbewegung wirddas Radaufstandsliniensystem verwendet, in demdie Radkräfte wirken. Da die Masse des Fahrzeugsin allen Raumrichtungen gleich ist, kann die New-tongleichung im fahrbahnbezogenen Koordinaten-system angeschrieben werden.

Die Euler- und Newtongleichungen beschreiben dieImpulsänderung eines Körpers als Funktion dereinwirkenden Kräfte und Momente:

Bei unveränderlicher Masse und unveränderlichemMassenträgheitsmoment vereinfachen sich dieGleichungen zu

Die translatorische Bewegungsgleichung des Fahr-zeugs kann wegen der in allen Richtungen gleichenMasse im Fahrtrichtungssystem aufgestellt werden.Sie ist dann

30

Bild 27: Kurvenfahrt eines Motorrades in der Draufsicht

Bild 28: Modellvorstellung für das Motorrad in Kurvenfahrt, dar-gestellt im Aufstandsliniensystem

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Die Trägheitsmomente unterscheiden sich für dieverschiedenen Raumrichtungen. Eine Berechnungder Fahrzeugbewegung erfordert Transformationenins fahrzeugfeste Koordinatensystem:

Auf das Fahrzeug wirken die Seitenkräfte und Nor-malkräfte von Vorder- und Hinterrad sowie dieFliehkraft am Schwerpunkt. Im Aufstandsliniensys-tem sind sie

Für die Momentenbetrachtung sind nur die Kräfterelevant, die außerhalb des Schwerpunktes an-greifen (und damit einen Hebelarm zum Schwer-punkt haben). Als weiterer Summand stehen in derSumme der Momente die Kreiselmomente, dieaus Änderungen des Fahrzeugdralls resultieren

Die translatorische Bewegungsgleichung des Fahr-zeugs ist damit festgelegt durch

und im Fahrtrichtungssystem

Die rotatorische Bewegungsgleichung im Fahrtrich-tungskoordinatensystem ist

In den folgenden Betrachtungen und Herleitungenist die gyroskopische Kopplung der Momentenglei-chungen über Kreiselmomente vernachlässigt. DerBetrag des Drallvektors ist proportional zur Rad-drehgeschwindigkeit. Für kleine Geschwindigkeiten

31

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sind die Kreiselmomente vernachlässigbar73. Messwerte stehen nur für diese Geschwindigkeits-bereiche zur Verfügung. Eine Überprüfung des Ein-flusses der Kreiselkopplung folgt im Kapitel „Über-tragbarkeit“.

Unter der Annahme, dass das motorradfeste Koor-dinatensystem ein Hauptachsensystem ist (nur dieHauptdiagonale des Trägheitstensors ist besetzt),gilt Gleichung (5.21).

Im Sinne einer übersichtlichen Darstellung der Glei-chungen werden sie im Folgenden dargestellt fürden Spezialfall „Schwimmwinkel ist null“. Weiterhinwerden gleiche Trägheitsmomente in Gier- undNickrichtung gefordert, der Lenkwinkel sei 0.

Die Vereinfachung gleicher Trägheitsmomentestellt einen Sonderfall der Motorradkonstruktiondar, ist prinzipiell aber denkbar. Vermutlich gilt die-ser Sonderfall für große und schwere Fahrzeugewie beispielsweise Honda Goldwing und BMWK1200LT. Die Bewegung ohne Schwimmwinkel ist

ein Sonderfall der Schwimmbewegung, ebenso wiedie Annahme verschwindenden Lenkwinkels. Fürdiese Vereinfachungen wird die Transformations-matrix Tbeta zur 1-Matrix. Für den Sonderfall„Schwimmwinkel ist null“ sind die Bewegungsglei-chungen in Gleichung (5.20) angegeben.

5.3 Lagerung des Fahrzeugs

Mit diesen Bewegungsgleichungen hat das SystemMotorrad zunächst 6 Freiheitsgrade. Da jedoch diebeiden Radaufstandspunkte auf der Fahrbahn ver-bleiben sollen, existieren Randbedingungen.

Die Höhe der Radaufstandspunkte über der Fahr-bahn sowie alle ihre Ableitungen sollen 0 sein. Auchhier soll wieder die Bedingung verschwindendenSchwimmwinkels und verschwindenden Lenkwin-kels gelten.

Für einen starren Körper errechnen sich Position,Geschwindigkeit und Beschleunigung an jedemPunkt i unter Kenntnis der Position, Geschwindig-keit und Beschleunigung am Schwerpunkt s sowieden Drehraten und Beschleunigungen im körper-festen Koordinatensystem mit den Gleichungen

Basis der Gleichungen ist das Fahrtrichtungssy-stem. Mit den Vektoren der Radaufstandspunkte

und der Drehung und Beschleunigung des Körpersim Fahrtrichtungssystem bei verschwindendemSchwimmwinkel

und

32

73 Beispielsweise liegen die Kreiselgiermomente, die aus derRollbewegung resultieren im einstelligen, Nm-Bereich.

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gilt dann

Die Nickbeschleunigung ergibt sich aus den Be-schleunigungen der Radaufstandspunkte in vertika-ler Richtung:

Aus den Gleichungen (5.32) und (5.33) ergibt sichfür die Nickbeschleunigung im Fahrtrichtungs-system

Auch aus der Bedingung erwächst keinWiderspruch. Das Nickgleichgewicht koppelt offen-sichtlich Schwimm- und Rollbewegung. Für dieSonderfälle „Schwimmwinkel = 0“ wird die Nickbe-schleunigung zu

Die Schwerpunktbeschleunigung in z-Richtung alsFunktion des Rollwinkels und seiner zeitlichen Ab-leitungen ist

Die Summe der Radaufstandskräfte ist mit (5.36)und dem Kräftegleichgewicht in z-Richtung (5.17)definiert:

Die Rollbewegung in Richtung kurveninnen(Schwerpunktbewegung nach unten) führt damit zueiner Entlastung der Räder.

Aus dem Nickgleichgewicht (5.20) und (5.34) folgtnach Umformen die Vorderradlast als Funktion vonSchwimmwinkel, Rollwinkel, Rollrate und statischerRadlast.

Eine der Rollbewegung nach kurveninnen überla-gerte Schwimmbewegung nach kurveninnen (ne-gative Schwimmwinkel, verschiebt dieRadlastverteilung zum Vorderrad hin. Ursache fürdiesen Effekt ist eine durch die Schwimmbewegunggeneigte effektive Rollachse. Die effektive Rollach-se im fahrzeugfesten System liegt am Hinterradhöher als am Vorderrad. Die Rollbewegung entlas-tet dann das Hinterrad stärker als das Vorderrad.

Mit

wird die Vorderradlast als Funktion der Gesamtrad-last

33

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Die Hinterradlast ist dann

Das Fahrzeug ist damit auf die unabhängigen Frei-heitsgrade Rollen, Gieren, Längsgeschwindigkeitreduziert, alle weiteren Bewegungen sind abhän-gig. Für kurveneindrehende Schwimmbewegungenist der Trägheitsterm negativ.

5.4 Stabilität der Bewegungs-gleichung für Rollen

Die eine kritische Fahrsituation bestimmende Be-wegung des Fahrzeugs ist die Rollbewegung. Sieführt zu einem stetig steigenden Rollwinkel. BeiRollwinkeln größer als 48°74 berührt das Fahrzeugdie Fahrbahn – ein Sturz tritt ein.

Die Bewegungsgleichung für Rollen als Funktionder bezogenen Seitenkräfte ist

Zur Analyse der Stabilität sei zunächst der Reibwertan beiden Rädern identisch und keine Rollge-schwindigkeit vorhanden. Dann gilt

Der Reibwert µ der Reifen ist eine Funktion desRollwinkels mit der Proportionalitätskonstante k :

Stabilität ist dann erreicht, wenn die Seitenkraft derReifen ausreicht, um das Gewichtsmoment auszu-gleichen:

Für begrenzte Reibwerte – wenn µ mit steigendemnicht mehr steigt – ist Stabilität nicht erreichbar.

34

74 je nach Fahrzeug – für das gegebene Versuchsfahrzeugwurde der maximale Rollwinkel experimentell zu 48° be-stimmt

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35

Die Bewegungsgleichung der Rollbewegung lautetmit den Vereinfachungen

und für nahezu verschwindende Schwimmwinkel

Für die Fahrsituation „Reibwertsprung“ beginntzunächst nur das Vorderrad zu gleiten. Die Seiten-führungskraft am Hinterrad ist noch eine Funktionvon Sturz- und Schräglaufwinkel und liegt auf demNiveau der stationären Kurvenfahrt Die Bewegungsgleichung für diesen Zeitpunkt ist inGleichung (5.44) angeben.

Durch die kurvenausdrehende Schwimmbewegungdes Fahrzeugs und damit sinkenden Schräglauf-winkel wird auch die Seitenführungskraft am Hin-terrad sinken. Erreicht das Hinterrad ebenfalls dieGleitfläche, wird sich nach einer gewissen Über-gangszeit an beiden Rädern ein annähernd glei-cher Reibwert einstellen. Für die Übergangsphasegilt

Für Gleiten an beiden Rädern und verschwindendeReibwertdifferenz ( µh = µv = µmax ) vereinfacht sichdie Bewegungsgleichung zu

Die Rollbewegung ist unabhängig von der Gierbe-wegung. Es wird also erwartet, dass sich die Roll-beschleunigung des Fahrzeugs in der Phase I zwi-schen den Werten der Gleichungen (5.44) und

(5.49) einstellt. Weiterhin wird ein Sprung der Roll-beschleunigung erwartet, sobald das Hinterrad dieGleitfläche erreicht hat (Phase II).

5.5 Stabilität der Bewegungs-gleichung für Schwimmen

Eine Aussage über die Stabilität der Schwimmbe-wegung erfordert die Definition des Schwimm-gleichgewichts als Funktion der äußeren Kräfte inder Form

Das Schwimmgleichgewicht ist für D < 0 instabil.Eine vorhandene Schwimmgeschwindigkeit führtdann zu einer Anfachung der Schwimmbewegung.Die Herleitung der Stabilität der Schwimmbewe-gung wird ausführlich für den Sonderfall „Schwimm-winkel = 0°“ beleuchtet. Für den allgemeinen Fallwird lediglich der Dämpfungsterm D angegeben.

Im Folgenden werden die Seitenkräfte als bezoge-ne Kräfte formuliert:

Beide Räder befinden sich im Gleitzustand, der Be-trag der auf die Radlast bezogenen Seitenkräfte seigleich dem maximalen Reibwert der Gleitfläche.

Die Auswirkung der Radlastverschiebung auf dieSchwimmbewegung zeigt das Schwimmgleichge-wicht

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Dies ist eine Differenzialgleichung der Form

mit dem negativen Dämpfungskoeffizient

und der Anregung

Für eine überlagerte Rollbewegung und unabhängi-ge bezogene Seitenkräfte an den Rädern (beideRäder gleiten in der Sättigung) ist die Schwimmbe-wegung also instabil. Aus einer labilen Ruhelageheraus wird sich die Schwimmbewegung in Rich-tung der Anregung verstärken.

Der Dämpfungsterm für von null verschiedeneSchwimmwinkel ist

Für die betrachteten Fahrsituationen75 liegt derFehler bei Vernachlässigung des Schwimmwinkelsbei maximal 10 %. Den auf die Rollrate bezogenenDämpfungswert für größere Schwimmwinkelzeigen Bild 29 und Bild 30. Die Dämpfung sinkt pro-gressiv für große Beträge des Schwimmwinkels.

Die Anfachung verschwindet für stationäre Rollzu-stände und für Verschwinden des Reibwertes amVorderrad. Sind die Räder noch nicht in der Sätti-gung , ist µ eine Funktion desSchräglaufwinkels und des Sturzwinkels und damitdes Rollwinkels der Räder. Der Schräglaufwinkel isteine Funktion von und . Eine Stabilität ist alsodenkbar.

5.6 Vergleich der Modellvorstellungenmit Messdaten

Für eine Falsifizierung der Modellvorstellung stehenMessdaten zur Verfügung. Eine Falsifizierung liegtdann vor, wenn Vorhersagen des Modells im Wider-spruch zu den beobachteten Messgrößen stehen.Sind keine Widersprüche festzustellen, so wird voneiner bewährten Modellvorstellung ausgegangen.

36

75 Fahrsituation definiert durch Schwimmwinkel < 10°, Rollwin-kel von etwa 20°, für das Fahrzeug gelten Trägheitsmo-mente um die Roll- und Gierachse ähnlich, maximale Reib-wertdifferenz 0,2, lv = hs

Bild 29: Dämpfungswert für gleiche Reibwerte, Variation desReibwertes

Bild 30: Dämpfungswert für Reibwertdifferenzen

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5.6.1 Schwimmbewegung

Die Modellvorstellung geht von einem Starrkörperaus, der keinen Freiheitsgrad einer Verformung hat.Die Nickbeschleunigung, die für die Radlastverän-derung und damit für die Kopplung von Roll- undSchwimmbewegung ursächlich ist (s. Gleichung(5.35) und Gleichung (5.52)) ist in diesem Fall einProdukt von Rollrate und Schwimmgeschwindig-keit.

Sowohl das reale Motorrad als auch das numeri-sche Simulationsmodell verfügen über einen Nick-freiheitsgrad. Der Aufbau des Fahrzeugs kann sichum die fahrzeugfeste y-Achse verdrehen, ohnedass die Räder Kontakt zur Fahrbahn verlieren. DieNickbeschleunigung setzt sich in diesem Fall zu-sammen aus dem Produkt von Rollrate undSchwimmgeschwindigkeit und der Drehbeschleuni-gung des Fahrzeugaufbaus um die (fahrbahnbezo-gene) y-Achse:

Der Nickanteil des Fahrzeugaufbaus führt zu einemverzögerten Aufbau der Radlastverschiebung unddamit zu einer zeitlichen Verzögerung der Kopplungzwischen Schwimmgeschwindigkeit und Rollrate.Nach der Modellvorstellung und unter Berücksich-tung des Aufbaunickens gilt nach (5.52)

Die Schwimmbeschleunigung des Fahrzeugs setztsich aus zwei Anteilen zusammen, die vom mittle-ren Reibwert beziehungsweise der Reibwertdiffe-renz abhängig sind.

Die messtechnische Bestimmung der Schwimmbe-schleunigung ist stark fehlerbehaftet. Unter Berück-sichtigung dieser Fehler ist eine Falsifizierbarkeitder Modellvorstellung nicht mehr gegeben. Im Fol-genden wird die Modellvorstellung anhand vonDaten aus dem numerischen Simulationsmodell imVergleich mit der analytischen Berechnung über-prüft.

In Bild 31 und Bild 32 dargestellt ist die Schwimm-beschleunigung einer Simulationsfahrt als Funktiondes Produktes aus Schwimmgeschwindigkeit undRollrate. Für die Simulationsfahrten ist der mittlereReibwert µ bekannt. Eingetragen sind weiterhin dieKurven der erwarteten Schwimmbeschleunigungfür konstantes ∆µ ohne Berücksichtigung des Auf-baunickens. Aufbaunicken führt zu einem zeitlichenVerzug der Koppelung zwischen Schwimm- undRollbewegung, der Graph nähert sich dem ∆µ ent-sprechenden Verlauf nicht plötzlich, sondern mitzeitlichem Verzug an. Die Reibwertdifferenz zwi-

37

Bild 31: Schwimmbeschleunigung (korrigiert um die Kreiselwir-kung der Laufräder) als Funktion des Produktes ausRollrate und Schwimmgeschwindigkeit für eine Simu-lationsfahrt (durchgezogen) mit den Parametern vonFahrt 5, Versuchsreihe 2, als Beispiel für eine Fahrt,die die Modellvorstellung (gestrichelt eingezeichnet:erwarteter Verlauf als Funktion des Reibwertunter-schiedes µh – µv) bestätigt. Zum Zeitpunkt t1 befährtdas Fahrzeug mit beiden Rädern die Gleitfläche. Mitfortschreitender Zeit nähert sich die Simulation deranalytischen Lösung an

Bild 32: Schwimmbeschleunigung, gleiche Darstellung wie Bild31, Fahrt 1, Versuchsreihe 2, als Beispiel für eineFahrt, bei der für eine Erklärung der Schwimmbe-schleunigung große Reibwertunterschiede herangezo-gen werden müssen

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schen Vorderrad und Hinterrad wird durch die Ei-genschaften des Reifenmodells erklärt. Bei keinerbetrachteten Fahrt trat ein Widerspruch zur Modell-vorstellung auf.

5.7 Rollbewegung

Die Rollbewegung des Fahrzeugs ist nach der Mo-dellvorstellung beschrieben durch die Gleichungen(5.44) und (5.49). Für Reibwertsprünge sollzunächst Gleichung (5.44) gelten, die Rollbe-schleunigung soll sich nach Befahren der Gleit-fläche durch das Hinterrad an Gleichung (5.49)annähern.

Die Messwerte Rollwinkel und Rollrate sind deutlichgenauer bekannt als die Rollbeschleunigung, diedurch numerisches Differenzieren der Rollrate er-mittelt wird.

Der maximale Reibwert µmax sei für eine gegebeneFahrt konstant. Die Falsifizierbarkeit leidet an mög-licherweise lokal unterschiedlichen µ-Werten. DieModellvorstellung gilt dann als falsifiziert, wenn keinµmax gefunden werden kann, für welches die Roll-beschleunigung der Versuchsfahrten sich an-nähernd zwischen den Rollbeschleunigungsverläu-fen der beiden Gleichungen befindet und eine Ab-weichung nicht durch sich lokal änderndes µmax er-klärbar ist. Es zeigt sich, dass alle Fahrten der Klas-se „Reibwertsprung“ die gestaffelte Steigerung derRollbeschleunigung vorweisen. Beispielhaft sei hierFahrt 11 (Bild 33) dargestellt. Da lokale Reibwert-

unterschiede und Seitenneigungen des Fahrers ge-genüber seinem Fahrzeug nicht ausgeschlossenwerden können, sind die Abweichungen der Mess-werte von den dargestellten berechneten Rollbe-schleunigungen kein Anlass zur Falsifizierung derModellvorstellung.

5.8 Übertragbarkeit

Fehler der Ergebnisse können entstehen aus

• einer falschen Modellvorstellung,

• der Vereinfachung „gleiches Massenträgheits-moment in y- und z-Richtung“,

• der Vereinfachung „Vernachlässigung der Krei-selwirkung“,

• der Vereinfachung „verschwindender Lenkwin-kel“.

5.8.1 Modellvorstellung

Für diese einfache Betrachtung der Kopplung vonSchwimm- und Rollbeschleunigung ist das Fahr-zeug als Starrkörper modelliert. Die Räder einesFahrzeugs sind in der Realität nicht starr mit demHauptkörper (Rahmen) verbunden, sondern sindgefedert und gedämpft. Diese Federung undDämpfung erfordern weitere Freiheitsgrade: denNick- und den Hubfreiheitsgrad. Die Radlast wirddurch diese Verzögerung „geglättet“, es entstehtein Zeitverzug zwischen Körperbewegung undRadlastaufbau.

Die Kopplung zwischen Roll- und Schwimmbewe-gung resultiert aus der Radlastvermindungwährend der Rollbewegung. Durch Federung/Dämpfung kann ein zeitlicher Verzug zwischenRollbewegung und Schwimmbewegung entstehen.

5.8.2 Gleiches Massenträgheitsmoment in y- und z-Richtung

Die analysierten Gleichungen beinhalten die Verein-fachung gleichen Massenträgheitsmomentes umdie fahrzeugfeste Gier- und Nickachse. Die Lösungdes Giergleichgewichts wird ohne diese Vereinfa-chung sehr unhandlich. Ganz unrealistisch ist dieseVereinfachung dennoch nicht. Für das Versuchs-fahrzeug ist das Gierträgheitsmoment 55 kgm2, dasNickträgheitsmoment etwa 100 kgm2. Ein höheresGierträgheitsmoment wäre denkbar beispielsweisedurch Anbauten an der Front und am Heck. Der aus

38

Bild 33: Fahrt 11, gemessene Rollbeschleunigung und Erwar-tungswerte aus der analytischen Berechnung, Befah-ren der Gleitfläche zu den Zeitpunkten t = 0 s (Vorder-rad) und t = 0,18 s (Hinterrad)

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dieser Vereinfachung resultierende Fehler ist ver-mutlich gering und wird vermutlich nichts an der In-stabilität der Gierbewegung ändern.

5.9 Einfluss des Reifenverhaltens aufdie Fahrzeugbewegung in der kri-tischen Fahrsituation

Seitenkraft wird von Reifen zur Verfügung gestellt,wenn

• die Reifen schräg laufen, die Bewegungsrich-tung also nicht der Schnittgeraden von Symme-trieebene und Fahrbahn entspricht, oder

• die Reifen unter Sturz laufen, die Symmetrie-ebene also zur Fahrbahnnormalen geneigt ist.

Die maximale Seitenkraft ist begrenzt durch denmaximalen Reibwert zwischen Reifen und Fahr-bahn, der eine Funktion der Reifenkonstruktion, derFahrbahnoberfläche, des Zwischenmediums undder Aufstandskraft ist.

Der Schräglaufwinkel eines Reifens ist

Die Geschwindigkeiten sind hier bezogen auf dasFahrtrichtungskoordinatensystem. Es sind die Orts-vektoren der Radaufstandspunkte im Fahrtrich-tungssystem

und

Die Drehung des Fahrzeugs zum Inertialsystem ist

Die Geschwindigkeitsvektoren der Radaufstands-punkte ergeben sich mit Gleichung (5.22). DieSchrägläufe sind in Vektorschreibweise dann

und

Die Sturzwinkel der Reifen können mit geringemFehler76 mit dem Rollwinkel gleichgesetzt werden:

Die Seitenkräfte der Reifen sind dann mit i = v,h:

Die von den Reifen zur Verfügung gestellte Seiten-kraft kann für grundlegende Betrachtungen als li-neare Funktion von Sturz und Schräglauf betrach-tet werden77. Bei Erreichen des maximalen Reib-wertes läuft das Rad in der Sättigung.

Moderne Motorradreifen sind üblicherweise so aus-gelegt, dass der stationäre Seitenkraftbedarf nahe-zu komplett durch Sturzseitenkraft gedeckt wird.Schräglaufseitenkraft ist nur in engen Grenzen not-wendig.

5.9.1 Einfluss auf den Übergang von Hochreib-wert zu Niedrigreibwert

Für einen Reibwertsprung am Vorderrad wird sichdie Seitenkraft am Vorderrad ohne Zeitverzug aufdie neue maximale Seitenkraft verringern. Die sicheinstellende kurvenausdrehende Schwimmbewe-gung verringert den Schräglauf am Hinterrad.Damit sinkt die Seitenführungskraft am Hinterrad.Dieser Effekt verringert die Schwimmbeschleuni-gung in Phase 1 des Unfalltyps „Reibwertsprung“,beobachtet in der Messgröße „Gierrate“ (s. Bild 21).

Für gleiche Schräglaufsteifigkeit der Reifen jeweilsauf den beiden Fahrbahnoberflächen Hochreibwertund Niedrigreibwert ergeben sich bei Erreichen desReibwertsprungs durch das Hinterrad keine weite-

39

76 Für Lenkwinkel 7,5° und Rollwinkel 20° ist der Sturz desVorderrades 22° (COSSALTER, Motorcycle Dynamics, S. 27). Der Fehler liegt im Bereich 10 %.

77 COSSALTER, Motorcycle Dynamics, 2002, S. 49, zeigt Rei-fenkennlinien moderner Motorradreifen.

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ren Folgen. Sinken hingegen die Schräglaufsteifig-keiten, wird das Hinterrad bei Erreichen des Reib-wertsprungs eine geringere Seitenkraft aufbringenals das Vorderrad und mit zur kurveneindrehendenSchwimmbeschleunigung beitragen.

5.9.2 Einfluss auf den Übergang von Niedrig-reibwert zu Hochreibwert

Gelangt ein gleitender Reifen, der aufgrund der kur-veneindrehenden Schwimmbewegung des Fahr-zeugs unter deutlichem (positivem) Schräglaufläuft, auf eine Fläche hohen Reibwertes, so wirdder Reifen die seinem aktuellen Sturz- undSchräglaufzustand entsprechende Seitenkraft zurVerfügung stellen. Durch den deutlich gestiegenenSchräglaufwinkel ist die Seitenkraft weit größer alsfür den aktuellen Rollwinkel erforderlich (denn diezum aktuellen Rollwinkel passende Seitenkraft istja bereits durch die Sturzseitenkraft gedeckt). DieAuswirkung auf die Fahrsituation des Fahrzeugs istfür Vorder- und Hinterrad unterschiedlich. Aufgrunddes Nachlaufs am Vorderrad resultiert aus der Sei-tenkraft ein Moment um das Lenksystem. Gelingtes dem Fahrer nicht, dieses Moment zu kompen-sieren, wird sich der Lenker in Richtung Seitenkraft= 0 verdrehen.

Das Lenkmoment um das Lenksystem ist

Es ist stets kurvenausdrehend.

Ist der Schräglauf des Vorderrades ausreichendgroß, so erreicht das Moment um das LenksystemWerte78 um 150 Nm. Die vom Reifen benötigte Zeitzum Aufbau dieser Momente ist eine Funktion derReifeneigenschaften und steigt mit der Geschwin-digkeit. Sie liegt für eine Relaxationslänge79 vonetwa 0,5 m und eine Fahrgeschwindigkeit von etwa30 km/h mit ca. 0,1 Sekunden deutlich unter derReaktionszeit des Fahrers. Von einer Kompensati-on dieses Moments durch den Fahrer ist also nichtauszugehen.

Für Schräglauffreiheit am Vorderrad erreicht dasMoment im Lenksystem bei Rollwinkeln von etwa30° Werte um 90 Nm, die Bewegung ist mit demNachlauf n

Am Hinterrad wird sich ebenfalls eine Seitenkraftaufbauen. Auch die Seitenkraft am Hinterrad er-zeugt ein Moment um das Lenksystem. Aufgrunddes großen Nachlaufs ist dieses Moment deutlichgrößer als das Moment der Vorderradseitenkraft.Das anzusetzende Massenträgheitsmoment ist indiesem Fall das Gierträgheitsmoment des Rah-mens, ergänzt um das Steinerglied:

Das Verhältnis der Lenkwinkelbeschleunigung fürgleich große Seitenkräfte ist

Die Beschleunigung im Lenksystem durch Seiten-kraft am Hinterrad liegt etwa eine Größenordnungunter der Beschleunigung durch eine Seitenkraftam Vorderrad. Damit ändert sich der Schräglaufdes Hinterrades nicht wesentlich. Die Seitenkraftwird nicht abgebaut, das Fahrzeug wird eine hoheaufrichtende Rollbeschleunigung erfahren. Hierbeibesteht die Gefahr des „Kippens“ des Fahrzeugsauf die kurvenäußere Fahrzeugseite. Dieser Un-falltyp ist in der Literatur als „high sider“ bekannt,weil der Fahrer auf die „hohe Seite“ des Fahrzeugsfällt.

Aus Sicherheitsgründen wurde der Reibwertsprungniedrig-hoch nicht in Fahrversuchen überprüft, dieWirkmechanismen sind jedoch in der Literatur be-schrieben80.

Eine qualitative Darstellung des Ablaufs im Seiten-kraft-Schräglaufwinkel-Sturz-Diagramm zeigt Bild34.

Punkt „a“ sei der Ausgangspunkt des Kurvenun-falls. Das Fahrzeug fährt mit einem Seitenkraftbe-

40

78 für das betrachtete Versuchsmotorrad mit etwa 0,1 m Nach-lauf, einer Aufstandskraft am Vorderrad von etwa 1.800 Nund für µ = µmax = 1 bei einem Rollwinkel von 30°.

79 Die Relaxationslänge ist die Wegstrecke, die ein Reifen zumAufbau einer Seitenkraft zurücklegen muss (vgl. z. B. COSSALTER, Motorcycle Dynamics, 2002, S. 55)

80 z. B. beschrieben in COSSALTER, Motorcycle Dynamics,2002, S. 313, für high-sider-Unfälle durch Antriebsschlupf.Der Wirkmechanismus (zu großer Schräglaufwinkel – zugroße Seitenkraft) ist jedoch identisch zum hier betrachtetenFall „Reibwertsprung niedrig-hoch“.

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darf µ(t)>µlow. Bei Erreichen der Gleitfläche (hierzur Vereinfachung der Darstellung für ein Rad dar-gestellt) sinkt die zur Verfügung gestellte Seiten-kraft, das Fahrzeug wird instabil. Der Schwimmwin-kel und damit auch die Schräglaufwinkel am Radsteigen, ohne dass dies eine Seitenkrafterhöhungzur Folge hätte.

Zum ausgezeichneten Punkt „b“ erreicht das Radwieder Hochreibwert. Der Reifen stellt dann wiederdie seinem Schräglauf und Sturzzustand entspre-chende Seitenkraft zur Verfügung, der Reifen„springt“ zu Punkt „c“. Die Seitenkraft ist damit deut-lich höher als zur Stabilisierung für den aktuellenRollwinkel erforderlich.

6 Erkennung kritischer Fahr-situationen von Motorrädern

Ziel dieses Abschnitts ist es, Indikatoren für eineninstabilen Fahrzustand eines Motorrades zu finden,die sich in Echtzeit aus Messgrößen am Fahrzeugzu bestimmen lassen. Hierzu werden zunächst ausder Modellvorstellung Bewertungsgrößen für denFahrzustand abgeleitet. Deren Werte werden ausMessgrößen eines Motorrades bestimmt und an-hand offensichtlich kritischer und unkritischer Fahr-situationen auf ihre Aussagefähigkeit bezüglich desFahrzustandes überprüft. Als kritische Fahrsituatio-nen stehen Messdaten und Simulationsergebnisseder Unfallklassen „Reibwertsprung“ und „Über-schreiten der maximalen Querbeschleunigung“ zurVerfügung.

Wie in Kapitel 5 ausführlich beschrieben, beginntdas Fahrzeug bei Einbruch der Seitenkraft aneinem der Räder nach kurveninnen zu rollen. BeiGleiten an beiden Rädern beginnt das Fahrzeugeine kurveneindrehende Schwimmbewegung.

6.1 Definition von Bewertungsgrößenfür den Fahrzustand des Motor-rades

Ursächlich für die Instabilität des Fahrzeugs ist einezu geringe Seitenkraft an den Rädern. Die Seiten-kraft eines Rades ist eine Funktion der Radlast, desSturzwinkels, des Schräglaufwinkels und – für kom-binierte Längs- und Seitenkraft – des Längsschlup-fes. Ist es möglich, die Seitenkraft an beiden Rä-dern zu schätzen (beispielsweise über das Roll-gleichgewicht) und mit der Sollseitenkraft zu ver-gleichen, dann ist es auch zweifelsfrei möglich, dieFahrsituation als kritisch oder unkritisch zu klassifi-zieren. Diese Vorgehensweise erfordert Daten zumReifenverhalten und eine modellbasierte Schät-zung der Schräglaufwinkel und des Schlupfes.

Eine andere Möglichkeit macht sich die Eigenschaftmoderner Motorradreifen zunutze, die für stationäreKurvenfahrt erforderliche Seitenkraft nahezu voll-ständig durch Sturzseitenkraft zur Verfügung zu stel-len81. Die Reifen gehen lediglich bei instationärenFahrzuständen in Schräglauf mit Winkeln > 1°.

Bei beginnendem Gleiten an beiden Reifen drehtsich das Fahrzeug „in die Kurve hinein“, dieSchräglaufwinkel der Reifen und auch derSchwimmwinkel des Fahrzeugs nehmen zu. DieseDrehbewegung ist selbstverstärkend. Gleiten anmindestens einem Rad ist somit die einzige Er-klärung für große Schwimmwinkel. Schwimmwin-keländerungen kommen damit als Kriterium zur Er-kennung kritischer Fahrsituationen von Motor-rädern in Betracht.

6.1.1 Bestimmung der Schwimmgeschwindig-keit

Die Drehgeschwindigkeit eines Fahrzeugs umseine Hochachse setzt sich zusammen aus derDrehgeschwindigkeit um den Kurvenmittelpunkt und der Schwimmgeschwindigkeit des Fahrzeugs

Die Drehgeschwindigkeit um den Kurvenmittel-punkt lässt sich aus der Querbeschleunigung er-rechnen:

41

81 WEIDELE, Motorräder, 2005, S. 66

Bild 34: Schräglauf-Seitenkraft-Diagramm für den Übergangvon Niedrig- auf Hochreibwert

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Mit diesen Beziehungen ist es möglich, dieSchwimmgeschwindigkeit des Fahrzeugs aus fahr-zeugfesten Messgrößen zu bestimmen:

Der Querbeschleunigungssensor befindet sich imAllgemeinen nicht an der Stelle, für die derSchräglaufwinkel bestimmt werden soll. Eine Um-rechnung erfolgt mit Kenntnis der Drehraten undDrehbeschleunigungen des Fahrzeugs von derSensorposition A zur gewünschten Position P mitden Transformationsbeziehungen (5.22):

Damit ist die Querbeschleunigung unter Berück-sichtigung der Schräglage des Motorrades aufFahrbahnebene an der Projektion des Schwer-punktes

vereinfacht für Montage des Beschleunigungssen-sors im Schwerpunkt des Fahrzeugs (zutreffend fürSeriensensorik)

Die Schwimmgeschwindigkeit ist dann

Ist die Messtechnik auf Schwerpunkthöhe, aber inx-Richtung verschoben montiert, ergibt sich dieSchwimmgeschwindigkeit zu

Mit der Schwimmgeschwindigkeit lässt sich dieSchräglaufwinkelgeschwindigkeit an jedem Boden-punkt des Fahrzeugs mit Abstand lx vom Schwer-punkt ausdrücken als

Die erwarteten maximalen Beträge des Schwimm-winkels des Fahrzeugs liegen für große Rollwinkelim Bereich von 2°, die erwartete Schwimmge-schwindigkeit82 des Motorrades für stabile Fahrsi-tuationen liegt bei 9°/s = 0,15 rad/s.

6.1.2 Fehler der Schwimmgeschwindigkeit

Schwimmgeschwindigkeit und Schräglaufwinkelge-schwindigkeiten werden aus verschiedenen Mess-größen errechnet, die bereits fehlerbehaftet sind.

Unter Verwendung im Fahrzeugkoordinatensystemgemessener Drehraten und Beschleunigungen undmit der Voraussetzung ideal schmaler Reifen(Querbeschleunigung im Fahrzeugkoordinaten-system für stationäre Fahrzustände = 0) sowie fürvernachlässigbare Nickgeschwindigkeit schreibensich Schwimmgeschwindigkeit und allgemeineSchräglaufwinkelgeschwindigkeit

Der zu erwartende Messfehler ist

42

82 bei Wechsel der Schräglage von maximalem Rollwinkel zumaximalem Rollwinkel innerhalb von 0,5 s

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Die einzelnen Terme dieser Gleichung sind alsFunktion des Rollwinkels und der Fahrgeschwindig-keit

Mit diesen Termen gilt für den Fehler als Funktiondes Fahrzustandes

Die Seriensensorik ist im Schwerpunkt des Fahr-zeugs montiert. Da die Versuchsmesstechnik überdem hinteren Radaufstandspunkt in Schwerpunkt-höhe montiert ist, wird der zu erwartende Fehlerzu

Die Fehler der Messgrößen sind in Tabelle 8 darge-stellt. Der Verlauf des erwarteten Fehlers ist in Bild35 (für die Versuchsmesstechnik unter Vernachläs-sigung des Fehlers der Gierbeschleunigung) darge-stellt. Der Fehler ist bei hohen Rollwinkeln undniedrigen Geschwindigkeiten am größten.

Der Fehler der Schräglaufwinkelgeschwindigkeit istdeutlich größer als der Fehler der Schwimmwinkel-

43

Tab. 8: Fehler der einzelnen Messgrößen

Messgrößeangenommener

Fehler Versuchs-sensorik

angenommenerFehler Serien-

sensorik

3° 5° (kurzzeitig)

20°/s2 20°/s2

0,1°/s 1°/s

0,7 m/s (1 % von Messbereich 70 m/s)

0,25 m/s2 1 m/s2

Bild 35: Erwarteter Messfehler als Funktion des Fahrzustandesfür Versuchs- und Seriensensorik und zwei verschie-dene Rollbeschleunigungen

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geschwindigkeit. Nach dem Gesetz der linearenFehlerfortpflanzung ist er

er liegt im Bereich von 0,1 rad/s.

Ein Schwellwert für die Schwimmgeschwindigkeitsoll eine eindeutige Identifizierung kritischer Fahrsi-tuationen erlauben. Unter Berücksichtigung desFehlers der Bestimmung der Schwimmgeschwin-digkeit wird der Schwellwert zu

6.2 Validierung der Erkennung

Bei kritischen Fahrsituationen wurden Schwimmge-schwindigkeiten gemessen, deren Beträge deutlichüber denen unkritischer Fahrsituationen liegen. Die Schwimmgeschwindigkeit eines Motorradesscheint daher als Kriterium für die Erkennung kriti-scher Fahrsituationen geeignet zu sein. Zur Über-prüfung dieser Behauptung werden falsifizierbareHypothesen aufgestellt:

• Der Betrag der Schwimmgeschwindigkeit einesMotorrades ist in kritischen Fahrsituationen zumindestens einem Zeitpunkt größer als 0,15rad/s = 9°/s (Hypothese 1).

• Der Betrag der Schwimmgeschwindigkeit einesMotorrades ist in unkritischen Fahrsituationenzu keiner Zeit größer als 0,15 rad/s = 9°/s (Hypothese 2).

Gelingt es nicht, die beiden Hypothesen zu falsifi-zieren, so hat sich dieser Indikator zur Erkennungkritischer Fahrsituationen bewährt. Auf zusätzlicheHypothesen für wird verzichtet.

6.2.1 Schwimmgeschwindigkeit bei kritischenFahrsituationen

Ziel der Überprüfung der Schwimmgeschwindigkeitin kritischen Fahrsituationen ist die Falsifizierungder Hypothese 1. Es steht Datenmaterial zu insge-

samt 48 Fahrten zur Verfügung, in zwei Versuchs-reihen – einmal mit seriennaher Sensorik, einmalmit Versuchssensorik – aufgenommen. Die abge-deckten Unfallklassen sind

• Reibwertsprünge von Hochreibwert auf Niedrig-reibwert,

• Überschreiten der maximalen Querbeschleuni-gung.

Randbedingungen für die Bestimmung derSchwimmgeschwindigkeit und der Schräglaufwin-kelgeschwindigkeiten an den Rädern sind

• vx > 5 m/s (18 km/h),

• | ges| > 5°,

• Überschreiten des Grenzwertes für mindestens30 Millisekunden.

Untersucht wurden die Schwimmgeschwindigkeitsowie die Schräglaufwinkelgeschwindigkeiten amVorderradaufstandspunkt und am Hinterradauf-standspunkt.

Die Ergebnisse der Anwendung der Kriterien aufdie Messdaten zeigen Bild 36, Bild 37, Bild 38 undBild 39. Dargestellt ist die bis zur Erkennung der kri-tischen Fahrsituation vergangene Zeit in Sekunden,jeweils für Überschreiten des definierten Schwell-wertes für die Schräglaufwinkelgeschwindigkeit amVorderrad, am Schwerpunkt (Schwimmgeschwin-digkeit) und am Hinterrad. Als Beginn der kritischen

44

Bild 36: Zeitpunkt der Erkennung der Unfallklasse „Reibwert-sprung“ durch seriennahe Sensorik (Versuchsreihe 1),Befahren des Reibwertsprungs zum Zeitpunkt t = 0 s.Ein Reibwertsprung ist erkannt, wenn die Schräglauf-winkelgeschwindigkeit/Schwimmgeschwindigkeit (jenach Kriterium) größer als 0,15 rad/s + Fehler wird

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Fahrsituation ist das Befahren der Gleitfläche durchdas Vorderrad definiert.

Bei nahezu allen Fahrten der Unfallklasse Reib-wertsprung, Versuchsreihe 1 (seriennahe Sensorik)wurde die Schwelle der Schwimmgeschwindigkeitsicher überschritten. Für die Fahrten 6 und 14 liegtder Betrag der Schwimmgeschwindigkeit deutlichüber dem erwarteten Maximum, erreicht aber nichtden Grenzwert 0,15 + Fehler, s. Bild 40 (Fahrt 14als Beispiel). Eine kritische Fahrsituation ist dannnicht sicher erkannt. Die kritische Fahrsituation istaber begrenzt durch den Aufschlag des Fahrzeugsauf die Schutzvorrichtung. Ein Überschreiten desGrenzwertes im weiteren Verlauf des Unfalls istsehr wahrscheinlich.

Für eine Falsifizierung in Versuchsreihe 2 kommenlediglich die Fahrten 3 und 4 (Reibwertsprung) inBetracht. Eine detailliertere Betrachtung dieserFahrten zeigt in beiden Fällen eine vergleichbareSchwimmgeschwindigkeit wie bei erkannten Fahr-ten, der Schwellenwert wird jedoch nicht mehr in-nerhalb der gemessenen Zeit (vor Aufsetzen aufder Schutzvorrichtung) erreicht, s. Bild 41. Ein Bei-spiel für einen Zeitschrieb einer eindeutig erkann-ten Fahrt zeigt Bild 42.

Hypothese 1 fordert eine Schwimmgeschwindigkeitgrößer als 0,15 rad/s zu irgendeinem Zeitpunkt derkritischen Fahrsituation. Diese Hypothese kannaufgrund der Messdaten aus Versuchsreihe 1 undVersuchsreihe 2 nicht falsifiziert werden (Bild 36,Bild 37, Bild 38, Bild 39). Sie ist für die untersuch-ten Fahrsituationen bewährt. Es kann davon aus-gegangen werden, dass im Verlaufe einer kriti-

45

Bild 37: Erkennung der Unfallklasse „Überschreiten der max.Querbeschleunigung“ durch seriennahe Sensorik (Ver-suchsreihe 1)

Bild 38: Erkennung der Unfallklasse „Reibwertsprung“ durchVersuchssensorik (Versuchsreihe 2)

Bild 39: Erkennung der Unfallklasse „Überschreiten der maxi-malen Querbeschleunigung“, Versuchssensorik (Ver-suchsreihe 2)

Bild 40: Schwimmgeschwindigkeit und Schranken für Fahrt 14,Reibwertsprung

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schen Fahrsituation die Schranke von 0,15 rad/s +Fehler überschritten wird.

Eine Eignung der Schwimmgeschwindigkeit zurIdentifizierung aller kritischen Fahrsituationen kannexperimentell aufgrund des begrenzten zur Verfü-gung stehenden Datenmaterials nicht nachgewie-sen werden. Für die untersuchten Unfallklassenund Parameter ist augenscheinlich die Schwimm-geschwindigkeit ein guter Indikator. Die Modellvor-stellungen (Kapitel 5) stützen die Eignung derSchwimmgeschwindigkeit als Indikator für kritischeFahrsituationen.

6.2.2 Schwimmgeschwindigkeit in der Simula-tion bei Parametervariation

Die Fahrversuche konnten aus Sicherheitsgründennur für einen eingeschränkten Parameterbereichdurchgeführt werden. Mit dem numerischen Simu-lationsmodell ist eine breite Variation der Parameterfür die Unfallklasse „Reibwertsprung“ möglich.

Die Parameter wurden wie in Kapitel 4.4 beschrie-ben variiert:

• Anfangsquerbeschleunigung, s. Bild 43,

• Differenz der Kraftschlussausnutzung, s. Bild 44,

• Fahrgeschwindigkeit, s. Bild 45: Variation derFahrgeschwindigkeit (Pfeil: steigende Fahrge-schwindigkeit).

Bei Variation der Anfangsquerbeschleunigung wirdbei Anfangsquerbeschleunigungen im Bereich von5 m/s2 der Schwellwert (0,15 rad/s) für dieSchwimmgeschwindigkeit nicht überschritten. DerRollwinkel des Fahrzeugs beim Befahren der Gleit-

46

Bild 42: Zeitschrieb der Schwimmgeschwindigkeit und Schran-ken, Fahrt 9, Versuchsreihe 2, Reibwertsprung als Bei-spiel für eine eindeutig erkannte Fahrt

Bild 43: Variation der Anfangsquerbeschleunigung (Pfeil: stei-gende Anfangsquerbeschleunigung)

Bild 44: Variation der Kraftschlussausnutzung (Pfeil: Steigen-des ∆µ)

Bild 41: Zeitschrieb der Schwimmgeschwindigkeit und fahrsi-tuationsabhängiger Schwellwert für Fahrt 4, Reibwert-sprung

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fläche liegt dann bereits im Bereich von 30°. Auf-grund der hohen Rollmomente ist vor einer Kollisi-on des Fahrzeugs mit der Fahrbahn nicht mehrausreichend Zeit zum Aufbau einer großenSchwimmgeschwindigkeit.

6.2.3 Schwimmgeschwindigkeit bei unkriti-schen Fahrsituationen

Hypothese 2 geht von einem Betrag der Schwimm-geschwindigkeit kleiner als 0,15 rad/s zu jeder Zeitbei unkritischen Fahrsituationen aus. Der Werteiner Bewährung dieser Hypothese steigt mit denzur Falsifizierung unternommenen Anstrengungen.

Ziel der Falsifizierung ist es, unkritische Fahrzu-stände mit erwarteten hohen Schwimmgeschwin-digkeiten zu identifizieren und nachzuweisen, dassdie Schwimmgeschwindigkeit hier über demSchwellwert liegt. Gelingt es nicht, wird von derGültigkeit der Hypothese ausgegangen.

Aus Reifendaten83 geht hervor, dass Schwimmwin-kel in allen Querbeschleunigungsbereichen auftre-ten können. Schwimmgeschwindigkeiten treten na-turgemäß nur bei instationären Fahrten auf, für sta-tionäre Kreisfahrten ist der Schwimmwinkel kon-stant.

Instationäre Kreisfahrten liegen vor, wenn die Quer-beschleunigung, die Geschwindigkeit oder beidesvariiert wird. Um Hypothese 2 zu überprüfen, wer-den beide Parameter variiert. Aus der Parameter-variation leitet sich das Versuchsprogramm ab:

• Kurvenbremsungen im Regelbereich und sta-tionäre Kreisfahrten mit Ausgangsquerbeschleu-

nigungen zwischen 0,1 und 0,5 g, Kurvenradien9 und 14 m (Variation der Geschwindigkeit, Va-riation der Querbeschleunigung),

• Slalom-Fahrten mit verschiedenen Geschwin-digkeiten (Variation der Querbeschleunigung beikonstanter Geschwindigkeit),

• Spurwechsel nach VDA-Standard mit Ge-schwindigkeiten bis ca. 85 km/h (Variation derQuerbeschleunigung bei konstanter Geschwin-digkeit),

• ergänzend eine repräsentative Motorradfahr-strecke im öffentlichen Straßenverkehr.

Alle Messfahrten wurden mit Versuchssensorikdurchgeführt. Die Seriensensorik ist nicht ausrei-chend robust für zeitlich lange Fahrten (mit langenFahrten leidet die Genauigkeit des Rollwinkels,siehe Fehlerbetrachtung).

Einen Überblick über die variierten Parameter unddie Ergebnisse bei den durchgeführten Fahrversu-chen gibt Tabelle 9. Als Versuchsfahrzeug kommtdie weitgehend im Serienzustand verbliebeneBMW R 1150 RT zum Einsatz.

Als Bedingungen für die Bewertung einer Fahrsi-tuation als „kritisch“ wurden ausgewählt:

• vx > 5 m/s (18 km/h),

• | ges| > 5°,

• Überschreiten des Grenzwertes für mindestens30 Millisekunden.

47

83 WEIDELE, Motorräder, 2005, S. 66

Tab. 9: Versuchsfahrten

Versuchs-klasse

Beschreibung ParameterAnzahl der

Fahrten und Messzeit

1stationäreKreisfahrt

Radius 9 und 14 m

ay,0 von 0,1 bis 0,5 g20 Fahrten,

60 Minuten

2Kurven-

bremsung

Radius 9 und 14 m

ay,0 von 0,1 bis 0,5 g10 Fahrten,

32 Minuten

3 Slalom5 Fahrten,

10 Minuten

4Spurwechsel

VDAv von 70 bis 85 km/h

6 Fahrten,

5 Minuten

5öffentlicherStraßen-verkehr

1 Fahrt,

57 Minuten

Gesamt42 Fahrten,

164 Minuten

Bild 45: Variation der Fahrgeschwindigkeit (Pfeil: steigendeFahrgeschwindigkeit)

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Das ausgewertete Messdatenkollektiv zeigt Tabelle9. Es konnte keine Schwimmgeschwindigkeitgrößer als 0,15 rad/s in unkritischen Fahrsituatio-nen sicher nachgewiesen werden. Für die Situatio-nen, bei denen eine kritische Fahrsituation aufge-treten ist, traten Sensorikfehler auf (Fahrt im öffent-lichen Straßenverkehr, Kurvenbremsungen) oderes ließ sich ein Gleiten an einzelnen Rädern nichtausschließen (siehe Bild 46).

Die Hypothese 2 wird also ebenfalls als bewährtangesehen. Die Schwimmgeschwindigkeit ist eingeeignetes Kriterium zur Trennung von kritischenund unkritischen Fahrsituationen.

6.3 Fazit und Übertragbarkeit

Die Schwimmgeschwindigkeit eines Motorrades istein geeigneter Indikator zur Unterscheidung zwi-schen kritischen und unkritischen Fahrsituationenvon Motorrädern. Für die betrachteten Unfallsitua-tionen und das verwendete Versuchsfahrzeug istdiese Eignung experimentell und in der Simulationüberprüft worden und hat sich gegenüber Falsifika-tionsversuchen bewährt. Die Schwimmgeschwin-digkeit erwies sich als ein robustes Kriterium, dakeine falschen Positiverkennungen nachgewiesenwerden konnten.

Die Verwendung der Schwimmgeschwindigkeit ba-siert auf den Eigenschaften von Motorradreifen,den Seitenkraftbedarf für stationäre Fahrzuständeim Wesentlichen aus Sturzseitenkraft zu decken.Diese Eigenschaft ist vermutlich allen modernenMotorradreifen gemein.

Die Schwimmgeschwindigkeit des Fahrzeugs in kri-tischen Fahrsituationen sinkt mit steigendem Gier-trägheitsmoment. Das verwendete Versuchsfahr-zeug ist ein vergleichsweise schweres Fahrzeugmit einem vergleichsweise hohen Gierträgheitsmo-ment. Für Fahrzeuge mit kleinerem Gierträgheits-moment wird daher eine deutlichere Überschrei-tung des Schwellwertes in kritischen Fahrsituatio-nen erwartet.

Im Gegensatz zur Versuchssensorik der TU Darm-stadt erreicht aktuelle Automotive-Sensorik nochnicht die für eine robuste Erkennung kritischerFahrsituationen erforderliche Genauigkeit.

7 Beeinflussung kritischer Fahr-situationen von Motorrädern

Aus der validierten Modellvorstellung für die Bewe-gung des Fahrzeugs (Kapitel 5) ergeben sich zweigrundsätzliche fahrdynamische Effekte währendder betrachteten kritischen Fahrsituationen „ Reib-wertsprung“ und „Überschreiten der maximalenQuerbeschleunigung“:

• Die Rollbewegung des Fahrzeugs wird instabil(beschrieben durch die Gleichungen (5.47) bis(5.49),

• Die Schwimmbewegung des Fahrzeugs wird in-stabil (beschrieben durch die Gleichungen(5.52) bis (5.56).

Es wurden Regelziele definiert, um die Unfallklas-sen zu vermeiden bzw. die kritische Fahrsituationpositiv zu beeinflussen.

Für die anhand der Bewegungsgleichungen alssinnvoll identifizierten Eingriffsmöglichkeiten zurStabilisierung dieser Effekte gilt es, technischeMöglichkeiten aufzuzeigen und deren Grenzen undRealisierbarkeit abzuschätzen.

Zur Beeinflussung der Fahrdynamik eines Fahr-zeugs müssen Kräfte zwischen dem Fahrzeug unddem Inertialsystem wirken. In der Regel werdendiese Kräfte über die Fahrzeugreifen übertragen.Denkbar ist auch die Übertragung von Kräftendurch das Umgebungsmedium – Luft – oder durchTrägheitskräfte (Kreisel).

48

Bild 46: Einzige Fehlerkennung: Fahrt im öffentlichen Straßen-verkehr (Stettbacher Tal, 26.10.2006). Ein Gleiten desFahrzeugs kann nicht ausgeschlossen werden, dieFahrbahn war feucht (Aussage des Versuchsfahrers)

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7.1 Regelziele

7.1.1 Regelziel für die Rollbewegung

Ziel einer Fahrdynamikregelung ist, die kritischeFahrsituation zum Besseren zu beeinflussen. DieRollinstabilität führt offensichtlich innerhalb kurzerZeit zum Sturz des Fahrzeugs. Im Gegensatz zueiner Gierbewegung, die bei ausreichender zur Ver-fügung stehender Fläche die Dauer der kritischenFahrsituation nicht einschränkt, begrenzt die Roll-bewegung die zur Verfügung stehende Zeit zur Sta-bilisierung des Fahrzeugs.

• Primäres Ziel einer Fahrdynamikregelung mussalso die Stabilisierung des Rollwinkels (Stabili-sierung von λ) sein.

7.1.2 Regelziele für die Schwimmbewegung

Die Gierbewegung ist für den betrachteten Fallzunächst wie gewünscht – ein in die Kurve eindre-hendes, schon auf der Fahrbahn rutschendes Fahr-zeug dreht sich vom rutschenden Fahrer weg. Einkurvenausdrehendes, auf der Fahrbahn rutschen-des Fahrzeug schiebt den Fahrer vor sich her. Auf-grund des deutlich geringeren Reibwertes des rut-schenden Fahrzeugs gegenüber üblicher Beklei-dung des Fahrers84 werden so die Rutschweite unddamit auch das Verletzungsrisiko für den Fahrer er-höht.

• Für den Fall irreversibler Destabilisierung isteine kurveneindrehende Schwimmgeschwindig-keit erwünscht (übersteuern).

a) VorderradKritisch ist die Gierinstabilität dann, wenn das nochgleitende Fahrzeug mit einem oder beiden Rädernwieder Hochreibwert erreicht. Die Räder treffenunter deutlich gestiegenem Schräglaufwinkel aufdie Fläche hohen Reibwertes und stellen eine deut-lich zu große Seitenkraft zur Verfügung, die übli-cherweise zu einem Umkippen des Fahrzeugs aufdie kurvenäußere Seite führt. Dieses Umkippen ge-schieht oftmals so schnell, dass es dem Fahrernicht möglich ist, das Fahrzeug zu stabilisieren.

Für den Übergang des Vorderrades von Niedrig-reibwert auf Hochreibwert werden kurvenausdre-hende Momente im dreistelligen Nm-Bereich umdas Lenksystem erwartet. Diese Momente könnenje nach Fahrerankopplung und Elastizitäten imLenksystem zu Lenkerschlagen führen. Kurvenaus-drehen des Lenkers kann weiterhin zu einer Verrin-gerung der Seitenkraft durch negativen Schräglaufführen. Für negative Schräglaufwerte ist die Seiten-kraft geringer als die zum Ausgleich des Kippmo-mentes erforderliche Seitenkraft.

• Ziel einer Fahrdynamikregelung muss es sein,den Schräglauf am Vorderrad in der Phase desÜbergangs von Niedrig- auf Hochreibwert aufWerte um 0° zu begrenzen.

• Ziel einer Fahrdynamikregelung muss es sein,das Schlagen des Lenkers bei Übergang vonNiedrigreibwert auf Hochreibwert zu vermeiden.

b) Hinterrad

In Kapitel 5.9 ist hergeleitet, dass kurveneindrehen-der Schräglauf am Hinterrad zu so genannten„high-sider“-Unfällen durch zu große Seitenkraft amHinterrad führt. Schräglauf am Hinterrad ist daherfür den Übergang von Niedrigreibwert zu Hochreib-wert zu vermeiden.

Für die kurze Zeit gleitenden Hinterrades, aber be-reits wieder auf Hochreibwert laufenden Vorderra-des ist die Schwimmgeschwindigkeit kurveneindre-hend. In dieser Phase werden der Schwimmwinkelund auch der Schräglaufwinkel am Hinterrad deut-lich ansteigen. Als Soll-Schräglaufwinkel für dasHinterrad während der Phase des Gleitens an bei-den Rädern wird daher die zu erwartendeSchräglaufänderung bei Hochreibwert am Vorder-rad und Gleiten am Hinterrad vorgeschlagen.

Die Schwimmwinkeländerung in der Phase gleiten-den Hinterrades und haftenden Vorderrades ist

Maximalwerte85 für die Schwimmbeschleunigungsind

49

84 BREUER, Motorräder, 2001, S. 144, gibt Grenzen der Reib-werte für die Schutzkleidung und das Fahrzeug an.

85 Als Maximalwert der bezogenen Seitenkraft am Hinterradwird hier µ = 1 angesetzt. Dies gilt dann, wenn derSchräglauf am Vorderrad während der Gleitphase so starkgestiegen ist, dass auch auf Hochreibwert die Seitenkraftdurch den maximalen Reibwert begrenzt ist.

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Die maximal zu erwartende Schwimmwinkelände-rung ist dann

sinkt aber mit dem Quadrat der Fahrgeschwindig-keit.

• Ziel einer Fahrdynamikregelung muss es sein,den Schräglaufwinkel am Hinterrad für denÜbergang von Niedrig- auf Hochreibwert im Be-reich 0° zu halten.

7.2 Fahrdynamisch sinnvolle Ein-griffsmöglichkeiten

Die Bewegungsgleichungen für Rollen undSchwimmen zeigen die grundsätzlichen Möglich-keiten der Beeinflussung der Fahrdynamik auf.Das Potenzial zur Beeinflussung der Fahrdynamiksoll zunächst top down – also ohne Berücksichti-gung der technischen Machbarkeit – betrachtetwerden.

Umstellen und Vereinfachen der Gleichung (5.49)identifizieren den die Rollinstabilität bewirkendenTerm.

Stabilität der Rollbewegung wird also erreicht,wenn Relation (7.3) erfüllt ist.

Damit gilt unter Vernachlässigung der Kreiselmo-mente

Zusätzliche Momente um die x-Achse können wei-terhin erzeugt werden über Kreiselwirkung, dann istfür eine Stabilisierung der Rollbewegung gefordert:

Unter Berücksichtigung der Kreiselwirkung wird dieSchwimmbewegungsgleichung (5.52) zu

Es sind damit die zur Stabilisierung in Frage kom-menden Eingriffsmöglichkeiten in die Rolldynamikund Gierdynamik des Fahrzeugs bekannt:

• Veränderung der bezogenen Seitenkräfte µv, µh,

• Beeinflussung der Kreiselwirkung.

Eine Steigerung der Seitenkraft ist nur möglich,wenn die Seitenkraft noch nicht das durch den ma-

50

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ximalen Reibwert bestimmte Maximum erreicht hat.Es gilt:

Der maximale Reibwert µmax ist eine Funktion vonReifenkonstruktion, Zwischenmedium zwischenReifen und Fahrbahn und Fahrbahnoberfläche. ImFalle eines Reibwertsprungs (von Hochreibwert zuNiedrigreibwert) fällt zunächst der maximale Reib-wert des Vorderrades sprunghaft (Eintritt in Phase

1), bis nach einer Zeit auch der Reibwert des

Hinterrades sinkt (Eintritt in Phase 2). Die Unfallsi-tuation „Überschreiten des maximalen Reibwertes“ist nicht in zwei Phasen teilbar, wenn angenommenwird, dass der Reibwert an beiden Rädern gleich-zeitig begrenzt wird.

Zusammenfassend existieren zwei verschiedeneRandbedingungen, die die Beeinflussbarkeit derRadseitenkräfte einschränken:

• Radseitenkraft am Hinterrad noch steigerbar,am Vorderrad bereits begrenzt,

• Radseitenkraft an beiden Rädern begrenzt.

7.2.1 Potenzial zur Beeinflussung der Fahr-dynamik in Phase 1 (Reibwertsprung)durch Seitenkraftänderung

Die Rollbeschleunigung ist im Wesentlichen eineFunktion der Summe der Radseitenkräfte. Gelingtes, diese Summe konstant zu halten, so ist eineStabilisierung der Rollbewegung möglich. Das mitt-lere µ der beiden Räder ist

Im Augenblick des Befahrens der Gleitfläche bleibtµhinten konstant, µvorne sinkt um ∆µ um µmax, Gleit.Die Rollbeschleunigung ist dann 0, wenn

das µ des Hinterrades also so weit erhöht wird,dass es den Reibwertsprung kompensiert. Eineweitere Erhöhung des µh führt zu einer negativenRollbeschleunigung, also zu einem Aufrichten desFahrzeugs. Auch die Gierbewegung des Fahrzeugswird durch das ∆µ beeinflusst (eingesetzt in Glei-chung (7.6)):

Das Motorrad dreht nach kurvenaußen und ver-größert den Kurvenradius. Gelingt es dabei, denSeitenkraftbedarf unter das Kraft-schlussangebot auf der Gleitfläche zu senken, istdie kritische Fahrsituation entschärft.

7.2.2 Potenzial zur Beeinflussung der Fahr-dynamik in Phase 2 (Reibwertsprung)und bei Überschreiten des maximalenReibwertes durch Seitenkraftänderung

Die Rollbewegung (Gleichung (7.2)) ist fürannähernd gleiche Seitenkräfte an beiden Rädernim Wesentlichen eine Funktion des mittleren Reib-

wertes . Da die Seitenführungs-

kräfte der Räder in Phase 2 (Reibwertsprung) nichtsteigerbar sind, ist eine Stabilisierung lediglich überKreiselmomente denkbar.

Eine Beeinflussung der Gierbewegung des Fahr-zeugs (Gleichung (7.6)) erfordert hingegen eine Be-einflussung der Differenz der Seitenkräfte. Die Sta-bilisierung der Gierbewegung ist damit erreichbardurch gezieltes Senken von vorderer Seitenkraft(Erzeugen eines kurvenausdrehenden Giermomen-tes) oder Senken der Hinterradseitenkraft (Erzeu-gen eines kurveneindrehenden Giermomentes).Jede Verringerung der Seitenkräfte führt mit Glei-chung (7.2) aber auch zu einem steigenden Roll-moment nach kurveninnen und damit zu einerhöheren Rollbeschleunigung.

Gleitet ein Rad ohne Längsschlupf, ist die Richtungder Seitenkraft die Projektion der Radnormalen inder Fahrbahnebene. Mit zunehmendem (Brems-)Längsschlupf dreht die Seitenkraft entgegen derBewegungsrichtung. Für Bremsschlupf (Schlupf =1) wirkt die Kraft des Rades entgegen der Bewe-gung des Radaufstandspunktes. Durch Antriebs-schlupf kann die Wirkrichtung der Kraft in die Be-wegungsrichtung des Fahrzeugs gedreht werden.Der Betrag der Radkräfte ist vorgegeben durch denmaximalen Reibwert µmax.

Das Giermoment des Fahrzeugs ist

Die Radkräfte sind

51

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Die Hebelarme sind

Das Giermoment als Funktion der Verdrehwinkelvorne und hinten wird dann zu

der Verdrehwinkel der Kraft ist je nach eingestell-tem Schlupf und nach Lenkwinkel

Ziel ist es, die kurveneindrehende Bewegung desFahrzeugs durch Beeinflussung des Radschlupfesauszugleichen, das Moment MGier also positiv wer-den zu lassen. Das wird erreicht, wenn der Ver-drehwinkel am Hinterrad 0° beträgt, am Vorderradmaximal wird. Ist der Lenkwinkel 0°, dann ist dermaximale Kraftdrehungswinkel am Vorderrad 90° – αv.

Das maximale kurvenausdrehende Giermoment alsFunktion der Schrägläufe bei gleichen Schrägläu-fen vorne und hinten ist

Dies wird positiv für

Den Grenzschräglaufwinkel zeigt Bild 48. Für prak-tisch alle real auftretenden Schwimmwinkel istdamit ein kurvenausdrehendes Giermoment er-reichbar.

52

Bild 47: Prinzip der Beeinflussung der Gierbewegung einesgleitenden Motorrades: Die Seitenkräfte der Räder wir-ken bei schlupffreier Fahrt senkrecht zur Radsymme-trieebene. Bei Bremsschlupf = 1 wirkt die Reifenkraftentgegen der Bewegungsrichtung. Zwischen diesenbeiden Extremen sind die Radkräfte der Räder durchAufbringen von Schlupf um den Winkel ϕv bzw. ϕhverdrehbar

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7.2.3 Potenzial zur Beeinflussung der Fahrdy-namik durch Kreiselwirkung

Ein Aufbringen von Kreiselmomenten kann geeig-net sein zum Aufrichten des Fahrzeugs. Zur Kom-pensation des Reibwertsprunges ∆µ ist das erfor-derliche Kreiselmoment in Phase 1

Ein darüber hinausgehendes größeres Momentrichtet das Fahrzeug auf. Kreiselmomente sind dieeinzige praktikable Möglichkeit, die Bewegungeines Fahrzeugs zu beeinflussen, wenn kein Kraft-schluss zwischen Reifen und Fahrbahn möglichist86 .

Die Kreiselwirkung ist

der Drallvektor ist im Hauptachsensystem

Für die Kreiselwirkung ist die Drehgeschwindigkeitder Kreisel im Inertialsystem maßgeblich. Mit derVerdrehung der Kreisel zum Fahrzeugkoordinaten-system um die Rotationsmatrix Trelativ ist das Krei-selmoment

Als geeignete Kreiselkörper stehen zur Verfügung:

• das um den Lenkwinkel δ zum Fahrzeug ge-drehte Vorderrad,

• das mit dem Fahrzeug fest verbundene Hinter-rad,

• die rotierenden Teile des Antriebs, entweder inLängsrichtung (Querläufermotoren) oder inQuerrichtung (Längsläufermotoren) wirkend,

• zusätzlich am Fahrzeug angebrachte Stabilisie-rungskreisel mit frei wählbarer Drehachse.

Kreiselmomente der einzelnen Kreiselkörper sindfür das Vorderrad

Für ein gelenktes Hinterrad ist das Kreiselmoment

53

Bild 48: Schräglaufwinkel, für den bei gleichem µ an beidenRädern und ohne Lenkwinkel über das Prinzip derKraftdrehung ein positives Giermoment (kurvenaus-drehend) erreicht werden kann, lv = 0,8 m, lh = 0,6 m,hs = 0,7 m

86 siehe z. B. Einschienenbahn (MAGNUS, Kreisel, 1971, S. 420 ff.)

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für ein nicht gelenktes Hinterrad

für den Antrieb

Ein zusätzlicher Stabilisierungskreisel, um die fahr-zeugfeste y-Achse (y’) drehbar gelagert, bringt dasMoment

ein zusätzlicher Stabilisierungskreisel, drehbar ge-lagert um die fahrzeugfeste y-Achse und mit Aus-gleich des Rollwinkels

Zur Beeinflussung der Fahrzeugdrehung eignensich damit

• der Lenkwinkel des Vorderrades,

• der Lenkwinkel des Hinterrades, sofern eineHinterradlenkung zur Verfügung steht,

• der Verdrehwinkel des zusätzlichen Stabilisie-rungskreisels.

Die Kreiselmomente um die x-Achse richten dasFahrzeug auf. Kreiselmomente um die z-Achseführen zu einem Gieren des Fahrzeugs. Momenteum die Nickachse verändern die Radlast des Fahr-

zeugs und rufen damit ebenfalls ein Giermomenthervor.

Die Auswirkung der Kreiselmomente auf die Fahr-dynamik ist unter der Annahme gleichen Reibwertsan beiden Rädern

Im Folgenden wird die Auswirkung der Kreiselbe-wegung auf die Fahrdynamik betrachtet unter derVoraussetzung, dass der Reibwert an beiden Rä-dern gleich ist.

Eine Drehung des Vorderrades führt zu den Mo-menten

des ungelenkten Hinterrades

des gelenkten Hinterrades

der rotierenden Antriebsteile

54

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des fahrzeugfest angebrachten Zusatzkreisels

und des stabilisierten Zusatzkreisels

Offensichtlich führt jede Beeinflussung des Rollmo-mentes durch Kreiselwirkung zu einer Beeinflus-sung des Giermomentes. Für den Sonderfall desunbewegten Fahrzeugs (alle Drehraten sind null) istdas Verhältnis zwischen Giermoment und Rollmo-ment für einen Kreiseleingriff am Vorderrad odereinem gelenkten Hinterrad

bei einem Eingriff über einen zusätzlichen Stabili-sierungskreisel, der sich um die fahrzeugfeste y-Achse bewegt,

und bei einem stabilisierten Zusatzkreisel

Das „Übersprechen“ zwischen Gier- und Rollbewe-gung hängt nicht vom Drall der Kreisel ab, sondernlediglich von dessen Auslenkung und dem aktuellenRollwinkel.

7.2.4 Beeinflussbarkeit der Fahrdynamik durchdie Laufräder

Im Folgenden wird abgeschätzt, ob eine Stabilisie-rung des Fahrzeugs allein durch Drehen von Vor-der- und Hinterrad möglich ist. Für den Sonderfalldes unbewegten Fahrzeugs ist das Rollmoment

Zur Stabilisierung eines üblichen Fahrzeugs (BMWR1150 RT) bei einem Reibwertsprung von 0,34(Rollwinkel von 20°) auf 0,2 bei einer Fahrge-schwindigkeit von 27 m/s beträgt das Rollmoment

Zur Erbringung dieses Rollmomentes ist die Lenk-winkelgeschwindigkeit

Gleichzeitig muss der Lenkwinkel klein bleiben, ummöglichst keine Auswirkungen auf das Giermo-ment des Fahrzeugs zu erhalten (siehe Gleichung(7.37)). Gelingt es, den Lenkerdrehwinkel unter 10°zu halten, liegt das Giermoment für diese Fahrsi-tuation im Bereich von 15 Nm. Unter der viel zu op-timistischen Schätzung einer unendlichen Drehbe-schleunigung des Lenkerdrehwinkels steht dasMoment lediglich für einen Zeitraum von etwa0,025 s zur Verfügung.

Eine Stabilisierung des Fahrzeugs alleine durchVerdrehung des Vorderrades ist sicherlich nichtmöglich. Auch unter Zuhilfenahme des Hinterrades(und damit doppeltem Drall) beträgt die zu errei-

55

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chende Lenkwinkelgeschwindigkeit immer nochetwa 200°/s.

7.2.5 Beeinflussbarkeit der Fahrdynamik durchzusätzliche Stabilisierungskreisel

Für den am Fahrzeug angebrachten Zusatzkreiselist der Drall (das Produkt aus Massenträgheitsmo-ment und Rotationsgeschwindigkeit) in Grenzenfrei wählbar. Das Kreiselmoment für den Fall desnicht bewegten Fahrzeugs ist

Das aufzubringende Rollmoment beträgt ebenfalls

Das durch die Kreiselwirkung hervorgerufene Gier-moment ist für den fahrzeugfesten beziehungswei-se den stabilisierten Kreisel

Gelingt es, die Verdrehung des Stabilisierungskrei-sels im Bereich zwischen -2° und 2° zu halten, er-reichen die Giermomente Beträge von maximal 15 Nm. Für größere Verdrehwinkel steigt die Beein-flussung des Giermomentes progressiv (mit demTangens des Verdrehwinkels).

Um das geforderte Rollmoment für mindestens 0,5Sekunden zur Verfügung zu stellen, darf die Ver-drehgeschwindigkeit maximal 8°/s betragen.

Einsetzen in die umgeformte Bewegungsgleichung(7.20) liefert die Größenordnung des hierfür erfor-derlichen Dralls:

Für das Beispiel des Reibwertsprunges von 0,34(Rollwinkel von 20°) auf maximal µ = 0,2 unter Vor-raussetzung der Parameter des Versuchsmotor-rads wird der erforderliche Drall zu

Für ein Massenträgheitsmoment des Zusatzkrei-sels von 1 kgm2 ist eine Drehzahl von 509 s-1 bzw.ca. 30.000 min-1 erforderlich.

Der maximal erforderliche Drall für µ = 0 an beidenRädern bei einem Rollwinkel von 45°, um in allenSituationen eingreifen zu können, betrüge

Für ein Massenträgheitsmoment des Zusatzkrei-sels von 1 kgm2 ist eine Drehzahl von 3.000 s-1

bzw. ca. 180.000 min-1 erforderlich.

7.2.6 Sonstige Möglichkeiten zur Beeinflus-sung der Fahrdynamik von Motorrädern

Kräfte zwischen Fahrzeug und Umwelt könnenüber das Umgebungsmedium ausgetauscht wer-den87. Gegenargumente gegen die Ausnutzung derAerodynamik für eine Fahrdynamikregelung sind

• die starke Geschwindigkeitsabhängigkeit derWirkung aerodynamischer Maßnahmen,

• die schwierige Regelbarkeit,

• die hohe Designrelevanz,

• die großen erforderlichen Flügelflächen.

Auch der Einsatz von Druckluftraketen, die in derVergangenheit zum gezielten Anregen einer Pen-

56

87 WAGNER, A., Motorrad-Aerodynamik, 1998

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delschwingung am Motorrad verbaut wurden, kannzur Beeinflussung der Fahrdynamik verwendet wer-den. Nachteil dieser Methode ist die ungenügendeSteuerbarkeit der Druckluftraketen nach der erfolg-ten Zündung.

Eine weitere Möglichkeit zur Beeinflussung derFahrdynamik ist die Veränderung der Dämpfkräfte.Eventuelle Verluste der Haftung zwischen Reifenund Fahrbahn durch Fahrbahnunebenheiten kön-nen hiermit beeinflusst werden. Darüber hinausge-hendes Potenzial von Verstelldämpfern zur Beein-flussung der Radlasten ist bisher lediglich für Zwei-spurfahrzeuge nachgewiesen88.

7.2.7 Sinnvolle Möglichkeiten zur Beeinflus-sung der Fahrdynamik

Aus den angestellten theoretischen Betrachtungenlässt sich folgendes Fazit ziehen:

• Eine sinnvolle Beeinflussung des Rollmomentesdes Motorrades durch Kreiselwirkung unter Ver-wendung der Laufräder des Fahrzeugs ist nichtmöglich.

• Eine sinnvolle Beeinflussung des Rollmomentesdes Motorrades in Phase 2 – maximale Kraft-schlussausnutzung an beiden Rädern – ist nichtmöglich durch Beeinflussung der Seitenkräfteder Reifen.

• Eine sinnvolle Beeinflussung des Giermomen-tes des Motorrades ist möglich durch Beeinflus-sung der Radseitenkräfte, sowohl in Phase 1(Hinterrad läuft noch nicht im Kraftschlussmaxi-mum) als auch in Phase 2 (maximale Kraft-schlussausnutzung an beiden Rädern), bei-spielsweise durch Aufbringen von (Brems-)Längsschlupf oder Lenkwinkeln.

• Eine sinnvolle Beeinflussung des Rollmomentesdes Motorrades in Phase 1 ist möglich durch Be-einflussung der Seitenkraft am Hinterrad.

• Eine sinnvolle Beeinflussung des Rollmomentesdes Motorrades ist möglich durch Verdrehungeines zusätzlich angebrachten Stabilisierungs-kreisels mit Drallwerten im Bereich von 3.200kgm2/s (für die Fahrsituation Rollwinkel 20°,Reibwert µ = 0,2) und darüber. Durch hoheDrallwerte wird die Beeinflussung des Giermo-mentes vermieden.

Mit diesen sinnvollen Eingriffsmöglichkeiten in dieFahrdynamik und den definierten Regelstrategienergibt sich die Beeinflussungsmatrix.

7.3 Technische Realisierbarkeit sinn-voller Eingriffsmöglichkeiten

In Kapitel 7.1 wurden fahrdynamisch sinnvolle Mög-lichkeiten zur Beeinflussung der Fahrdynamik einesMotorrades identifiziert, ohne die konkrete techni-sche Umsetzung zu beachten. Es ist damit ein Po-tenzial zur Beeinflussung der Fahrdynamik umris-sen. Die Nutzbarkeit dieses Potenzials wiederumhängt von technischen Randbedingungen ab. UnterRücksicht auf den heutigen Stand der Technik wer-den im Folgenden die identifizierten Eingriffsmög-lichkeiten auf ihre Realisierbarkeit überprüft.

7.3.1 Beeinflussung der Radseitenkräfte

Für eine Beeinflussung der Seitenkräfte kann mitguter Näherung und für prinzipielle Überlegungenlineares Reifenverhalten vorausgesetzt werden.Für eine Veränderung der Radseitenkräfte kommensowohl eine Änderung des Schräglaufwinkels alsauch eine Änderung des Sturzwinkels in Betracht.Darüber hinaus verringert das Aufbringen vonLängsschlupf die Seitenkraft.

57

Tab. 10: Beeinflussungsmatrix

Rollbewegung Gierbewegung

Gleiten am Vorderrad (Phase 1 Reibwertsprung)

• Aufrichten des Fahrzeugs durch Sei-tenkraftaufbau am Hinterrad

• Aufrichten des Fahrzeugs durch Stabi-lisierungskreisel

• Begrenzen des Schwimmwinkels unddes Schräglaufwinkels hinten durchBeeinflussung der Radseitenkraft

• Begrenzen des Schräglaufwinkelsvorne durch Lenkerdrehung

Gleiten an beiden Rädern (Phase 2 Reibwertsprung, Überschreitender maximalen Querbeschleunigung)

• Aufrichten des Fahrzeugs durch Stabi-lisierungskreisel

• Begrenzen des Schwimmwinkels unddes Schräglaufwinkels hinten durchBeeinflussung der Radseitenkraft

• Begrenzen des Schräglaufwinkelsvorne durch Lenkerdrehung

88 z. B. NIEMZ, Reduction of braking distance, 2007

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Bei Verringerung des Betrages des Schräglaufwin-kels ändert sich die Seitenkraft ohne Zeitverzug.Für eine Vergrößerung des Schräglaufwinkelssteigt die Seitenkraft mit einem Wegverzug, der gutmit der Länge des Raddurchmessers abgeschätztwerden kann89.

Änderung des Schräglaufwinkels erfordert die Ver-drehung des jeweiligen Rades um die fahrzeug-feste Hochachse, relativ zum Fahrzeug. Für dasVorderrad ist eine solche Eingriffsmöglichkeit vor-handen. Es sind jedoch keine Prototypen mit akti-vem Lenkeingriff bekannt.

Eine Verdrehung des Hinterrades erfordert einenzusätzlichen Freiheitsgrad der Hinterradführung.Es ist bisher lediglich ein Prototyp eines Fahrzeugsmit passiver Hinterradlenkung bekannt. Technischist eine aktive Hinterradverstellung sicherlich mög-lich, jedoch sind auch hierzu keine Prototypen be-kannt. Mit dem aktuellen Stand der Technik ist eineVerdrehung des Hinterrades innerhalb der kurzenzur Verfügung stehenden Zeitspanne schwierig.

Eine Veränderung des Radsturzes ist ungleich auf-wändiger als die Verstellung des Schräglaufwin-kels90. Vorteil der Sturzverstellung ist der vernach-lässigbare Zeit- beziehungsweise Wegverzug desSeitenkraftaufbaus91. Dieser Vorteil ist eher theore-tischer Natur, da die Verstellwinkel für gleiche Sei-tenkraft deutlich größer sein würden als bei einerVerstellung des Lenkwinkels und für diese Verstel-lung damit auch deutlich mehr Zeit verwendetwürde.

Hat ein Rad seine Seitenkraft ausgeschöpft, sokann die – bei reiner Seitenkraft – senkrecht auf derRadsymmetrieebene stehende Kraft durch Aufbrin-gen von Längsschlupf verdreht werden. Brems-schlupf führt dabei zu einer Verdrehung nach hin-ten, Antriebsschlupf zu einer Verdrehung nachvorne. Der Betrag der Kraft wird dadurch nicht ver-ändert. Dieses Prinzip verwenden Fahrdynamikre-gelungen von Zweispurfahrzeugen zur Beeinflus-sung des Giermomentes.

7.3.2 Kreiselwirkung

Lediglich zusätzliche Stabilisierungskreisel wurdenals sinnvolle Kreisel-Möglichkeiten zur Beeinflus-sung der Fahrdynamik identifiziert. Für eine hin-reichend effektive Beeinflussung der Fahrdynamikist ein Drall im Bereich von 3.200 kgm2/s notwen-dig, eine Beeinflussbarkeit der Fahrdynamik in

jeder Fahrsituation erfordert einen Drall von biszu19.000 kgm2/s. Für ein Massenträgheitsmomentdes Kreiselkörpers von etwa 1 kgm2/s (entsprichtder Massenträgheit eines Hinterrades) ist eineDrehzahl von ca. 30.000 1/min beziehungsweise180.000 1/min erforderlich. Derart hohe Drehzahlensind sicherlich technisch problematisch. BekannteDrehzahlen beispielsweise für Kreiselkompasse lie-gen bei etwa 20.000 1/min und damit deutlich bzw.um eine Größenordnung unter den erforderlichenWerten. Für heutige, technisch realisierte Kreisel istein Drall von 500 kgm2/s92 bekannt.

Die erforderlichen Momente liegen im Bereich desaufzubringenden Stabilisierungsmomentes unddamit im Bereich um 400 Nm bzw. um 1.900 Nm.Eine Aufbringung solch großer Momente ist tech-nisch möglich. Der Energiebedarf eines solchen Ak-tors ist

P = M ϖ

= 400 Nm · 0,13 rad · s-1 ≈ 52 W

= 1.900 Nm · 0,13 rad · s-1 ≈ 250 W (7.45)

und damit zu decken durch die an Bord eines mo-dernen Motorrades zur Verfügung stehenden Ener-giequellen.

Eine Kreiselbeeinflussung der Fahrdynamik einesMotorrades ist damit zwar technisch machbar, dererforderliche Aufwand aber hoch.

Ein Weg zur Beeinflussung der Fahrdynamik durchKreisel bei geringeren Drallwerten ist eine deutlichgrößere Ausnutzung der Kreiselverstellung (größe-re Winkelbereiche) und Kompensation des resultie-renden Giermomentes durch weitere technischeMaßnahmen. Auch hierfür ist der technische Auf-wand sicherlich zu groß, um in naher Zukunft eineRealisierung zu erwarten.

58

89 COSSALTER, Motorcycle Dynamics, 2002, S. 55: 63 % derSeitenkraft sind nach max. 0,45 m aufgebaut (bei 250km/h).

90 Für die gleiche Seitenkraft ist ein etwa um den Faktor 10höherer Sturz- als Schräglaufwinkel erforderlich, z. B. WEIDELE, Motorräder, 2006, S. 66.

91 COSSALTER, Motorcycle Dynamics, 2002, S. 55 f.

92 Stabilisierungskreisel von Satelliten zur Lageregelung,www.wikipedia.de

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7.4 Technisch realisierbare Fahrdyna-mikregelungen für Motorräder

Als Konsequenz aus den Anforderungen an eineBeeinflussung der Fahrdynamik einerseits und denheutigen technischen Möglichkeiten andererseitswerden folgende Konzepte als sinnvoll realisierbareingeschätzt:

• Beeinflussung der Schwimmbewegung einesMotorrades durch Verstellung des Radschlupfeszur Begrenzung der Schwimmwinkel,

• Beeinflussung der Schwimmbewegung einesMotorrades durch Verstellung der Räder (Sturz/Schräglauf).

• Für die Unfallklasse „Reibwertsprung“ ist eineBeeinflussung des Rollmomentes durch Steige-rung der Hinterradseitenkraft denkbar, solangedas Hinterrad noch auf Hoch-µ fährt und der Sei-tenkraftaufbau ausreichend schnell geschieht.

Eine Beeinflussung der Fahrdynamik durch Kreisel-wirkung wird als deutlich zu aufwändig einge-schätzt.

Die Beeinflussungsmatrix der Fahrdynamik desFahrzeugs reduziert sich unter der Voraussetzungtechnischer Realisierbarkeit um die Kreiselstabili-sierung (siehe Tabelle 11).

8 Fazit und Ausblick

Als Ergebnis dieser Arbeit liegt eine Potenzialab-schätzung für Fahrdynamikregelungen für Motorrä-der vor. Aus dem Unfallgeschehen von Motorrädernwurden für zukünftige Fahrdynamikregelsystemerelevante Unfallklassen identifiziert:

• Unfälle mit hohem Risiko (Produkt aus Häufig-keit und Schaden),

• Unfälle, die durch technische Systeme im Vor-feld erkannt werden können,

• Unfälle, die potenziell durch technische Syste-me beeinflusst werden können,

• Unfälle, die durch bekannte Fahrdynamikregel-systeme (ABS, ASR) nicht beeinflussbar sind.

Es handelt sich hierbei um ungebremste Kurvenun-fälle, bei denen das Fahrzeug entweder

• durch einen Reibwertsprung hoch-niedrig dieHaftung verliert oder

• durch Überschreiten der maximal möglichenQuerbeschleunigung ins Gleiten gerät.

Der Anteil dieser Unfalltypen am gesamten Unfall-geschehen von Motorrädern wird auf etwa 4 bis 8 % geschätzt.

Beiden Unfalltypen gemein ist die bei Störung desGleichgewichts einsetzende Rollbewegung, die in-nerhalb kurzer Zeit (typische Werte sind etwa 0,3bis 0,5 Sekunden) zum Sturz des Fahrzeugs führt.Als aussichtsreiches Fahrdynamikregelsystem zurBeeinflussung dieser Unfalltypen wurde eine Roll-winkelstabilisierung identifiziert. In einer zusätzli-chen Auswertung der Einzelfälle der Datenbank derUnfallforschung der Deutschen Versicherer wurdefür dieses Stabilisierungssystem ebenfalls ein Po-tenzial von etwa 4 bis 8 % der Motorradunfälle ge-funden.

Für die Unfallanalyse und Identifikation der rele-vanten Unfalltypen reichen Unfallbeschreibungenaus, für eine fundierte Beurteilung eines techni-schen Systems jedoch nicht. Aus Fahrversuchenund Simulationsrechnungen wurde daher eine Mo-dellvorstellung für das Verhalten des Motorrades inden identifizierten kritischen Fahrsituationen abge-leitet.

Es zeigt sich eine deutliche Schwimmbewegungdes (gleitenden) Fahrzeugs: Das Fahrzeug drehtsich nach kurveninnen, während die Kurskrüm-

59

Tab. 11: Beeinflussungsmatrix unter der Voraussetzung heuti-ger technischer Realisierbarkeit

Rollbewegung Gierbewegung

Unfallphase 1

Gleiten am Vorderrad

keine Beeinflussbarkeit

• Begrenzen desSchwimmwinkels unddamit des Schräglauf-winkels hinten durchBeeinflussung derRadseitenkraft mittelsBremsung des Hinter-rades

• Begrenzen desSchräglaufwinkelsvorne durch Lenker-drehung

Unfallphase 2

Gleiten an beiden Rädern

keine Beeinflussbarkeit

• Begrenzen desSchwimmwinkels unddamit des Schräglauf-winkels hinten durchBeeinflussung derRadseitenkraft mittelsBremsung des Vor-derrades

• Begrenzen desSchräglaufwinkelsvorne durch Lenker-drehung

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mung sinkt. Gleichzeitig rollt das Fahrzeug nachkurveninnen. Die Schwimmbewegung erklärt sichdurch eine Instabilität: Bei einer geringfügigenAuslenkung aus dem Rollgleichgewicht wird die Schwimmbewegung in Richtung der erstenAuslenkung verstärkt. Die Beobachtung derSchwimmgeschwindigkeit eignet sich für einemesstechnische und rechnergestützte Echtzeiter-kennung der kritischen Fahrsituationen zeitlichnoch vor dem Sturzereignis. Eine solche Erken-nung erlaubt die Einleitung von Schutzmaßnah-men für den Fahrer.

Eine Beeinflussung der Rollbewegung wäre allen-falls durch Stabilisierungskreisel möglich, tech-nisch sinnvoll lösbar ist sie aufgrund des sehrhohen erforderlichen Dralls für den Stabilisie-rungskreisel nicht. Bei einer sprunghaften Verän-derung des Reibwertes gäbe es weiterhin dieMöglichkeit eines Seitenkraftaufbaus am hinteren,noch auf Hochreibwert laufenden Rad. Wegen dessehr kurzen zur Verfügung stehenden Zeitraumsvon etwa 200 Millisekunden bei 30 km/h und nurnoch etwa 50 Millisekunden bei 100 km/h ist auchdiese Möglichkeit der Beeinflussung der Rollbewe-gung heute technisch nicht sinnvoll darstellbar.

Möglich und mit dem aktuellen Stand der Technikmachbar ist eine Beeinflussung der Schwimmbe-wegung des gleitenden Motorrades durch eine Än-derung der Radseitenkräfte mittels Bremsschlup-fes. Fahrdynamisch sinnvoll ist dies für die Unfall-typen „Reibwertsprung“ dann, wenn die Fläche ge-ringen Reibwertes klein ist und das Fahrzeug nochwährend der Dauer der kritischen Fahrsituationwieder Hochreibwert erreicht. In diesem Fallwürde ein gleitendes, schräg laufendes Hinterradzu einer sprunghaften Erhöhung der Seitenkraftund damit zu einem deutlich zu großen, aufrich-tenden Rollmoment führen. Es besteht die Gefahreines Sturzes auf die kurvenäußere Seite desFahrzeugs. Ein nicht schräg laufendes Hinterradhingegen baut beim Erreichen von Hochreibwertannähernd die zur erneuten Stabilisierungbenötigte Seitenkraft auf, und dies kann durch dieBeeinflussung der Schwimmbewegung realisiertwerden.

Nach bisherigem Kenntnisstand ist eine solcheRegelstrategie die einzige verbleibende techni-sche Möglichkeit, den Unfallablauf günstiger zugestalten. Diese kann zukünftige ABS- und ASR-Regelungen ergänzen, insbesondere wenn zurVerbesserung des Kurvenverhaltens dieser Syste-

me weitere Fahrdynamiksensoren zur Verfügungstehen.

Der durch die oben genannte Schwimmwinkelre-gelung erzielbare direkte Einfluss auf das Unfall-geschehen wird als gering eingeschätzt. Die psy-chologische Wirkung einer solchen zusätzlichenSicherheitsmaßnahme kann mit der angewende-ten Methodik nicht abgeschätzt werden.

Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass ESP-entsprechende Fahrdynamikregelsysteme für Mo-torräder aufgrund der systembedingten Rollinsta-bilität auch in Zukunft nicht realisierbar sein wer-den. Als mögliches System jedoch wurde eine As-sistenzfunktion zur Vermeidung von High-sider-Unfällen skizziert. In Zukunft sollte sich die For-schung daher auf die Erweiterung bereits bekann-ter Regelsysteme für Motorräder (ABS, ASR) aufdie Querdynamik konzentrieren.

In dieser Arbeit nicht untersucht wurde das rechtfrische Forschungsgebiet der Verstelldämpfer.Deren Potenzial zur Beeinflussung der Radlastenbei Motorrädern ist aktuell noch nicht abzusehen.

60

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9 Klassenschema der Unfall-klassen

Folgendes Klassenschema ergab sich nach der Ex-pertenbefragung und der Detailanalyse der GDV-Datenbank.

61

Tab. 12: Klassenschema der Unfallklassen

t0_Störung t2_Fahrer t3_Fz t4_Störung t5_Fahrer t6_Fz Klasse

Aufsetzennotwendig

keineSturz nach Aufsetzen

nicht zutreffend 1

beide Bremsen

Radblockade vorne– Vorderrad rutscht

weg – Bremselösen – kein Sturz

Ausweichen notwendig

beide Bremsen Kollision 2

beide Bremsen,Rollwinkel +

Kollision 3

Radblockade vorne– Vorderrad rutscht

weg – Sturznicht zutreffend 4

Verzögern

Ausweichen notwendig

hintere Bremse, Rollwinkel +

Verlassen der Fahrbahn –Sturz

5

Fahrfehler

beide BremsenRadblockade vorne – Vor-derrad rutscht weg – Sturz

6

vordere BremseRadblockade vorne – Vor-derrad rutscht weg – Sturz

7

Kollision nicht zutreffend 8

Reibwertsprunghoch – niedrig

beide BremsenRadblockade vorne – Vor-derrad rutscht weg – Sturz

9

Verzögern – Hinter-rad hebt ab – Sturz

nicht zutreffend 10

beide Bremsen, Rollwinkel -

keineAusweichen not-

wendigRollwinkel + Kollision 11

Verlassen der Fahrbahn – Sturz

nicht zutreffend 12

beide Bremsen, Rollwinkel +

keine Kollision nicht zutreffend 13

Verzögern Kollision nicht zutreffend 14

hintere Bremse

Radblockade hinten– Hinterrad rutscht

nicht wegKollision nicht zutreffend 15

Radblockade hinten– Hinterrad rutscht

weg – Sturznicht zutreffend 16

Gas geben keine Kollision nicht zutreffend 17

Rollwinkel -

keine Kollision nicht zutreffend 18

Verlassen der Fahr-bahn – Sturz

nicht zutreffend 19

Rollwinkel +

keine Kollision nicht zutreffend 20

Verlassen der Fahr-bahn – Sturz

nicht zutreffend 21

vordere BremseRadblockade vorne– Vorderrad rutscht

weg – Sturznicht zutreffend 22

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62

Tab. 12: Fortsetzung

t0_Störung t2_Fahrer t3_Fz t4_Störung t5_Fahrer t6_Fz Klasse

Fahrfehler

beide Bremsen

Radblockade vorne – Vor-derrad rutscht weg – Sturz

nicht zutreffend 23

Verzögern Fahrfehler Rollwinkel +Wegrutschen Hinterrad ohne

Bremsen und Gasgeben24

Verzögern – Hinterrad hebtab – kein Sturz

Fahrfehler keineVerlassen der Fahrbahn –

Sturz25

beide Bremsen, Rollwinkel -

Radblockade vorne – Vorderrad rutscht weg –

Sturznicht zutreffend 26

Verlassen der Fahrbahn –Sturz

nicht zutreffend 27

beide Bremsen, Rollwinkel +

Radblockade hinten – Hinterrad rutscht weg –

Sturznicht zutreffend 28

Wegrutschen beide Räder nicht zutreffend 29

hintere Bremse,Rollwinkel +

Radblockade hinten – Hinterrad rutscht weg –

Sturznicht zutreffend 30

Gas gebenWegrutschen Hinterrad beim

Gasgeben – Sturznicht zutreffend 31

keine

keine Kollision nicht zutreffend 32

Verlassen der Fahrbahn –Sturz

nicht zutreffend 33

Rollwinkel +

keine Kollision nicht zutreffend 34

Wegrutschen Hinterrad ohneBremsen und Gasgeben

nicht zutreffend 35

Kollision nicht zutreffend 36

Reibwert-sprung

hoch-niedrig

beide Bremsen

Radblockade vorne – Vorderrad rutscht weg –

Bremse lösen – kein SturzFahrfehler keine

Verlassen der Fahrbahn –Sturz

37

Radblockade vorne – Vorderrad rutscht weg –

Sturznicht zutreffend 38

beide Bremsen,Rollwinkel -

Verlassen der Fahrbahn –Sturz

nicht zutreffend 39

Drossel zuRadblockade hinten –

Hinterrad rutscht weg –Sturz

nicht zutreffend 40

keine

Radblockade vorne – Vorderrad rutscht weg –

Sturznicht zutreffend 41

Wegrutschen beide Räder nicht zutreffend 42

Wegrutschen Hinterrad ohneBremsen und Gasgeben

nicht zutreffend 43

Wegrutschen Vorderradohne Bremsen

nicht zutreffend 44

Wegrutschen Vorderradohne Bremsen – Gegen-

lenken – kein Sturz

Ausweichen notwendig

keineVerlassen der Fahrbahn –

Sturz45

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10 Danksagung

An dieser Stelle sei all jenen Dank gesagt, die mitihrer uneigennützigen materiellen und/oder ideel-len Unterstützung zum Gelingen des vorliegendenForschungsprojekts beigetragen haben. Beson-ders erwähnt werden sollen an dieser Stelle BMWMotorrad für die Zurverfügungstellung zweier Fahr-zeuge und die Auswertung der Unfalldatenbank,der Gesamtverband des deutschen Versicherungs-wesens für den Zugriff auf die dort vorhandene,reichhaltige Unfalldatenbank und die Betreuungdurch die dortigen Mitarbeiter und der ADAC fürden Zugang zum Fahrsicherheitszentrum Hocken-heim. Vielen Dank.

Vielen Dank auch an alle Motorradexperten, dieihre bisher erlebten Motorradunfälle geschilderthaben. Die Nennung jedes Einzelnen würde denRahmen dieser Danksagung sprengen.

Nicht zuletzt möchte ich den Studenten Timo Adler,Daniel Bott, Erik Gilsdorf, Jens Hornberger, Frie-drich Kolb, Simon Michaelis, Johannes Möller, Ma-ximilian Müller, Tobias Müller, Boris Peter, Kai GerdSchröter, Ralf Tisje danken, deren Mitarbeit in Formvon Diplom- und Studienarbeiten sowie als Wis-senschaftliche Hilfskraft in den Forschungsberichteingeflossen sind.

11 Literatur

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WEIDELE, A.: Skriptum zur Vorlesung Motorräderan der TU Darmstadt, Darmstadt 2005

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Schriftenreihe

Berichte der Bundesanstaltfür Straßenwesen

Unterreihe „Fahrzeugtechnik“

F 10: Einsatz der Gasentladungslampe in Kfz-ScheinwerfernDamasky 12,50

F 11: Informationsdarstellung im Fahrzeug mit Hilfe eines Head-Up-DisplaysMutschler 16,50

F 12: Gefährdung durch Frontschutzbügel an GeländefahrzeugenTeil 1: Gefährdung von Fußgängern und RadfahrernZellmer, SchmidTeil 2: Quantifizierung der Gefährdung von FußgängernZellmer 12,00

F 13: Untersuchung rollwiderstandsarmer Pkw-ReifenSander 11,50

F 14: Der Aufprall des Kopfes auf die Fronthaube von Pkw beim Fußgängerunfall – Entwicklung eines PrüfverfahrensGlaeser 15,50

F 15: Verkehrssicherheit von FahrrädernTeil 1: Möglichkeiten zur Verbesserung der Verkehrssicherheit von FahrrädernHeinrich, von der Osten-SackenTeil 2: Ergebnisse aus einem Expertengespräch „Verkehrssi-cherheit von Fahrrädern“Nicklisch 22,50

F 16: Messung der tatsächlichen Achslasten von Nutzfahr-zeugenSagerer, Wartenberg, Schmidt 12,50

F 17: Sicherheitsbewertung von Personenkraftwagen – Problem-analyse und VerfahrenskonzeptGrunow, Heuser, Krüger, Zangemeister 17,50

F 18: Bremsverhalten von Fahrern von Motorrädern mit und ohne ABSPräckel 14,50

F 19: Schwingungsdämpferprüfung an Pkw im Rahmen der HauptuntersuchungPullwitt 11,50

F 20: Vergleichsmessungen des Rollwiderstands auf der Straße und im PrüfstandSander 13,00

F 21: Einflußgrößen auf den Kraftschluß bei Nässe – Untersuchun-gen zum Einfluß der Profiltiefe unterschiedlich breiter Reifen auf den Kraftschluß bei NässeFach 14,00

F 22: Schadstoffemissionen und Kraftstoffverbrauch bei kurzzei-tiger MotorabschaltungBugsel, Albus, Sievert 10,50

F 23: Unfalldatenschreiber als Informationsquelle für die Unfall-forschung in der Pre-Crash-PhaseBerg, Mayer 19,50

F 24: Beurteilung der Sicherheitsaspekte eines neuartigen Zwei-radkonzeptesKalliske, Albus, Faerber 12,00

F 25: Sicherheit des Transportes von Kindern auf Fahrrädern und in FahrradanhängernKalliske, Wobben, Nee 11,50

F 26: Entwicklung eines Testverfahrens für Antriebsschlupf-Re-gelsystemeSchweers 11,50

F 27: Betriebslasten an FahrrädernVötter, Groß, Esser, Born, Flamm, Rieck 10,50

F 28: Überprüfung elektronischer Systeme in KraftfahrzeugenKohlstruck, Wallentowitz 13,00

F 29: Verkehrssicherheit runderneuerter ReifenTeil 1: Verkehrssicherheit runderneuerter PKW-ReifenGlaeserTeil 2: Verkehrssicherheit runderneuerter Lkw-ReifenAubel 13,00

F 30: Rechnerische Simulation des Fahrverhaltens von Lkw mit BreitreifenFaber 12,50

F 31: Passive Sicherheit von Pkw bei Verkehrsunfällen – Fahr-zeugsicherheit '95 – Analyse aus Erhebungen am UnfallortOtte 12,50

F 32: Die Fahrzeugtechnische Versuchsanlage der BASt – Ein-weihung mit Verleihung des Verkehrssicherheitspreises 2000 am 4. und 5. Mai 2000 in Bergisch Gladbach 14,00

F 33: Sicherheitsbelange aktiver FahrdynamikregelungenGaupp, Wobben, Horn, Seemann 17,00

F 34: Ermittlung von Emissionen im Stationärbetrieb mit dem Emissions-Mess-FahrzeugSander, Bugsel, Sievert, Albus 11,00

F 35: Sicherheitsanalyse der Systeme zum Automatischen FahrenWallentowitz, Ehmanns, Neunzig, Weilkes, Steinauer,Bölling, Richter, Gaupp 19,00

F 36: Anforderungen an Rückspiegel von Krafträdernvan de Sand, Wallentowitz, Schrüllkamp 14,00

F 37: Abgasuntersuchung - Erfolgskontrolle: Ottomotor – G-KatAfflerbach, Hassel, Schmidt, Sonnborn, Weber 11,50

F 38: Optimierte Fahrzeugfront hinsichtlich des Fußgänger-schutzesFriesen, Wallentowitz, Philipps 12,50

F 39: Optimierung des rückwärtigen Signalbildes zur Reduzierung von Auffahrunfällen bei GefahrenbremsungGail, Lorig, Gelau, Heuzeroth, Sievert 19,50

F 40: Entwicklung eines Prüfverfahrens für Spritzschutzsystemean KraftfahrzeugenDomsch, Sandkühler, Wallentowitz 16,50

F 41: Abgasuntersuchung: DieselfahrzeugeAfflerbach, Hassel, Mäurer, Schmidt, Weber 14,00

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1998

2002

1999

1997

1995

1996

2000

2001

2003

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Alle Berichte sind zu beziehen beim:

Wirtschaftsverlag NWVerlag für neue Wissenschaft GmbHPostfach 10 11 10D-27511 BremerhavenTelefon: (04 71) 9 45 44 - 0Telefax: (04 71) 9 45 44 77Email: [email protected]: www.nw-verlag.de

Dort ist auch ein Komplettverzeichnis erhältlich.

F 42: Schwachstellenanalyse zur Optimierung des Notausstieg-systems bei ReisebussenKrieg, Rüter, Weißgerber 15,00

F 43: Testverfahren zur Bewertung und Verbesserung von Kin-derschutzsystemen beim Pkw-SeitenaufprallNett 16,50

F 44: Aktive und passive Sicherheit gebrauchter LeichtkraftfahrzeugeGail, Pastor, Spiering, Sander, Lorig 12,00

F 45: Untersuchungen zur Abgasemission von Motorrädern im Rahmen der WMTC-AktivitätenSteven 12,50

F 46: Anforderungen an zukünftige Kraftrad-Bremssysteme zur Steigerung der FahrsicherheitFunke, Winner 12,00

F 47: Kompetenzerwerb im Umgang mit Fahrerinformation-ssystemenJahn, Oehme, Rösler, Krems 13,50

F 48: Standgeräuschmessung an Motorrädern im Verkehr und bei der Hauptuntersuchung nach § 29 StVZOPullwitt, Redmann 13,50

F 49: Prüfverfahren für die passive Sicherheit motorisierter Zwei-räderBerg, Rücker, Bürkle, Mattern, Kallieris 18,00

F 50: Seitenairbag und KinderrückhaltesystemeGehre, Kramer, Schindler 14,50

F 51: Brandverhalten der Innenausstattung von ReisebussenEgelhaaf, Berg, Staubach, Lange 16,50

F 52: Intelligente RückhaltesystemeSchindler, Kühn, Siegler 16,00

F 53: Unfallverletzungen in Fahrzeugen mit AirbagKlanner, Ambos, Paulus, Hummel, Langwieder, Köster 15,00

F 54: Gefährdung von Fußgängern und Radfahrern an Kreu-zungen durch rechts abbiegende LkwNiewöhner, Berg 16,50

F 55: 1st International Conference on ESAR „Expert Symposium on Accident Research“ – Reports on the ESAR-Conference on 3rd/4th September 2004 at Hannover Medical School 29,00

F 56: Untersuchung von Verkehrssicherheitsaspekten durch die Verwendung asphärischer AußenspiegelBach, Rüter, Carstengerdes, Wender, Otte 17,00

F 57: Untersuchung von Reifen mit Notlaufeigenschaften Gail, Pullwitt, Sander, Lorig, Bartels 15,00

F 58: Bestimmung von NutzfahrzeugemissionsfaktorenSteven, Kleinebrahm 15,50

F 59: Hochrechnung von Daten aus Erhebungen am UnfallortHautzinger, Pfeiffer, Schmidt 15,50

F 60: Ableitung von Anforderungen an Fahrerassistenzsysteme aus Sicht der Verkehrssicherheit Vollrath, Briest, Schießl, Drewes, Becker

16,50

F 61: 2nd International Conference on ESAR „Expert Symposium on Accident Research“ – Reports on the ESAR-Conference on 1st/2nd September 2006 at Hannover Medical School 30,00

2004

F 62: Einfluss des Versicherungs-Einstufungstests auf die Be-lange der passiven SicherheitRüter, Zoppke, Bach, Carstengerdes 16,50

F 63: Nutzerseitiger Fehlgebrauch von FahrerassistenzsystemenMarberger 14,50

F 64: Anforderungen an Helme für Motorradfahrer zur Motor-radsicherheitDieser Bericht liegt nur in digitaler Form vor und kann kostenpflichtig unter www.nw-verlag.de heruntergeladen werden.Schüler, Adoplh, Steinmann, Ionescu 22,00

F 65: Entwicklung von Kriterien zur Bewertung der Fahrzeugbe-leuchtung im Hinblick auf ein NCAP für aktive FahrzeugsicherheitManz, Kooß, Klinger, Schellinger 17,50

F 66: Optimierung der Beleuchtung von Personenwagen und NutzfahrzeugenJebas, Schellinger, Klinger, Manz, Kooß 15,50

F 67: Optimierung von Kinderschutzsystemen im PkwWeber 20,00

F 68: Cost-benefit analysis for ABS of motorcyclesBaum, Westerkamp, Geißler 20,00

F 69: Fahrzeuggestützte Notrufsysteme (eCall) für die Verkehrs-sicherheit in DeutschlandAuerbach, Issing, Karrer, Steffens 18,00

F 70: Einfluss verbesserter Fahrzeugsicherheit bei Pkw auf die Entwicklung von LandstraßenunfällenGail, Pöppel-Decker, Lorig, Eggers, Lerner, Ellmers 13,50

F 71: Erkennbarkeit von Motorrädern am Tag – Untersuchun- gen zum vorderen SignalbildBartels, Sander 13,50

F 72: 3rd International Conference on ESAR „Expert Symposium on Accident Research“ – Reports on the ESAR-Conference on 5th/6th September 2008 at Hannover Medical School 29,50

F 73: Objektive Erkennung kritischer Fahrsituationen von Mo-torrädernSeiniger, Winner 16,502005

2007

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